Die Motoren der Militärtrucks sprangen wieder an, und die Fahrzeuge rumpelten auf das Fußballfeld zu. Auf der anderen Straßenseite, hinter dem Zaun der US-Botschaft, fegte ein Kameruner, der ein einfaches, loses weißes T-Shirt trug, den mit Steinplatten gepflasterten Weg. Die Konsularabteilung in der Kanzlei war geöffnet und hielt wie üblich ihre Sprechstunde für Leute ab, die ein Visum für die Vereinigten Staaten beantragen wollten. Jean-Claude blickte sich um und sah gerade noch, wie die Henne mit ihren Küken hinter der nächsten Hausecke verschwand. Er überlegte, ob er und Lucien nicht ebenfalls verschwinden sollten.
Er beobachtete die beiden US-Marines, die direkt hinter dem Eingangstor der Botschaft Wache standen. Sie waren noch recht jung, höchstens zwei oder drei Jahre älter als er selbst. Wie geschniegelt und gebürstet standen sie stocksteif auf beiden Seiten des Tors. Sie wirkten nicht besonders furchteinflößend, aber in ihren Gesichtern lag eine Anspannung, die Jean-Claude Angst einjagte. Er duckte sich noch tiefer hinter den Busch, der zu wenig Laub trug, um sich dahinter wirklich verstecken zu können, überprüfte aber rasch den Boden, schließlich konnte sich hier auch eine giftige grüne Mamba oder eine Knopfspinne verbergen – und die würden ihm definitiv mehr Furcht einjagen als die Marines.
Jean-Claude spähte hinter dem Gebüsch hervor. Falls ihn die Marines bemerkten, ließen sie sich jedenfalls nichts anmerken. Allerdings gehörten sie sicherlich nicht zu den Typen, die irgendjemanden ignorieren würden, der sie beobachtete. Er wünschte sich, er hätte ein dunkleres T-Shirt angezogen.
»Was meinst du, was jetzt passiert?«
»Hab ich dir doch schon erklärt«, antwortete Lucien. »Mein Bruder wird mit seiner Kompanie General Mbida verhaften und ihn vor Gericht stellen.«
»Aber die Amerikaner sind doch auch noch da!«, wandte Jean-Claude ein. »Wenn Mbida so gut mit ihnen befreundet ist, werden sie ihn doch bestimmt verteidigen?«
»Vielleicht«, sagte Lucien. »Aber mein Bruder glaubt das nicht. Er sagt, die Amis hätten zu viel Angst um ihre eigene Haut und würden sich nicht mit unserem Militär anlegen.«
Luciens älterer Bruder war Fusilier, Kameruns Version der US-Marines. Er war dem Präsidenten treu ergeben, und dafür erhielt er einen guten Sold.
»Die Amerikaner stecken ihre Nasen überall hinein, sogar in Länder, in denen sie nicht willkommen sind«, meinte Lucien. »Der amerikanische Präsident hat sich auf die Seite von Mbida gestellt, um unseren gewählten Präsidenten zu stürzen. Mein Bruder hat das Video mit eigenen Augen gesehen.«
Jean-Claude runzelte die Stirn. »Wenn der General jetzt einen Umsturz veranstalten will, warum ist er dann mit seinen Kindern auf dem Fußballplatz? Das ergibt doch keinerlei Sinn!«
Lucien versetzte seinem jüngeren Freund einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Du denkst zu viel. Pass auf, vielleicht können wir sehen, wie mein Bruder den Verräter verhaftet.«
Sekunden später hörten sie den entsetzten Aufschrei einer Frau von irgendwo um die Ecke, dann noch einen zweiten Schrei, schriller und höher. Jean-Claudes Schwester hatte so geschrien, als sie von einem vorbeifahrenden Taxi angefahren worden war und ihre Hüfte gebrochen hatte.
Lucien zitterte so sehr vor Aufregung und konnte kaum noch stillsitzen, sodass Jean-Claude Angst bekam, die Marines auf der anderen Straßenseite könnten den Busch wackeln sehen.
Dann knallte und knackte es laut durch die Straße. Gepanzerte Fahrzeuge pflügten geradewegs über den Holzzaun und rollten auf das Feld. Eine Lautsprecherstimme dröhnte herüber; sie befahl Mbidas Männern, sofort die Waffen niederzulegen. Geduckt rannten die beiden Jungen zwischen den Häusern hindurch bis zum niedergewalzten Zaun, von wo sie alles besser beobachten konnten.
Jean-Claude blickte sich um, als er Lärm aus einer anderen Richtung hörte. Mbida kam aus der Kanzlei der Botschaft gerannt. Wenigstens das ergab einen Sinn. Mbidas Kinder spielten Fußball auf der anderen Straßenseite, während ihr Vater und die Amerikaner die Köpfe zusammensteckten.
»Dein Bruder weiß offenbar doch nicht alles«, sagte Jean-Claude, immer noch sauer über die Kopfnuss. »Jedenfalls wusste er nicht, wo der General steckt.«
Lucien fluchte. »Spielt jetzt keine Rolle mehr. Er wird herauskommen müssen. Sie haben seine Kinder.«
Vom Fußballfeld her waren einzelne Schüsse zu hören. Frauen schrien und kreischten, Männer brüllten, noch mehr Befehle dröhnten aus dem Lautsprecher über den Platz.
Einen Augenblick später kamen drei junge Frauen um die Ecke gerannt und jagten auf das Tor des Botschaftsgeländes zu. Mit ihren angewinkelten Armen und den im Schnelllauf hochgerissenen Knien sahen sie aus, als würden sie von einem Raubtier gejagt. Was ihnen tatsächlich nachjagte, war nicht viel besser: Ein Trupp von ungefähr einem Dutzend Soldaten stürmte um die Ecke. Einer der Männer hob das Gewehr und zielte auf die fliehenden Frauen, aber ein anderer schlug ihm das Gewehr weg. Jean-Claude war kein Fusilier, aber clever genug, um eins zu wissen: Wer auf Personen feuerte, die sich in die amerikanische Botschaft retten wollten, konnte ebenso gut direkt auf die Botschaft feuern – der Zorn der am Tor Wache schiebenden Marines war ihm sicher.
General Mbida war von den Stufen am Eingang der Kanzlei zum Tor gerannt, von wo aus er den Mädchen zuwinkte, noch schneller zu laufen und sich zu ihm auf das Botschaftsgelände zu retten. Alle drei waren noch sehr jung, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, und alle trugen eng anliegende T-Shirts und Shorts. Die Terrorgruppe Boko Haram, die weiter nördlich an der nigerianischen Grenze entlang operierte, benutzte gern Kinder mit Sprengstoffgürteln als Selbstmordattentäter. Und obwohl der General direkt neben ihnen stand, hätten die beiden Marines die herbeirennenden Mädchen niemals bis in die Nähe des Tors kommen lassen, wenn diese Kleider getragen hätten, unter denen sich ein Bombengürtel verstecken ließ. Das erste Mädchen blutete aus einer Schulterwunde. Als sie näher kam, sah Jean-Claude, dass ihr T-Shirt zerrissen war. Das musste Mbidas älteste Tochter sein.
Einer der Marines ging auf ein Knie und zielte mit dem Gewehr auf den Trupp der Verfolger, während der andere Marine die Mädchen durch das Tor winkte.
Lucien hämmerte wütend mit der Faust auf die Erde. »Die Amerikaner müssen doch immer die großen Helden spielen!«
Nun bog eines der beiden gepanzerten MRAP-Fahrzeuge um die Ecke und drehte sich so, dass es der Botschaft direkt gegenüberstand. In der oberen Schützenluke stand ein Mann in der Uniform eines Obersten und hob ein Megafon an den Mund.
»General Mbida ist ein Verbrecher und wird wegen Volksverrats gesucht. Schicken Sie ihn sofort heraus!«
Die Amerikaner antworteten nicht darauf, weshalb der Oberst die Aufforderung noch einmal wiederholte. Die Marines am Tor gingen hinter den mächtigen, gemauerten Zaunsäulen in Deckung. Sie hielten die Gewehre schussbereit, zielten aber auf niemanden.
Der Oberst schwenkte einen Feldstecher über die Szene, dann gab er jemandem im Innern des MRAP einen Befehl – und hielt sich die Ohren zu.
Sekunden später feuerte das auf dem Dach des Cougar montierte schwere Maschinengewehr, ein Browning M2 Kaliber .50, drei kurze Feuerstöße auf das Dach der Botschaft, wodurch die Antennenanlage zerstört wurde.
Der Oberst sprach erneut durch das Megafon. »Sie beherbergen einen gesuchten Verbrecher. Überstellen Sie ihn sofort. Sobald Sie ihn überstellt haben, werden wir wieder abrücken.«
Als Nächstes hörte Jean-Claude Frauenstimmen, mindestens eine schrie in wütendem Englisch, eine weitere Stimme schrie in einer anderen Sprache, vielleicht Koreanisch. Eine Männerstimme bellte Befehle, Türen wurden zugeschlagen. Der Oberst ging kurz in seinem MRAP in Deckung, tauchte aber gleich darauf wieder auf und setzte erneut das Megafon an. »Letzte Aufforderung! Überstellen Sie General Mbida unverzüglich!« Er machte eine kleine, genussvolle Pause, als sei er sicher, jetzt die Oberhand zu haben. »Und bitte geben Sie eine Nachricht an den Stellvertretenden Botschafter Porter weiter: Seiner Frau geht es gut. Im Moment jedenfalls.«