6

Als Wolf am darauffolgenden Morgen im »Aquarium« eintraf, wurde er bereits auf dem Flur von Jo abgefangen.

»Ihr Barett«, sagte sie und deutete auf seinen Kopf.

»Was ist damit?«

»Gleich rutscht’s Ihnen vom Kopf.«

Mürrisch rückte er die Kopfbedeckung zurecht. »Sonst noch was?«

»Ja. Kollege Marsberg hat Geburtstag. Wenn ich also um Ihre Spende bitten dürfte, Chef?« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, hielt sie Wolf eine zur Sammelbox umfunktionierte bunt bedruckte Schachtel hin. »Sie sind übrigens der Letzte.«

»Die Letzten werden … na ja, du weißt schon.« Damit zog er seine Geldbörse aus der Gesäßtasche, klappte sie auf und entnahm ihr einen Zehn-Euro-Schein, den er nach mehrmaligem Zusammenfalten in die Sammelbox steckte. »Zufrieden?«

Mit einem Nicken zog Jo davon, während Wolf in sein Büro verschwand. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als eine Viertelstunde in Ruhe gelassen zu werden. Leider wurde seine Bitte nicht erhört, denn bereits zwei Minuten später klopfte es an der Verbindungstür. Jo und Vögelein drängten herein. »Wie sieht’s aus, Chef, wir wollten doch heute früh zu Pohl. Bleibt’s dabei?«, fragte Jo.

Wolf hielt sich die Hände vor die Ohren. »Nicht so laut! Ist ja direkt unanständig, wie wach ihr seid.«

»Wohl ein bisschen spät geworden gestern Abend, Sie Armer!« Jos Grinsen drückte alles andere als Bedauern aus. »Wie wär’s mit einem Kaffee?«

Während Vögelein rasselnd zu husten begann und sich, nachdem der Anfall abgeklungen war, am Besprechungstisch niederließ, um sich in seine Notizen zu vertiefen, besorgte Jo eine Tasse Kaffee, die sie vor Wolf abstellte. Auf der Untertasse lag eine Kopfschmerztablette.

»Ich bin nicht krank«, murrte Wolf, schluckte die Tablette jedoch folgsam hinunter. Zu allem Unglück verbrannte er sich beim Nachspülen an der heißen Tasse die Lippen. »Sakrament, ist das Zeug heute heiß«, fluchte er und setzte die Tasse so ungestüm ab, dass ein Teil ihres Inhaltes über Vögeleins Notizen lief.

»Scheint heute absolut nicht mein Tag zu sein«, meinte Wolf resigniert, nachdem er sich entschuldigt hatte.

Demonstrativ sah Jo auf die Uhr. »Hab’s mir schon gedacht. Sonst sind Sie ja am Morgen meist der Erste, aber heute …? Wir fürchteten schon, es sei etwas passiert.«

»Gib’s zu, ihr hattet gehofft, ich sei vom Rad gestürzt!« Wolf ließ ein belustigtes Kichern hören. »Pech gehabt.« Sofort wurde sein Gesicht wieder ernst. »Was ist mit der Fahndung nach dem Golf?«

»Bis jetzt ergebnislos, zumindest was den Fahrer angeht. Der Golf selbst wurde gestern Abend als gestohlen gemeldet. Bei der Halterin handelt es sich um eine Angestellte des ›Seekurier‹-Verlags, eine gewisse Monika Bächle.«

»Hast du die Frau gesprochen?«

»Telefonisch ja. Die Gute machte einen ziemlich aufgelösten Eindruck. Sagte, sie hätte den Wagen am frühen Abend in der Nähe ihres Hauses ordnungsgemäß abgestellt.«

Wolf nippte, diesmal vorsichtiger, an seiner Tasse. »Gut, ich werde die Winter mal auf die Frau ansprechen. Jetzt zu Pohl. Wollten wir den nicht heute früh aufsuchen?«

Jo warf einen hilfesuchenden Blick auf Vögelein. »Die Frage hatte ich Ihnen bereits bei Ihrem Eintreffen gestellt, Chef.«

»So? Na, dann lass uns fahren!« Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf. »Ach ja, was dich betrifft, Hanno …« Er wandte sich Vögelein zu. »Frag mal vorsichtig nach, was unser Phantombild macht.« Er warf einen taxierenden Blick auf den jungen Kollegen. »Erstaunlich, dass dich die Ärzte so schnell wieder hingekriegt haben. Gestern Abend hörte sich das ganz anders an, klang fast ein bisschen nach Intensivstation. Na, sei’s drum, wir müssen los.«

Jo stellte den Dienstwagen in der Tiefgarage des Bürohauses ab, in dem sich die Kanzlei von Rechtsanwalt Dr. Hartmut Pohl befand. Wolf konnte sie überreden, den Lift auszuschlagen und stattdessen die Treppe zu nehmen. »Kann meinem Kopf nur guttun«, erklärt er. Wohl oder übel folgte ihm Jo.

Oben angekommen, klingelten sie.

»Bin ehrlich auf Pohls Gesicht gespannt«, flüsterte Jo.

»Und ich auf Janes«, flüsterte Wolf zurück und leckte sich theatralisch die Lippen.

Zu ihrer Überraschung standen sie nicht der Jane, die sie kannten, gegenüber, sondern einer ihnen gänzlich unbekannten und deutlich jüngeren Frau. Nachfolgerin oder Vertretung?, überlegte Wolf und entschied sich für Ersteres. Jedenfalls entsprach die Neue, zumindest in puncto Haarfarbe und Oberweite, voll und ganz ihrer Vorgängerin. Womit Pohl einer alten Weisheit Rechnung trug, nämlich der, dass die meisten Männer Zeit ihres Lebens demselben Frauentyp die Stange hielten.

»Guten Morgen. Wolf von der Kripo Überlingen. Das ist meine Kollegin, Frau Louredo. Wir würden gerne mit Dr. Pohl sprechen, es ist dringend. Und eh Sie mich fragen: Nein, wir haben keinen Termin! Es dauert allerdings nicht lange. Dürfen wir reinkommen?« Schon drängte er sich durch die Tür.

Etwas hilflos sah die Sekretärin auf die beiden Besucher. Wolf ahnte, in welchem Zwiespalt die Frau steckte. Da sie nun schon einmal drin waren, konnte sie sie ja schlecht wieder hinauskomplimentieren. Außerdem schickte man Kripoleute nicht so einfach weg. Pohl dürfte über den unangemeldeten Besuch noch viel weniger erfreut sein, zumal die Besucher ihn vor einem halben Jahr dermaßen »in die Scheiße geritten hatten«, wie sich Marsberg einmal ausgedrückt hatte; angeblich hatte Pohl sogar einen Wegzug aus Überlingen ins Auge gefasst.

Er selbst war es schließlich, der seine Sekretärin aller Bedenken enthob, indem er nichtsahnend in seinem Vorzimmer auftauchte.

»Jane …«, rief er wichtigtuerisch unter der Tür und wedelte mit einer Akte, als es ihm beim Anblick der beiden Beamten förmlich die Sprache verschlug. »Sie …?«

Der Anwalt hatte sich kaum verändert, wenngleich Wolf die Glatze etwas ausgeprägter schien. Noch immer trug er Schuhe mit hohen Absätzen, um größer zu erscheinen, außerdem hatte er zugenommen. Frustfraß, mutmaßte Wolf.

»Guten Morgen, Dr. Pohl«, begrüßte er den Anwalt fröhlich. »Wir bedauern außerordentlich, Sie stören zu müssen. Aber ich versichere Ihnen, es ist dringend. Und es geht auch ganz schnell. Hätten Sie zwei Minuten für uns?«

»Leider nein! Und für Sie schon gar nicht.« Wütend pfefferte Pohl die Akte auf den Schreibtisch seiner Sekretärin. »Jane, Sie haben meine Anweisungen missachtet, sozusagen!«, bellte er und bedachte die Ärmste mit einem vernichtenden Blick. Auf dem Rückweg in sein Büro wandte er sich noch einmal an Wolf: »Lassen Sie sich von Jane einen Termin geben.«

»Wie Sie wünschen, Herr Dr. Pohl«, antwortete Wolf seelenruhig. »Dann muss ich allerdings die Staatsanwaltschaft und die Anwaltskammer darüber in Kenntnis setzen, dass Sie aufgrund persönlicher Animositäten Ihre Zusammenarbeit in einem Kriminalfall verweigern.«

Pohl stutzte. »Um welchen Kriminalfall handelt es sich, sozusagen?«

»Es geht um die Aufklärung der Morde an drei Obdachlosen.«

Das schien die Sachlage etwas zu ändern, möglicherweise rechnete sich Pohl eine Beteiligung an den damit zusammenhängenden Strafprozessen aus, jedenfalls gab er sich plötzlich weniger zugeknöpft.

»Also gut, ich will der Aufklärung dieser Sache nicht im Wege stehen. Zwei Minuten, sagten Sie? Gut. Aber keine Sekunde länger, meine Zeit ist knapp.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, sah er auf einen goldenen Chronometer, den er an einem feingliedrigen Kettchen aus seiner Westentasche zog. Wolf hätte sich nicht gewundert, wenn er per Knopfdruck eine Stoppuhr in Gang gesetzt hätte.

Mit einem Wink forderte Pohl sie auf, ihm zu folgen. »Keine Störung jetzt«, raunzte er Jane, die in Wahrheit vermutlich Gisela oder Hildegard hieß, im Vorübergehen an und eilte ihnen mit kurzen Stakkatoschritten voraus. Er schloss die schalldichte Doppeltür zwischen seinem Büro und dem Vorzimmer und wies auf zwei Stühle. Er selbst nahm hinter seinem gewaltigen Schreibtisch Platz. »Also?«

Wolf zog sein Notizbuch zurate. »Die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass zwei der Ermordeten …«

»Augenblick. Wie wär’s, wenn Sie mir erst mal verraten, wie die Leute überhaupt zu Tode gekommen sind?«, unterbrach ihn Pohl.

Schon wollte Wolf eine scharfe Bemerkung machen, als ihm einfiel, dass der »Seekurier«-Artikel genau diese Frage nicht beantwortet hatte. »Sie wurden vergiftet. Mit Arsen.«

»Nicht gerade alltäglich, was? Aber fahren Sie fort, sozusagen.«

»… dass also zwei der ermordeten Wohnsitzlosen, nämlich Karlheinz Rogalla alias Einstein und Georg Fiedler alias Havanna, unmittelbar vor ihrem Tod eine nicht unerhebliche Erbschaft angetreten haben. Des Weiteren haben wir Grund zu der Annahme, dass genau diese Erbschaft die Ursache für ihre Ermordung gewesen sein könnte.«

»Aha. Und was habe ich damit zu tun? Die beiden Genannten gehörten nicht zu meinen Klienten. Außerdem wissen Sie genau, dass Aussagen zu Erbangelegenheiten der Schweigepflicht unterliegen, es sei denn, sie könnten eine richterliche Anordnung vorweisen. Und die haben Sie ja wohl nicht, wie ich annehme.«

Wolf überlegte sich seine nächsten Worte sehr genau. Er wollte, wenn auch zähneknirschend, den Anwalt mit ins Boot holen, denn noch verfügten sie über keine richterliche Anordnung, die ihn zur Auskunft verpflichtet hätte.

»Nach unserer Kenntnis, Herr Dr. Pohl, wurde der Erbfall von einem Ihrer Kollegen abgewickelt, das nur am Rande. Uns geht es heute um etwas anderes. Soweit wir informiert sind, gibt es einen zweiten Fall, in dem der Nachlass einer begüterten Witwe namens … Moment rasch«, er zog erneut seine Notizen zurate, dann nannte er Pohl den Namen, »in dem also der Nachlass dieser Witwe, die vor drei Monaten verstarb, durch Ihre Kanzlei abgewickelt wurde. Selbstredend interessieren uns keine Details. Was wir wissen wollen, ist lediglich, ob die beiden erstgenannten Männer auch hier zu den Erben gehörten.«

»Noch einmal zum Mitschreiben, Herr Kommissar: Von mir erfahren Sie nichts. Bringen Sie mir eine richterliche Anordnung, dann können wir darüber reden – vielleicht!« Er erhob sich zum Zeichen, dass er die Unterredung für beendet hielt.

»Ich möchte noch einmal zu bedenken geben«, machte Wolf einen letzten Versuch, »dass es bei unseren vorgesetzten Dienststellen ein schlechtes Bild machen würde, wenn Sie wegen inzwischen weit zurückliegender Ereignisse, in die Sie, aus welchen Gründen auch immer, persönlich involviert waren, die Ermittlungen in einer Mordserie behinderten. Zumal es nicht um irgendwelche Details geht, sondern lediglich um einen Hinweis, ob die beiden Ermordeten auch in dem von Ihnen abgewickelten Erbfall bedacht wurden.«

Da Pohl zu keinem Einlenken bereit schien, gedachte Wolf, ihm eine letzte Brücke zu bauen – weiter konnte und wollte er nicht gehen. »Noch einmal, Herr Dr. Pohl: Nicht der angesprochene Erbfall an sich spielt hier ein Rolle, darin sind wir völlig eins mit Ihnen. Dem Staatsanwalt würde es bereits genügen, wenn Sie uns signalisieren könnten, dass die beiden Ermordeten mit Ihrem Fall nichts zu tun hatten. Wir müssten Sie dann nicht noch ein weiteres Mal belästigen – ich meine mit richterlicher Anordnung und so, Sie wissen schon. Würde uns allen doch nur kostbare Zeit stehlen, nicht wahr?«

Pohl, das stand ihm ins Gesicht geschrieben, focht einen harten Kampf mit sich selbst. Für ihn ging es jetzt vor allem darum, das Gesicht zu wahren. Denn so, wie Wolf ihm die Sache verkauft hatte, konnte er sich kaum länger verweigern, irgendwann würde er seine Karten ohnehin auf den Tisch legen müssen.

»Also gut«, lenkte er endlich ein, »der Gerechtigkeit halber. Schließlich müssen die Mörder umgehend gefasst und ihrer Strafe zugeführt werden, sozusagen. Nein, die beiden Genannten waren definitiv nicht in den besagten Erbfall involviert. Das war’s doch, was Sie wissen wollten, richtig?« Er ging zur Tür. »Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte?«

»Der Mann ist ein echter Kotzbrocken, sozusagen«, schimpfte Wolf, als sie die Tiefgarage verließen und den Weg in Richtung Polizeidirektion einschlugen.

»Trotzdem, das haben Sie klasse hingekriegt, Chef«, kicherte Jo, »Pohl wird sich in den Hintern beißen, wenn ihm klar wird, dass Sie ihn untergebuttert haben, noch dazu ohne Druckmittel und ohne Gegenleistung – ausgerechnet Sie, sein Erzfeind! Die Frage ist nur, ob es uns weiterbringt.«

»Frag mich was Leichteres. Fakt ist jedenfalls, dass Havanna und Einstein die fragliche Witwe nicht beerbt haben. Somit ist ziemlich sicher, dass sich die beiden nicht quasi gewerbsmäßig bei alten Damen eingeschmeichelt haben, nur um an deren Nachlass zu kommen. Trotzdem …«

»Trotzdem?«

»Nun, irgendetwas an der Geschichte ist nicht ganz rund, ich komm nur nicht drauf, was.« Für einige Minuten hingen beide ihren Gedanken nach.

Plötzlich hob Wolf den Kopf: »Sag mal, auf der Liste der Winter standen doch sechs Namen, richtig? Alle galten als recht vermögend – nur deshalb kamen sie ja schließlich auf die Liste.« Nachdenklich kaute Wolf auf der Unterlippe.

»Was wollen Sie damit andeuten?«

Entschlossen kurbelte Wolf das Seitenfenster herunter, griff in seine Jackentasche und zog eine Schachtel Gitanes hervor. Er schüttelte eine davon heraus und steckte sie an.

»Entschuldige, Jo, aber ohne das kann ich meine Gedanken gerade nicht sortieren. Also, was ich sagen wollte: Wir gingen die ganze Zeit davon aus, dass Einstein und Havanna möglicherweise mehr als eine ältere Witwe beerbten, wobei unausgesprochen die Frage im Raum stand, ob sie auch mit deren Ableben etwas zu tun hatten. Nach Pohls Aussage können wir beides inzwischen ausschließen. Was wäre nun, wenn unserer Suche eine falsche Annahme zugrunde liegt?«

»Welche falsche Annahme denn?«

»Moment, lass mich überlegen! … Ja, dass beim Ableben der alten Damen durchaus jemand die Hand im Spiel hatte, und zwar in der vollen Absicht, sich deren Nachlass unter den Nagel zu reißen – nur eben nicht Einstein und Havanna?«

»Die waren in dem fraglichen Fall aber nun mal als Erben eingesetzt, das ist Fakt.«

»Und wenn da eine Panne passiert ist? Wenn die beiden eigentlich gar nicht erben sollten, sondern jemand ganz anderer?«

Jo bog in den Parkplatz der Polizeidirektion ein und stellte den Wagen auf dem reservierten Feld ab. »Wer sollte das sein? Und überhaupt: Ihre Annahme setzt voraus, dass es jemandem gelingt, die alten Damen in seinem Sinne zu beeinflussen. Dieser Jemand, das würde ich mal unterstellen, würde eine solche Panne ganz sicher zu verhindern wissen. Tut mir leid, Chef, aber Ihrer Theorie kann ich nicht viel abgewinnen. Sie enthält mir entschieden zu viele Konjunktive.«

Wolf brummte als Antwort etwas Unverständliches. Er war beileibe noch nicht überzeugt.

Wenig später saßen sie mit Hanno Vögelein an Wolfs Besprechungstisch. Jo und Wolf rührten in ihrer Kaffeetasse, während Vögelein, auf seinen Laptop starrend, an einem Mineralwasser nippte.

»Was ist mit dem Phantombild, Hanno?«, fragte Wolf.

Vögelein drehte den Laptop so, dass Wolf und Jo den Bildschirm betrachten konnten.

»Wer soll das sein?«, fragte Wolf und zog die Brauen hoch.

»So war es abgesprochen, Chef! Das ist der Mann aus der Intensivstation: ohne Perücke, ohne Bart, ohne Brille. Sieht man doch!«

Wolf und Jo sahen sich an. »Nein«, antworteten beide wie aus einem Munde, und Wolf fügte hinzu: »Ich habe ihn zwar nie aus der Nähe gesehen, aber nach meinem Dafürhalten hat der Kerl hier mit dem Mann, den wir verfolgt haben, nur entfernte Ähnlichkeit.«

»Entschuldigt mal, aber ich ging davon aus, dass wir nicht den Mann suchen, den wir in der Klinik beziehungsweise bei der Verfolgung gesehen haben. Dieser Mann war ja verkleidet, also gewissermaßen eine Fälschung. Wer außer uns soll ihn erkennen? Was wir mit Hilfe der Öffentlichkeit suchen, ist doch das Original, also den Mann ohne Perücke, ohne Warze und so weiter! Natürlich gibt es einige Unwägbarkeiten: Trägt er in Wirklichkeit eine Brille oder nicht, hat er einen Bart oder nicht? Welche Farbe hat sein Haar wirklich?«

»Du hast ja recht«, musste Wolf zugeben. »Wie wäre es, wenn du von unseren Spezialisten noch eine Variante anfertigen lässt, nämlich mit Verkleidung – falls der Kerl noch einmal etwas durchzieht? Dann haben wir Original und Fälschung, um bei deinen Worten zu bleiben. Nimm Jo mit, ihr könnt nämlich gleich noch ein Bild von dem Penner erstellen lassen, mit dem sie gestern Abend im Bootshaus zu tun hatte. Danach möchte ich, dass die Bilder an alle Zeitungen gehen, die die Bodenseeregion abdecken. Veröffentlichung zusammen mit einem Artikel, Tenor etwa: zwei Männer, die im Zusammenhang mit den toten Obdachlosen gesucht werden, mit ausdrücklichem Hinweis auf die uns bekannten Verkleidungen, dazu Zeit- und Ortsangaben, Bitte um Mithilfe der Bevölkerung und so weiter, ihr wisst schon. Sie sollen es möglichst in die morgige Ausgabe stellen. Was den ›Seekurier‹ angeht: Mit der Winter rede ich gleich selbst, die muss etwas mehr für uns tun, schließlich zählt ihr Blatt zur Hauptlektüre der Überlinger.« Während sich Jo und Vögelein Notizen machten, fuhr Wolf fort: »Liegt der Bericht aus der Pathologie über Ottos Leichenöffnung endlich vor?«

»Hier, Chef, aber Sie können sich die Durchsicht sparen. Ist identisch mit den Ergebnissen von Einstein und Havanna.«

»Arsen?«

»Eindeutig Arsentrioxid.«

Wolf lehnte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, in seinem Stuhl zurück und sah grübelnd seine beiden Mitarbeiter an: »Was Neues von Göbbels?« Als beide nur den Kopf schüttelten, fügte er seufzend hinzu: »Kann mir mal jemand die Lage erklären? Ich komm einfach nicht dahinter! Da werden drei Menschen mit Arsen ermordet, in allen Fällen soll es wie ein ganz natürlicher Tod aussehen – wenn man Erfrieren und Alkoholvergiftung als natürlichen Tod bezeichnen will. Seit zwei Tagen zermartern wir uns das Hirn, wer oder was hinter der Tat stecken könnte, aber keine Spur, weder zu den Tätern noch zu einem Motiv. Das gibt’s doch nicht!«

»Vielleicht ist Ihre Überlegung in Bezug auf die Witwen doch nicht so verkehrt, Chef?«, warf Jo nachdenklich ein.

»Welche Überlegung?«, fragte Vögelein und runzelte die Stirn.

Jo schilderte ihm in aller Kürze, was Wolf und sie bei der Herfahrt besprochen hatten.

»Finde ich etwas weit hergeholt«, winkte Vögelein zweifelnd ab. »Vielleicht sollten wir zunächst einmal über die Faktenlage reden. Da wäre zum Beispiel dieser Fiat, mit dem Karin Winter auf der Fahrt zur Birnau beschattet wurde: die KTU hat den Wagen unter die Lupe genommen, aber nichts Erhellendes gefunden, was kein Wunder ist, schließlich wurde das Fahrzeug von mehreren Betriebsangehörigen genutzt. Gleiches gilt übrigens für die Fahrzeugschlüssel, insgesamt vier an der Zahl. Dann zu dem Golf, mit dem der Penner gestern Abend unterwegs war, der so unsanft mit Jo zusammengestoßen ist.«

»Zusammengestoßen ist gut …«

»Bekanntlich wurde das Fahrzeug noch gestern Abend von der Halterin, dieser Monika Bächle vom ›Seekurier‹, als gestohlen gemeldet. Und das finde ich, gelinde gesagt, schon etwas eigenartig …«

»Dass sie den Verlust ihres Wagens gemeldet hat?«, fragte Jo.

»Nein. Dass damit gleich zwei Fahrzeuge mit einem Bezug zum ›Seekurier‹ in die Geschichte involviert sind – oder wie würdest du das bezeichnen?«

Eine Streife hatte den Golf kurz nach Mitternacht vor dem Bahnhof Überlingen West aufgefunden. An der Fahrertür hatten die Beamten Spuren eines Aufbruchs entdeckt, außerdem hingen unter der Lenksäule Kabel hervor, der Täter hatte den Wagen kurzgeschlossen.

»Das Untersuchungsergebnis der Spurensicherung für den Golf steht leider noch aus«, fuhr Vögelein fort. »Vielleicht sollten Sie den Kollegen in der Technik etwas Dampf machen, Chef.«

»Mach ich«, nickte Wolf. »Zusammengenommen heißt das doch, wir haben mal wieder unser gesamtes Pulver verschossen, ohne einen Treffer zu landen.«

»So würde ich das nicht sehen, Chef«, widersprach Jo. »Noch haben wir einige Eisen im Feuer, angefangen bei den Recherchen über die Erbangelegenheiten bis hin zu den Fahndungsaufrufen. Außerdem stehen noch verschiedene Ermittlungen an. Ich denke da an das Auge, das man der Winter in die Wohnung gelegt hat. So was lässt sich nicht einfach beim Metzger um die Ecke beschaffen.«

Wolf rückte sein Barett, das abzustürzen drohte, wieder gerade und setzte sich aufrecht hin. »Entschuldigt meine Unkerei. Du hast natürlich recht! Hoffentlich schafft es Sommer, uns die Medien noch ein, zwei Tage vom Hals zu halten. Das fehlte noch, dass uns eine sensationslüsterne Reportermeute die Bude einrennt und am Arbeiten hindert.«

Kurz vor zehn machte sich Wolf auf den Weg zu Karin Winter – natürlich zu Fuß, denn noch immer meinte es das Wetter gut mit der Seeregion. Der im Spätherbst gefürchtete Nebel war schon den zweiten Tag ausgeblieben, die Sonne strahlte mit den Menschen um die Wette, ganz verwegene Zeitgenossen hatten sogar ihre Jacke zu Hause gelassen. So weit wollte Wolf aber dann doch nicht gehen, Übertreibungen jeder Art waren ihm zuwider. Außerdem: Wo sonst hätte er den ganzen Kleinkram unterbringen sollen, der bei Außeneinsätzen unabdingbar war, wenn nicht in den Jackentaschen?

Wolf war häufiger und gern gesehener Gast beim »Seekurier«; niemand hatte je etwas dabei gefunden, wenn er einen Redakteur oder eine Redakteurin an deren Arbeitsplatz aufsuchte. Heute schien sein Erscheinen jedoch wenig Freude auszulösen. Karin Winter hob kaum den Kopf, als er sich neben sie stellte.

»Ich stecke mitten in einem Artikel, Herr Wolf, außerdem habe ich in einer knappen Stunde einen Termin in Markdorf. Tut mir leid, zu jeder anderen Zeit gerne, aber nicht jetzt«, beschied sie ihn und hämmerte wie wild auf ihre Tastatur ein.

»Es gibt ein paar Neuigkeiten, ich dachte, das interessiert Sie. Geben Sie mir wenigstens fünf Minuten.«

Karin Winter seufzte ergeben. »Also gut, weil Sie’s sind. Aber machen Sie’s kurz, bitte. Und stören Sie sich nicht daran, wenn ich mich zwischendurch mit meinem Drucker beschäftige.«

Wolf schilderte in Kurzfassung, was die KTU in Karin Winters Wohnung gefunden hatte. Viel zu schildern gab es ohnehin nicht. Er bestätigte Ottos Tod durch Arsen und ging kurz auf Jos Zusammenstoß im ÜRC-Bootshaus ein, wobei er den gestohlenen Golf nur am Rande erwähnte. Als der Name Monika Bächle fiel, zuckte Karin kurz zusammen, doch gleich darauf forderte ein Papierstau im Drucker ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Danach kam Wolf auf den entscheidenden Punkt zu sprechen, die Phantombilder. Karin war ganz Ohr, hektisch machte sie sich Notizen für die erforderliche Meldung und sagte eine entsprechende Platzierung an prominenter Stelle zu.

»Und was ist aus der Liste der verstorbenen Witwen geworden?«, fragte sie nach einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Wir sind dran. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich.«

Da Wolf nun schon mal im Haus war, lag es nahe, auch ein paar Worte mit Monika Bächle zu wechseln. Er fand sie im Vorzimmer des Chefredakteurs und bat sie, ihm noch einmal die Begleitumstände des Fahrzeugdiebstahls zu schildern.

Viel kam dabei allerdings nicht heraus. Sie hatte nach Dienstschluss im Kaufhaus May vorbeigeschaut und ihren Wagen unweit davon auf einem Parkplatz abgestellt. Als sie nach dem Einkaufen auf den Platz zurückkam, stand dort anstelle ihres eigenen Wagens ein fremdes Fahrzeug. Es folgte der übliche Alptraum: zunächst Zweifel, sich im Platz geirrt zu haben, danach eine hektische Suche, die sich schließlich zur Panik steigerte. Irgendwann musste sie sich eingestehen, dass ihr Wagen weg war.

»Erinnern Sie sich an den genauen Zeitpunkt?«

»Das muss so um fünf herum gewesen sein«, antwortete sie schniefend.

Kommt genau hin, dachte Wolf. »Sie hatten Ihren Wagen ordnungsgemäß abgeschlossen, nehme ich an?«

»Natürlich, ich schließe immer ab, da bin ich viel zu gewissenhaft. Oft lauf ich sogar noch einmal zurück, um mich davon zu überzeugen.«

»Soweit wir wissen, wurde Ihr Golf gegen zwanzig Uhr dreißig von einem Mann aus dem Parkhaus Innenstadt weggefahren, und zwar in Richtung Mühlenstraße/Nussdorfer Straße. Kurz darauf stellte er den Wagen für etwa eine halbe Stunde auf dem Parkplatz des Strandbades Ost ab, danach verliert sich seine Spur. Ist Ihnen in diesem Zeitraum – eventuell auch schon früher – irgendetwas aufgefallen, das damit in Zusammenhang stehen könnte?«

»Nein, absolut nichts … weiß man eigentlich Näheres über den Mann?«

Wolf schilderte ihr kurz dessen Äußeres. »Kennen Sie jemanden, auf den diese Beschreibung zutrifft?«

Monika Bächle schüttelte den Kopf. »Klingt ein bisschen wie ein Penner, kann das sein?«

»Sagen wir mal so: Er kleidet sich zumindest wie ein solcher«, antwortete Wolf sibyllinisch.

Kaum hatte er die Redaktionsräume in der Greth verlassen, rief er Vögelein an. Er bat ihn, am Postamt mit einem Wagen auf ihn zu warten. Sie würden dem Bootshaus des Überlinger Ruderclubs einen Besuch abstatten, fügte er hinzu. Jetzt, am späten Vormittag, konnte man dort sicher jemanden antreffen, hatte er sich ausgerechnet, und ein Rundgang durch die Halle würde Jos Schilderung abrunden.

Seltsam gelöst spazierte er sodann die Promenade entlang und passierte den Mantelhafen, wo er ein paar Worte mit den Kollegen der Wasserschutzpolizei wechselte, die hier ihre Boote liegen hatten. Im Weitergehen ertappte er sich dabei, eine Melodie vor sich hinzupfeifen, die verdächtig nach der Marseillaise klang. Kurz darauf erreichte er auch schon die Grünanlage vor der Post, an deren Ende Hanno Vögelein mit einem Dienstwagen auf ihn wartete und ihm die Autotür aufhielt.

Fünf Minuten später trafen sie auf dem ÜRC-Gelände ein. Obwohl die aktive Saison bereits vor zwei Wochen mit dem traditionellen Abrudern beendet worden war, herrschte hier noch immer reges Treiben. Jungvolk lief hin und her, vermutlich eine Schulklasse, die in ihrer Sportstunde zu Ruderversuchen verdonnert worden war, vier kräftige junge Männer trugen kopfüber einen Vierer zum Bootssteg, wo sie ihn auf Kommando ins Wasser setzten, wieder andere schleppten Riemen herbei. Ganz vorne am Steg machte sich ein Trainer bereit, den Vierer in einem Motorboot zu begleiten, sicher würde seine Flüstertüte das Letzte aus den Jungs herausholen.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

Ohne dass sie sein Herannahen bemerkt hatten, stand ihnen plötzlich ein braun gebrannter, etwa vierzigjähriger Mann gegenüber, der sich mit den Fingern ein paar strohblonde Strähnen aus dem Gesicht wischte. Er war trotz der Kühle mit weißen Shorts und einem T-Shirt in den Vereinsfarben bekleidet; darüber trug er eine dunkelblaue Jacke aus wetterfestem Material, auf deren Brust das Clubemblem prangte.

»Entschuldigen Sie, dass wir hier einfach so eindringen«, sagte Wolf und hielt dem Mann seinen Dienstausweis hin. »Wir sind von der Kripo Überlingen, mein Name ist Wolf, das ist mein Kollege Vögelein. Wir möchten gerne einen Blick in Ihr Bootshaus werfen. Geht das?«

»Wegen des Vorfalls gestern Nacht?«

»Sie wissen davon?«

»Klar. Wir hätten allerdings gar nichts davon bemerkt, wenn heute früh nicht die Türen offen gestanden wären – es wurde ja kein Schaden angerichtet.«

»Also wird die Halle am Abend abgeschlossen?«

»So ist es, auch das Eingangstor, durch das man vom Strandweg her das Gründstück betritt. Normalerweise ist das Mirkos Sache, der macht hier, wenn Sie so wollen, den Platzwart und Hausmeister. Ausgerechnet gestern aber war ich der Letzte, der das Gelände verließ. Ich habe mich selbst davon überzeugt, dass auch alles dicht ist.«

»Sie führen beim Trainingsbetrieb die Aufsicht?«, übernahm nun Vögelein.

»Meistens. Ich bin Trainer, Betreuer, Beichtvater, Organisator, Sponsor, alles in einer Person – die Mutter des Vereins sozusagen. Grupp ist mein Name.«

»Haben Sie eine Erklärung, wie die Täter in die verschlossene Halle gelangt sein könnten, Herr Grupp? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurde ja keine Gewalt angewendet.«

»Fragen Sie mich was Leichteres. Jedenfalls fehlt kein Schlüssel, das steht fest.«

»Ist dieser Mirko zu sprechen? Ich meine, ist er hier?«

»Was wollen Sie denn von ihm?«

»Ist er hier?«

»Klar. Nach dem Vorfall heute Nacht hab ich ihn hergerufen. Aber er wird Ihnen auch nicht weiterhelfen können.« Er drehte sich kurz um und suchte mit den Augen das Gelände ab. Dann rief er: »Mirko, komm mal her.«

Ein kräftiger junger Mann mit leuchtend gelber Baseballmütze drehte sich zu ihnen um. Nach kurzem Überlegen ließ er die vier Riemen, die er gerade zum Bootssteg tragen wollte, auf den Boden fallen und bewegte sich aufreizend langsam auf sie zu.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, du sollst sorgsamer mit dem Gerät umgehen!«, fuhr Grupp ihn an. Er schien nicht gerade zu Mirkos Freunden zu zählen. »Diese beiden Herren hier sind von der Kripo, Sie haben ein paar Fragen an dich.«

»Fragen?«, antwortete Mirko misstrauisch. Jetzt erst sah Wolf den Zahnstocher, der aus seinem Mund ragte.

»Eigentlich nur eine: Ist Ihnen gestern oder in den Vortagen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen, das im Zusammenhang mit dem Vorgang in der vergangenen Nacht stehen könnte?«

»Nein, nichts.«

»Die Schlüssel sind vollzählig und die Schlösser nicht beschädigt, stimmen Sie dem zu?«

»Ja«, erwiderte Mirko einsilbig. Dabei zog er den Zahnstocher heraus und blickte gelangweilt in die Runde.

Wolf und Vögelein sahen sich an. Dieser Mirko schien von der Vorstellung, mit ihnen zu kooperieren, nicht sonderlich begeistert, der Geier mochte wissen, warum! Da jedoch nach Grupps Aussage kein Schaden vorlag und der Verein aus diesem Grund auch keine Anzeige erstatten wollte, sah Wolf im Augenblick von weiteren Fragen ab.

»Hanno, nimmst du bitte die Personalien der beiden Herren auf?« An Grupp gewandt, fügte er hinzu: »Reine Routine! Können wir anschließend in die Halle?«

»Aber bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.«

Die Halle diente im Wesentlichen als Bootslager, darüber hinaus gab es noch eine Werkstatt, zwei Umkleideräume sowie Duschen und Toiletten. Ihr Inneres entsprach exakt Jos Schilderung – bis auf die Lichtverhältnisse. Zu dieser Tageszeit war es durch die Oberlichter ausreichend hell, sodass kein künstliches Licht erforderlich war. Wolf überzeugte sich davon, dass die Deckenlampen für die Halle von beiden Zugängen aus geschaltet werden konnten.

Aufmerksam schritten Wolf und Vögelein sodann den Gang zwischen dem linken Bootsregal und der Außenwand ab – hier hatte der Unbekannte Jo angegriffen.

Sie waren fast am Ende des Ganges angelangt, als ein Gegenstand auf dem Boden Wolfs Aufmerksamkeit erregte. Neugierig geworden, hielt er mit einer Hand sein Barett fest und ging in die Hocke. Obwohl von dem zuunterst liegenden Boot fast gänzlich verdeckt, war das undefinierbare Etwas seinem geschulten Blick nicht entgangen.

»Hanno, schaust du mal?«

Vögelein ging nun seinerseits in die Knie. »Könnte sich um eine Kette handeln«, meinte er schließlich.

Vorsichtig tastete Wolf unter das Boot und holte den Gegenstand hervor. Tatsächlich handelte es sich um ein äußerst feingliedriges, matt schimmerndes Silberkettchen. »Genau in der Mitte gerissen!«, stellte er fest und wies auf den intakten Verschluss. »Wenn wir Glück haben, finden wir noch einen Anhänger, der dazugehört. Besorgst du uns mal einen Besen?«

Zwei Minuten später kam Vögelein mit dem Gewünschten zurück. Systematisch fuhren sie nun mit dem Besen den Fußboden unter dem Bootskörper ab, nahmen bei jeder Bahn den zutage geförderten Staub genauestens unter die Lupe, bis sie gut fünf Meter vom Fundort der Kette entfernt überraschend Erfolg hatten.

Mit spitzen Fingern griff Wolf in das zusammengefegte Häufchen, befreite den gefundenen Gegenstand durch Pusten vom Staub, um ihn anschließend gegen das Licht zu halten.

»Bingo, Chef!«, kommentierte Hanno Vögelein beeindruckt.

Was Wolf da zwischen den Fingern hielt, war in der Tat ein Kettenanhänger, und zwar ein äußerst bemerkenswertes Stück: ein gut fünf Zentimeter langes Kreuz aus Silber, mit geheimnisvollen Symbolen äußerst kunstvoll ziseliert. Die Abmessung der oben angelöteten Öse passte exakt zu dem Silberkettchen.

»An Jo habe ich dieses Ding noch nie gesehen«, stellte Wolf befriedigt fest, »demnach muss es vom Täter stammen!«

Vögelein nickte. »Ganz Ihrer Meinung, Chef. Auch ein Vereinsmitglied können wir wohl ausschließen. Wer so was verliert, geht nicht weg, ohne danach zu suchen. Ziemlich sicher hat Jo ihrem Widersacher die Kette beim gestrigen Kampf vom Hals gerissen. Dafür spricht auch der große Abstand zwischen Kette und Kreuz.«

Wolf steckte Amulett und Kette in einen Klarsichtbeutel, von denen er stets einige mit sich führte, und verschloss ihn sorgfältig.

Nur wenig später trafen sie wieder in der Polizeidirektion ein. Vögelein erklärte, Schmerzen im Kniegelenk zu haben und steuerte leicht hinkend den Aufzug an.

»Warmduscher«, grummelte Wolf abfällig und nahm wie gewohnt die Treppe. Auf dem obersten Absatz wurde er von Jo empfangen, die aufgeregt ihren Notizblock schwenkte.

»Jetzt lass mich erst mal Luft holen, Mädchen«, wehrte er ab, während Vögelein durch allerlei wunderliche Verrenkungen einen Blick auf Jos Notizblock zu erhaschen suchte.

»In fünf Minuten bei mir«, bestimmte Wolf dann, drückte Vögelein den Beutel mit den gefundenen Beweisstücken in die Hand und knurrte etwas, das sich wie »KTU« anhörte, ehe er in seinem Büro verschwand. Ohne einen klitzekleinen Pastis und wenigstens eine halbe Zigarette würde erst mal gar nichts laufen, ein Hauptkommissar im pensionsreifen Alter war schließlich kein ICE.

Doch er wurde bitter enttäuscht. Als er den Ordner wegnahm und die Flasche hervorholen wollte, griff er ins Leere. Da schiss doch der Hund ins Feuerzeug – er hatte schon wieder vergessen, für Nachschub zu sorgen! So konnte das nicht weitergehen, nahm er sich zum wiederholten Male vor und zündete fahrig eine Zigarette an. Nach wenigen Zügen drückte er sie wieder aus und öffnete das Fenster. Er wollte Vögelein keinen Anlass bieten, in stummem Protest den Leidenden zu spielen.

Pünktlich auf die Sekunde standen die beiden auf der Matte. Jo hatte ihr wichtigstes Gesicht aufgesetzt, siegessicher schwenkte sie ihren Notizblock, während Vögelein seine überdimensionale Nase hochstreckte und zu schnuppern begann.

»Eine Frage, ehe du anfängst, Jo: Sind die Phantombilder raus?«, wollte Wolf wissen.

»Wie? Ach so, ja, alle verschickt, auch an den ›Seekurier‹. Darf ich jetzt …«

»Und das Amulett mit der Kette ist bei der KTU?« Diese Frage war an Vögelein gerichtet.

»Na klar. Oder denken Sie, ich hätte Alzheimer?«, schnappte Vögelein. Und nach erneutem Schnuppern fügte er aufmüpfig hinzu: »Kann es sein, dass es bei Ihnen nach kaltem Rauch riecht, Chef?«

»Schon möglich. Ich hab aber gelüftet.« Er sah Vögelein durchdringend an. »Vielleicht solltest du dir ab und zu selber mal eine reinziehen, dann wären deine Atemwege nicht so empfindlich. Schau mich an: Hast du mich schon jemals schniefen hören? So, wir fangen an. Schieß los, Jo.«

»Also, Sie hatten mal wieder recht, Chef: Die Sterberate vermögender älterer Witwen ist in dem Zeitraum, den Karin Winters Liste umfasst, tatsächlich exorbitant hoch. Präziser gesagt: Im letzten Quartal des Vorjahres gab es nur zwei Todesfälle, die in unser Raster passen, im ersten Quartal dieses Jahres sogar nur einen. Danach stieg die Zahl plötzlich an: Im zweiten Quartal waren es schon drei, davon die beiden letzten gegen Ende des Quartals. Und zwischen dem 30. Juli und dem 15. Oktober verstarben, wie wir wissen, sogar sechs Zielpersonen. Das heißt im Klartext: Die Sterberate lag über einen längeren Zeitraum konstant niedrig, ehe sie etwa zur Jahresmitte auffallend anstieg. So viel zu Punkt eins. Und nun zu Punkt zwei, den Totenscheinen: Die waren eigentlich unauffällig.«

»Ja, und?«

»In allen Fällen waren natürliche Todesursachen angegeben.« Sie warf einen Blick auf ihren Notizblock. »Allein dreimal Herzversagen, je einmal Leberzirrhose, Lungenemphysem und Nierenversagen infolge eines Krebsleidens. Ich habe daraufhin zwei der Ärzte angerufen, die die Totenscheine ausgestellt haben. Während der erste bei den beiden von ihm untersuchten Leichen auf natürlichen Todesursachen beharrte, räumte der zweite in mindestens einem Fall ein, kurzzeitig Zweifel gehabt zu haben. Es handelt sich dabei um die Frau, die ihr Vermögen Havanna und Einstein vermachte.«

»Hat er begründet, was ihn an einem natürlichen Tod zweifeln ließ?«

»Sehr ausführlich, ich habe alles mitgeschrieben. Soll ich vorlesen?«

»Untersteh dich! Trotz aller Zweifel hat er dann doch den natürlichen Tod bescheinigt. Warum?«

»Er sagt, er habe letztlich nach Abwägen aller Umstände und unter Einbeziehung der Krankengeschichte der Frau sowie deren familiärer und erbrechtlicher Situation einen unklaren Hintergrund ausgeschlossen, der eine Obduktion zwingend vorgeschrieben hätte.«

Wolf erhob sich und trat ans Fenster. Währenddessen ging Jo kurz in ihr Büro hinüber und kam mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kaffeekanne nebst zwei Tassen und dem erforderlichen Zubehör sowie ein Glas Mineralwasser standen.

Auch Wolf kehrte wieder an den Tisch zurück und nahm Platz, stillschweigend goss Jo Kaffee ein und stellte das Wasser vor Vögelein hin. Anschließend fragte Wolf: »Du sagtest vorhin, er habe in mindestens einem Fall gezögert. Wie hieß die andere Verstorbene, bei der sich der Doktor nicht sicher war?«

Jo schob ihm einen Zettel hin.

»Ich werde eine Exhumierung beantragen. Sommer muss uns die Genehmigung beschaffen, er versteht sich gut mit Staatsanwalt Dr. Hirth. Ich hoffe, dass sie es mit vereinten Kräften schaffen, den diensthabenden Richter – ich denke, das wird Dieterich sein – weichzuklopfen.«

* * *

Das musste man Sommer lassen: War er erst Mal für eine Sache gewonnen, machte er Nägel mit Köpfen. Kaum hatte ihm Wolf den aktuellen Stand ihres Falles dargelegt, griff Sommer auch schon zum Telefon. Nach ein paar kurzen Sätzen knallte er den Hörer auf die Gabel zurück. »Hirth erwartet uns«, sagte er und erhob sich. »Am besten, du kommst gleich mit!«

Wenig später standen sie vor Hirths Büro. Während Sommer klopfte, glitt Wolfs Auge über das Schild neben der Tür. »STAATSANWALTSCHAFT, DR. HIRTH«, stand da. Oben links in der Ecke war das Landeswappen von Baden-Württemberg aufgedruckt.

Als von innen ein forsch gerufenes »Ja!« ertönte, traten sie ein. Wolf war stets aufs Neue überrascht über die Größe des Raums. In der Polizeidirektion würden sich gut und gerne sechs Beamte dieselbe Fläche teilen. Die Außenwand war mit vier großen, nach Süden gehenden Fenstern versehen, deren Rollos wegen der Sonne zur Hälfte heruntergelassen waren. Gegenüber befand sich ein über die gesamte Breite des Raumes reichender, lediglich durch die Eingangstür unterbrochener Einbauschrank. Die verbleibende Fläche teilten sich ein gewaltiger Schreibtisch, auf dem ein 21-Zoll-Monitor und ein Laptop dominierten, ein Besprechungstisch mit sechs Stühlen direkt gegenüber sowie ein Glasgefäß vom Ausmaß einer überdimensionalen Badewanne, das sich bei näherem Hinsehen als magisch beleuchtetes Aquarium erwies.

»Guten Tag, die Herren. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Zu Wolfs Verwunderung schien Hirths Stimme aus dem Aquarium zu kommen. Dabei handelte es sich allerdings um eine akustische Täuschung, denn unvermittelt tauchte Hirths Kopf hinter dem Glasungetüm auf. Er hatte ein Döschen in der linken Hand, vermutlich Fischfutter, das er nun sorgsam verschloss und anschließend in eines der Schrankelemente stellte. Wolf konnte sich im Moment nicht erinnern, Hirth jemals bei einer anderen Tätigkeit als dem Füttern seiner Fische angetroffen zu haben, von seinen Auftritten im Gerichtssaal abgesehen.

Ohne Eile öffnete der Staatsanwalt sodann eine andere Schranktür, hinter der ein Waschbecken zum Vorschein kam, an dem er sich sorgfältig die Hände wusch. Derweil hatte Sommer an dem Besprechungstisch Platz genommen. Mit einem kurzen Wink forderte er Wolf auf, es ihm gleichzutun. Sommer konnte sich das leisten; er war mit Hirth gut befreundet, was sich in der Vergangenheit schon mehrfach als äußerst hilfreich erwiesen hatte.

Endlich nahm sich Hirth Zeit für seine Besucher. Zunächst schilderte Wolf den Hintergrund des aktuellen Falles, ganz besonders stellte er die Tatsache heraus, dass die Zahl der Todesfälle bei der fraglichen Zielgruppe ab Mitte des Jahres auffällig angestiegen war. Dezidiert wies er dann auf die Leichenschau hin, bei der dem untersuchenden Arzt vorübergehend Zweifel über die Todesursache gekommen waren.

»Vor diesem Hintergrund halten wir eine Exhumierung der alten Dame mit nachfolgender Obduktion für zwingend erforderlich«, schloss Sommer.

Gespannt blickten die beiden auf den Staatsanwalt. Seine Beurteilung würde darüber entscheiden, ob sie in dieser Sache weiterkamen. Eine volle Minute lang rieb sich Hirth die Nase, ehe er aufstand und zu seinem Schreibtisch hinüberging. Er nahm den Telefonhörer ab und drückte eine Taste.

»Staatsanwaltschaft Überlingen, Hirth. Guten Tag. Ich brauche einen Termin für eine Exhumierung. Es ist dringend.« Er las Name, Geburts- und Sterbetag der zuletzt verblichenen alten Dame von einem Zettel ab, den Wolf ihm gereicht hatte. Es folgte eine kurze Pause, ehe er weitersprach: »Ja, ich notiere! Gut! Vielen Dank auch. Auf Wiederhören.«

Dann setzte er sich wieder zu ihnen an den Tisch. »Sechzehn Uhr auf dem Überlinger Hauptfriedhof. Schneller ging’s nicht«, grinste er.

»Und ich hab schon befürchtet, wir müssten bei Richter Dieterich antreten«, grinste Sommer zurück.

»Wieso? Wir sind doch hier nicht im Kindergarten, wo man bei jedem Problem erst mal die Tante Richter fragen muss«, flachste Hirth, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Nein, lieber Ernst, dafür reicht die Entscheidungsbefugnis der Staatsanwaltschaft voll und ganz aus. Möchte nicht wissen, wie der Richter die Sache beurteilt hätte. Zumindest hättet ihr eine Menge Zeit verloren.«

Sommer hatte Wolf gebeten, ihn noch kurz in sein Büro zu begleiten. »Kaffee?«, fragte er auf dem Weg durch das Vorzimmer.

Wolf wehrte ab. »Danke.«

»Was heißt das – danke ja oder danke nein?«

»Eher nein, nicht vor dem Essen. Sag mir lieber, was noch anliegt, mir brennt die Zeit unter den Nägeln.«

»Also: Morgen erscheinen die Phantombilder zu eurem Fall in der Presse, richtig?«, fragte Sommer, als sie Platz genommen hatten.

Wolf nickte. »In allen Zeitungen der Region, hoffe ich.«

»Genau darauf will ich hinaus. Erfahrungsgemäß laufen nach einem solchen Aufruf die Telefone heiß. Das bedeutet, ihr braucht Verstärkung. Deshalb bilden wir eine Soko. Die Leitung übernimmt das D1, also du, Leo. Nimm einen deiner Leute …«

»Vögelein«, warf Wolf dazwischen.

»Gut, also Vögelein. Dazu stellen die anderen Dezernate je einen Kollegen ab. Damit verfügst du ab morgen früh über eine Soko von fünf Leuten. Das müsste fürs Erste reichen, um allen eingehenden Hinweise nachzugehen. Ich werde die Dezernatsleiter sofort informieren.«

Auf dem Weg zurück in sein Büro hatte Wolf einen gesunden Hunger verspürt und sich in der Kantine kurzerhand zwei Butterbrezeln besorgt. Nun saß er in seinem Büro und kaute auf beiden Backen, als sein Telefon klingelte.

»Wollen Sie vorab den Artikel lesen, der morgen früh neben Ihren Phantombildern stehen wird, Herr Wolf?«, fragte Karin Winter.

»Was soll das bringen? Ich verlass mich da ganz auf Sie, Sie sind der Profi. Hauptsache, die Bilder kommen gut … Entschuldigen Sie, nichts gegen Ihre Schreibe, ich meine nur …«

»Schon verstanden. Aber dass mir später keine Klagen kommen. Was ist eigentlich aus meiner Liste der vermögenden alten Damen geworden? Haben Sie in dieser Sache schon etwas erreicht?«

Wolf, der ihre Frage befürchtet hatte, versuchte abzuwiegeln. »Nicht wirklich. Wenn’s was Neues gibt, melde ich mich.« Er musste der Winter ja nicht unbedingt auf die Nase binden, was sie angeleiert hatten. Was nicht aus der Direktion herausdrang, konnte auch nicht an die große Glocke gehängt werden.

So einfach ließ sich Karin Winter jedoch nicht abspeisen. »Und das soll ich Ihnen abnehmen? Nun enttäuschen Sie mich aber, Herr Wolf. Wie ich Sie kenne, haben Sie die Namen längst überprüfen lassen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sich dabei bestimmte Verdachtsmomente ergeben haben und dass Sie weiterermitteln. Nun kommen Sie schon, lassen Sie die Katze endlich aus dem Sack!«

Wolf versuchte es mit einem Winkelzug: »Wohnen Sie eigentlich noch im Hotel?«

Doch Karin Winter durchschaute das Spiel. »Lenken Sie nicht ab! Mein Chef vertritt seit Langem die Meinung, ich sei Ihr bestes Pferd im Stall. Wenn dem so ist, sollten Sie mich bei Laune halten.« Sie begann, verhalten zu kichern. »Sie wollen doch nicht, dass ich auf eigene Faust ermittle, oder?«

Wolf begann vernehmlich zu seufzen. Er hatte es geahnt: Wenn ihm die Winter so kam, konnte er ihr sein Wissen kaum vorenthalten. Es war ja richtig, sie hatte eine wichtige Vorarbeit geleistet, ohne die die Ermittlungen kaum so weit gediehen wären – zumindest nicht so schnell. Genau genommen hatte sie sie überhaupt erst an diesen Ermittlungsstrang herangeführt. Sicher, früher oder später wären sie von selbst drauf gekommen … trotzdem …

Dieses »trotzdem« gab den Ausschlag, entschlossen schob er alle Bedenken beiseite. »Also gut«, meinte er versöhnlich, »Sie lassen ja doch nicht locker. Noch heute wird eine der Frauen, die auf Ihrer Liste stehen, exhumiert.«

»Wo?«

»Auf dem Hauptfriedhof Überlingen.«

»Wann?«

»Sechzehn Uhr.«

Sie kicherte erneut. »Ich werde da sein.«

»Aber …«

»Weiß schon: dezent im Hintergrund. Und die Information hab ich selbstverständlich nicht von Ihnen. Sie können sich auf mich verlassen, Herr Wolf. Ich weiß auch, dass das Ganze sehr unspektakulär verlaufen wird, aber ich brauche wenigstens ein Bild von der Ausgrabung, zur Abrundung meines späteren Berichts. Danke – bis später.«

Wolf konnte nur hoffen, dass sie sich auch an ihre Zusage hielt. Mit zwiespältigen Gefühlen fingerte er eine Zigarette heraus und steckte sie an.

* * *

Punkt sechzehn Uhr verließ eine kleine Gruppe das Verwaltungsgebäude des Städtischen Friedhofs Überlingen. Ihr Ziel war eines der neueren Gräberfelder im nördlichen Teil des Gottesackers. Außer Wolf waren Staatsanwalt Dr. Hirth, ein Beamter der Friedhofsverwaltung mit zwei ihm unterstellten städtischen Arbeitern sowie der Inhaber des seinerzeit beauftragten Bestattungsunternehmens anwesend – diese Gruppe nun unterschied sich von den üblichen Trauerzügen im Wesentlichen dadurch, dass der von ihr mitgeführte Wagen den Sarg nicht, wie sonst üblich, auf dem Hinweg, sondern erst auf dem Rückweg tragen würde. Im Übrigen war ihr Auftritt ganz offenkundig rein geschäftlicher Natur: Sämtliche Beteiligten gingen ohne schwarze Anzüge, ohne zur Schau getragene Trauermienen, ohne das bei solchen Gängen zelebrierte respektvolle Schweigen.

Ein Glück, dass das Wetter heute mitspielt, dachte Wolf. Das ersparte ihm dreckige Schuhe durch das Herumstapfen in dem aufgeweichten Aushub. Er hatte im Verlauf seiner fast vierzig Dienstjahre ein gutes Dutzend Exhumierungen mitgemacht, der Vorgang selbst berührte ihn nicht mehr sonderlich.

Während des fünfminütigen Fußmarsches hielt er immer wieder Ausschau nach Karin Winter, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Wahrscheinlich wartete sie in der Nähe des Grabes. Wolf konnte nur hoffen, dass sie sich unauffällig verhielt; es wäre ihm unangenehm, wenn Hirth sie entdeckte. Staatsanwälte hatten von Berufs wegen eine Aversion gegen Presseleute, noch dazu bei einer kurzfristig anberaumten Exhumierung. Misstrauisch, wie sie waren, vermuteten sie sofort eine undichte Stelle im Sicherheitsapparat.

Endlich waren sie an ihrem Bestimmungsort angelangt. Akribisch überzeugte sich der Beamte der Friedhofsverwaltung davon, dass sie auch wirklich das gesuchte Grab vor sich hatten und machte einen entsprechenden Vermerk in sein Protokoll. Sodann stellte er die Anwesenheit der für eine Exhumierung vorgeschriebenen Personen fest. Auf eine entsprechende Frage des Staatsanwaltes erklärte er, dass die Verstorbene keine Angehörigen gehabt habe. Dann begannen die beiden Arbeiter damit, rings um die Grabstelle Plastikplanen auszulegen, ehe sie mit den Grabarbeiten begannen.

Über den Zustand der Leiche machte sich Wolf keine großen Gedanken. Von dem Beerdigungsunternehmer hatte er erfahren, dass für die Bestattung ein Eichensarg verwendet worden war. Solche Särge waren, unabhängig von Erddruck und Bodenbeschaffenheit, nach nur drei Monaten mit Sicherheit noch völlig intakt. Wolf kannte sogar einen Fall, wo ein Eichensarg nach über dreißig Jahren aus der Erde geholt worden war und sich der Sarg wie auch der Verstorbene noch in gutem Zustand befunden hatten.

Je tiefer die Arbeiter gruben, desto stärker frischte ein kühler Wind auf, sodass Wolf sein Barett fester über den Kopf ziehen musste. Fast kam es ihm so vor, als wolle sich die Verstorbene gegen die Störung der Totenruhe wehren. Irgendwann stieß einer der Spaten auf Widerstand. Mit erhöhter Vorsicht gruben die Arbeiter weiter, bis der Sarg freigelegt war. Nun führten die Männer zwei kräftige Gurte unter dem Sarg hindurch, anschließend stiegen beide auf einer hinabgelassenen Leiter nach oben und zogen den Sarg mit Hilfe der Gurte hinauf, um ihn auf den Wagen zu setzen. Eine Viertelstunde später war die Prozedur überstanden.

Wolf hatte sich verabschiedet und befand sich auf der Rückfahrt in die Polizeidirektion. Noch am Abend würde Dr. Reichmann die Leiche obduzieren, und bereits am folgenden Morgen läge ein Vorabergebnis auf seinem Tisch, das sich freilich durch die nachfolgenden chemischen Analysen noch ändern konnte. Immerhin: Mit einiger Sicherheit würden sie danach beurteilen können, ob die alte Dame eines natürlichen Todes gestorben war oder ob sich ihr Verdacht auf einen Gifttod erhärtete.

Noch einmal fiel ihm Karin Winter ein. Hatte sie die Exhumierung vergessen? Das würde überhaupt nicht zu ihr passen. Hatte sie den falschen Friedhof aufgesucht? Quatsch, er hatte ihr ausdrücklich den Hauptfriedhof genannt. Oder war ihr etwas Wichtigeres dazwischengekommen? Jedenfalls hatte er sie nirgends gesehen. Schnell verdrängte er den Gedanken an die Journalistin wieder; er würde den Grund ihrer Abwesenheit noch früh genug erfahren. Jetzt musste er erst mal nachdenken! Aus unerklärlichen Gründen hatte er das Gefühl, dass sie mit ihrem Fall an einem Wendepunkt standen. Gebe Gott, dass es so war, denn spätestens beim nächsten Toten hätten sie ein ernstes Problem.

Dann würde sie die Presse in der Luft zerreißen.

* * *

Langsam, einen Laut des Wohlbehagens ausstoßend, glitt der Rothaarige in den Whirlpool. Dieses herrlich vitalisierende Prickeln auf der Haut, diese wohlige Wärme, die den Körper umhüllte – das war so ganz nach seinem Geschmack. Konnte man den Tag angenehmer ausklingen lassen? Wohl kaum.

Doch schnell machte er sich von dem Gedanken frei; zu ernst war der Anlass seines Hierseins, um sich in derart banalen Vorstellungen zu verlieren. Wo nur sein Kompagnon blieb? In immer kürzeren Abständen sah er zu der Normaluhr hinauf, die von der Hallendecke hing und deren großer Zeiger sich unerbittlich weiterbewegte. Um zwanzig Uhr hatten sie sich in der Meersburger Bodenseetherme treffen wollen, nun war es bereits dreißig Minuten nach der vereinbarten Zeit. Beunruhigt ließ er den Blick durch die Halle schweifen, sah, mühsam beherrscht, hinaus auf den See, auf die ein- und auslaufenden Fähren, auf die nahe Mainau und das Konstanzer Ufer, auf die zahllosen Lichterketten drüben auf der schweizerischen Seite, bis er – endlich – hinter seinem Rücken das näherkommende »platsch, platsch, platsch« nasser Füße vernahm.

Der Rothaarige zwang sich, nicht herumzufahren; das hätte noch gefehlt, dass ein fremder Badegast sich zu ihm gesellte. Doch seine Befürchtung erwies sich als unbegründet. Hatte es der gnädige Herr also doch noch einrichten können! Erleichtert atmete er auf. Offensichtlich war die Verspätung nicht, wie befürchtet, auf unvorhergesehene Ereignisse zurückzuführen.

Aus den Augenwinkeln musterte er die stattliche Figur des Igelmanns bis hinab zu den knappen Badeshorts, die den nicht zu übersehenden Bauchansatz eher betonten, als dass sie ihn verdeckten.

Ohne sich auch nur im Geringsten um ihn zu kümmern, schwang sich der Dicke überraschend leichtfüßig ins Becken, wo er sofort in den sprudelnden Fluten versank. Schon fürchtete der Rothaarige, den Igelmann als Wasserleiche bergen zu müssen, als dieser überraschend doch noch auftauchte und sich unter heftigem Prusten wie ein nasser Hund zu schütteln begann. Danach klammerte er sich mit beiden Händen an die Haltestange und ließ sich von einem kräftigen Wasserstrahl den Bauch massieren. Endlich drehte er sich um.

»Zwanzig Uhr war ausgemacht«, knurrte der Rothaarige vorwurfsvoll. »Vergessen?«

»Entschuldige, aber ich hab auf dich auch schon warten müssen. Vergessen? Diese konspirativen Treffs sind ohnehin ziemlich hirnrissig«, kam es aufgebracht zurück. »Wieso können wir uns nicht wie ganz normale Leute zu Hause besprechen?«

»Diese Frage stellst du jetzt nicht im Ernst, oder? Dann könnten wir unsere Pläne ja gleich im ›Seekurier‹ veröffentlichen! Du weißt so gut wie ich, dass wir nicht das geringste Risiko eingehen dürfen. Nicht bei dem, was wir vorhaben! Zu Hause haben die Wände Ohren: Ein unbedachtes Wort – von einem der Brüder oder Schwestern zufällig aufgeschnappt –, und alles fliegt auf. Willst du das?« Als der Angesprochene nur schweigend mit den Füßen strampelte, fasste der Rothaarige das als Zustimmung auf. »Na also!«

Mit einem schnellen Blick versicherte er sich, dass keine ungebetenen Zuhörer in der Nähe waren, ehe er fortfuhr: »Die Polizei versucht, uns ins Handwerk zu pfuschen.«

»Wieso … was ist passiert?«

»Morgen früh erscheinen im ›Seekurier‹ unsere Konterfeis samt Personenbeschreibung.«

Die Augen des Dicken weiteten sich. »Was soll das heißen? Wie kommst du darauf?«

»Hab vor einer Stunde einen Anruf erhalten«, erläuterte der Rothaarige. Übergangslos glitt ein Lächeln über sein Gesicht, sein Zorn schien bereits wieder verraucht. »Keine Angst, es handelt sich um Phantombilder, von den Bullen nach Zeugenaussagen angefertigt. Die Ähnlichkeit mit uns soll allerdings sehr zu wünschen übrig lassen; genau genommen hätten die beiden Typen auf den Bildern mit uns nicht das Geringste zu tun.«

Nachdenklich kaute der Igelmann auf seiner Unterlippe. Plötzlich fuhr er hoch. »Augenblick mal: Wieso eigentlich zwei Typen? Wie können die von dir ein Phantombild fertigen, du bist doch den Bullen noch gar nicht aufgefallen?«

»Nun, das ist der zweite Punkt, über den ich mit dir sprechen wollte. Offensichtlich ist mir gestern Abend jemand gefolgt.« Detailliert schilderte er den Zwischenfall in dem ÜRC-Bootshaus.

»Verdammte Scheiße! Und du hast keine Ahnung, mit wem du zusammengerasselt bist?«, hakte der Igelmann nach.

»Könnte die junge Polizistin gewesen sein, die Kollegin von diesem Wolf. Ja, ich bin mir sogar ziemlich sicher. Weiß der Henker, wie sie mir auf die Spur gekommen ist …«

»Nein, ich meine den anderen. Den, der sie herausgehauen hat«, unterbrach ihn der Igelmann.

»Darüber zerbrech ich mir schon die ganze Zeit den Kopf. Tut mir leid, ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Klingt nicht gerade beruhigend.«

»Trotzdem – kein Grund, sich deswegen gleich in die Hose zu machen. Unsere Maskierung war perfekt, niemand kann uns erkannt haben. Und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Vorausgesetzt, wir gehen weiterhin vorsichtig zu Werke.«

»Wir werden sehen … spätestens morgen früh, wenn wir den ›Seekurier‹ aufschlagen.« Besorgt legte der Igelmann den Kopf in den Nacken und starrte zur Hallendecke hinauf.

Der Rothaarige blieb unbeeindruckt. Er kannte das, es war schon immer so. Nicht nur, dass er selbst sich stets als der psychisch und physisch Stärkere erwiesen hatte, als der rationale Analyst und kreative Planer, der seine Vorhaben, einmal beschlossen, auch konsequent in die Tat umsetzte. Wie sonst hätte er binnen Kurzem zum Kopf der Gruppe aufsteigen können? Im Gegensatz zu seinem fülligen Partner, der häufig zu Kleinmut neigte und Risiken nach Möglichkeit aus dem Weg ging, war er selbst, Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, aus härterem Holz geschnitzt. Schwierigkeiten waren dazu da, um aus dem Weg geräumt zu werden – das war sein Credo!

»Viel mehr Sorgen als die Phantombilder macht mir der Text, der dabeistehen wird«, sagte er. »Die Winter wird zunehmend gefährlicher für uns. Sie hat unsere Warnung in den Wind geschlagen und recherchiert weiter in der Sache.«

Hellhörig geworden, hob der Igelmann den Kopf. »Und … was willst du dagegen unternehmen? Bisher hat sie uns ja nicht groß geschadet. Außerdem: Wenn du sie ausschaltest, rückt ein anderer nach. Was sollte sich also dadurch ändern?«

Da war er wieder, dieser Kleinmut. Am besten, er behielt seine Pläne für sich. Warum sollte er die Katze jetzt schon aus dem Sack lassen? Wenn es so weit war, würde dieses Weichei sowieso tun, was er von ihm verlangte. »Wir reden darüber, wenn’s so weit ist«, beruhigte er seinen Kompagnon. »Jetzt komm, lass uns an der Bar einen Schampus trinken, das regt an.«