8

Als Jo am darauffolgenden Morgen zum Dienst erschien, war sie noch immer stinksauer. Zum ersten Mal in ihrem Leben hasste sie ihren Job. Sie hatte sich am Vorabend so ins Zeug gelegt, war anschließend in Windeseile zu ihrer Wohnung gerast, um sich wenigstens notdürftig herzurichten, doch alles war umsonst gewesen. Tom war nicht mehr da gewesen; wie hätte sie auch erwarten können, dass er sich eine Dreiviertelstunde lang die Füße in den Bauch stand. Sie hatte ihn angerufen und sich kleinlaut entschuldigt.

»Tut mir leid, Lady, bin bereits wieder im Dienst. Sie wissen ja: Ohne Eier keine Feier, wie man bei uns zu sagen pflegt. Vielleicht ein andermal.«

Er hatte nicht sehr enttäuscht geklungen. Das war’s dann wohl, dachte sie und knallte ihre Tasche auf den Schreibtisch.

Erschreckt schnellte am zweiten Tisch eine Gestalt auf. Vögelein. Was wollte der denn schon hier? Als Frühaufsteher war er ihr bisher noch nicht aufgefallen. Mit leichter Sorge musterte sie sein Äußeres. Anders als sonst ging er heute nicht barhäuptig, sondern hatte sich eine Wollmütze über den Kopf gezogen und den Hals womöglich noch dicker als sonst mit einem Schal umwickelt. Teilnahmslos starrte er auf seinen Bildschirm.

»Du hier?«, staunte sie und schluckte den üblichen Morgengruß hinunter. »Solltest du nicht besser bei deiner Soko sein?«

»Geht nicht, muss zum Arzt«, hauchte er leidend, was umso ungewöhnlicher war, da er am Vortag vor Gesundheit doch nur so gestrotzt hatte.

Sie betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten. »Wo fehlt’s denn heute, wenn man fragen darf?«

»Nun ja«, setzte er mit halb geschlossenen Augenlidern zu einer Erklärung an, »über den drohenden grippalen Infekt, mit dem ich heute früh aufgewacht bin, will ich jetzt nicht reden, der wäre noch das Wenigste. Nein, Sorgen macht mir der Bauchbereich … Ein Tumor vielleicht … der mich langsam von innen auffrisst.«

»So plötzlich? Woran erkennt man das?«

»Hab mich heute früh gewogen. Drei Mal, wie jeden Morgen. Beim dritten Mal zeigte die Waage hundertfünfzig Gramm weniger.«

Ohne es zu wollen, brach Jo in lautes Gelächter aus. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte.

»Ja, lach du nur«, quittierte Vögelein ihren Heiterkeitsausbruch mit beleidigter Miene. Dann sah er flüchtig auf die Uhr. »Um acht macht mein Arzt seine Praxis auf. Er wird mir die ungeschminkte Wahrheit sagen, dann werden wir ja sehen.«

Jo riss sich zusammen und blickte mitfühlend auf Vögeleins zusammengesunkene Gestalt hinab. »Sag mal«, setzte sie vorsichtig an, »könnte es vielleicht sein, dass der wahrhaft dramatische Gewichtsverlust nur deshalb eingetreten ist, weil du zwischen dem zweiten und dritten Wiegen auf der Toilette warst?«

Vögelein stand abrupt auf und stapfte mit gesenktem Kopf zur Tür.

»Der Chef hat für zehn Uhr eine Lagebesprechung angesetzt«, rief Jo ihm kopfschüttelnd hinterher.

Ob Vögelein den Sermon, den er da verzapfte, selber glaubte? Vermutlich ja. Sie wusste, dass Hypochondrie im weitesten Sinne als Krankheit galt, nicht umsonst lautete die medizinisch korrekte Bezeichnung »hypochondrische Neurose«. Wäre es anders gewesen, hätte sie sich über Vögeleins Fehlinterpretationen körperlicher Zeichen und Empfindungen bestens amüsiert. So aber gefror ihr Lachen oft zu einer Maske, schließlich lag ihr nichts ferner, als sich über ihn lustig zu machen. Er war, von der Hypochondrie mal abgesehen, ein ganz brauchbarer Kollege, auf seine kriminalistischen Fähigkeiten jedenfalls hielt sie große Stücke.

Die nachfolgende Stunde verbrachte Jo damit, mit der Spurensicherung und dem Labor zu telefonieren und die erhaltenen Informationen zu protokollieren. Anschließend schaute sie im Büro der Soko vorbei. Sie wollte Vögelein entschuldigen und sich – für den Fall, dass er bis zehn Uhr nicht zurück sein sollte – über die aktuellen Ergebnisse der Sonderabteilung unterrichten lassen.

Zu Jos Überraschung hatte Wolf Wort gehalten: Zwei Minuten vor zehn stapfte er in ihr Büro, wünschte ihr aufgeräumt einen guten Morgen und fügte hinzu, von ihm aus könne die Lagebesprechung pünktlich beginnen. Irritiert sah er auf den leeren Stuhl vor dem zweiten Schreibtisch. »Wo ist Hanno?«, fragte er mit erhobenen Brauen, und als hätte Vögelein nur auf dieses Stichwort gewartet, betrat er just in diesem Augenblick den Raum und gab Jo verstohlen ein Zeichen, die Sache mit dem Arztbesuch für sich zu behalten.

»Wir sind komplett, es kann losgehen«, stellte Jo fest, schnappte Block und Schreibzeug und machte sich auf den Weg in Wolfs Büro. Auf dem Konferenztisch stand bereits eine Kanne Kaffee nebst den erforderlichen Utensilien. Was Vögelein anbetraf, so hatte er heute auf sein Mineralwasser verzichtet – Jo vermutete, er wolle seinen Tumor nicht reizen.

»Soll ich anfangen?«, fragte Jo, als sie Platz genommen hatten. Wolf nickte zustimmend.

Sie überflog kurz die ersten Stichworte auf ihrem Block, dann hob sie den Kopf. »Bei mir geht es um vier Punkte, die ich mal schnell zusammenfasse. Den wichtigsten vorneweg: Ich habe den Herkunftsort des Rinderauges gefunden. Es handelt sich um ein fleischverarbeitendes Unternehmen in Singen. An einem speziellen Arbeitsplatz ist dort ein Mann nur mit dem Zerlegen von Rinderköpfen beschäftigt, ein Pole namens Kacinsky. Alles, was nicht verwendet wird, also auch die Augen, wirft dieser Kacinsky in einen Abfallcontainer. Am vergangenen Dienstagabend nun tauchte überraschend ein unbekannter Mann bei ihm auf und wollte so ein Auge haben.«

»Beschreibung?«, fragte Vögelein.

»Ungefähr einssiebzig groß, füllige Statur, üppiger, fast weißer Haarschopf.«

»Sieh mal einer an«, murmelte Wolf. »Entschuldige bitte. Weiter.«

»Der Pole hat ihm ein Auge mitgegeben. Ich gehe davon aus, dass er dafür Geld bekommen hat, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Wenn es allerdings nach dem Betriebsleiter gegangen wäre, hätte ich das nicht erfahren, er hat Kacinsky gleich bei meinem Eintreffen weggeschickt. Als ich den Mann schließlich doch noch zu fassen bekam, wurde er sogar regelrecht feindselig. Hat wohl nicht gedacht, dass ich so tief graben werde. Am Ende hätte er mich fast hinausgeworfen.«

»Wieso das denn? Versteh ich nicht«, warf Vögelein träge dazwischen.

»Ging mir zunächst auch so. Aber die Erklärung liegt auf der Hand: Ich nehme an, dass zumindest ein Teil der Belegschaft – wie’s aussieht Osteuropäer – nicht angemeldet ist, also schwarzarbeitet. Vermutlich hat er sich anschließend die Haare gerauft, dass er mich überhaupt in die Halle mitgenommen hat.«

»Das wäre ja ein dicker Hund«, gab Wolf seiner Überraschung Ausdruck und griff nach seiner Tasse. »Du solltest sofort die Kollegen vom Zoll verständigen.«

»Längst passiert. Weiter zu Punkt zwei: Der Anruf vom Leiter des Standesamtes gestern Abend. Demnach gibt es eine neue Tote.« An Vögelein gewandt gab sie mit knappen Worten den Inhalt des Telefonates wider.

Nun war selbst Vögelein alarmiert, für kurze Zeit wich alle Schlaffheit aus seinem Gesicht. Wolf fingerte reflexartig nach seinen Zigaretten. Er ließ erst davon ab, als er sich der warnenden Blicke seiner Mitarbeiter bewusst wurde. »Du hast die Leiche zur Rechtsmedizin schaffen lassen?«

»Klar.«

»Okay, weiter zu Punkt drei«, brummte er.

Jo goss noch einmal Kaffee nach, ehe sie einen kurzen Blick auf ihre Notizen warf und fortfuhr: »Die Spurensicherung teilt mit, dass die Fingerabdrücke auf dem Boot, in dem die beiden toten Stadtstreicher gefunden wurden, mit denen auf der Wodkaflasche aus dem Kellerloch identisch sind. Und zum letzten Punkt, er betrifft Ihre Frage von gestern Abend, Chef: Das Labor hat inzwischen die Spezifizierung des verwendeten Arsens hereingegeben.« Jo legte ein Schreiben vor ihn hin. Mit gierigen Fingern grabschte Wolf nach dem Blatt, um es zu überfliegen, offenbar auf der Suche nach einer ganz bestimmten Angabe. Schließlich schien er fündig geworden zu sein, mit zufriedenem Lächeln legte er das Schriftstück beiseite.

»War’s das?«, vergewisserte er sich mit einem fragenden Blick auf Jo, um sich nach deren Nicken Vögelein zuzuwenden. »Du bist dran, Hanno. Was macht die Soko?«

Hanno Vögelein räusperte sich. Er hatte seinen Schal inzwischen abgelegt, die Leidensmiene vom frühen Morgen war einem eher gefassteren Ausdruck gewichen. Jo bedauerte, dass sie das Ergebnis seines Arztbesuches nicht erfahren hatte; vermutlich hatte ihn der Mediziner ordentlich in den Senkel gestellt.

»Wir hatten bis heute früh zweiundsiebzig direkte Kontakte, dazu weitere sechs, die vom ›Seekurier‹ an uns weitergeleitet wurden. Gut drei Viertel davon haben wir bereits abgearbeitet, darunter auch jene vier, die besonders vielversprechend klangen. Zuerst meldete sich Grasmück … Sie erinnern sich doch an Grasmück, Chef?«

»Grasmück? Nie gehört.«

»Aber natürlich, Chef, dieser Rentner, der im Haus von Karin Winter wohnt. Ihm sei die Nummer des Wagens wieder eingefallen, den der Augenfetischist … äh, ich meine natürlich: den der Einbrecher unweit des Winter’schen Hauses abgestellt hatte. Auf diese Nummer war jedoch, wie sich herausstellte, kein grauer Audi zugelassen. Ich habe dann spaßeshalber nach Zahlenkombinationen gesucht, die entstehen, wenn geeignete Ziffern auf einfache Art mit schwarzem Klebeband verändert werden, wenn also beispielsweise aus einer Eins eine Vier gemacht wird. Auf diesem Weg konnten wir tatsächlich einen älteren grauen Audi ermitteln. Allerdings hielt sich unsere Freude in Grenzen. Da war nämlich noch ein zweiter Anruf, und jetzt halten Sie sich fest, Chef: Einer jungen Frau, die ein paar Häuser weiter wohnt, war aufgefallen, dass exakt um die fragliche Zeit ein solcher Wagen mit hochgedrehtem Motor und stark überhöhter Geschwindigkeit an ihrem Fenster vorbeifuhr, weg vom Winter’schen Haus. Wenn die Angaben der Zeugin stimmen, und die persönliche Befragung ließ daran keinen Zweifel, dann müsste der Audi … warten Sie …«, er machte eine überschlägige Berechnung im Kopf, »… ja, der Audi müsste über einen Formel-1-Motor verfügen und in längstens vier Sekunden von null auf hundert beschleunigen können – bei einer so alten Karre schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.«

Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Andererseits schwört die gute Frau Stein und Bein, der Wagen habe eine Überlinger Nummer gehabt, und die letzten drei Ziffern waren mit der von Grasmück genannten Zahlenfolge identisch …«

»Eins verstehe ich nicht: Wieso rief die Frau überhaupt an?«, wurde er von Wolf unterbrochen.

Vögelein reagierte, als wäre ihm Wolf auf die Zehen getreten: »Sie müssen mir schon Zeit lassen, Chef, ich bin ja noch nicht fertig. Also, die Frau war ziemlich sicher, in dem verhinderten Rennfahrer einen der Männer wiedererkannt zu haben, die in der Zeitung abgebildet waren.«

»Wie – sie hat den Mann und die Autonummer erkannt? Stark. Und das bei dieser Geschwindigkeit?«

»Kam mir zunächst auch unglaubwürdig vor. Aber die Frau war nicht zu erschüttern, die geborene Zeugin. Ich glaube ihr.«

»Ihr habt den Halter selbstverständlich überprüft?«

»Ja, gestern Abend noch. Der Mann scheint sauber. Es handelt sich um einen gewissen Hartmut Neidling, Verwaltungsangestellter in einer Landesbehörde, vierzig, zirka einssiebzig groß. Alter und Größe sind aber auch das Einzige, was er mit dem einen der beiden gesuchten Männer gemein hat. Zwar wirkt er ein bisschen untersetzt, das ist richtig, aber längst nicht pummelig. Im Übrigen ist er dunkelhaarig, bartlos und Brillenträger.«

Die ganze Zeit über hatte Wolf scheinbar unbewegt aus dem Fenster gesehen. Dennoch hätte Jo schwören können, dass er von den am zartblauen Himmel hängenden Schäfchenwolken nicht viel mitbekommen hatte. Sie ahnte, was ihm durch den Kopf ging, und seine nächsten Worte bestätigten ihre Annahme.

»Wenn unser Täter sein Äußeres wirklich durch eine Verkleidung ändert, dann kommt dieser Mann ebenso in Frage wie tausend andere.«

»Moment, ich bin noch nicht fertig«, schob Vögelein nach. »Der Mann hat nämlich für die fragliche Zeit ein Alibi.«

»Und wo will er gewesen sein?«

»Beten.«

»Wie bitte?« Jo und Wolf waren gleichermaßen überrascht.

»Ja, ihr habt richtig gehört: Er hat mit einem Bekannten zusammen an einem Frühgottesdienst teilgenommen.«

»Und dieser Bekannte hat das bestätigt?«

»Hat er.«

»Was hältst du von ihm? Ich meine, ist der Mann vertrauenswürdig?«

»Absolut. Heißt Peter Loske und ist Schwachstromer bei einem Elektromotorenhersteller …«

»Schwachstromer?«

»Schwachstromtechniker, so nennt man die eben«, erklärte Vögelein. »Beide engagieren sich seit Jahren in einer kirchlichen Vereinigung.« Dazu machte er ein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.

»Okay, du hast gewonnen«, seufzte Wolf. Er wirkte enttäuscht.

Jo hatte noch eine Frage. »Sagtest du nicht, es seien vier vielversprechende Anrufe eingegangen? Wenn ich richtig mitgezählt habe, fehlen noch zwei. Was ist damit?«

»Die kamen von einem Krankenpfleger und einer Patientin des Kreiskrankenhauses. Beide bezogen sich auf den Auftritt des Täters auf der Intensivstation. Sie haben nicht nur unsere eigenen Beobachtungen bestätigt, sondern ein paar ganz interessante Details beigesteuert. So haben beide den Täter beim Einschlagen des Feuermelders beobachtet.«

»Und sie haben den Mann nicht zur Rede gestellt?«

»Ging nicht. Der Krankenpfleger musste genau in diesem Moment einen Patienten aus dem Bett hieven, während die Patientin … na ja, sie lag ja selbst danieder. Danach haben beide den Mann nicht mehr gesehen, außerdem ging wegen des Alarms sowieso alles drunter und drüber.«

Damit war Vögelein mit seinem Bericht am Ende. Fragend sah er zu Wolf hinüber. Auch Jo, die mit verschränkten Armen neben ihm saß, war auf die Ausführungen des Chefs gespannt. Doch der ließ sich Zeit. »Gibt’s noch Kaffee?«, fragte er und schob seine Tasse über den Tisch.

»Nein«, antwortete Jo kurz angebunden und fasste Wolf fester ins Auge. »Was ist nun – wollen Sie uns nicht endlich von Augsburg erzählen?«

Wolf erhob sich und ging mit den Händen in der Tasche ein paar Schritte hin und her. Er dachte an Augsburg und den Abend mit Jakoby. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, Schüsseln, mit deftigen Inhalten gefüllt, zogen an seinem inneren Auge vorüber, gefolgt von Batterien schäumender Bierkrüge und Myriaden von Gitanes, dazwischen verschwommen Jakobys freundlich lachendes Gesicht …

Über alles Weitere hatte ein gnädiges Schicksal den Schleier des Vergessens gelegt. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er nach dieser unglaublichen Fress- und Sauforgie in den »Augsburger Hof« zurückgekommen war. Doch eins war merkwürdig: Noch immer sah er glasklar das Schild vor sich, das über dem Eingang des Lokals in der Augsburger Altstadt hing: »Bauerntanz«. Diesen Namen würde er sein ganzes restliches Leben lang nicht vergessen!

Er nahm wieder Platz und setzte endlich zu einer Antwort an.

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen.« Er gab seinen Mitarbeitern einen kurzen Abriss über den Trickdiebstahl in der Augsburger Apotheke und schilderte anschließend das Gespräch mit der Apothekenangestellten.

»Alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt erfuhr, kannte ich bereits aus den Protokollen. Spannend wurde es erst, als ich die Frau mit den Phantomzeichnungen konfrontierte.« Hier legte Wolf eine kleine Kunstpause ein.

»Spannen Sie uns nicht auf die Folter. Hat die Frau die beiden Männer wiedererkannt?«, drängte Jo.

»Tja, zunächst nicht. Sie blieb, gelinde gesagt, skeptisch – bis ihr einfiel, dass einer der Männer, die das Arsen gestohlen haben, eine Warze unter dem Kinn hatte, wie die auf dem Phantombild. Um es kurz zu machen: Die Täter von Augsburg und die von uns gesuchten Männer sind identisch. Das hat jetzt auch unsere Technik bestätigt.« Triumphierend schwenkte er den Laborbericht hin und her, den er vor wenigen Minuten von Jo erhalten hatte.

»Das Augsburger und das Überlinger Arsentrioxid ebenso?«

»So ist es.«

»Heiliger Strohsack«, flüsterte Jo beinahe andächtig.

Vögelein nickte verhalten. »Damit wäre eines der vielen Rätsel gelöst. Aber hilft uns das wirklich weiter?«

Wolf, der entschlossen sein Barett zurückschob, wollte Hannos Einwand nicht gelten lassen. »Herrje, jetzt geht’s aber los! Ich finde, wir sind einen Riesenschritt vorangekommen.« Er sah, um Antwort heischend, auf Jo.

»Nun, wenn ich ehrlich sein soll …«

»Pah, euer Kleinmut enttäuscht mich. Niemand wird uns fertige Täter backen. Im Übrigen ist das auch gar nicht nötig – wir kennen sie ja bereits.«

»Wir kennen die Täter? Sollte ich da was verpasst haben?«, fragte Vögelein mit erhobenen Brauen.

»Ihr habt richtig gehört. Schließlich waren wir ihnen schon mehrfach dicht auf den Fersen. Seit heute wissen wir sogar, wie sie in den Besitz des ›Weißen Giftes‹ gekommen sind. Gut, wir kennen die genaue Identität der Leute noch nicht …«

»Ach, wenn’s nur das ist«, spöttelte Jo, die offenbar vergeblich zu verstehen suchte, wie Wolf die aus ihrer Sicht ins Stocken geratenen Ermittlungen derart positiv bewerten konnte.

»Immerhin haben wir drei Stoßrichtungen«, fuhr Wolf unbeirrt fort. »Erstens: die Nachlassregelungen der Mordopfer, speziell der vermögenden alten Witwen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie einer der Schlüssel zur Aufklärung der Giftmorde sind. Zweitens: der Audifahrer, dieser … wie hieß er noch gleich?«

»Hartmut Neidling.«

»Richtig. Alibi hin, Alibi her, an dieser Spur sollten wir dranbleiben. Und schließlich drittens: Wir kennen aus dem Augsburger Fall sogar den Namen eines der Tatbeteiligten: Gabriel Bretschwiler – vorausgesetzt, bei dem Rezept handelte es sich nicht um eine Fälschung. Dieser Bretschwiler ist bereits zur Fahndung ausgeschrieben.« Wolf hatte sich regelrecht in Rage geredet. Nach einem tiefen Atemzug schloss er mit einem »Und das alles soll uns nicht weiterhelfen?« Dabei starrte er herausfordernd auf Jo und Vögelein.

Jo, die während seiner letzten Worte unruhig hin und her gerutscht war, nickte. »Also gut. Was machen wir nun konkret?«

»Das fragst du noch?« Wolf lächelte bereits wieder. »Ich werd’s dir sagen: Du kümmerst dich um die Nachlassregelungen, und zwar pronto. Nimm dir zunächst die jüngste Tote vor. Wenn du ohne richterlichen Beschluss nicht weiterkommst, komm zu mir. Ab sofort werden die Samthandschuhe ausgezogen, keiner dieser Rechtsverdreher soll sich mehr mit Schweigepflicht herausreden können.«

»Hab verstanden.«

»Nun zu dir, Hanno.«

»Weiß schon, ich soll mich um Neidling kümmern.«

»Du hast’s erfasst. Such ihn noch einmal auf, verunsichere ihn, frag ihm Löcher in den Bauch, zieh sein Alibi in Zweifel, stell ihm meinetwegen Fangfragen, was weiß ich. Vielleicht macht er ja einen Fehler.«

»Falls er der ist, für den Sie ihn halten.«

»Falls nicht, wird er’s verwinden. Es steht inzwischen mehr auf dem Spiel als der Seelenfrieden eines möglicherweise unschuldigen Angestellten. Keine Samthandschuhe, vergiss das nicht.«

Vögelein kaute auf der Unterlippe. »Soll ich nicht gleich mit einem Durchsuchungsbeschluss anrücken? Vielleicht sogar zeitgleich einen Kollegen zu Neidlings Glaubensbruder schicken, der ihm das Alibi gab? Ich meine, wenn die beiden wirklich das sind, wofür Sie sie halten, dann könnten sie durch eine neuerliche Vernehmung gewarnt werden und belastende Gegenstände verschwinden lassen. Perücken zum Beispiel.«

»Nein, den großen Knüppel wollen wir mal hübsch im Sack lassen. Im Übrigen bezweifle ich, dass wir bei der dürren Faktenlage überhaupt einen Durchsuchungsbeschluss bekämen. Da gibt es subtilere Mittel.«

»Subtilere Mittel? Zum Beispiel?«

»Nun, du könntest dich zum Beispiel nach der Befragung unauffällig vor seinem Haus auf die Lauer legen. Vielleicht lässt er ja etwas im Müllcontainer verschwinden. Oder er fährt weg, dann folgst du ihm.«

In Vögeleins Augen blitzte so etwas wie Verstehen auf. »Aye aye, Sir.«

»Gut. Dann treffen wir uns wieder … sagen wir um eins, ja?« Wolf hielt die Lagebesprechung offensichtlich für beendet.

»Gehe ich recht in der Annahme, Chef, dass Sie sich höchstselbst um diesen Bretschwiler kümmern?«, wollte Jo abschließend wissen.

Noch ehe Wolf antworten konnte, klingelte sein Telefon. Er nickte Jo flüchtig zu, was diese als Zustimmung auffasste, griff zum Hörer und meldete sich. Was er hörte, schien ihn nicht sonderlich zu fesseln. Routinemäßig fragte er nach: »Wo genau ist das?« Während er eine Notiz machte und das Gespräch mit einem knappen »Okay, bin gleich da!« beschloss, verließ Jo gemeinsam mit Vögelein Wolfs Büro.

* * *

Karin Winter schloss den Wagen ab und sah auf die Uhr: gleich halb elf. Wie häufig am Freitagvormittag hatte sie sich in der Redaktion für eine Stunde abgemeldet. Ihre Textbeiträge für die Samstagsausgabe waren von Matuschek abgesegnet und an die Produktion weitergeleitet worden. Rechtzeitig zum Seitenumbruch, der um zwölf begann, würde sie wieder zurück sein. Dann bliebe noch ausreichend Zeit für Korrekturen und etwaige Nachläufer. Ihr Arbeitstag würde, wie an jedem Freitag, noch lange genug dauern; wenn sie Pech hatte, konnte es Mitternacht werden – was also sollte sie davon abhalten, diese Vormittagsstunde für einen ausgiebigen Lauf zu nutzen? Es gab nichts Besseres, um den Kopf freizukriegen, noch dazu hier oben, auf der Hochfläche hinter Hödingen mit ihrer abwechslungsreichen Landschaft und den weiten Ausblicken.

Schon wollte sie loswalken, als ihr einfiel, dass ihre Stöcke noch im Wagen lagen. »Wo hab ich heute bloß meine Gedanken«, schimpfte sie und schloss noch einmal auf. In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. Au weia! Mit Schrecken fiel ihr ein, dass sie heute früh vergessen hatte, den Akku aufzuladen. Ärgerlich. Doch sei’s drum: In der folgenden Stunde wäre es kein Weltuntergang, wenn der Akku ausfiel. Spätestens um zwölf war sie wieder in der Redaktion, so lange musste man dort eben ohne sie auskommen. Sie drückte auf die Empfangstaste.

»Hier spricht Friedhelm, guten Tag Karin. Störe ich?«, tönte eine gutturale Stimme.

»Nicht im Mindesten. Ich grüße Sie. Was verschafft mir die Ehre?«

»Ich wollte mich ohnehin mal wieder melden. Heute nun ergab sich ein Anlass, der meinen Anruf quasi zwingend erforderlich macht. Haben Sie von dem neuen Todesfall gehört?«

»Wie – sterben die Leute etwa immer noch?«, flachste Karin, wohl wissend, dass Männer wie Friedhelm Sonntag, die den in ihren Augen trockenen Beruf eines Notars ausübten, für derlei Späße nicht viel übrig hatten. Prompt überhörte Sonntag ihre Frage.

»Um es kurz zu machen: Ich habe hier die Nachlasssache einer gestern verstorbenen Neunundsiebzigjährigen auf dem Tisch. Sie erinnern sich an unser Gespräch im Mokkas?«

»Wie könnte ich das vergessen?«

»Diese Tote, eine nicht unvermögende Witwe, könnte möglicherweise zu der Personengruppe gehören, der bei unserem letzten Treffen Ihre besondere Aufmerksamkeit galt, wenn Sie wissen, wovon ich spreche.«

»Und ob ich das weiß. Können Sie … Hallo, hallo …« Der Empfang war unterbrochen, die Leitung tot. Verdammt, ausgerechnet jetzt! Doch plötzlich war die Verbindung wieder da. »Entschuldigen Sie, Friedhelm, mein Akku ist leer. Sagen Sie, können Sie mir zu dem neuen Todesfall etwas Näheres sagen?«

»Nicht am Telefon. Wir könnten uns ja noch mal treffen … um zwölf, wieder im Mokkas, wäre Ihnen das recht?«

Karin verdrehte die Augen zum Himmel. Nach nichts stand ihr heute weniger der Sinn als nach einem Plauderstündchen mit Friedhelm Sonntag. »Aber gerne«, hörte sie sich dennoch flöten, »bis Mittag also.« Wenn ihre Ahnung nicht trog, dann war die Sache dieses Opfer wert.

Friedhelms Antwort konnte sie nicht mehr hören, ihrem Handy war endgültig der Saft ausgegangen. Egal, die Information des Notars hatte sie just in time erreicht, wie Matuschek jetzt wahrscheinlich gesagt hätte. Achtlos warf sie das Gerät in den Wagen. Sie war nicht traurig, denn zum Sport gehörte schließlich das Naturerlebnis, da störte die Quasselbox nur. Außerdem konnte sie so in Ruhe über das eben Gehörte nachdenken.

Während sie nach ihren Stöcken griff und den Wagen abschloss, rief sie sich noch einmal das letzte Treffen mit Friedhelm Sonntag ins Gedächtnis. Drei Tage lag die Unterredung erst zurück, und dennoch: Welche Dynamik hatte der Fall seitdem entwickelt! Inzwischen gefährdete er sogar ihre persönliche Sicherheit. Seit Tagen schlief sie in einer Nussdorfer Pension, ihre Wohnung hatte sie in dieser Zeit nur einmal aufgesucht – in Begleitung eines kräftigen Kollegen. Leider steckten die Ermittlungen derzeit in einer Sackgasse, aus der bislang nicht einmal Wolf einen Ausweg wusste. In dieser Situation war ihr jede Information willkommen, die sie einer Lösung des Falles näher brachte, mehr noch: Sie war geneigt, Friedhelm Sonntags Anruf als unverhofftes Geschenk zu betrachten, zumal sie von dem Todesfall, auf den sich der Anruf des Notars bezog, noch wenige Augenblicke zuvor nicht die geringste Ahnung hatte.

Solchermaßen ihre Gedanken ordnend, setzte sie sich in Bewegung und lief unbeschwert in den Wald hinein, bei jedem Schritt darauf achtend, die Füße von der Ferse her abzurollen und taktgenau die Stöcke zu setzen. Nach wenigen Minuten hatte sie ihren Rhythmus gefunden, ging ihr Atem ruhig und gleichmäßig. Nahm sie anfänglich nur im Unterbewusstsein das entfernte Brausen und Tosen wahr, das linker Hand aus der Tiefe scholl, so verstärkte sich das Geräusch nun mit jedem Schritt, den sich ihre Laufstrecke dem tief eingeschnittenen Hödinger Tobel mit seinem wilden Sturzbach näherte.

Karin liebte diese Landschaft, die mit Mischwald und dichtem Unterholz bestandene Hochfläche mit ihren lauschigen Wegen, die sich aus dem Hinterland nach Südwesten vorschob, um ganz überraschend, hoch über dem See, den Blick über die flirrende Wasserfläche und das jenseits davon liegende Konstanzer Ufer freizugeben und kurz darauf steil abzubrechen – so steil, dass sich an schönen Wochenenden hier zahlreiche Drachenflieger ein Stelldichein gaben, um von einer hölzernen Rampe aus vogelgleich über den See zu schweben.

Heute jedoch schien der Wald nur ihr zu gehören. Weder Läufer noch Spaziergänger waren ihr bislang begegnet, selbst auf dem Parkplatz am Rande des Naturschutzgebietes, auf dem sie wie gewohnt ihren Wagen abgestellt hatte, war sie zunächst allein gewesen. Später war ein zweiter Wagen aufgetaucht, ein grauer Audi älteren Jahrgangs, wenn sie recht gesehen hatte. Allerdings war er nach kurzem Stopp wieder weggefahren, ein Stück den Berg hinauf. Vermutlich versprach sich der Fahrer von dort eine noch schönere Fernsicht. Hier oben jedenfalls hätte sich selbst eine Hundertschaft tummeln können, es war genug Platz für alle da.

Erneut kreisten ihre Überlegungen um die mysteriösen Arsenmorde, auf die sie sich so gar keinen Reim machen konnte. Selbst durch das schwache Geräusch, das nach einer Weile für einen kurzen Moment hinter ihr aufklang und sich wie entferntes Klappern von Laufstöcken anhörte, ließ sie sich in ihren Gedankengängen nicht stören. Wer war zu diesen abscheulichen Taten fähig, wo war das Motiv? Was verband die toten Witwen mit den gleichfalls toten Pennern? Fragen über Fragen – und keine Antworten.

Auch wenn ihr die mehr oder weniger offenen Avancen Friedhelm Sonntags missfielen: Sollte er es schaffen, wenigstens ein kleines bisschen Licht in das Dunkel zu bringen, so würde er in ihrer Beliebtheitsskala um einige Punkte steigen.

Ein weiteres Mal vernahm sie hinter sich ein metallisches Klackern, diesmal etwas näher. Karin war das Geräusch wohlvertraut: Der Stock eines Walkers oder einer Walkerin hatte einen Stein touchiert. Also war sie doch nicht die Einzige, die durch den Wald trabte. Vielleicht eine Bekannte? Ihre Neugier siegte, mitten im Lauf drehte sie sich um. Doch niemand war hinter ihr. Das war nicht weiter verwunderlich, beschrieb doch der Weg in diesem Abschnitt einige Windungen, sodass sie hinter sich bestenfalls zwanzig, dreißig Meter überblicken konnte. Ohne sich weiter den Kopf zu zerbrechen, setzte sie ihren Lauf fort.

Zehn Minuten später erreichte Karin eine Wegkreuzung. Sie nahm, wie gewohnt, den nach links führenden Pfad, der kurvenreich durch eine Fichtenschonung, etwas später durch jungen Mischwald führte und sich schließlich in einem scharfen Knick nach Westen wandte, vorbei an einem markanten Eichenhain, in dem an wärmeren Tagen zwei rustikale hölzerne Bänke und ein Tisch zur Rast einluden.

Karin allerdings war nicht nach Pause zumute. Immer häufiger hatte sie in den letzten Minuten hinter sich das Klackern von Stöcken vernommen, verschiedentlich sogar geglaubt, Schritte zu hören. Doch immer, wenn sie stehen blieb, schien der nachfolgende Läufer auf denselben Gedanken gekommen zu sein. Eigenartig! Langsam begann sie, nervös zu werden. Sollte sie umkehren und ihm entgegenlaufen? Dazu fehlte ihr plötzlich der Mut. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sich ein Sittenstrolch an einer allein laufenden Frau vergreifen würde, zumal in einem so schwach frequentierten Waldgebiet. Oder sollte der Mensch hinter ihr etwa ein ganz anderes Motiv verfolgen? Eines, das mit dem Anschlag in ihrer Wohnung und den Drohanrufen zusammenhing? Karin wurde es abwechselnd heiß und kalt. Hatte man sie nicht gewarnt – und hatte sie diese Warnung nicht in den Wind geschlagen?

Das Beste wäre, Hilfe herbeizurufen. Aber wie? Ihr Handy lag im Auto, und der Akku war leer. Ausgerechnet heute musste ihr das passieren! Sollte sie davonlaufen? Aber wovor? Mit Gewalt zwang sie sich zur Ruhe. Erst mal musste sie wissen, was überhaupt hinter ihr vorging. Wenn es ernst wurde, konnte sie immer noch schreien. Oder sich mit ihren Stöcken zur Wehr setzen. Oder … ja, richtig, das war’s! Sie griff in die rechte Seitentasche ihrer Sportjacke, in der sie normalerweise ihr Pfefferspray verwahrte.

Doch da war nichts, die Tasche war leer.

Nun erst wurde ihr der ganze Ernst ihrer Lage bewusst. Zwar war sie alles andere als ängstlich und scheute normalerweise vor keiner Auseinandersetzung zurück, solange sie eine reelle Chance sah – aber würde sie die haben? Sie wusste um die Ohnmacht überfallener Frauen, hatte mit einigen von ihnen gesprochen, über sie geschrieben – und sich jedes Mal gefragt, wie sie selbst eine solche Situation überstehen würde.

Langsam gewann ihr Verstand wieder die Oberhand. Im Weiterlaufen spielte sie noch einmal alle Möglichkeiten durch. Einfach losrennen? Versuchen, quer durch den Wald zu entkommen? Oder doch den Stier bei den Hörnern packen und zurückgehen, dem Verfolger entgegen? Vielleicht entpuppte sich die Hatz ja auch als Missverständnis und ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet.

Noch während sie die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwog, wurde ihr die Entscheidung abgenommen: Unvermittelt war der vor ihr liegende Wegabschnitt gesperrt. Irgendjemand hatte mehrere kräftige Äste übereinandergelegt, ein schnelles Durchkommen war unmöglich. Auf einem handgeschriebenen Zettel stand »Kein Durchgang, Gefahr durch Astbruch«. Unterzeichnet war die Warnung mit »Das Forstamt«.

Sie saß in der Falle!

Oder doch nicht? Unmittelbar vor der Absperrung zweigte ein schmaler, unscheinbarer Pfad nach links ab. Karin war ihn noch nie gegangen, sie wusste lediglich, dass er zum Startplatz der Drachenflieger führte. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg, doch nichts wollte ihr einfallen. Eines war jedenfalls klar: Falls sie ein Zusammentreffen mit dem unsichtbaren Verfolger vermeiden wollte, musste sie hier abbiegen, je schneller, desto besser. Was aber würde sie am Ende des Pfades erwarten? Sie wusste, dass das Gelände seeseitig steil abfiel. Ob es eine Möglichkeit gab, vom Rand des Abbruchs zu Fuß zum Talgrund zu gelangen? Egal, irgendwie würde sie den Abstieg schon schaffen, sie hatte genügend Bergerfahrung, und schwindelfrei war sie auch. Schon wollte sie auf den schmalen Pfad einschwenken, als sie sich, einem inneren Zwang gehorchend, noch einmal umwandte.

Da sah sie ihn!

Kaum dreißig Schritte von ihr entfernt verharrte der Mann bewegungslos mitten auf dem Weg und starrte zu ihr herüber.

Also war das Auge in ihrer Wohnung nicht nur eine leere Drohung gewesen!

* * *

Er könne den Parkplatz gar nicht verfehlen, hatte man Wolf erklärt, und in der Tat: Bereits von Weitem stach ihm der rußig-schwarze Rauchpilz ins Auge, der dort oben am Berg fast senkrecht in den Himmel stieg.

Fünf Minuten später war er da. Das ausgebrannte Fahrzeug, ein kleiner Renault Twingo, stand etwas verloren auf dem großen, leeren Platz. Schräg davor hatte die Überlinger Feuerwehr ihr Löschfahrzeug in Stellung gebracht. Mehrere Feuerwehrleute liefen scheinbar ziellos umher, sie hatten den Brand mit reichlich Schaum erstickt und betätigten sich inzwischen als Spurensucher.

Wolf stellte in gebührendem Abstand seinen Dienstwagen ab und steuerte die Brandstelle an.

»Hallo, Leo, schön, dich zu sehen«, begrüßte ihn Heiner Fleischmann, der Truppführer der Floriansjünger. Er reichte ihm die rußverschmierte Rechte.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Wolf.

»Totalschaden, nichts mehr zu machen. Zum Glück keine Personen beteiligt. Der Abschleppdienst ist bereits verständigt.«

»Wer ist der Halter?«

Fleischmann händigte Wolf einen Zettel aus. »Wir haben die Frau noch nicht erreicht«, erklärte er.

Wolf grummelte etwas Unverständliches. Ohne großes Interesse besah er sich den Zettel. Ein nichtssagender Name, dazu eine Adresse in Aufkirch samt Telefonnummer. Vermutlich lief die Frau nicht weit von hier entspannt durch die Gegend und erfreute sich an der schönen Natur, womöglich hatte sie von Weitem sogar den Rauchpilz bestaunt. Umso größer würde nach ihrer Rückkehr die Überraschung sein.

»Wer hat den Brand gemeldet?«, fragte Wolf.

»Tja, das ist so eine Sache. Das war ein reichlich konfuser Anruf. Der Mann konnte oder wollte seinen Namen nicht nennen. Er legte auf, sobald er uns den Brandort beschrieben hatte.« Als Wolf diese Mitteilung kommentarlos zur Kenntnis nahm, fuhr Fleischmann fort: »Ich nehme an, der Wagen geht zur KTU

Plötzlich war Wolf ganz Ohr. »Oha! Und aus welchem Anlass?«, fragte er zurück.

»Komm mit«, forderte ihn Fleischmann auf und trat an das ausgebrannte, noch immer rauchende Wrack heran. Dort wies er auf einen handelsüblichen Fünf-Liter-Ersatzkanister, der unweit des Wracks auf dem Boden lag. Ein Feuerwehrmann war gerade dabei, ihn von allen Seiten zu fotografieren.

»Verstehe«, sagte Wolf. »Jemand hat die Karre angezündet. Aber wer ist so blöd und lässt ein so wichtiges Beweisstück einfach liegen?« Er sah zum nahen Waldrand hinüber, nachdenklich rieb er sich das Kinn.

»Was überlegst du?«, fragte Fleischmann.

»Nun, hätte der Anschlag in erster Linie der Fahrerin und nicht dem Wagen gegolten, dann hättet ihr ziemlich sicher eine Brandleiche vorgefunden. Ergo muss der Täter aus triftigem Grund so lange abgewartet haben, bis die Fahrerin ausgestiegen und weggelaufen war, vielleicht zu einem der Waldwege dort drüben.«

»Du meinst, er wollte niemanden töten, sondern nur das Auto zerstören? Und warum sollte er das tun?«

»Tja, das ist die Frage. Vielleicht Rache, eine Warnung, als Druckmittel, was weiß ich. Vielleicht ist der Grund auch nur ganz gewöhnlicher Vandalismus, der Respekt vor fremdem Eigentum ist heutzutage nicht mehr sonderlich ausgeprägt.« Wolf bückte sich und nahm den Behälter eingehend unter die Lupe. Als er sich wieder aufrichtete, meinte er: »Auf alle Fälle wird es Zeit, dass ich mir die Dame mal vorknöpfe.«

»Moment, Leo, das ist noch nicht alles.« Mit raumgreifenden Schritten umrundete Fleischmann den Renault. »Hier, hinter der Beifahrertür, kannst du’s erkennen?«

Wolf beugte sich vorsichtig in den Wagen und sah sich den Fahrzeughimmel an – vielmehr das, was von ihm noch übrig war.

»Du meinst diesen Knubbel hier hinter dem oberen Querholm? Hat stark unter den Flammen gelitten. Sieht aus wie eine … ja, wie eine Wanze. Genau, wie eine teilweise verschmorte Wanze.«

»Es ist eine Wanze, oder besser gesagt: Es war eine!«, bestätigte Fleischmann.

Wolf, dem beim Reinkriechen in das Wrack beinahe das Barett vom Kopf gefallen wäre, schob die obligatorische Kopfbedeckung wieder in eine sichere Position. »Reichlich mysteriös, würde ich sagen. Trotzdem, schönen Dank, Heiner. Gute Arbeit. Bin echt gespannt, was die Halterin vorzubringen hat.«

Nachdem Fleischmann wieder zum Löschfahrzeug zurückgekehrt war, ging Wolf ein paar Schritte zur Seite. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die auf dem Zettel angegebene Nummer. Während er auf die Verbindung wartete, preschte ein Wagen den Berg herauf, bog mit angedeutetem Powerslide auf den Parkplatz ein und legte schließlich eine Vollbremsung hin, dass den Feuerwehrleuten der Kies nur so um die Ohren spritzte. »Aufschneider«, knötterte Wolf abfällig und hielt sich ob des Lärms das freie Ohr zu.

»Guten Tag«, antwortete er, als sich die Teilnehmerin endlich meldete, »Kripo Überlingen, mein Name ist Wolf. Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich möchte nur etwas abklären. Sie fahren doch einen blauen Renault Twingo, richtig? … Ah, Sie haben ihn verliehen … an eine Bekannte? … So, schon vor drei Tagen. Dann wissen Sie gar nicht, wo sich das Fahrzeug in diesem Moment befindet, oder? … Dacht ich mir. Wer fährt denn den Wagen gerade?«

Als Wolf die Antwort hörte, traf ihn beinahe der Schlag. »Wie bitte?«, fragte er schrill zurück. Hilfe suchend sah er zu Fleischmann hinüber, doch der parlierte inzwischen mit dem Neuankömmling und hatte infolgedessen kein Auge für Wolf. So blieb ihm nichts anderes übrig, als das Gespräch mit einem halblauten »Danke, ich melde mich später wieder!« zu beenden. Die Frau würde noch früh genug erfahren, dass sie ab sofort kein Auto mehr besaß. Jetzt musste er sich um die Hintergründe des Anschlags kümmern.

Als Wolf zu Fleischmann an das Löschfahrzeug trat, erkannte er den verhinderten Rennfahrer. »Du hier, Hanno? Du wolltest dir doch diesen Neidling vorknöpfen?«

»Hab’s ja versucht, aber der Vogel war ausgeflogen, seine Wohnung leer. Ein Nachbarin verriet mir, Neidling sei wie jeden Morgen zur Arbeit gefahren. Hab ihn aber auch dort nicht angetroffen. Nach Aussage eines Kollegen hat er gegen zehn Uhr seinen Arbeitsplatz verlassen, angeblich, um eine wichtige persönliche Angelegenheit zu erledigen. Dachte, ich könnte Sie hier so lange unterstützen.«

»Möchte wissen, bei was«, murrte Wolf und zündete sich eine Gitanes an.

Nun konnte Fleischmann nicht mehr länger an sich halten. »Jetzt sag schon, Leo, was du erfahren hast.« Er deutete auf das Handy, das Wolf noch immer in der Hand hielt.

»Tja, sieht so aus, als sei der Wagen doch nicht grundlos ein Raub der Flammen geworden. Hier, Hanno, sieh dir das mal an.« Er führte Vögelein zu dem Wrack und zeigte ihm die Überreste der Wanze.

Vögelein pfiff erstaunt durch die Zähne. »Können Sie sich schon einen Reim darauf machen, Chef?«

»Das würde mich jetzt aber auch interessieren«, sagte Fleischmann und trat ebenfalls einen Schritt näher. »Wer hat die Karre überhaupt hier abgestellt?«

»Eine Journalistin vom ›Seekurier‹. Karin Winter. Ist über ihre Recherchen in einen Mordfall involviert. Sie hatte sich den Wagen von einer Freundin ausgeliehen, um unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen zu können.«

»Ist ja krass – ein Anschlag auf die Winter?«, rief Vögelein überrascht.

»Ich glaube kaum, dass die Winter das Ziel war«, sagte Wolf.

»Na ja, vielleicht war es kein Anschlag auf ihre Person, aber doch eine eindeutige Warnung, so wie das Auge.«

»Vielleicht. Oder es diente einem ganz anderen Zweck, so wie das Feuer in Einsteins und Havannas Unterschlupf.«

Vögelein rieb sich einige Sekunden lang irritiert das rechte Ohr. Dann hob er ruckartig den Kopf. »Moment, Chef … sollte etwa die Wanze …?«

»Bingo!«, nickte Wolf. »Ich vermute, dass jemand das Auto angezündet hat, um die Wanze zu vernichten.«

»Damit wir nicht erfahren, dass die Täter seit geraumer Zeit über jeden Schritt der Winter unterrichtet sind!«

»Vermutlich wussten sie alles: mit wem sie sprach, an was sie arbeitete, wo sie laufen würde. Und ziemlich sicher war das hier nicht die einzige Wanze in ihrem Umfeld.« Wolf legte besorgt die Stirn in Falten. »Aber wenn der Wagen wirklich von diesen Leuten abgefackelt wurde, um Spuren zu beseitigen – müssen wir uns dann nicht fragen, warum sie freiwillig und gerade jetzt auf diese wichtige Informationsquelle verzichten?«

Unruhig trat Vögelein von einem Fuß auf den andern. »Denken Sie, was ich denke, Chef?

In diesem Augenblick klingelte Wolfs Handy. Reflexartig riss er das Gerät ans Ohr und nannte seinen Namen. Eine paar Sekunden hörte er seinem Gegenüber wortlos zu, während sich in seinem Gesicht die unterschiedlichsten Empfindungen spiegelten – von gespannter Erwartung bis zu ungläubigem Staunen. Plötzlich schnappte er nach Luft. »Moment, sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Namen …« Doch der Anrufer hatte das Gespräch bereits unterbrochen.

Wolf war geschockt. Wenn stimmte, was er eben gehört hatte, dann hatte er keine Wahl.

»Auf geht’s, Hanno, Einsatz«, stieß er hervor und rannte zu seinem Wagen.

* * *

Karin wusste, dass sie nicht mehr unbeschadet aus der Geschichte herauskommen würde. Der Mann war Teil des Phantoms, dem Wolf seit Tagen auf den Fersen war – bislang ohne Erfolg. Auch wenn sie ihm noch nie begegnet war, so war sie doch absolut sicher, dass es sich um einen der Täter handelte. Seine Physiognomie hätte sie selbst im Dunkeln erkannt. Das volle Gesicht, die füllige Statur, die wilde Haarpracht … die Beschreibung kannte sie längst auswendig. Und sie hatte die Phantombilder gesehen.

Ihr fiel das Boot mit den beiden toten Pennern ein. Und Otto, wie er nächtens im Gondelhafen lag, den starren Blick zum Himmel gerichtet, bis ihm der Notarzt die Augen schloss.

Würde sie das nächste Opfer sein?

Panik überkam sie. Wie unter Zwang begann sie zu laufen, weg, nur weg hier. Gerade wollte sie ihre Stöcke zur Seite werfen, als ihr einfiel, dass sie damit ihre einzige Waffe aus der Hand geben würde. Sie beschleunigte ihre Schritte, kam regelrecht ins Rennen, getrieben von der Angst, in die Hände ihres Verfolgers zu fallen. Hinter sich glaubte sie, das Getrappel von Schritten, das Brechen von Ästen zu hören. Angstvoll schnellte sie herum, um den erwarteten Angriff abzuwehren – doch da war niemand.

Sollte sich der Mann etwa seitwärts in die Büsche geschlagen oder gar kehrtgemacht haben? Ein Blick zurück belehrte sie eines Besseren. Natürlich hatte der Kerl nicht aufgegeben, im Gegenteil: Wie ein Panzer, dem nichts widerstehen konnte, stampfte er den Weg entlang, kam Schritt um Schritt näher, direkt auf sie zu. Unaufhaltsam, bedrohlich und ganz ohne Hast, so als hätte er alle Zeit der Welt.

Und die hatte er ja auch, schoss es ihr blitzartig durch den Kopf, als sie mit ein paar letzten, hastigen Schritten den Abbruch erreichte. Hier war der Weg unwiderruflich zu Ende. Es gab nur noch eine Richtung: nach unten. Falls sie keinen Abstieg durch die brüchige Steilwand fand, bliebe ihr nichts anderes übrig, als sich ihrem Verfolger zu stellen. Nur gut, dass sie ihre Stöcke nicht weggeworfen hatte; vielleicht konnte sie ja den Mann mit Hilfe der Stahlspitzen beiseitedrängen und flüchten?

Und dann, ganz plötzlich, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Absperrung da vorne – das war kein Zufall gewesen, das war sorgfältig eingefädelt. Ganz bewusst hatte man sie auf diesen Weg gelockt. Und sie wusste auch, warum: Man wollte sie vorne am Abgrund haben, um sie ohne viel Federlesens in die Tiefe stoßen zu können. Es würde wie ein Unfall aussehen, kein Verdacht würde auf die Arsenmörder fallen, und es würde keine Spuren geben.

Es war merkwürdig, aber mit dieser Erkenntnis kehrte auch ihr Kampfgeist zurück. Nein, so leicht, wie der Kerl annahm, würde sie es ihm nicht machen – jetzt, wo er aus seiner Anonymität herausgetreten war und ihr Auge in Auge gegenüberstand. Ganz im Gegenteil: Sie war fest entschlossen, sich so teuer wie möglich zu verkaufen.

Kaum zu Ende gedacht, spitzte sich die Lage zu. Auf den letzten Metern hatte der Mann an Tempo zugelegt, nur noch wenige Armlängen trennten ihn von Karin, schon hob er seine Stöcke auf Brusthöhe an. Seine Absicht war offenkundig: Er wollte sie mit einem Stoß über die Kante befördern, etwa so, wie man eine lästige Fliege vom Tellerrand wischt.

Umso überraschter wirkte er, als Karin sich mit einer schnellen Körperdrehung aus dem Gefahrenbereich brachte und postwendend zum Gegenangriff überging. Dabei brauchte sie die Drehung nur weiterzuführen, sich einmal komplett um die eigene Achse zu drehen und ihre ganze Kraft in die mitschwingenden Stöcke zu legen. Tatsächlich verfehlte ihr Rundumschlag den Kopf des Mannes nur um Haaresbreite; er hatte sich gerade noch rechtzeitig weggeduckt. Ein höhnisches Lachen quittierte ihren Misserfolg.

Schneller, als Karin es dem pummeligen Mann zugetraut hätte, hob er seine Stöcke zum erneuten Stoß. Doch Karin war auf der Hut. Ohne lange zu fackeln, ließ sie ihre eigenen Stöcke los und packte zu, zog den Mann mit einem kräftigen Ruck zu sich heran. Dabei kam ihr der Umstand zustatten, dass dessen Hände noch immer in den Stockschlaufen steckten. Halb gezogen, halb vom eigenen Schwung getrieben, stolperte er auf sie zu. Als sie hart aufeinanderprallten, kamen sie der steilen Rampe für einen Augenblick gefährlich nahe. Nur mit Mühe konnte Karin das Gleichgewicht halten und sich zwei, drei Schritte nach hinten absetzen. Hätte sie in diesem Moment weniger Skrupel gehabt, sie hätte ihren Gegner leicht in den Abgrund stoßen können.

Stattdessen drehte der Mann den Spieß nun um. Als wolle er Karin die Stöcke entreißen, wechselte er mehrfach in schneller Folge von Zug auf Druck und drängte sie dabei immer näher an die steile Absprungrampe. Karin ahnte, was sie dort erwarten würde. Der Mann bräuchte nur noch die Stöcke loszulassen, schon würde sie unweigerlich in die Tiefe segeln, und wenige Sekunden später wäre alles vorüber. Die Aussicht daran raubte ihr für einen kurzen Moment den Verstand, schien sie förmlich zu paralysieren. Wahrhaftig, so hatte sie sich das Ende nicht vorgestellt! Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung sah sie in das Gesicht ihres Gegners, nahm das Glimmen in seinen Augen wahr und registrierte sein selbstgefälliges Grinsen – als wäre der Kampf bereits entschieden.

Genau diese scheinbare Unabänderlichkeit war es, die Karins Kräfte noch einmal mobilisierte – das und ihre Wut. Ihr Denkapparat lief auf Hochtouren, und im Bruchteil von Sekunden gebar er so etwas wie einen Plan: Wenn sie sich schon nicht gegen den körperlich überlegenen Mann behaupten konnte – warum dann nicht eine Finte versuchen? Was hatte sie schon zu verlieren? Ihr Leben natürlich – dagegen zählte alles andere nichts. Doch Fairness war das letzte, das sie sich leisten konnte. Nicht in ihrer Lage.

Sie musste den Kerl dort treffen, wo es wirklich wehtat!

Sie lockerte für einen kurzen Moment wie resigniert ihren Griff, um gleich darauf umso fester anzuziehen. Gleichzeitig hob sie ihr rechtes Knie und stieß es mit aller Macht dem Mann zwischen die Beine.

Die Wirkung war frappierend. Während die Augen des Mannes zusehends glasig wurden und er keuchend und sich krümmend nach Luft schnappte, lösten sich seine Hände von den Stöcken. Stöhnend presste er beide Arme in den Schritt, bemüht, der Schmerzwelle, die sein empfindlichstes Körperteil durchflutete, Herr zu werden.

Schnell trat Karin einen Schritt zurück und holte mit den Stöcken aus, um den Kerl mit einem kräftigen Hieb endgültig von den Beinen zu holen. Dummerweise übersah sie dabei eine hochstehende Wurzel. Sie blieb daran hängen und geriet ins Straucheln, ihr rechter Fuß knickte um, mit einem Aufschrei ging sie zu Boden.

Von jetzt auf nachher schienen die Schmerzen des Mannes verflogen. Karin konnte gar nicht so schnell denken, wie er über sie herfiel, ihr mit einem Ruck die Stöcke entriss, mit seinen kräftigen Fäusten ihre Oberarme packte und sie trotz heftiger Gegenwehr in Richtung Rampe schob. Es gab keine Hoffnung, sich aus dem tödlichen Klammergriff zu befreien, so sehr sich Karin auch anstrengen mochte.

»Das war’s also«, dachte sie, als sie die Kante des ehemaligen Steinbruchs auf sich zukommen sah.

Da hörte sie die Stimme.

Karin hielt diesen Moment für ihre erste und wahrscheinlich einzige Nahtoderfahrung. Die verzerrte, körperlose, wenn auch deutlich vernehmbare Stimme kam gewissermaßen aus dem Off, war ihr seltsam fremd und doch irgendwie bekannt.

»Lassen Sie sofort die Frau los«, schallte es laut vom Talgrund herauf. »Treten Sie zurück und legen Sie sich auf den Boden, oder wir machen von der Schusswaffe Gebrauch. Los, runter auf den Boden, aber ein bisschen plötzlich.«

Nein, diese Stimme hatte sich Karin nicht eingebildet. Sie war real. Und plötzlich wusste sie auch, wem sie gehörte: Es war unverkennbar die Stimme von Hauptkommissar Wolf. Sie wurde verstärkt durch ein Megafon, deshalb dieser seltsam metallische Klang. Wie real das Ganze war, erkannte Karin daran, dass ihr Peiniger sie umgehend losließ. Sprungbereit stand er über ihr, lauschte angespannt in den Wald hinein. Und tatsächlich, von halbrechts schienen Leute durchs Unterholz zu brechen, entfernt noch, aber deutlich vernehmbar. Fluchend machte der Mann auf dem Absatz kehrt und hastete das kurze Wegstück zurück, das zu der Absperrung am Hauptweg führte.

Karin wusste kaum, wie ihr geschah. Erst jetzt machte sich die ganze nervliche Anspannung der letzten Minuten bemerkbar. Mit zitternden Beinen versuchte sie aufzustehen. Als es ihr endlich gelang, musste sie sich mit beiden Händen an einer jungen Buche festhalten, um nicht sofort wieder zu Boden zu stürzen. Mit grenzenloser Erleichterung sah sie dem Flüchtenden nach. Sekunden später hatte ihn der Wald verschluckt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass während der ganzen Auseinandersetzung kein Wort gefallen war. Sein Fluch eben war, neben einem höhnischen Lachen, der einzige Laut gewesen, den er von sich gegeben hatte.

Geradezu ein Wunder aber war, dass Wolf und seine Leute ausgerechnet jetzt hier auftauchten. Wie kamen sie hierher? Wer hatte sie verständigt?

Unvermittelt spürte sie den Schmerz in ihrem rechten Sprunggelenk. Sie bückte sich, um den geschwollenen Knöchel zu massieren, als unweit von ihr ein lauter Ruf ertönte: »Halt! Stehen bleiben, oder ich schieße!« Die Geräusche brechenden Unterholzes verstärkten sich, kamen näher, abermals hörte sie die Aufforderung und schärfer diesmal, dann fiel ein Schuss, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.

Sekunden später tauchte eine Gestalt vor Karin auf. Vögelein. Besorgt trat er an sie heran. »Sind Sie in Ordnung, Frau Winter?«

Als sie nickte, ging er vor an den Rand des Abbruchs und rief hinunter: »Alles in Ordnung, Chef. Frau Winter ist okay. Der Täter allerdings ist flüchtig.«

* * *

Karin Winters Knöchelverletzung erwies sich als weniger ernst, als anfangs befürchtet. Trotzdem musste sie sich während des nachfolgenden Fußmarsches bei Vögelein aufstützen. Am Waldrand wurden sie von Wolf in Empfang genommen. Der lud die beiden in seinen Wagen und fuhr zunächst den Wanderparkplatz an. Dort wechselte Vögelein in sein Dienstfahrzeug, um die Suche nach Neidling fortzusetzen, während Karin Winter mit großen Augen auf die Überreste ihres Fahrzeugs starrte.

»Ja, die Karre ist hinüber, tut mir leid«, versuchte Wolf sie zu trösten.

Merkwürdig, bei dem Anblick des Autowracks überkam Wolf plötzlich die Lust auf eine Gitanes; Sekunden später paffte er bereits blaue Wolken aus dem heruntergekurbelten Fenster.

»Sagen Sie, hatten Sie eigentlich ihr Handy nicht dabei?«

Karin machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Hab ich im Wagen liegen lassen, der Akku war leer.«

»Fällt Ihnen noch ein, worum es bei den letzten Telefonaten ging, die Sie im Wagen geführt haben?«

»Warum fragen Sie?«

»Sag ich Ihnen gleich. Also?«

Karin überlegte kurz. »Es ging fast immer um die Erbschaftsgeschichte, soweit ich mich erinnere. Beim letzten Gespräch stellte mir Friedhelm Sonntag neue Informationen in Aussicht, die uns möglicherweise entscheidend weitergebracht hätten.«

Wolf spuckte einen Tabakkrümel aus dem Fenster, dann sah er Karin einen Moment lang prüfend an. Stand sie noch unter Schock, oder würde sie das, was er ihr zu sagen hatte, schadlos verkraften? Ja, sie würde, entschied er und nickte ihr zu.

»Die Feuerwehr hat in dem Twingo eine Wanze entdeckt. Sie wissen …«

»Ich weiß sehr wohl, was eine Wanze ist, Herr Wolf.«

»Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Wie lange fahren Sie eigentlich den Wagen schon?«

»Lange genug«, antwortete Karin und vergrub das Gesicht in den Händen.

Wolf startete den Wagen und schlug den Weg Richtung Überlingen ein. Dort brachte er Karin Winter zu einem Orthopäden, ihr Fuß musste untersucht und vermutlich geröntgt werden. Als er hörte, dass die Prozedur voraussichtlich nur eine halbe Stunde dauern würde, entschloss er sich, auf sie zu warten. Danach wollte er mit ihr zur Polizeidirektion fahren, um die Vorgänge im Wald bei Hödingen minutiös zu protokollieren. Wenn alles klappte, konnten sie wie geplant um eins mit der Lagebesprechung beginnen.

Wolf war über den glimpflichen Ausgang des Anschlags über alle Maßen erleichtert. Allzu leicht hätte die Sache mit einer weiteren Toten enden können. Dumm nur, dass ihnen der Täter durch die Lappen gegangen war. Zwar hatte er noch auf der Rückfahrt eine Ringfahndung veranlasst, doch rechnete er sich keine großen Chancen aus, dafür schienen die Täter einfach zu gewieft.

Der Name Bretschwiler fiel ihm ein. Hatte er da nicht recherchieren wollen? Stimmt! Doch er konnte sich schließlich nicht zerreißen, und aufgeschoben hieß nicht aufgehoben.

* * *

Natürlich hatte die Untersuchung länger gedauert als angekündigt. Wolf, der den Betrieb in orthopädischen Praxen kannte, war von vornherein skeptisch gewesen. Als er in Begleitung der leidlich wiederhergestellten Karin Winter in der Polizeidirektion eintraf, stand die Normaluhr in der Halle bereits auf kurz vor eins.

Noch vom Auto aus hatte er Jo angerufen und sie gebeten, in der Kantine eine Platte mit belegten Brötchen zu besorgen – auf seine Kosten, wie er betonte. Er wusste, wenn er nicht bald etwas zwischen die Zähne bekam, war der Rest des Tages für ihn gelaufen. Und Karin Winter würde ein Happen auch nicht schaden.

So kam es, dass sie Schlag eins um Wolfs Konferenztisch saßen und kräftig zulangten – alle außer Vögelein, der steif und fest behauptete, aufgrund funktioneller Beschwerden mit trockenen Vollkornkeksen vorliebnehmen zu müssen. Selbst Karin Winter zeigte großen Appetit, was Wolf ausdrücklich als »guten Weg zur Wiederherstellung einer ausgeglichenen physischen Verfassung« lobte.

»Jetzt aber raus mit der Sprache, Herr Wolf«, konnte Karin schließlich nicht mehr an sich halten: »Woher wussten Sie, dass ich in der Klemme war? Und kommen Sie mir ja nicht mit so albernen Ausflüchten wie ›Gefühl‹ oder ›Erfahrung‹.«

Wolf wischte sich lächelnd mit einer Papierserviette über den Mund. »Nun, die Wahrheit klingt manchmal nicht weniger albern. Um es rundheraus zu sagen: Ich habe einen anonymen Anruf bekommen.«

»Einen anonymen Anruf? Das müssen Sie näher erklären.«

»Da gibt’s nicht viel zu erklären, Madame. Ich bin von der Feuerwehr zu einem Fahrzeugbrand auf dem Hödinger Wanderparkplatz gerufen worden.«

»Der Twingo«, nickte sie. »Weiter.«

»Na ja, die Täter haben sich wenig Mühe gegeben, die Ursache des Brandes zu vertuschen. Sie müssen sich ihrer Sache sehr sicher gewesen sein. Wir vermuten, dass sie mit dem Brand die Abhöreinrichtung vernichten wollten. Aber die Feuerwehr war schnell genug vor Ort, um das zu verhindern. Irgendwie müssen Sie den Kerlen verdammt nahe gekommen sein, Frau Winter. So nahe, dass man Sie ein für allemal mundtot machen wollte.«

Karin Winter, die gespannt an seinen Lippen gehangen hatte, legte bei seinen letzten Worten ihr halb aufgegessenes Brötchen auf die Platte zurück. Wolfs Schilderung schien ihr den Appetit verschlagen zu haben. Sie biss sich nachdenklich auf ihre Unterlippe.

»Heiliger Strohsack. Diese Leute machen wirklich keine halben Sachen.« Jo war echt verblüfft.

»Zurück zu dem anonymen Anruf«, bohrte Karin Winter nach. »Wer hat Sie angerufen, und was hat er gesagt?«

»Es war ein Mann. Viel hat er nicht gesagt, nur: ›Sie müssen Frau Winter zu Hilfe kommen. Fahren Sie umgehend zum Startplatz der Drachenflieger‹. Das war alles. Ehe ich ihn nach seinem Namen fragen konnte, hatte er aufgelegt.«

»Und Sie haben die Stimme dieses ›Schutzengels‹ nicht gekannt, Chef?«, wollte Vögelein wissen.

»Nein. Aber der Mann brachte die Warnung so eindringlich vor, dass ich keine Sekunde an ihrer Richtigkeit gezweifelt habe. Außerdem wussten wir ja bereits, dass Frau Winter in der Nähe und vermutlich in höchstem Maße gefährdet war.«

Nervös lief Karin zwischen Tisch und Fenster hin und her. »Jetzt hätte ich gerne einen Schnaps, falls Sie so was haben.«

»Bedaure. Mein Pastis ist alle. Darf’s noch ein Kaffee sein oder ein Wasser?«

»Dann ein Wasser bitte.«

Während Jo das Gewünschte holte, fuhr Wolf fort: »Wie wär’s, wenn Sie uns jetzt erzählen würden, was genau dort oben im Wald eigentlich passiert ist.«

Karin nickte. Nach einem kurzen Räuspern begann sie, die Ereignisse in aller Ausführlichkeit zu schildern. Jo, von Wolf zum Mitschreiben aufgefordert, musste mehrfach um eine kurze Pause bitten, so hastig sprudelten die Sätze aus ihr heraus.

Als Karin ihren Widersacher beschrieb, hakte Wolf nach: »Sind Sie ganz sicher, dass es sich bei dem Verfolger um einen der beiden Männer handelte, deren Phantombilder Sie im ›Seekurier‹ abgedruckt haben?«

»Absolut sicher. Diese Visage würde ich auf eine halbe Meile Entfernung wiedererkennen.«

Vögelein, der nicht zurückstehen wollte, klinkte sich ein. »Als Sie mich aus dem Wagen schmissen, Chef, bin ich, wie ausgemacht, den Weg in Richtung Startrampe entlanggerannt, bis ich irgendwann im Gebüsch eine schemenhafte Gestalt entdeckte … nein, eigentlich waren es zwei Gestalten, die miteinander rangen. Dann kam auch schon Ihre Aufforderung an den Täter, sich zu ergeben. Gleich danach rannte ein Mann weg. Ich habe ihn aufgefordert stehenzubleiben, aber er hat nicht reagiert, also habe ich einen Warnschuss abgegeben, doch der Kerl war bereits im dichten Unterholz verschwunden. Danach schien es mir wichtig, erst mal nach Frau Winter zu sehen …«

»Gut gemacht, Hanno«, wurde er von Wolf unterbrochen, der fürchtete, dass Vögelein sich zu sehr in Details verlieren würde.

Plötzlich schlug sich Karin Winter mit der Hand an die Stirn. »Ach du lieber Himmel, mein Termin … ich hab meinen Termin verschwitzt.«

»Welchen Termin?«

»Ich sollte um eins im Mokkas sein.«

Jo prustete unvermittelt los. »Ich werd verrückt! Sie waren also mit dem Notar verabredet?«, sagte sie und hielt sich den Bauch vor Lachen.

Karin hob fragend die Augenbrauen. »Wieso? Was wissen Sie davon?«

Mit einem Seitenblick auf Wolf erläuterte Jo: »Ich sollte mich doch um die Nachlassregelung der gestern Verstorbenen, einer gewissen Frau von Hardenberg, kümmern …«

»Moment noch, nicht so hastig«, ging Wolf mit erhobener Hand dazwischen. »Liegt denn das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung schon vor?«

»Aber ja. Akute Arsenvergiftung. Wieder einmal.« Keiner der Anwesenden schien überrascht, sodass Jo ohne Zögern fortfuhr: »Ich habe zunächst die Wohnung der alten Dame aufgesucht, sie hatte sich in einem noblen Seniorenheim im Überlinger Westen einquartiert. Durch gutes Zureden konnte ich die Heimleiterin dazu bringen, dass sie mich auch ohne Durchsuchungsbeschluss einließ. In einem Schrank bin ich auf einen Ordner gestoßen, in dem ein Schriftwechsel mit Friedhelm Sonntag abgelegt war. Dabei ging es offensichtlich um die Nachlassregelung im Falle ihres Ablebens. Also bin ich zur Kanzlei dieses Notars gefahren. Die Vorzimmerdame dort erwies sich als ungleich härtere Nuss als die Heimleiterin. Erst eine massive Drohung, Staatsanwaltschaft, Gerichtsbeschluss und so weiter, konnte sie dazu bewegen, mir wenigstens den derzeitigen Aufenthaltsort von Sonntag zu verraten: das Café Mokkas.« Sie grinste Karin an. »Dort hab ich ihn auch angetroffen. Meinte, er sei mit einer Mandantin verabredet gewesen, die habe ihn aber leider versetzt.«

Entschuldigend hob Karin Winter die Schultern und setzte einen bedauernden Blick auf. Jo lachte kichernd und fuhr fort: »Natürlich hat er jegliche Auskunft über den Nachlass der Verstorbenen kategorisch abgelehnt – nur über seine Leiche, meinte er. Oder allenfalls mit einem richterlichen Beschluss.«

Karin, die bei den letzten Sätzen unruhig auf ihrem Stul hin- und hergerutscht war, stand vorsichtig auf. »Tut mir leid, aber ich muss mal. Bin gleich wieder da.« Schon humpelte sie aus dem Raum.

»Wie kommen wir in dieser Sache nun weiter, Chef? Besorgen Sie eine richterliche Anordnung?«

»Sobald wir hier fertig sind, kümmere ich mich darum. Weiter: Was ist mit Neidling?« Die letzten Worte waren an Vögelein gerichtet.

»Den hab ich vorhin endlich an seinem Schreibtisch angetroffen. Er ist widerspruchslos mit mir zu seiner Wohnung gefahren. Allerdings habe ich weder bei ihm selbst noch in seiner Wohnung oder an seinem Wagen irgendwelche Auffälligkeiten bemerkt.«

»Dein Eindruck?«

»Weiß nicht, der Kerl scheint sauber. Auf alle Fälle ist er gottesfürchtig, in jedem zweiten Satz kommen Worte wie ›Gott der Herr‹ und Ähnliches vor. Als ich ihn nach seinem Alibi für Donnerstag so zwischen sechs und neun Uhr morgens fragte …«

»Wieso gerade diese Zeit?«, wunderte sich Wolf.

»Da muss nach Auskunft der Rechtsmedizin der alten Dame das Arsen verabreicht worden sein.«

Jo nickte bestätigend.

»Schön zu wissen«, brummte Wolf. »Was war also mit dem Alibi?«

»Raten Sie mal.«

»War er etwa wieder beten?«

»Bravo, der Kandidat hat ein Fahrrad mit Raketenantrieb gewonnen. Und was denken Sie, wer seine Angaben bestätigt hat? Natürlich der Loske, sein Glaubensbruder. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden in Kürze heiliggesprochen werden. Jedenfalls hab ich mich nach dem Weggang von Neidling in der Nähe seines Hauses auf die Lauer gelegt. War aber nichts; schon eine Minute später ist er wieder aufgetaucht und schnurstracks zur Arbeit gefahren.«

»Klingt alles so unschuldig, dass es schon wieder verdächtig ist. So sehr kann sich deine Zeugin wohl kaum getäuscht haben … oder Grasmück, der sich das Kennzeichen ebenfalls gemerkt hatte.«

»Warum nehmen wir seine Wohnung und sein Auto nicht gründlich auseinander?«, fragte Jo. »Ich meine, gerade wenn der Mann ein Meister der Verkleidung ist, wie wir vermuten, dann müsste sich davon was finden lassen. Und was ist mit seinem Alibi für die Zeit zwischen zehn und zwölf Uhr heute Vormittag?«

»Ja, was ist damit?«, reichte Wolf die Frage an Vögelein weiter.

Der wand sich etwas, ehe er verlegen zugab: »Hab ich versäumt, zu fragen. Sorry, mein Fehler.«

»Dann such ihn nochmal auf, oder noch besser: Bestell ihn in die Direktion ein. Schadet nichts, wenn er sich bedrängt fühlt, im Gegenteil, vielleicht macht er aus Nervosität sogar einen Fehler – immer vorausgesetzt, er ist der, hinter dem wir her sind. Allerdings, eine Hausdurchsuchung, die können wir uns vorläufig abschminken, leider. Kein Richter wird uns dafür einen Beschluss ausstellen, nicht bei der dünnen Verdachtslage. Zum Kotzen ist das! Und wenn wir diesen Bretschwiler nicht auftreiben, dann können wir vollends einpacken.«

Karin, die soeben wieder das Büro betreten und sich umständlich auf ihrem Stuhl niedergelassen hatte, stutzte, als sie Wolf den Namen Bretschwiler aussprechen hörte. »Moment mal – sprechen Sie von Gabriello?«, fragte sie erstaunt.

»Wieso Gabriello? Der Mann, den wir suchen, heißt Gabriel Bretschwiler. Was hat der eine mit dem anderen zu tun?«

»Nun, mein Gabriello heißt in Wirklichkeit Gabriel Bretschwiler. Und der Name kommt nicht eben häufig vor, wie Sie zugeben müssen. Im Übrigen muss ich leider sagen: Für Leute wie Sie eine gute Zeitung zu machen heißt echt Perlen vor die Säue zu werfen.« Sie verbiss sich ein Lachen. »Im Ernst, es ist weniger als ein Jahr her, da hat der ›Seekurier‹ einen ganzseitigen Bericht über eine Glaubensgemeinschaft gebracht, auf gut Deutsch: eine Sekte, die hier in Überlingen enormen Zulauf hat. Ihr Gründer und Leiter nennt sich Gabriello, mit bürgerlichem Namen Gabriel Bretschwiler.«

Wolf runzelte die Stirn. Ihm schwante, dass sie diesem Mann schon wesentlich näher gewesen waren, als ihnen bewusst war. »Verraten Sie uns, wie diese Sekte heißt?«

»Wenn ich es recht in Erinnerung habe, nennt Sie sich Heaven’s Gate

Vögeleins Kopf, bisher über seine Notizen gebeugt, fuhr ruckartig hoch. »Sagten Sie eben Heaven’s Gate

»Ja. Diese Glaubensrichtung ist vor ein paar Jahren mit der Psychowelle aus den USA herübergeschwappt. Verspricht gottgefälligen Anhängern Vergebung ihrer Sünden und ewiges Leben. Wenn Sie mich fragen, so halte ich die Leute für Seelenfänger.« Bei den letzten Worten hatte sie auf die Uhr gesehen. Erschrocken sprang sie auf. »Meine Güte, wo bleibt nur mein Zeitgefühl. Ich muss dringend in die Redaktion.«

Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal um: »Ach ja, Herr Wolf, sollten Sie meinen unbekannten Retter noch einmal an der Strippe haben, bestellen Sie ihm meinen tief empfundenen Dank. Ohne ihn wäre ich jetzt wohl in den ewigen Jagdgründen. Also dann, gehaben Sie sich wohl. Und viel Erfolg auch. Wäre schön, wenn Sie mir bald ausführlich davon erzählen würden. Sie wissen schon …«

»Ich weiß, Frau Winter, unsere Abmachung! Keine Angst, Sie bekommen Ihre Informationen.«

Sichtlich zufrieden humpelte sie davon.

Wolf, dem Vögeleins zunehmende Nervosität nicht verborgen geblieben war, ermunterte ihn durch ein Nicken zum Sprechen.

»Der Neidling … ich meine, da, wo der beten geht, also der Neidling und dieser Loske … die sind in dieser Sekte. Heaven’s Gate! Genau dieser Name ist bei der Vernehmung gefallen.«

»Heiliger Strohsack«, entfuhr es Jo.

»Wenn das ein Zufall ist, Chef, dann fress ich einen Besen«, ereiferte sich Vögelein.

Alle Blicke richteten sich nun auf Wolf, der, die Hände auf dem Rücken verschränkt, nachdenklich zu einem der Fenster gegangen war und endlose Sekunden auf den Parkplatz hinunterstarrte, bis er sich endlich wieder umdrehte.

»Ihr habt recht, da kommt wirklich ein bisschen viel zusammen«, sagte er und überlegte seine Worte genau. »Seit Monaten suchen wir, genauer gesagt: die Augsburger Kollegen, wie die Nadel im Heuhaufen diesen Bretschwiler, einen Mann, der auf dubiose Weise in den Augsburger Arsenraub involviert ist – und dabei sitzt er direkt vor unserer Nase und spielt den Messias. Dann taucht ein gewisser Neidling auf, der auf ebenso dubiose Weise in die Überlinger Serienmorde verwickelt scheint – und wie es das Schicksal will, gehört er Bretschwilers Sekte an. Da fällt es auch mir schwer, an einen Zufall zu glauben.«

»Ich weiß nicht, das klingt mir alles ein bisschen weit hergeholt«, warf Jo zögernd ein.

»Wenn du meinst, dann setz ich sogar noch eins drauf«, fuhr Wolf nach kurzem Nachdenken fort. »Ich ahne nämlich, wo diese Sekte ihren Unterschlupf hat.« An dieser Stelle machte er eine kleine Kunstpause.

»Nun sagen Sie schon, Chef.«

»Wundert mich, dass ihr nicht von selber draufkommt. Natürlich in der Überlinger Altstadt, präziser gesagt: in der Turmgasse.«

»Sie meinen dieses Haus, in das der flüchtige Täter aus der Intensivstation verschwunden ist?«, platzte Vögelein dazwischen.

»Genau. Würde dich das überzeugen, Jo? Oder brauchst du noch mehr Beweise?«

Jo wirkte verblüfft. »Klingt im ersten Moment ziemlich abenteuerlich, aber Sie könnten recht haben«, musste sie zugeben.

»Halleluja! Sieht wirklich so aus, als seien wir einer ganz heißen Kiste auf der Spur«, pflichtete Vögelein enthusiastisch bei.

Hoffentlich klopft er sich vor lauter Begeisterung nicht auf die Schenkel, dachte Wolf; wie er Vögelein kannte, hätte das womöglich eine komplizierte Fraktur zur Folge. »Wenn es so ist, sollten wir ganz schnell eine richterliche Anordnung auf Überwachung von Neidlings Telefon beantragen, was meint ihr?«

»Gute Idee, Chef – falls der Richter nicht doch noch ein Haar in der Suppe findet«, stimmte Jo zu.

Wolf erhob sich seufzend. »Dann mach ich mich mal zum Staatsanwalt auf. Hoffentlich können wir den Richter überzeugen. Ich bin in einer guten halben Stunde wieder zurück, dann marschieren wir ab.«

»Wohin soll’s gehen?«

»Wohin wohl? Zur Turmgasse, in die Höhle des Löwen.«