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Wolf hatte sich in seiner Zeiteinschätzung gründlich vertan. Wie hätte er auch ahnen können, dass Staatsanwalt Hirth sich ausgerechnet an diesem Tag so viel Zeit nehmen würde? Dabei hatte alles ganz gut angefangen: Nach ausführlicher Anhörung bekundete Hirth mit Nachdruck seine Bereitschaft, den Antrag zur Überwachung von Neidlings Telefonanschluss beim zuständigen Richter zu stellen.
»Wäre nach Lage der Dinge nicht sogar ein Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Verdächtigen anzuraten?«, fragte Hirth, einmal in Fahrt gekommen. »Mal sehen, ob wir Richter Settele davon überzeugen können.«
»Settele? Noch nie gehört. Neu am Gericht?«
»Allerdings. Dieterich fällt für mindestens ein Vierteljahr aus, ist bei der Apfelernte von der Leiter gefallen. Splitterbruch im rechten Sprunggelenk, sieht übel aus. Settele übernimmt die Vertretung, aber mir scheint, mit ihm ist nicht gut Kirschen essen. Trotzdem, wir sollten es versuchen.«
Nun rückte Wolf mit seinem anderen Anliegen heraus: »Wie Sie wissen, Herr Dr. Hirth, ist die ominöse Erbschaft der beiden ermordeten Obdachlosen einer der Knackpunkte des Falles.« Er schilderte dem Staatsanwalt detailliert die Fakten, um schließlich die Katze aus dem Sack zu lassen: »Was wir brauchen, um voranzukommen, ist …«
»Weiß schon, mein lieber Wolf«, unterbrach ihn Hirth, »Sie wollen die entsprechenden Unterlagen bei den Nachlassverwaltern einsehen.« Skeptisch wiegte er den Kopf hin und her. »Würde mich nicht wundern, wenn wir den neuen Mann mit diesem Anliegen überfordern.« Mehrere Minuten detaillierten Nachhakens verstrichen, bis er sich zu einem Entschluss durchgerungen hatte: »Also gut, versuchen wir es.«
Die nachfolgende, nicht enden wollende Plauderei des Staatsanwalts brachte Wolf schließlich vollends aus dem Tritt. Welcher Teufel mochte Dr. Hirth nur geritten haben? Der war doch sonst nicht so redselig. Als es Wolf schließlich zu bunt wurde, brach er die einseitige Unterhaltung kurzerhand ab; er schob einen dringenden Vernehmungstermin vor und drängte zum Aufbruch.
Als Wolf eine Stunde später mit Hirth zusammen das Gerichtsgebäude verließ, war er maßlos enttäuscht. Dieser neue Richter war eine einzige Zumutung! Zwar hatte er sie überraschend herzlich empfangen und die Entschuldigung des Staatsanwalts über den unangemeldeten Besuch mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan. Doch bereits bei der Darlegung des Obdachlosenfalls gab es erste Differenzen. Settele fiel seinen Gesprächspartnern ständig ins Wort. Und als es schließlich ans Eingemachte ging, lehnte er den geforderten Durchsuchungsbeschluss für Neidlings Wohnung rundweg ab. Selbst der Hinweis auf die Schwere der Straftaten blieb wirkungslos. Die Herren könnten sich ihre Belehrungen sparen, meinte er pikiert, er habe nicht die Absicht, sich reinreden zu lassen.
Zu ihrer großen Verwunderung ließ Settele den Antrag auf Telefonüberwachung passieren – allerdings erst, nachdem Wolf damit gedroht hatte, im Falle einer Ablehnung die nach Auffassung der Ermittler zwingend notwendige Abhöraktion ersatzweise auf dem Wege eines »rechtfertigenden Notstandes« durchzuführen.
Hirth wollte sich bereits erheben, als Wolf ansetzte, um sein drittes Anliegen zur Sprache zu bringen. »Da wäre noch …«, setzte er an, doch Hirth legte ihm seine Hand auf den Arm und bedeutete ihm, zu schweigen.
»Danke, Herr Richter, das war’s. Bemühen Sie sich nicht, wir finden alleine raus.«
Wolf hatte sich notgedrungen fügen müssen. Jetzt stapfte er sauer die Treppe hinunter. Man sah ihm seinen Ärger an. Warum, so fragte er sich, hatte sich das Schicksal ausgerechnet Richter Dieterich ausgesucht? Warum holte es nicht einen arroganten Schnösel wie den Settele von der Leiter? Es traf eben immer die Falschen!
»Wieso haben Sie meinen Antrag auf Akteneinsicht abgeblockt? Wir waren uns doch im Vorfeld einig, dass es einen Versuch wert wäre!«
»Weil ich glaube, dass wir bei Settele auf taube Ohren gestoßen wären.« Hirth begründete seinen Eindruck nicht, stattdessen fügte er hinzu: »Keine Sorge, das kann ich auf meine Kappe nehmen. Gleich nach unserer Rückkehr stell ich Ihnen den Wisch aus.«
Wolf war ohnehin spät dran, doch als er im »Aquarium« ankam, lief ihm zu allem Unglück auch noch Sommer über den Weg. Der Kriminalrat allerdings wirkte erleichtert über die unverhoffte Begegnung.
»Leo, gut dass ich dich treffe. Die Journaille schreit Zeder und Mordio. Will wissen, ob an den Gerüchten über eine neue Tote etwas dran ist und vor allem, ob die Arsenmörder, so nennen sie die Täter inzwischen, dahinterstecken. Was soll ich denen sagen? Lange kann ich die Bande nicht mehr im Zaum halten.«
Was blieb Wolf anderes übrig, als das Gespräch in Sommers Büro fortzusetzen. Er machte es kurz. Ja, die Rechtsmedizin hatte den Tod der Frau durch eine akute Arsenvergiftung bestätigt; ja, sie verfolgten gerade eine heiße Spur; ja, die Verdachtsmomente verdichteten sich, mit etwas Glück könnte sich bereits in wenigen Stunden eine Lösung abzeichnen. Sommer solle sich mit seinen Aussagen auf die Obdachlosen beschränken – ohnehin wäre es besser, diesen Teil des Falls nicht mit dem der Witwen zusammen in einen Topf zu werfen.
Sommer blickte skeptisch. Er hörte aus Wolfs Ausführungen vor allem eines heraus: Der Fall war komplizierter, als sie ursprünglich angenommen hatten; von einer Lösung waren sie noch Meilen entfernt. Dennoch oder gerade deswegen musste er zähneknirschend akzeptieren, dass Wolf genau das brauchte, was sie am wenigsten hatten: Zeit.
»Hat Frau Winter den Anschlag schadlos überstanden?«, fragte Sommer, während Wolf bereits wieder der Tür zustrebte.
Mit wenigen Worten informierte Wolf ihn über das Geschehen im Hödinger Wald. Dabei hob er besonders den anonymen Anruf hervor, dem die Rettung der Journalistin zu verdanken war. Zu seiner Verwunderung ging Sommer jedoch nicht näher darauf ein.
Als Wolf fast eine Stunde später als geplant in sein Büro zurückkehrte, atmeten Jo und Vögelein hörbar auf. Wolf überhörte es geflissentlich; Polizisten verbrachten nun mal einen nicht unerheblichen Teil ihrer Dienstzeit mit Warten, das war schon immer so. Was ihm weit mehr zu schaffen machte, war die durch sein Zuspätkommen gänzlich unnötig verzögerte Einvernahme dieses Bretschwiler. Von dessen Aussage hing schließlich Entscheidendes ab. Sollte sich der Verdacht bestätigten, dass er als einer der Apothekenräuber mit den Überlinger Arsenmördern unter einer Decke steckte, möglicherweise sogar als Kopf des Ganzen fungierte – dann wären sie der Lösung des Falles weit näher, als sie es sich noch vor einer Stunde hätten vorstellen können.
* * *
Der Dienstwagen der Überlinger Kripo preschte die steile Turmgasse hinauf, bog kurz vor ihrem Ende in eine enge Einfahrt ein und kam in dem dahinterliegenden Innenhof gerade noch rechtzeitig zum Stehen, ehe er einen der dort abgestellten Wagen touchierte.
Drei Türen sprangen gleichzeitig auf, und im Stechschritt eilten Wolf, Jo und Vögelein auf die Treppe zu, die zum Eingang des stattlichen, rosenüberwucherten Fachwerkgebäudes hinaufführte. Als Erster erreichte Wolf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Eingangstür. Dann standen sie auch schon in dem düsteren, hallenartigen Innenraum.
Wieder schwebten, gregorianischen Chorälen gleich, seltsame Klänge durch den Raum, wieder verbreiteten unzählige Kerzen an den Längswänden ein flackerndes Licht. Ganz im Gegensatz zu ihrem letzten Besuch jedoch war keine Menschenseele zu sehen. Waren die Vögel ausgeflogen?
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
Wolf fuhr herum. Wie aus dem Nichts war plötzlich ein Mann hinter ihnen aufgetaucht. Während Wolf seinen Dienstausweis aus einer Jackentasche fischte, taxierte er die vor ihm stehende Gestalt. Mittelgroß und offenbar gut trainiert, die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, hielt der Mann die Arme vor der Brust verschränkt und sah sie fragend an. Sein drahtiger Körper wurde von einem schwarzen Leinenanzug umhüllt, der, dem Gewand eines Judokämpfers ähnlich, in der Taille von einem ebenfalls schwarzen Stoffgürtel zusammengehalten wurde. An den Füßen trug er leichte Gymnastikschuhe mit Gummisohlen. Das war wohl auch der Grund, weswegen sie sein Kommen nicht gehört hatten.
»Guten Tag«, sagte Wolf und überlegte krampfhaft, wo er dem Mann schon einmal begegnet war. »Ich bin Hauptkommissar Wolf von der Kripo Überlingen.« Er hielt seinen Ausweis hoch. »Das sind meine Kollegen Louredo und Vögelein. Wir haben im Zuge bestimmter Ermittlungen ein paar Fragen an Herrn Bretschwiler. Geht das?«
Wolf hielt nichts davon, Verdächtige bereits im Vorfeld gegen sich aufzubringen. Nach seiner Erfahrung hätte er sich damit nur selbst geschadet, schließlich war er derjenige, der rasch und ohne große Schwierigkeiten an Informationen gelangen wollte. Sollten sich die Befragten nicht äußern oder erkennbar lügen, konnte er immer noch die Daumenschrauben anziehen. Aus diesem Grund schlug er einen konzilianten Ton an, auch wenn Jo und Vögelein verwundert die Augenbrauen hochzogen – wo er doch selbst die Parole ausgegeben hatte, ab sofort die Samthandschuhe auszuziehen.
Die Antwort des Mannes schien ihm recht zu geben. »Bitte warten Sie hier. Ich werde Herrn Bretschwiler …« – er betonte den Namen, als hätte er ihn zum ersten Mal gehört – »… über Ihren Besuch unterrichten und ihn fragen.« Damit verschwand er im hinteren Teil des Raumes, von wo aus, im Zwielicht kaum erkennbar, eine Treppe in den Keller und in die Obergeschosse führte.
Bereits wenig später kehrte er zurück. »Der Meister wird für Sie seine Gebete unterbrechen, bitte folgen Sie mir.« Er ging zur Treppe und nach oben, die drei Polizisten in seinem Schlepptau. Nach den ersten Stufen drehte er sich noch einmal zu Wolf um.
»Übrigens … wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Herrn Bretschwiler …« – wieder dieses kaum merkliche Zögern – »… also wenn Sie ihn mit ›Meister‹ oder seinem von Gott verliehenen Namen ›Gabriello‹ anreden würden.«
»Welche Funktion haben Sie eigentlich in diesem Hause?«, überging Wolf die Bitte. »Ich meine, alle anderen Bewohner scheinen Weiß zu tragen, während Sie …« Er ließ den Satz unvollendet, stattdessen musterte er ihren Begleiter von Kopf bis Fuß.
»… während ich als Einziger in Schwarz gehe, wollten Sie sagen? Ihre Frage ist berechtigt. Der Grund ist, dass ich für die Sicherheit auf dem Gelände der Kirche zuständig bin.«
»Kirche?«, fragte Jo bewusst provokant.
»Ganz recht. Heaven’s Gate, wie sich unsere Gemeinschaft nennt, ist eine Kirche im Geiste des Herrn – eine der wenigen übrigens, die sich mit Fug und Recht so nennen darf. Aber das kann Ihnen der Meister besser erklären. So, hier sind wir, bitte treten Sie ein.«
Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht. Der »schwarze Sheriff«, wie Wolf den Mann insgeheim nannte, führte sie in einen etwa vier mal vier Meter großen, fensterlosen Raum, der von einigen Kerzen mehr recht als schlecht beleuchtet wurde. Die Einrichtung konnte man, gelinde gesagt, als spartanisch bezeichnen. Ein länglicher, aus dunklem Holz geschnitzter und mit einer Polsterauflage versehener Schemel nahm die Raummitte ein. Er stand auf einem Teppich, der nahezu die gesamte Bodenfläche bedeckte und den Wolf, der sich in früheren Jahren ein wenig mit Teppichen beschäftigt hatte, für einen handgeknüpften Gabbeh hielt.
Mehr gab es nicht zu sehen – sah man einmal von der stattlichen, weiß gekleideten Männergestalt ab, die, den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, scheinbar völlig entrückt auf dem Schemel kniete. Wie eine Monstranz reckte der Mann ein gut handgroßes silbernes Kreuz in die Höhe, in das einige merkwürdige Symbole eingraviert waren und das er, von rhythmischen Verbeugungen begleitet, immer wieder an die Lippen führte, um einen Kuss daraufzuhauchen.
In dem kleinen Raum herrschte völlige Stille.
Wolf, dem das Brimborium bereits jetzt auf den Wecker ging, kam nicht umhin, den Heaven’s-Gate-Leuten einen ausgeprägten Minimalismus zu attestieren – in Verbindung mit einer Schwäche für die Farbe Weiß.
Nach ihrem Eintritt ließ der »Meister« noch eine halbe Minute verstreichen, ehe er geruhte, die Besucher wahrzunehmen. Mehrfach war Wolf nahe daran, ihn mit groben Worten in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Endlich nahm der Mann das Kreuz herunter. Wenig später öffnete er die Augen und richtete sich auf.
»Die Herrschaften von der Polizei«, sagte der Schwarzgewandete und übergab sie in die Obhut des »Meisters«. Wolf ahnte den Grund seines überstürzten Rückzugs. Ihm war sicher nicht entgangen, dass Jo zurückgeblieben war und mit offenen Augen durch den Vorraum spazierte, mal dies, mal jenes kritisch in Augenschein nehmend.
Derweil hatte es der »Meister« in die Senkrechte geschafft. Wie segnend hob er die Arme, ehe er Wolf und Vögelein ins Auge fasste. »Gott mit Ihnen. Sie haben Fragen, wie mir Mirko sagte. Mit des Herrn Hilfe werde ich sie zu beantworten suchen.«
Wolf erkannte in seinem Gegenüber den weißhaarigen Sektenchef in dem makellos weißen Anzug, dem sie bei ihrem ersten Besuch hier begegnet waren. Er hatte die Szene noch lebhaft vor Augen: Inmitten einer Horde aufgebrachter Glaubensanhänger hatte der Mann sie in dem Versammlungsraum im Erdgeschoss empfangen und steif und fest behauptet, in den letzten Minuten habe niemand das Haus betreten. Der Glaubenseifer, mit dem er und seine Anhänger ihre Behauptung vorbrachten, hatte ihnen fürs Erste weitere Unannehmlichkeiten erspart, zumal eine flüchtige Überprüfung der Räume ergebnislos verlaufen war.
Wolf zwang sich, die zurückliegenden Ereignisse vorläufig auszublenden und sich auf den Grund ihres Hierseins zu konzentrieren. »Sie sind Herr Bretschwiler, Gabriel Bretschwiler, ist das richtig?«, eröffnete er die Befragung.
»Das ist mein weltlicher Name, ja.«
»Ich nehme an, Sie können sich ausweisen?«
»Natürlich. Aber wollen Sie mir nicht sagen, warum Sie gekommen sind?«
»Wir ermitteln, rein routinemäßig, wegen eines Gesetzesverstoßes, der sich am 13. Mai dieses Jahres ereignet hat. Dabei sind wir auf Ihren Namen gestoßen. Sie sind uns ganz schnell wieder los, sobald wir Ihre Identität geprüft und von Ihnen erfahren haben, wo Sie sich am Vormittag des 13. Mai aufgehalten haben.«
Mit unbewegtem Gesicht griff Bretschwiler in die Gesäßtasche seiner mustergültig gebügelten Hose und zog daraus ein Mäppchen hervor, dem er eine scheckkartengroße, laminierte Identifikationskarte entnahm und sie an Wolf weiterreichte.
»Sie stammen aus Zürich?«, stellte Wolf fest, nachdem er den Ausweis eingehend studiert hatte.
»Geboren und aufgewachsen bin ich in Freiburg, um genau zu sein. Später hat meine Familie ihren Wirkungskreis in die Schweiz verlegt.«
»Und seitdem sind Sie Schweizer Staatsbürger und leben in Zürich?«
»Ja. Bis mich meine Mission vor einem halben Jahr an den Bodensee führte.«
»Gut.« Er reichte Bretschwiler den Ausweis zurück. »Also: Wo waren Sie am Vormittag des 13. Mai?«
»Ich bitte Sie, darauf erwarten Sie hoffentlich keine spontane Antwort. Gott der Herr hat mir zwar ein gut funktionierendes Gedächtnis geschenkt, aber der Tag, nach dem Sie fragen, liegt über drei Monate zurück, wie soll ich das auf Anhieb wissen? Da muss ich nachsehen. Bitte folgen Sie mir in unser Büro.«
Mit gemessenen Schritten, die Hände wie betend aneinandergelegt, verließ er den Andachtsraum. Wolf und Vögelein folgten ihm. Als er im Gang Jo und den Schwarzgekleideten erblickte, schien Bretschwiler kurz zu stutzen.
»Würdest du uns bitte folgen, Mirko?«, bat er gleich darauf. »Die Herrschaften sind an meinem Alibi interessiert.« Geflissentlich ignorierte er den fragenden Gesichtsausdruck seines Glaubensbruders und ging weiter.
Sie passierten einen weiteren Raum, wie die anderen weiß gestrichen und eingerichtet. Flüchtig nahm Wolf eine Gruppe von sieben oder acht Gestalten in weißen Umhängen wahr, Frauen zumeist, die um einen runden Tisch saßen und den Worten eines Predigers lauschten.
Endlich erreichten sie das Büro. Während Mirko die Tür hinter sich schloss, steuerte Bretschwiler einen Schreibtisch an, der mit Stapeln von Büchern, Zeitschriften und Ordnern sowie zahlreichen Notizzetteln und Zeitungsausschnitten geradezu überladen war. Eine Mineralwasserflasche mit einem Glas sowie diverse Schreibutensilien vervollständigten das Durcheinander. Auffallend war das Fehlen eines Computers. Von den Errungenschaften des elektronischen Zeitalters scheint der Sektenchef nicht allzu viel zu halten, dachte Wolf.
Zielsicher griff Bretschwiler nach einem obenauf liegenden Buch mit weißem Ledereinband. Es stellte sich als Terminkalender heraus. Nach kurzem Blättern hatte er den gesuchten Tag gefunden
»13. Mai, sagten Sie. Das war der Dienstag nach Pfingsten, richtig? Ja, jetzt hab ich’s wieder im Kopf. Hier, sehen Sie selbst.« Er hielt Wolf das aufgeschlagene Buch hin. ›H.G. Treffen Dornbirn, 9.00 Begrüßung, 9.15 Licht-Ritus, 10.00 – 12.00 Exerzitien‹, stand da. Während Wolf den krakelig hingeworfenen Eintrag studierte, nahm Bretschwiler einen Schluck aus dem Wasserglas.
»Können Sie das näher erklären? Ich nehme an, H.G. heißt Heaven’s Gate?«, fragte Wolf.
»So ist es. Ansonsten gibt es nicht viel zu erklären. An diesem Tag waren wir mit unseren Vorarlberger Glaubensbrüdern in Dornbirn zusammen. Dazu hatten wir einen kleinen Saal angemietet, darüber gibt es Unterlagen. Ich habe das Treffen von Beginn an geleitet. Wenn ich mich recht erinnere, ging es bis vierzehn Uhr, danach haben wir die Rückreise angetreten. Reicht Ihnen das?«
»Wer ist wir?«
»Meine Glaubensbrüder und -schwestern von der Seezelle.«
»Seezelle?«
»So nennen wir unsere Überlinger Glaubensgemeinschaft.«
»Demnach gibt es mehrere Zeugen, die Ihren Aufenthalt in Dornbirn, sagen wir von neun Uhr bis vierzehn Uhr, bestätigen können. Ist das so?«
»Gott, der Herr, ist mein Zeuge. Und natürlich die Glaubensbrüder und -schwestern, die bei uns waren, da haben Sie recht.«
»Dann hätten wir gerne eine Liste mit den Namen der Personen, die Sie nach Dornbirn begleitet haben«, meldete sich nun erstmals Vögelein zu Wort.
Überrascht wechselte Bretschwilers Blick von Wolf zu Vögelein. Als Wolf nickte, gab Bretschwiler Mirko einen Wink. Der kramte daraufhin ein Blatt Papier aus einem Fach, schnappte sich einen Kugelschreiber und begann zu schreiben. Mehrere Minuten lang herrschte Stille. Endlich übergab Mirko das Blatt an Bretschwiler. Der prüfte die Liste und setzte noch zwei weitere Namen hinzu, ehe er sie an Wolf weiterreichte. Während Wolf las, trank Bretschwiler erneut von seinem Wasser und betrachtete die Angelegenheit offenbar als erledigt.
»Danke, meine Herren«, nickte Wolf. »Wie gesagt, eine reine Routineuntersuchung. Dazu sind wir verpflichtet, wenn wir bei Ermittlungen auf uns unbekannte Namen stoßen.«
Während Jo und Vögelein sich bereits in Richtung Tür bewegten, fiel Wolf noch eine allerletzte Frage ein. Als müsse er dafür die Hände frei haben, legte er die Liste auf dem Schreibtisch ab. »Stimmt es eigentlich, dass die Mitglieder Ihrer Glaubensgemeinschaft einen Sündenablass und das ewige Leben erhalten?«
Bin mal gespannt, wie der weißhaarige Fuchs sich aus der Affäre zieht, dachte Wolf bei sich und schob sein Barett etwas zurück. Auch Jo und Vögelein verharrten auf der Schwelle. Nur Bretschwiler blieb die Ruhe selbst. Diplomatisch erwiderte er: »Sie sollten zu unserem nächsten Erleuchtungsabend kommen. Ich lade Sie herzlich dazu ein. Übermorgen, hier, um achtzehn Uhr.« Noch einmal hielt er segnend die Arme über Wolf. »Und nun: Der Herr sei mit Ihnen.«
Wolf wechselte einen schnellen Blick mit Jo und Vögelein. Eins zu null für den »Meister«. Wortgewandt war er, das musste der Neid ihm lassen. Und nervenstark dazu.
Sie verließen das Büro und schlugen denselben Weg ein, den sie gekommen waren. Nach einigen Schritten griff sich Wolf unvermittelt an den Kopf. »Die Liste! Ich hab die Liste vergessen«, rief er scheinbar betreten, und noch ehe Mirko oder Bretschwiler reagieren konnten, rannte er zu dem Büro zurück. Sekunden später holte er die anderen an der Treppe wieder ein.
»Sie brauchen sich nicht zu bemühen«, winkte Wolf ab, als die beiden Sektenmänner Anstalten machten, mit nach unten zu kommen. »Wir finden alleine raus, danke. Falls es noch Fragen gibt, melden wir uns.«
»Was war das denn?«, motzte Vögelein, als Jo den Dienstwagen rückwärts aus dem Innenhof steuerte. »Das nennen Sie also ›die Samthandschuhe ausziehen‹?« Aufgebracht förderte er eine kleine Schachtel zutage, aus der er zwei runde, hellblaue Pillen fieselte, die er sich zwischen die Lippen schob.
»Hanno hat recht«, pflichtete ihm Jo bei. »Wir hätten genügend Munition gehabt, um die beiden Typen in die Enge zu treiben. Zumindest hätten wir nicht so schnell klein beigeben dürfen.«
»Ihr seid wie junge Hunde, wollt gleich mit dem Kopf durch die Wand. Bretschwilers Alibi war über jeden Zweifel erhaben, das war der springende Punkt. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir mit leeren Händen abziehen. Hier zum Beispiel – ist das etwa nichts?«
Mit diesen Worten griff Wolf in seine Jackentasche und zog einen Plastikbeutel mit einem Gegenstand darin heraus.
»Bretschwilers Trinkglas«, sagte er lapidar. »Wenn mich nicht alles täuscht, strotzt es nur so vor Fingerabdrücken. Allerdings habe ich das dumpfe Gefühl, dass den Kollegen in Augsburg kein Pendant dazu vorliegt. Trotzdem: Seine Abdrücke könnten hilfreich sein, und sei es nur, um ihn als Mittäter auszuschließen.«
»Also war die angeblich vergessene Liste bewusst inszeniert«, kicherte Jo hinter dem Steuer. »Pfui, Chef, wie hinterhältig.«
»Warum fällt mir so was nicht ein?«, brummte Vögelein.
Noch einmal griff Wolf in seine Jackentasche. »Sobald wir zurück sind, marschiert Jo in der Nachlasssache zu diesem Notar Sonntag. Der richterliche Beschluss, der ihn von seinem Amtsgeheimnis entbindet, liegt im Handschuhfach. Und du, Hanno, machst Folgendes.« Er reichte Vögelein das Blatt, das er soeben aus seiner Tasche gezogen hatte. »Du schickst dieses Bild hier per Fax an unsere Augsburger Kollegen. Ich will wissen, ob der darauf abgebildete Mann an dem Arsenraub in der Apotheke beteiligt war … Pass doch auf, Mädchen!«
Die letzten, hastig hervorgestoßenen Worte galten Jo, die in dem vergeblichen Bemühen, einen Blick auf das Bild zu erhaschen, beinahe das Steuer verrissen hätte.
»Wo haben Sie denn das her?«, staunte Vögelein.
»Und ihr, wo habt ihr bloß eure Augen? Davon lag ein ganzer Stapel neben dem Ausgang. Offenbar ein Flyer, mit dem die Sekte neue Mitglieder wirbt. Den Text kannst du vergessen, aber das Bild ist echt gut. Es zeigt den großen Meister in seiner ganzen eindrucksvollen Schönheit.«
»Der Meister, der seinen Schäfchen ihre Sünden vergibt und ihnen das ewige Leben schenkt – wo bekommt man das heute noch?«, nickte Jo.
»Ist euch sonst noch was aufgefallen?«, fragte Wolf.
Ratlos blickten sich Jo und Vögelein an. »Was meinen Sie?«, fragte Jo schließlich.
»Ich sage nur: das Kreuz.«
»Sie meinen das Kreuz, mit dem Bretschwiler seinen Hokuspokus veranstaltet?«
»Genau.«
Abermals wechselten Jo und Vögelein einen Blick.
»Nun spucken Sie’s schon aus.«
»Bretschwilers Kreuz gleicht aufs Haar dem Amulett, das wir vor einigen Tagen in der Bootshalle sichergestellt haben.«
Hanno Vögelein bekam große Augen. »Moment mal, gab es dort nicht auch einen Mirko? Dieser redefaule Platzwart, Sie erinnern sich, Chef?«
Nun war es an Wolf, sich mit der flachen Hand an die Stirn zu schlagen. »Klar doch, daher kenn ich den Kerl. Beim letzten Mal hatte er ‘ne Mütze auf, deshalb bin ich nicht gleich draufgekommen. Gut aufgepasst, Hanno. Vielleicht sind wir ja doch auf der richtigen Fährte?«
* * *
Der unscheinbare dunkelblaue Toyota preschte auf der autobahngleichen B 31 in Richtung Überlingen. Am Rastplatz Nellenburg, unterhalb der gleichnamigen Burgruine und halbwegs zwischen dem Kreuz Hegau und Überlingen, drosselte er das Tempo. Entschlossen setzte er den Blinker und steuerte den Rastplatz an.
Nachdem der Rothaarige die Reihen der abgestellten Pkws und Trucks suchend abgefahren hatte, hielt er kurz an. Ganz offensichtlich war das Fahrzeug, nach dem er Ausschau gehalten hatte, noch nicht da. Nun hieß es warten. Nach kurzem Überlegen fuhr er in eine Lücke zwischen zwei Brummis; hier würde man ihn nicht so leicht sehen, falls zufällig ein Bekannter aufkreuzen sollte.
Endlose Minuten verstrichen. Immer unruhiger trommelten seine Finger auf das Lenkrad, das Warten ging ihm an die Nerven. Nur gut, dass sie es bald hinter sich hatten. Kaum hatte ihn dieser Gedanke etwas beruhigt, tauchte in der Einfahrt ein dunkelgrauer Audi auf. Langsam passierte er die parkenden Fahrzeuge. Als der Fahrer den Toyota entdeckte, stellte er sich unmittelbar dahinter und stieg aus.
»Wo bleibst du denn, verdammt noch mal«, explodierte der Rothaarige, kaum dass der Igelmann neben ihm Platz genommen hatte.
»Sag mir lieber, was los ist«, verlangte dieser ungerührt.
Statt einer Antwort startete der Rothaarige den Motor und fuhr vorsichtig aus der Parklücke heraus, dabei misstrauische Blicke auf seine Umgebung werfend. Sekunden später erreichte er die Bundesstraße, in zügigem Tempo fuhr er auf Überlingen zu.
»Was los ist, fragst du? Der Teufel ist los! Vergessen wir mal die Tatsache, dass wir seit zwei, drei Tagen einen Schnüffler in unseren Reihen haben – weiß der Geier, wer uns diese Laus in den Pelz gesetzt hat. Ich will auch nicht näher auf deinen gründlich schiefgegangenen Plan eingehen, der Frau im Hödinger Wald den Garaus zu machen. Im Verhältnis zu unseren wirklichen Problemen ist das alles Pipifax.«
»Von welchen Problemen redest du, verdammt noch mal?«
Der Rothaarige wurde plötzlich laut. »Ich rede davon, dass dir jemand während der ganzen gottverdammten Hatz auf diese Winter gefolgt sein muss, ohne dass es dir aufgefallen ist – oder denkst du, der liebe Gott hat diesen Wolf auf den Plan gerufen? Ich rede davon, dass sich seit zwei Tagen die Kripo für dich interessiert. Und ich rede davon, dass dieser Wolf vor kaum einer Stunde bei Gabriello war und ihm äußerst unangenehme Fragen gestellt hat.«
»Was, die waren bei Gabriello?«, fuhr der Igelmann erschrocken auf. Verflogen war sein provokant zur Schau getragener Gleichmut. »Was wollten sie von ihm?«
»Frag mich was Leichteres«, erwiderte der Rothaarige und knirschte mit den Zähnen. »Eines steht jedenfalls fest: Die Einschläge kommen immer näher.«
»Ja, aber … was sollte die Bullen auf unsere Spur geführt haben? Dafür agieren wir viel zu vorsichtig.«
Argwöhnisch sah der Rothaarige zu ihm rüber. »Das musst ausgerechnet du sagen! Jeder Coup hinterlässt Spuren«, dozierte er, »manchmal mehr, manchmal weniger, da kannst du noch so umsichtig agieren. Es gibt nun mal kein perfektes Verbrechen. Die Bullen sind irgendwie auf den Apothekenüberfall gekommen und bringen Gabriello damit in Verbindung. Mehr weiß ich leider auch nicht.«
»Ich hab gleich gesagt, dass ich es hirnrissig finde, den Coup mit einem Rezept von Gabriello durchzuziehen.«
»Ach ja? Wir haben aber ein Rezept gebraucht. Hättest ja eines von dir zur Verfügung stellen können!«
»Du weißt genau, dass das auf die Schnelle nicht ging …«
»Dann halt gefälligst die Klappe.«
Während der Igelmann beleidigt durch das Frontfenster starrte, schlich sich über das Gesicht des Rothaarigen ein verschlagenes Lächeln. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es wieder. Er wendete bei der Ausfahrt Überlingen, um anschließend dieselbe Strecke wieder zurückzufahren. Heikle Gespräche führte er oft beim Autofahren – seiner Erfahrung nach die beste Methode, um unerwünschte Augen- und Ohrenzeugen auszuschließen.
»Tut mir leid, dass das mit der Winter in die Hosen gegangen ist«, räumte der Igelmann zerknirscht ein. »Das nächste Mal …«
»Es gibt kein nächstes Mal«, fuhr ihm der Rothaarige ins Wort, »die wichtigen Jobs mache ich in Zukunft selbst.« Und nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Aber wer weiß, vielleicht hatte ja alles auch sein Gutes.«
»Was meinst du?«
»Na, was schon? Wenn wir der Winter das Schnüffeln schon nicht austreiben können, sollten wir wenigstens von ihrem Wissen profitieren.«
»Sie wird uns die Ergebnisse ihrer Recherchen wohl kaum zur Verfügung stellen.«
Erneut warf der Rothaarige einen prüfenden Blick auf seinen Beifahrer. »Wird sie doch. Sie kriegt es nur nicht mit. Wir zapfen nämlich Ihre E-Mails an.«
»Wie willst du das anstellen?«
»Wozu haben wir unsere beste Spürnase im ›Seekurier‹ platziert?«, gab der Rothaarige zurück.
»Wie … du willst deine Tussi einspannen?«
»Du sollst sie nicht immer Tussi nennen, verdammt noch mal. Was spricht dagegen? Sie ist am nächsten an der Winter dran. Und was noch wichtiger ist: Sie hat Zugang zum Zentralrechner des Verlages. Außerdem müssen wir unsere Pläne ändern – jetzt und freiwillig, ehe uns die Ereignisse dazu zwingen.«
»Übertreibst du da nicht ein bisschen?«, gab der Igelmann aufgebracht zurück.
»Keineswegs. Unsere Haupteinnahmequelle ist praktisch jetzt schon versiegt …«
»Moment mal – heißt das, du willst das Erbe der von Hardenberg ausschlagen?«
»Sollen wir wegen läppischer dreihundert Mille unseren großen Coup gefährden? Das kann nicht dein Ernst sein, nicht mit mir. Es war abgesprochen, dass wir uns über die Vermögen der Alten das nötige Startkapital beschaffen. Ist bis jetzt auch ganz gut gelungen, aber leider haben sich die Verhältnisse inzwischen geändert, also müssen wir auch unsere Pläne ändern. Wohlgemerkt: unsere Pläne, nicht unser Ziel. Wenn du allerdings den Hals nicht voll kriegen kannst – bitte sehr, treten wir das Erbe eben an. Aber danach werden die Konten geräumt und dann ab durch die Mitte. Zum großen Finale stehe ich in dem Fall nämlich nicht mehr zur Verfügung, mir wird die Kiste langsam zu heiß. Schade nur um das hübsche Päckchen mit dem weißen Pulver …«
»Okay, okay, hab schon verstanden«, versuchte der Igelmann gut Wetter zu machen. »Im Grunde hast du recht. Wär ja bescheuert, so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Lassen wir eben die dreihundert Mille sausen und kommen gleich zum großen Finale. War ja ohnehin alles nur ein Vorspiel.«
»Siehst du, so gefällst du mir schon besser.«
Inzwischen hatten sie wieder den Rastplatz Nellenburg erreicht. Schon machte der Igelmann Anstalten, auszusteigen, als ihm noch etwas einfiel: »Ach ja, dieser Typ, der mir im Hödinger Wald gefolgt ist: Was passiert mit dem?«
»Erst mal müssen wir rauskriegen, wer dahintersteckt und welche Pläne er verfolgt«, antwortete der Rothaarige ausweichend.
»Und dann?«
»Frag nicht so blöd. Wir müssen den Mann ausschalten, er weiß zu viel. Oder siehst du einen anderen Weg, uns der Gefahr einer vorzeitigen Entdeckung zu entledigen? Ich nicht. Im Gegenteil: Dieser Kerl wird mir immer unheimlicher. Ich hab da auch schon einen Plan. Lass mich nur machen.«
* * *
»Friedhelm Sonntag, Notar und Anwalt« verkündete das Schild am Eingang zur Kanzlei. Jo klopfte kurz an, ehe sie das Vorzimmer betrat. Die Angestellte an der Anmeldung brauchte einen Moment, um sie wiederzuerkennen. »Warten Sie … sind Sie nicht die Kommissarin von der Kripo? Ich hoffe, Sie haben diesmal einen Termin bei Herrn Sonntag.«
»Leider nein, aber lassen Sie sich dadurch nicht davon abhalten, mich anzumelden. Er wird mich schnell wieder los sein, das verspreche ich Ihnen. Ich habe lediglich eine kurze Frage, die er im Übrigen bereits kennt. Am Besten zeigen sie ihm das hier, es wird seine Bereitschaft, mich zu empfangen, sicher erhöhen.« Jo händigte der Angestellten den Beschluss zur Akteneinsicht aus.
Stirnrunzelnd überflog die Frau das Schreiben. Mit einer Handbewegung wies sie auf einen Stuhl, ehe sie in das angrenzende Büro entschwand. Jo hatte noch nicht richtig Platz genommen, da stand sie bereits wieder unter der Tür. »Bitte sehr«, sagte sie und ließ Jo passieren.
Im Café Mokkas hatte der Notar Jo höflich, aber bestimmt abgefertigt. Heute sah die Sache etwas anders aus: Mit der Anordnung der Staatsanwaltschaft im Rücken würde ihm gar nichts anderes übrig bleiben, als ihr Einsicht in die Nachlassregelung zu gewähren und alle gewünschten Auskünfte zu erteilen.
Nach einer verhältnismäßig kühlen Begrüßung griff Sonntag denn auch zu einer Akte und schlug sie auf. »Wenn ich mich richtig erinnere, wollten Sie wissen, wem die jüngst Verstorbene Magdalena von Hardenberg ihren Nachlass vermacht hat, richtig?« Er hob den Kopf und sah Jo ins Gesicht.
»So ist es, Herr Sonntag. Die Gründe dafür hab ich Ihnen bereits bei unserem letzten Gespräch dargelegt.«
Er nickte und suchte nach der entsprechenden Passage in der Verfügung. »Ah ja, da haben wir’s ja. Also …« Als wolle er die Spannung weiter erhöhen, machte er eine kleine Pause. Dann senkte er den Blick und las ab, was in der Akte stand.
Im ersten Moment dachte Jo, sie hätte sich verhört. »Würden Sie das bitte noch einmal wiederholen?«
Irritiert hob Sonntag für einen Moment den Kopf, ehe er Jos Wunsch nachkam. Nachdem er ein zweites Mal vorgelesen hatte, klappte er die Akte zu und stand auf.
Mit einem Blick auf Jos verblüfften Gesichtsausdruck fragte er: »Gehe ich recht in der Annahme, dass die Antwort auf Ihre Frage nicht ganz zu Ihrer Zufriedenheit ausfiel?«
Nun stand auch Jo auf und reichte ihm die Hand. »Aber ganz im Gegenteil, Herr Sonntag, sie stellt mich sogar außerordentlich zufrieden, ich kann’s nur nicht so zeigen. Berufskrankheit, wissen Sie. Haben Sie vielen Dank und einen schönen Tag noch.«
Zwei Minuten später fand sich Jo auf der Bahnhofstraße wieder. Zweifelnd blickte sie zum Himmel hoch, doch was sie sah, war wenig erbaulich. Aus niedrig hängenden Wolken sprühte feiner Nieselregen, dazu war es merklich kühler geworden, die milden, sonnigen Spätherbsttage schienen endgültig vorüber zu sein. Mit resigniertem Seufzen hielt sie ihre Tasche über den Kopf, um ihre dunkle Lockenpracht vor dem sicheren Ruin zu retten. Hätte das verdammte Herbstwetter nicht einen Tag länger halten können?, grollte sie, während sie am Eingang zum Kurpark vorbeihastete. Wie gerne hätte sie sich jetzt auf eine Bank gesetzt und über das Gespräch mit dem Notar nachgedacht. Sie stellte sich die Gesichter ihrer Kollegen vor, wenn sie Ihnen die Namen der Erben verriet. Sie war sicher, allgemeines Aufatmen wäre die Folge, Erleichterung darüber, dass sie endlich das Motiv der Mordserie kannten. Es würde sie zwangsläufig zu den Tätern führen.
Als sie bei ihrem Wagen angelangt war, sah sie auf die Uhr: halb drei. Wenn sie sich beeilte, bekam sie sogar noch einen weiteren Knopf an die Geschichte. Sie wollte noch mal zu der Fleischfabrik in Singen fahren und dem polnischen Arbeiter das Phantombild zeigen. Immerhin hatte er einem der Täter gegenübergestanden.
Tom Schürmann fiel ihr ein und der verpatzte gestrige Abend. Lag die Fahrt mit ihm tatsächlich erst einen Tag zurück? Kaum zu glauben. Ob sie ihn noch einmal anrufen sollte? Besser nicht. Sie hatte noch sein schnippisches »Vielleicht ein andermal« im Ohr, als sie sich bei ihm entschuldigt hatte. Obwohl sie ihn sogar verstehen konnte. Wer ließ sich schon gerne auf eine Beziehung ein, bei der bereits das erste Rendezvous unter einem ungünstigen Stern stand?
Andererseits war es geradezu lächerlich, bereits jetzt von einer Beziehung zu reden. Sie hatten sich zum Essen verabredet, nicht mehr und nicht weniger. Natürlich war ihr Tom sympathisch gewesen, sie hatte seine lockere, freundliche Art vom ersten Augenblick an gemocht. Das war’s aber auch schon. Warum also sollte sie sich zieren, ihn anzurufen und einzuladen? Mehr als absagen konnte er nicht.
Überleg nicht so viel! Nimm dein Handy und ruf ihn an. Alles Weitere wird sich finden, sagte ihr eine innere Stimme.
»Tom Schürmann hier.«
Pause.
»Ist da jemand? Hallo?«
»Hallo Tom, hier ist Jo.«
»Ah, die Frau Kommissarin. Was kann ich für Sie tun? Lassen Sie mich raten: Sie brauchen mein Taxi, stimmt’s?«
Das wäre ja reine Geldverschwendung und vollkommen albern. Sie müsste ihr eigenes Auto hier stehen lassen und später wieder abholen.
»Wären Sie denn frei?«, hörte sie sich sagen.
»Kommt drauf an, wann?«
»Wie wär’s mit gleich? Ich muss noch mal nach Singen.«
»Das ginge. Wo sind Sie gerade?«
»Bahnhofstraße. Gegenüber dem Eingang zum Kurpark.«
»Bin sofort da.«
Das leichte Nieseln hatte sich zwischenzeitlich zu einem veritablen Landregen gemausert. Dunkle Wolkengebirge verfinsterten den Himmel, Wasserschleier jagten waagrecht die Bahnhofstraße entlang. Jo fand hinter einem Baum notdürftig Schutz.
Endlich kam Schürmanns Taxi. Die wenigen Schritte bis zum Wagen reichten aus, um Jo bis auf die Haut zu durchnässen. Erleichtert atmete sie auf, als sie die Wagentür hinter sich zuzog.
»Hallo, Lady«, wurde sie von Tom empfangen. Er reichte ihr ein kleines Handtuch hinüber. »Ist frisch«, bemerkte er. »Hab mir schon gedacht, dass ich Sie pitschnass auflesen muss. Ein Schirm passt nämlich nicht zu Ihnen.« Er lachte amüsiert und fuhr los.
»Moment, fahren Sie nicht zur B 31 hoch?«, fragte Jo, während sie sich mit dem Handtuch die Haare trocknete.
»Ist leider gesperrt. Ein Unfall.« Angestrengt starrte er geradeaus. »Die Sturmfrisur steht Ihnen gut«, versicherte er nach einem kurzen Seitenblick auf ihre Haare.
Die weitere Fahrt war nicht dazu angetan, sich auszutauschen. Zu sehr nahmen Verkehr und Straßenzustand Schürmanns Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Scheibenwischer konnten die Wassermengen kaum bewältigen. Immer wieder kamen ihnen Fahrzeuge ohne Licht entgegen, sodass sie erst im letzten Moment erkennbar wurden. Mehr als einmal fluchte Tom Schürmann lauthals über die Unvernunft mancher Zeitgenossen.
Hinter Radolfzell wurde es etwas besser. Kaum zehn Minuten später trafen sie in Singen ein, wo das Unwetter vorübergehend von einem normalen Landregen abgelöst wurde.
»Bitte warten Sie hier auf mich. Müsste diesmal etwas schneller gehen«, bemerkte Jo beim Aussteigen und hastete mit eingezogenem Kopf dem Eingang des SFV-Verwaltungsgebäudes entgegen.
»Ich muss eine Auskunft von Herrn Kacinsky haben. Würden Sie ihn bitte kurz herholen?«, verlangte Jo und zeigte Ihren Dienstausweis vor.
»Tut mir leid, Herr Kacinsky arbeitet nicht mehr bei uns.«
»Das kann nicht sein. Würden Sie sich bitte noch einmal vergewissern? Ich habe gestern erst hier im Haus mit ihm gesprochen. Da war keine Rede davon, dass er den Betrieb verlassen will.«
»Und dennoch arbeitet er nicht mehr hier! Ich werde ja wohl über unsere Mitarbeiter Bescheid wissen.«
»Davon möchte ich mich selbst überzeugen«, rief Jo über die Schulter zurück und steuerte bereits die Tür an, die in die Schlachterhalle führte.
»Warten Sie.« Ein Unterton in der Stimme der Angestellten ließ Jo stocken. Erwartungsvoll kehrte sie zum Tresen zurück, wo sich die Frau misstrauisch umsah, ehe sie sich zu Jo hinüberbeugte.
»Gestern Abend sind acht polnische Mitarbeiter völlig überraschend heimgefahren. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen«, flüsterte sie.
»War Herr Kacinsky darunter?«, flüsterte Jo zurück.
Die Angestellte nickte.
Jo hob dankend die Hand und verließ das Gebäude. Um die Hintergründe dieser Massenflucht – um was sonst sollte es sich bei dem überstürzten Auszug aus dem Gelobten Land handeln? – würden sich die Kollegen vom Zoll kümmern. Leider war damit auch die Gelegenheit dahin, sich von Kacinsky die Übereinstimmung des Phantombildes mit dem Käufer des Rinderauges bestätigen zu lassen.
Die Rückfahrt verlief nur wenig entspannter. Nach wie vor regnete es Bindfäden, immer wildere Böen schüttelten den Wagen, je näher sie Überlingen kamen, und alles, was fuhr, war von einer undurchdringlichen Gischtwolke umhüllt. Schürmann musste sich voll auf die Straße konzentrieren, nur das Nötigste wurde gesprochen. Bei Espasingen gerieten sie in einen Stau, der ganz offensichtlich die Folge eines Regenunfalls war. Als sie die Unfallstelle schließlich passierten, glich die Straße einem Schlachtfeld. Verletzte wurden in Sankas verladen, genervte Polizisten versuchten, den Gaffern Beine zu machen, die Szenerie ertrank im Regen.
Kein Wunder, dass selbst Jo den eigentlichen Anlass der gemeinsamen Fahrt vorübergehend verdrängte. Erst kurz vor der Ortseinfahrt Überlingen wurde er ihr wieder bewusst. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte mit leicht belegter Stimme: »Wenn ich schon unser gestriges Date versaut habe, darf ich Sie dann für heute Abend einladen … sozusagen als Wiedergutmachung?«
Plötzlich wirkte Tom Schürmann total entspannt. »Wenn Sie meinen, Lady, dass es Ihr Dienst erlaubt?«, grinste er. »Wann und wo?«
* * *
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als Jo wieder in der Polizeidirektion eintraf. Bereits bei der Anfahrt hatte sie bemerkt, dass in Wolfs Büro noch Licht brannte. Am besten schaute sie gleich mal bei ihm rein. Wenn sie an ihr Date mit Tom Schürmann dachte, konnte sie sich gar nicht früh genug zurückmelden, zumal sie wichtige Neuigkeiten mitbrachte.
»Na endlich«, wurde sie von Wolf empfangen, der vor einer Platte mit Butterbrezeln saß und auf beiden Backen kaute. »Hanno hat es mal wieder den Appetit verschlagen. Du musst für ihn einspringen.« Einladend schob er ihr die Platte zu, ehe er lautstark Kaffee aus einer Tasse schlürfte – wenigstens hielt Jo es für Kaffee.
»Geht nicht. Hab heute Abend ein Essen«, erklärte sie und schob die Platte zurück.
Jetzt erst gewahrte sie Hanno Vögelein, der Wolf gegenübersaß und noch immer wie ein Häufchen Elend wirkte. Zudem schien er um seine Atemwege zu fürchten, warum sonst hatte er Hals und Oberkörper so dick eingepackt? Apathisch sah er zu, wie Jo ihren Block aus der Tasche zog und sich rittlings auf einem Stuhl niederließ. »Wo fehlt’s denn heute?«, fragte sie ihn und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.
»Vermutlich eine besonders heimtückische Form der Vogelgrippe«, vermutete Wolf, noch ehe Vögelein antworten konnte. »Schau uns an, Hanno: Wir ignorieren sämtliche Symptome, deshalb geht’s uns blendend.«
»Das denken Sie! In Wirklichkeit hat man Sie nur nicht gründlich genug untersucht«, entgegnete Vögelein matt.
»Du redest, als hätte der Doktor ausgerechnet bei dir einen virulenten Raucherhusten im Endstadium diagnostiziert. Das ist doch Kokolores. Gegen Atemwegserkrankungen gibt’s ein ganz einfaches Rezept: immer weiteratmen! Wer atmet, lebt, wer nicht atmet, ist tot, so einfach ist das.« Augenzwinkernd sah Wolf zu Jo hinüber.
»Sie sollen sich nicht immer über Hannos Symptome lustig machen, Chef«, sagte sie tadelnd, doch auch in ihren Augen funkelte es schelmisch. Lassen Sie uns lieber über unseren Fall sprechen. Sie wollen doch sicher wissen, was mir Friedhelm Sonntag erzählt hat, oder?«
»Schieß los.«
»Der Nachlass der zuletzt verstorbenen alten Dame geht laut Testament an … na, was denken Sie?«
»Ich will keine Fragen. Ich will Antworten.«
»Heaven’s Gate«, sagte sie und zwang sich zu einem möglichst beiläufigen Ton.
Vögeleins Kopf ruckte hoch, während sich zwischen Wolfs Augen eine steile Falte bildete.
»Also doch!«, stieß Wolf hervor und legte die halbe Brezel, die er in der Hand hielt, auf die Platte zurück.
»Sie scheinen damit gerechnet zu haben.«
»Jedenfalls wundert’s mich nicht. Hast du sonst noch was auf der Pfanne?«
»Ich war noch einmal bei der Firma in Singen, von der das Auge stammt. Wollte dem polnischen Arbeiter das Phantombild zeigen. Doch der Mann ist weg.«
»Was soll das heißen – weg?«
»Offensichtlich haben sie ihn gestern noch, zusammen mit sieben weiteren Mitarbeitern, nach Polen zurückverfrachtet.«
»Ist nicht unser Bier. Gib’s weiter an den Zoll.«
»Mach ich. Und was war hier so los?«
»Es gibt eine Antwort aus Augsburg. Gabriello, wie sich der große Meister unter Eingeweihten nennt, war an dem Arsenraub offensichtlich nicht beteiligt. Weder haben ihn die Angestellten der Apotheke auf dem Bild erkannt, noch wurden seine Fingerabdrücke gefunden. Auch sein Alibi für den Dienstag nach Pfingsten ist hieb- und stichfest.«
»Wird ja immer geheimnisvoller. Hat die Telefonüberwachung von Neidling schon etwas ergeben?«
Wolf sah zu Vögelein hinüber. Der räusperte sich ausgiebig, was prompt einen längeren Hustenanfall auslöste. Mit zittrigen Fingern kramte er eine Pillenschachtel hervor.
»Negativ«, hauchte er schließlich mit brüchiger Stimme. »Er hat zwar mehrere Gespräche geführt, allerdings ohne ein verräterisches Wort in den Mund zu nehmen. Aber was nicht ist, kann noch werden.«
Das Telefon klingelte. Unwillig über die Störung stand Wolf auf und meldete sich. Nach kurzem Zuhören reichte er den Hörer an Jo weiter. Kaum hatte sie ihren Namen genannt, runzelte sie die Stirn. Nach mehrmaligem »Aha« und »Verstehe« dankte sie dem Anrufer und legte auf.
»Das war Friedhelm Sonntag, der Notar. Jetzt haltet euch fest: Die Sekte hat das Erbe ausgeschlagen.«
»Ausgeschlagen? Was soll das heißen?«, fragte Vögelein.
»Na, was wohl. Sie lehnen die Erbschaft ab, nicht mehr und nicht weniger.«
»Haben sie die Absage begründet?«, wollte Wolf wissen.
»Haben sie. Der Dienst an Gottes Wort vertrage sich nicht mit weltlichem Besitz, oder so ähnlich. Jetzt fällt das Erbe an eine gemeinnützige Organisation.«
»Wozu die Obdachlosenszene wohl kaum gehören dürfte. Penner haben bekanntlich keine Lobby«, spielte Vögelein auf Einstein und Havanna an.
»Apropos Penner«, griff Wolf Vögeleins Gedankengang auf. Er war zum Fenster getreten, nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe. »Hat die Fahndung nach Göbbels schon was gebracht?«
Jo und Vögelein schüttelten stumm den Kopf.
Wolf schob sein Barett zurück und kratzte sich an der Stirn. »Wenn da mal nicht eine weitere Schweinerei dahintersteckt. Der Typ ist mir irgendwie ans Herz gewachsen, wär direkt schade um ihn. Ich denke, ich werde heute Abend mal die einschlägigen Treffs aufsuchen, vielleicht kommt ja von seinen Kumpanen ein brauchbarer Hinweis. Jedenfalls sollten wir sein spurloses Verschwinden nicht tatenlos hinnehmen.«
»Ich könnte nachher die Kollegen vom Streifendienst drauf ansetzen, Chef«, bot sich Vögelein an.
»Gute Idee. Tu das.«
Zum zweiten Mal klingelte das Telefon. Unwillig riss Wolf den Hörer hoch und nannte seinen Namen.
»Sieh an, unsere Mitarbeiterin Karin Winter«, grinste er. »Falls Sie noch Stoff für Ihre Samstagsausgabe suchen, Madame: Bedaure, außer den bekannten Morden können wir nichts Neues liefern … Wie bitte? Leserbriefe? Was haben wir mit Ihren Leserbriefen am Hut?«
Er hörte ihr mit zunehmender Aufmerksamkeit zu, mehrfach zog er dabei die Augenbrauen hoch, bis er sich mit dem geknurrten Satz verabschiedete: »Diesen Stuss glaube ich erst, wenn ich ihn schwarz auf weiß lese.« Damit unterbrach er das Gespräch.
»Das muss man erst mal einordnen …«, schimpfte er aufgebracht und lief wie ein Tiger im Käfig ein paar Schritte hin und her.
»Was ist los? Was wollte die Winter? Spannen Sie uns nicht so auf die Folter, Chef«, drängte Jo.
Wolf holte erst mal tief Luft, ehe er antwortete. »Die Heaven’s-Gate-Anhänger mucken auf. Dem ›Seekurier‹ liegt ein gutes Dutzend Briefe vor, in denen sich Leser über die Behandlung der Sek… äh, der Glaubensgemeinschaft beschweren. Von Repressalien der Polizei ist da die Rede, von Störungen bei Gottesdiensten bis hin zur Einschränkung der Glaubensfreiheit.«
»Starke Worte«, warf Jo ein.
»Nicht alle Leserbriefe sind polemisch angehaucht. Nach Einschätzung von Karin Winter treibt die Leute teilweise echte Sorge um ungestörtes gottgefälliges Arbeiten in ihrer Gemeinschaft um – was immer sie darunter verstehen.«
»Das heißt, die Anhänger von Heaven’s Gate mobilisieren die Öffentlichkeit – kann man das so sehen?«, brachte Vögelein den Tenor der Zuschriften auf den Punkt.
»So ist es. Und damit sind wir beim Kernpunkt angelangt: Wie beurteilen wir die Sekte und deren Mitglieder unter Berücksichtigung der vorliegenden Ermittlungsergebnisse und im Hinblick auf die nächsten zu unternehmenden Schritte?« Herausfordernd sah er Jo und Vögelein an.
»Lassen wir doch mal die jüngsten Ereignisse außer Acht«, sagte Jo nachdenklich, »ebenso die Namen der Verdächtigen, auf die wir in den letzten Tagen gestoßen sind, wie Neidling, Loske, Mirko und so weiter.«
»Bretschwiler nicht zu vergessen«, warf Vögelein dazwischen.
»Auf den komme ich noch. Erinnern wir uns zunächst, was den Fall ausgelöst hat: Es war der Tod von Einstein und Havanna, gefunden in einem Boot, vor der Birnau treibend. Kurz darauf erwischte es Otto. Etwa zur gleichen Zeit stießen wir auf mehrere mysteriöse Todesfälle von alten Damen, die vor allem eines verband: ein mehr oder weniger großes Vermögen …«
»Sind doch alles alte Hüte. Worauf willst du hinaus?«, wurde sie erneut von Vögelein unterbrochen.
»Jetzt lass sie doch ausreden«, mischte Wolf sich ein und gab Jo ein Zeichen fortzufahren.
»Auf den ersten Blick scheint es, als handle es sich um zwei verschiedene Fälle. Doch alle genannten Personen wurden Opfer einer Mordserie, begangen mit Arsen. Dieses Gift stammt, wie wir inzwischen wissen, von dem Apothekendiebstahl in Augsburg. Das alles ist Fakt! Am Diebstahl beteiligt waren nach unseren Recherchen zwei Männer, von denen mindestens einer auch hier bei uns mehrerer Straftaten verdächtigt wird. So! Worauf ich nun hinauswill: Der einzige Name, der im Zusammenhang mit dem Coup in Augsburg genannt wurde, ist: Bretschwiler. Und ich fresse einen Besen, wenn dieser Bretschwiler nicht mit dem Hohepriester von Heaven’s Gate identisch ist.«
»Und was ist mit seinem Alibi?«, warf Vögelein ein.
Jo setzte eine spöttische Miene auf. »Ich habe nicht gesagt, dass sich Bretschwiler selbst die Finger schmutzig gemacht hat. Dafür wird er schon seine Leute haben.«
»Recht und schön, aber wo bleiben die Beweise? Worauf genau soll sich eine Anklage stützen?«
»Hanno hat recht«, pflichtete Wolf ihm bei. »Kein Richter würde uns bei dieser dürftigen Beweislage einen Haftbefehl ausstellen. Fakt ist nämlich auch, dass wir unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht haben. Es ist unbestritten, dass die Spur von Augsburg direkt nach Überlingen führt – aber wer genau hat sie gelegt? Weshalb wurden die Witwen umgebracht? Und wieso hängen die Penner in dieser Sache drin? Wir haben von den gottverdammten Motiven der Täter noch immer null Ahnung. Wir denken zwar, dass die Vermögen der ermordeten Frauen eine Rolle spielen, wissen aber dank der Geheimniskrämerei der Testamentsabwickler noch immer nicht, wie die Erben heißen – abgesehen vom letzten Mordopfer, bei dem uns die Kenntnis der Erbregelung jedoch keinen Schritt weitergebracht hat. Jedenfalls, wenn Bretschwiler das Erbe ausschlägt, können wir ihm das kaum als Motiv für die Morde an den alten Frauen anhängen.«
Jo, die währenddessen ihren Kaffeerest ausgetrunken und danach leicht angewidert das Gesicht verzogen hatte, meldete sich erneut zu Wort. »Ist euch eigentlich aufgefallen, dass sich unter den Sektenmitgliedern besonders viele ältere Frauen befinden?« Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. »Ich frage mich gerade, ob die ermordeten Witwen nicht ebenfalls dazugehörten.«
Wolf und Vögelein wechselten einen überraschten Blick. Daran hatten sie in der Tat noch nicht gedacht.
»Ich will ja gar nicht abstreiten«, setzte Wolf seine Ausführungen fort, »dass die Fäden in jenem Haus in der Turmgasse zusammenzulaufen scheinen. Was jedoch Bretschwiler betrifft, da bin ich etwas anderer Meinung als du, Jo. Ich nehme ihm sein Alibi und sein Heiligengetue durchaus ab. Der Mann scheint mir von seinem Glauben – oder sollte man eher sagen: seinem Sendungsbewusstsein? – so durchdrungen, dass für kriminelle Handlungen kein Raum mehr bleibt. Zugegeben, wir reden hier nur über ein Gefühl; nichts, aber auch gar nichts davon kann ich beweisen. Aber gesetzt den Fall, ich hätte recht – müsste dann die Frage nicht lauten: Wer sonst, wenn nicht Bretschwiler, hat die Taten ausgeführt oder veranlasst? Wer sind die Leute im zweiten Glied? Wer in dieser Gruppe verfügt über eine so starke Position, dass er hinter Bretschwilers Rücken schalten und walten kann, wie es ihm beliebt? Den- oder diejenigen müssen wir ausfindig machen, dann beantworten sich vermutlich alle anderen Fragen von selbst.«
»Und was heißt das nun genau?«, wollte Jo wissen.
»Das heißt, dass Hanno und ich noch einmal zur Turmgasse fahren, um genau diese Fragen an Bretschwiler zu richten. Und ich will verdammt sein, wenn wir seinen Tempel ohne schlüssige Antworten wieder verlassen.«
»Und was ist mit mir?«, wollte Jo wissen.
»Du versuchst rauszukriegen, ob die ermordeten Frauen tatsächlich in irgendeiner Beziehung zu Heaven’s Gate standen.«
»Wäre es nicht besser, ich komme mit und wir klären das vor Ort?«
»Das halte ich für keine so gute Idee. Wir haben es ja wohl nicht mit einem kaufmännisch geführten Unternehmen zu tun, das mit ordentlichen Mitgliederlisten aufwarten kann. Versuch’s zunächst über die zuständigen Finanzämter, das wäre ein Anfang. Was uns weiterhelfen würde, sind Angaben zur Kirchensteuer oder beispielsweise Spendenquittungen. Streng dein hübsches Köpfchen an. Wir treffen uns wieder …«, er sah auf die Uhr, »spätestens um halb sieben.«
»Ich muss heut unter allen Umständen um sieben die Fliege machen, Chef. Dringender Termin. Der ist mir gestern schon geplatzt, das kann ich heute nicht noch mal bringen.«
»Keine Sorge, du wirst pünktlich entfleuchen.«
* * *
Karin sah prüfend auf die Lokalseite der Samstagsausgabe. »Kannst du das Bild auf die rechte Spalte rüberziehen? Lass meinetwegen den Text ins Bild reinlaufen.« Es war eine rein hypothetische Frage. Sie wusste, dass der Metteur, der für die Erstellung des Seitenumbruchs zuständig war, damit keine Schwierigkeiten haben würde.
»Müsste gehen … So, schon erledigt. Zufrieden?«
»Gut so. Von mir aus ist die Seite gebongt. Lass Matuschek noch mal drübergucken, okay?«
»Geht klar.«
Karin Winters Telefon klingelte. Sie eilte an ihren Schreibtisch zurück und nahm den Hörer ab.
»Kommen Sie in dreißig Minuten zu der Autowaschstraße in der Lippertsreuter Straße«, flüsterte eine Männerstimme. »Ich fahre einen dunkelblauen BMW mit Ravensburger Kennzeichen. Steigen Sie bei mir zu, sobald ich in die Waschstraße einfahre. Wir haben dann genau vier Minuten. Und seien Sie pünktlich.« Noch ehe Karin etwas fragen konnte, war die Leitung tot.
Was hatte das zu bedeuten? War das nicht die Stimme von Felger gewesen? Sigi Felger, dem sie seinen derzeitigen, wenn auch nicht ganz legalen Job verschafft hatte, falls man die Tätigkeit als Maulwurf bei Heaven’s Gate überhaupt als Job bezeichnen konnte. Naturgemäß waren Kontakte mit Sigi eher selten, genau genommen hatten sie sich bisher nur einmal getroffen. Da hatten sie vorgegeben, in einem Supermarkt einkaufen zu wollen. Mit unbeteiligtem Gesicht hatte er ihr am Kühlregal ein paar Sätze zugeflüstert, danach waren beide wieder ihrer Wege gegangen. Zwei-, dreimal hatten sie noch miteinander telefoniert, das war’s dann. Auch der Treffpunkt war ziemlich eigenartig. Hatte Sigi zu viele James-Bond-Filme gesehen? Und wieso so kurzfristig? Es musste triftige Gründe geben, das Treffen so überstürzt anzusetzen – sehr triftige Gründe sogar!
Kurz entschlossen nahm sie ihre Tasche auf. Im Vorübergehen informierte sie Matuschek, dann machte sie sich auf den Weg.
Bereits eine Viertelstunde vor der genannten Zeit stand sie gegenüber der Einfahrt in die Waschanlage, die an der Ausfallstraße Richtung Lippertsreute/Salem lag. Auf diese Weise konnte sie das Eintreffen ihres Mittelsmanns kontrollieren – und falls man ihn beschattete, würde ihr das nicht entgehen. Zwar hatte die Dämmerung aufgrund des schlechten Wetters bereits eingesetzt, das ganze Gelände jedoch war taghell erleuchtet.
Endlos zogen sich die Minuten dahin. Unmittelbar vor dem genannten Zeitpunkt wurde es plötzlich spannend. Ein dunkelblauer BMW näherte sich der Anlage. Das Kennzeichen stimmte, ein »RV« für Ravensburg. Im Wagen saß nur ein Mann – ihr Mann. Sie hatte ihn gleich erkannt. Verstohlen winkte er ihr zu.
Karin machte sich bereit. Sie musste das Ganze sekundengenau timen, wenn sie im richtigen Moment unauffällig zusteigen wollte. Jetzt fädelte sich der Wagen in die Einfahrt ein. Schon wollte Karin auf ihn zugehen, als einer der rot gekleideten Angestellten der Waschanlage neben dem BMW auftauchte. Mit geübten Griffen schob er die Antenne ein, ehe er die Fahrertür öffnete und dem Fahrer eine Bemerkung zuwarf. Danach entfernte sich der Mann wieder.
Schnell entschlossen eilte Karin zu dem BMW hinüber. Mit einem halblaut gemurmelten »Hallo« schlüpfte sie hinein – keine Sekunde zu früh, die rotierenden Bürsten waren bereits verdammt nahe. Aufatmend ließ sie sich in den Beifahrersitz fallen.
Sofort fuhr sie wieder hoch. Auf der Sitzfläche lag etwas Hartes. Sie griff nach dem Ding und nahm es weg, wollte es vor sich auf die Ablage legen, als sie überrascht innehielt.
Das war doch … nein, sie hatte sich nicht getäuscht: Das Ding war tatsächlich eine Pistole! Karin schnellte herum, nahm mit aufgerissenen Augen den Fahrer ins Visier. Der verzog darüber keine Miene, sah unverändert geradeaus.
Plötzlich sprühten tausend Düsen fein zerstäubtes Wasser auf den Wagen, mannshohe Bürsten begannen zu rotieren, knallten wie Peitschenhiebe auf die wassertrüben Scheiben, die Sicht nach außen war gleich null.
Noch immer blieb der Fahrer stumm.
»Falls Sie’s noch nicht bemerkt haben …« Sie musste beinahe schreien, um den Lärm der Bürsten zu übertönen. »Ich bin jetzt da. Legen Sie schon los!«
Im Hintergrund vernahm sie näherkommendes Sirenengeheul.
Sigi Felger reagierte nicht.
»Sie haben mich angerufen, falls Sie’s vergessen haben sollten. Wenn Sie nicht bald reden, sind die vier Minuten um, dann sind wir durch die Anlage durch. Also?«
Nichts. Langsam kam bei Karin Panik auf. Einem plötzlichen Impuls folgend, hielt sie die Waffe hoch.
»Hören Sie! Wenn Sie glauben, mit solchen Spielzeugen Eindruck auf mich zu machen, dann haben Sie sich geschnitten. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Wir haben nicht ewig Zeit.«
Sie tippte ihm bekräftigend an die Brust – als der Mann zu ihrer Verblüffung seitlich wegkippte.
Impulsiv presste sie beide Hände vor den Mund, wollte aufschreien und brachte dennoch keinen Ton heraus. Nun endlich realisierte sie, was in dem Wagen nicht gestimmt hatte.
Ein kalter Schauer rieselte ihr den Rücken hinab. Sie hatte die ganze Zeit neben einem Toten gesessen!
Karin zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Dabei entdeckte sie an der ihr abgewandten Seite seines Gesichts einen dünnen roten Streifen, der an einem dunklen, kreisrunden Fleck am Haaransatz seinen Anfang nahm und sich bis zum Kinn hinunterzog. Der Kragen der schwarzen Jacke glänzte feucht, als sei der Stoff mit einer dunklen Flüssigkeit getränkt. Blut!
Nichts wie raus hier, war Karins erste Reaktion. Doch daran war im Augenblick nicht zu denken. Sie versuchte, ihre aufkommende Panik zu unterdrücken, sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen, was ihr leidlich gelang. Ihr nächster Gedanke galt der Waffe. In einem Anflug von Ekel warf sie die Pistole auf den Boden – als ein Rest von Geistesgegenwart sie veranlasste, sie noch einmal hochzunehmen. Mit dem linken Zipfel ihrer Jacke fasste sie die Waffe am Lauf, wischte mit der anderen Seite alle Flächen darauf ab, bevor sie sie erneut fallen ließ.
Krampfhaft bemühte sie sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Als der Mann vor wenigen Minuten in die Anlage einfuhr, war er noch quicklebendig gewesen. Was, um Himmels willen, war danach passiert?
Endlich schwenkten die Bürsten weg, der Wagen wurde in die Trockenstrecke gezogen. Sekundenbruchteile später hatte Karin den Beifahrersitz verlassen. Sie wollte nach vorne, zum Ausgang der Halle, doch von dort kamen Polizeisirenen, vermischt mit lauten Rufen. Verdammt, ging denn heute alles schief? Also zurück in Richtung Einfahrt! Sie quetschte sich zwischen Wagen und Wand hindurch, musste wohl oder übel an den Düsen vorbei, die sie über und über nassspritzten. Kurz vor der Einfahrt bemerkte sie an der Wand mehrere Kleiderhaken. Sie schnappte sich eine der dort hängenden roten Personaljacken und zog sie sich im Laufen über.
Wenige Augenblicke später verließ sie, ohne angehalten zu werden, das Gelände.
* * *
Nervös spielte der Rothaarige in dem dunkelblauen Toyota mit dem Gaspedal, während sich die schmiedeeisernen Torflügel mit leichtem Quietschen öffneten. Das Gummi des Scheibenwischers hatte sich an einem Ende gelöst und schlug klopfend gegen die Windschutzscheibe. In wenigen Augenblicken würde er den engen Innenhof verlassen. Gerade wollte er gefühlvoll die Kupplung kommen lassen, als die Beifahrertür aufgerissen wurde und der Igelmann sich neben ihn fallen ließ.
»Fahr los«, keuchte der Igelmann und zog die Tür hinter sich zu.
»Was willst du?«, herrschte der Rothaarige ihn an. »Es war ausgemacht, dass ich alleine fahre. Du sollst hier die Stellung halten.«
»Na und? Sind wir eben beide weg, darauf kommt’s jetzt auch nicht mehr an. Du wirst noch froh sein, mich da draußen dabei zu haben, wart’s nur ab.«
Der Rothaarige knurrte etwas Unverständliches und fuhr los.
Wenig später parkte er den Wagen nicht weit vom Gelände des Ruderclubs. Die beiden Männer legten die letzten Meter zu Fuß zurück. Kaum hatten sie das ÜRC-Gelände betreten, steuerten sie zielstrebig auf das Bootshaus zu, wo sie bereits erwartet wurden.
Ein jüngerer, sportlich wirkender Mann zog sie eilig ins Innere. Er hatte seine dunklen, strähnigen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem seiner Schritte hin und her wippte. Er warf noch einen misstrauischen Blick auf die im Halbdunkel liegende Umgebung, konnte aber niemanden entdecken. Gut so! Aufatmend schloss er die Tür und trat zu den beiden anderen. »Wo bleibt ihr denn, verdammt noch mal?«, flüsterte er aufgebracht.
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zu einem Regal hinüber. Flüchtig wies er auf eine große Segeltuchtasche in einem der Regalfächer. »Hier, ein kompletter Anzug, inklusive Flossen, Maske, Bleigurt, Atemregler und Jacket mit Flasche. Ach ja, und eine starke Lampe, wie gewünscht. Spätestens morgen ist das Zeug wieder hier, ist das klar?«
Der Rothaarige öffnete die Tasche und prüfte gründlich deren Inhalt. »Okay, scheint in Ordnung zu sein. Um acht morgen früh hast du alles zurück. Versprochen. Und kein Wort, zu niemandem, hörst du?«
»Bin ja nicht taub. Ihr findet sicher alleine raus, oder? Wäre nicht so gut, wenn man uns zusammen sehen würde.«
Zwanzig Minuten später stellten die beiden Männer ihren Wagen in Ludwigshafen ab. Vom Parkplatz nahe dem Seeufer bis zu den Bootsstegen waren es nur wenige Schritte. Trotzdem stieß der Rothaarige vernehmlich die Luft aus, als sie ein Motorboot namens »Elfi« erreichten und er die schwere Tasche endlich absetzen konnte.
Der Igelmann zog das Boot zum Steg heran und kletterte hinüber. Dann nahm er von seinem Partner die Tasche entgegen. Ums Haar wäre er dabei auf dem regennassen Bootsdeck ausgeglitten und mitsamt seiner Last ins Wasser gefallen.
Nachdem ihm der Rothaarige gefolgt war, ließ der Igelmann den Motor an und steuerte, sorgfältig alle Hindernisse umschiffend, aus dem kleinen Hafen. Bald erhöhte er die Geschwindigkeit und schlug einen südöstlichen Kurs ein, der sie in stets gleichbleibender Entfernung zum Ufer bereits nach wenigen Minuten an ihren Zielpunkt führte, halbwegs zwischen Ludwigshafen und Sipplingen gelegen.
Als ihm das Navigationsgerät das Erreichen ihrer Tauchposition meldete, stellte der Igelmann den Motor ab. Er ging zum Heck und warf ein aufgerolltes Seil von gut fünfzig Metern Länge ins Wasser, an dessen Ende ein Gewicht befestigt war. Dieses Seil würde den Rothaarigen bei dem bevorstehenden Tauchgang führen – zunächst zu seinem Ziel tief unten am Seegrund, danach wieder hinauf zum Boot.
Sie packten den Inhalt der Tasche aus und reihten die verschiedenen Teile auf einer Seitenbank auf. Im strömenden Regen begann der Rothaarige, die Taucherausrüstung anzulegen. Nur gelegentlich benutzte er für Sekunden eine Lampe. Zuletzt schulterte er das Jacket mit der Flasche. Ohne viele Worte zu verlieren, prüften sie noch einmal die Funktion der einzelnen Ausrüstungsteile. Alles paletti – keiner von beiden hatte etwas auszusetzen.
Nun fehlte nur noch eines: das »Mitbringsel«. Mit äußerster Vorsicht händigte der Igelmann dem Rothaarigen einen flachen Gegenstand aus. Das nicht mal fingerdicke Päckchen maß etwa zehn mal zehn Zentimeter. Seine metallfarbene Oberfläche war von einem regelmäßigen schwarzen Punktraster bedeckt, sodass man es bei flüchtiger Betrachtung für ein Stück Lochblech hätte halten können.
Mit spitzen Fingern verstaute der Rothaarige das Päckchen in einer Reißverschlusstasche seiner Neoprenjacke. Dann legte er Daumen und Zeigefinger aneinander, um »okay« zu signalisieren und drehte sich langsam um. In seinen Flossen tapste er an den Rand des Bootsdecks, von wo aus er schließlich ins Wasser sprang.
»Mach’s gut«, rief ihm der Igelmann nach und machte mit der Rechten das Victoryzeichen. Er wusste um die Risiken, die seinen Partner erwarteten, das Ziel seiner Mission lag schließlich mehr als fünfzig Meter unter der Wasseroberfläche.
Andererseits hegte er nicht den geringsten Zweifel, dass ihr Vorhaben gelingen würde. Nicht umsonst hatten sie es immer und immer wieder durchgesprochen und bis ins letzte Detail geprobt. Da er in der folgenden Stunde zur Untätigkeit verdammt war, schob er solche Gedanken jedoch vorläufig beiseite. Er sah auf die Uhr: kurz vor sieben. In wenigen Minuten würde Gabriello den »Lichtstrahl der Neuen Erde«, wie er ihre Gottesdienste nannte, ausklingen lassen, würden die monotonen Gesänge und das endlose Beten ein Ende haben.
Wie er ihre Abwesenheit wohl aufgenommen hatte? Das Fehlen beim »Lichtstrahl« war ein ernstes Sakrileg, für einen seiner Jünger nachgerade unerhört.
Ein hämisches Grinsen überzog das Gesicht des Igelmanns. Einen Tag noch, und sie hätten es geschafft, dann könnten sie das alles hinter sich lassen. Heißa, wie er sich auf sein neues Leben freute! Noch aber war es nicht so weit. Mehr als eine Stunde musste er warten, bis sein Partner wieder an die Oberfläche kam; die langwierigen Dekompressionsphasen – beim Tauchen in diese Tiefen unverzichtbar – würden beträchtliche Zeit verschlingen.
Es platschte, und der Igelmann beugte sich über die Reling. Obwohl Erschöpfung das Gesicht des Tauchers zeichnete, reckte er den rechten Daumen hoch: Mission geglückt, sollte das bedeuten! Erleichtert atmete der Igelmann auf. Dann half er seinem Partner auf das Boot.
Der Igelmann startete den Motor und lenkte die »Elfi« zurück Richtung Ludwigshafen. Der Rothaarige, kaum dem Taucheranzug entstiegen, war derweil samt seinem Laptop unter Deck verschwunden. In diesem Augenblick würde er eine E-Mail verschicken, adressiert an die Bodenseewasserversorgung in Sipplingen – wohl wissend, dass sich der Absender über die IP-Adresse zurückverfolgen ließ. Doch wen juckte das schon? Sie beide jedenfalls nicht. Noch am Montag würden sie Europa verlassen und via Zürich in die Karibik fliegen.
Sie würden endlich ihr neues Leben beginnen!
Seit Langem hatten sie alles minutiös geplant. Bis es so weit war, würden sie einfach untertauchen. Nicht irgendwo hinter den sieben Bergen. Nein, direkt vor der Nase der Bullen.
Ein genialer Plan!