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Der Zahl der abgestellten Wagen nach zu urteilen, die – anders als bei Wolfs letztem Besuch vor wenigen Stunden – die steile Turmgasse und den Innenhof des Sektengebäudes verstopften, schien der »Meister« diesmal seine ganze Streitmacht aufgeboten zu haben. Komisch: Wie konnte er wissen, dass sie ihn noch einmal aufsuchen würden? Hatte er eine himmlische Botschaft erhalten, hatte ihn sein Gott und Herr persönlich vorgewarnt?

Doch für Sarkasmus war jetzt kein Platz, fand Wolf. Mit Vögelein im Schlepptau stieg er die Außentreppe des »Tempelgebäudes« hoch.

Wieder tauchten unzählige Kerzen die Halle in ein flackerndes Licht. Fast fühlte sich Wolf an eine Christmette erinnert. Weniger ob der dicht an dicht stehenden Menschen und der voll Inbrunst vorgetragenen Choräle, die wie ein Klangteppich über dem Raum lagen. Eher schon wegen der erwartungsfrohen Gesichter und der weißen Gewänder, die ausnahmslos alle Anwesenden trugen. Sie verliehen der Ansammlung etwas seltsam Unwirkliches, um nicht zu sagen Spukhaftes.

Wolf fühlte sich unbehaglich. Wie sollten sie in diesem Gedränge zu Bretschwiler alias Gabriello vordringen, ihn gar zu einer Aussage bewegen? Schon einmal hatten sie die Feindseligkeit der Sektenmitglieder zu spüren bekommen. Ach was, tat Wolf seine Bedenken ab. Alles Firlefanz. Schnell wechselte er einen Blick mit Vögelein, dann deutete er zum hinteren Ende des Raums, auf das bis zu ihrem Eintreffen die Blicke der Anwesenden gerichtet waren. Dort baumelte die einzige elektrische Lampe von der Decke, und dort würden sie vermutlich auch den »Meister« finden. Höchst unwillig nur machten die Umstehenden Platz, als sie sich durch die Menge drängten.

Dann standen sie vor Bretschwiler. Als hätte er auf sie gewartet, hob er die Arme, das aufkommende Murren der Sektenmitglieder verstummte, mit ihm der Gesang.

»Herr Bretschwiler, wo können wir Sie kurz sprechen?«, sprach Wolf in die Stille und hoffte, dass er seiner Stimme genügen Festigkeit verleihen konnte.

Sein Ansinnen löste unterschiedliche Reaktionen aus. Im Gegensatz zu dem »Meister«, der keine Miene verzog, begannen seine Anhänger nun erneut zu grummeln, lauter diesmal und drohender. Und wieder war es Bretschwiler, der mit seinen Händen die Menge zum Schweigen brachte.

»Mäßigt euch, meine Schwestern, meine Brüder«, rief er den Umstehenden zu, »diese beiden Männer tun nur ihre Pflicht.« Danach wandte er sich direkt an Wolf: »Sprechen Sie ruhig hier, vor aller Ohren, Herr Kommissar. In unserer Gemeinschaft gibt es keine Geheimnisse.« Damit legte er die Hände wie betend aneinander und wartete auf Wolfs Fragen.

Wolf ließ sich nicht lange bitten. Er wusste aus Erfahrung, dass es gerade in solchen Situationen mehr als sonst auf forsches Auftreten ankam. »Wir haben eigentlich nur eine Frage, Herr Bretschwiler: Wer außer Ihnen übt in Ihrer Glaubensgemeinschaft noch leitende Funktionen aus?«

»Leitende Funktionen? Wie meinen Sie das? Wir sind, wie Sie sehr richtig bemerkten, eine Glaubensgemeinschaft auf der Suche nach dem Schöpfer und dem ewigen Leben. Wir sind kein Unternehmen, bei uns gibt es keine Hierarchien …«

»Ich bitte Sie, Herr Bretschwiler, Sie werden doch so etwas wie einen Stellvertreter, eine rechte Hand haben, jemand, der sich um die Organisation und die Abwicklung des ganzen Betriebes hier kümmert.« Wolf wies mit den Händen auf die Menge hinter sich. »Mit dieser Person oder diesen Personen hätten wir gerne ein paar Worte gewechselt, und zwar in einem anderen Raum, wenn ich bitten dürfte. Also?«

Das Murren schwoll an, die Umstehenden schlossen noch dichter auf, falls das überhaupt möglich war. Die von Wolf hartnäckig gebrauchte Anrede »Bretschwiler« musste sie verunsichern, ja empören. Wer sich so respektlos verhielt, konnte nichts Gutes im Schilde führen.

»So beruhigt euch doch, meine Brüder und Schwestern. Ihr wisst, unsere Wege liegen in der Hand des Herrn.« Bretschwiler setzte alles daran, die Wogen zu glätten. Und tatsächlich, die Atmosphäre schien sich etwas zu entspannen. »Lasst mich den Herren von der Polizei antworten: Ja, es gibt in der Tat zwei Brüder, die den von Ihnen angesprochenen Aufgaben nachkommen und die dennoch Gleiche unter Gleichen sind, wie Gott, der Herr es in seiner Güte befiehlt.«

»Und wer ist das? Sind die Herren anwesend?«

»Wo sind Rufus und Jakobus?«, fragte Bretschwiler in die Runde. Allgemeines Achselzucken war die Antwort.

»Dürfen wir Sie fragen, wie die richtigen Namen dieser beiden Herren lauten?«, meldete sich nun Vögelein zu Wort.

»Unsere Brüder haben, wie wir alle hier, ihre Namen von Gott, dem Herrn erhalten. Ich bedaure, aber wir kennen keine weltlichen Namen.«

»Sie werden bald noch etwas ganz anderes bedauern, Herr Bretschwiler, wenn Sie nicht mit uns kooperieren. Dann müssen wir Sie nämlich zur Polizeidirektion mitnehmen.« Unerschrocken war Vögelein an Bretschwiler herangetreten.

Die Reaktion der Umstehenden war verblüffend: Ohne Scheu vor der Staatsmacht rückten sie noch enger an die Polizisten heran und zogen einen undurchdringlichen Kordon um sie. Vereinzelt reckten sich Arme hoch und versuchten, nach Wolf und Vögelein zu fassen, als völlig überraschend die Donnerstimme des großen »Meisters« den Aufruhr übertönte: »Bewahrt Ruhe, ich bitte euch. Verdrängt eure Furcht, es kann uns nichts geschehen, denn Gott der Herr ist mit seinen Kindern.« Dann senkte er seine Stimme auf Zimmerlautstärke und wandte sich wieder Wolf und Vögelein zu.

»Eigentlich sollten Rufus und Jakobus zur Messe da sein. Sie kehren sicher bald zurück, dann können Sie sie befragen. Sie müssen mir glauben, die weltlichen Namen meiner Brüder und Schwestern sind mir unbekannt.«

Doch Wolf wollte sich auf keinen Handel einlassen. »Tut mir leid, aber unter diesen Umständen müssen wir Sie bitten mitzukommen, Herr Bretschwiler«, ordnete er an.

Der daraufhin entstehende Tumult war unbeschreiblich. Laute Rufe erklangen, steigerten sich zu einem wilden Crescendo. Die aufgebrachte Menge geriet in Bewegung, Wolf und Vögelein fühlten sich von Fäusten gepackt und in Richtung Ausgang geschoben, während andere einen Ring um Bretschwiler bildeten und ihn abzuschirmen suchten. Eine Tür quietschte und schlug kurz darauf mit lautem Knall zu – und Wolf und Vögelein standen im Freien. Allein. Nur noch schwach drang der Lärm aus dem Veranstaltungsraum nach außen.

Aufgebracht rüttelte Vögelein an der Tür, versuchte, in die Höhle des Löwen zurückzukehren. Respekt, dachte Wolf, so viel Mut hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Doch Vögeleins Bemühungen blieben erfolglos, offensichtlich war die Tür inzwischen verschlossen worden.

»Lass uns gehen«, brummte Wolf und begann, die Stufen hinabzusteigen.

»Ja, aber …«

»Komm schon, Hanno, wir sind hier Persona non grata. Oder willst du Hausfriedensbruch begehen? Hier ist nur mit einem richterlichen Beschluss etwas zu machen – oder mit Verstärkung. Aufschlussreich war’s allemal.« Mit festem Schritt lief Wolf zu ihrem Wagen.

»Aber so kenn ich Sie gar nicht, Chef«, lamentierte Vögelein hinter ihm her. »Bei Gefahr im Verzug können wir Bretschwiler hier und jetzt festnehmen!«

»Und in Erzwingungshaft stecken, bis er uns die beiden Namen nennt?«, grinste Wolf. »Vermutlich kennt er sie tatsächlich nicht.«

»Sie wollen also klein beigeben?«, entgegnete Vögelein empört, als er aufgeschlossen hatte.

»Warum denn mit dem Kopf durch die Wand rennen, wenn’s auch sanfter geht?«

* * *

»Ah, welch hoher Gast in unserer bescheidenen Hütte«, meinte Wolf bei der Rückkehr in sein Büro und warf seine Jacke über den Schreibtischstuhl. Erst als die Antwort ausblieb, sah er sich den Gast genauer an.

Wie ein Häufchen Elend saß Karin Winter am Besprechungstisch, neben ihr Jo, die, ohne aufzublicken, etwas auf ihren Block kritzelte.

So geknickt hatte Wolf die lebensfrohe Journalistin noch nie gesehen. Irgendetwas war hier oberfaul.

»Was ist passiert?«, fragte er, aufs Höchste alarmiert.

Mit unruhigen Augen blickte Karin ihn an. »Sie müssen mir helfen, Herr Wolf. Ich bin vor einer Dreiviertelstunde Zeugin eines Mordes geworden.«

Nachdem er einen Stuhl zu sich hergezogen und ihr gegenüber Platz genommen hatte, legte Wolf beruhigend seine Hand auf ihren Arm. »Ein Mord? Davon wüsste ich. Wo soll der sich denn ereignet haben?« Sein Blick wanderte zwischen Karin und Jo hin und her.

»Frau Winter hat recht, Chef. In der Autowaschstraße in der Lippertsreuter Straße wurde ein Mann erschossen. Die Meldung ging um siebzehn Uhr fünfundzwanzig hier ein. Ich hab versucht, Sie über Ihr Handy zu erreichen, aber Sie sind nicht rangegangen. Daraufhin habe ich Sommer konsultiert. Der hat Marsberg darauf angesetzt. Wir sollen erst mal unseren Fall zu Ende bringen, und zwar möglichst bevor ihn die Medienvertreter lynchen, hat Sommer gemeint.«

»Das Unglaubliche daran ist«, fiel ihr Karin ins Wort, »ich bin erst fünf Minuten nach diesem Anruf dort eingetroffen.«

»Moment mal, Madame, immer schön der Reihe nach. Was wissen Sie von der Sache?«

Karin Winter versuchte, sich zu konzentrieren. Dann erzählte sie in allen Einzelheiten, was sich in der Autowaschanlage ereignet hatte. Wolf und Jo hörten aufmerksam zu.

Endlich raffte sich Wolf zu einer Antwort auf: »Offenbar kannten Sie den Mann, der Sie zur Waschstraße bestellt hat, sehe ich das richtig?«

Karin schluckte, ehe sie stockend antwortete. »Ja. Sein Name ist Sigi Felger. Er war … er war gewissermaßen mein V-Mann bei der Sekte.«

Wolf war perplex. »Ihr was?«

»Als ich die Reportage über Heaven’s Gate schreiben sollte, habe ich ihn gebeten, den Kontakt herzustellen und mir einige Insiderinformationen zu beschaffen. Oder besser gesagt eine Insiderperspektive. Er sollte an ihren Betstunden teilnehmen, im Übrigen Augen und Ohren offenhalten und mir dann darüber berichten. Das war alles. Wie sollte ich ahnen, dass der Fall so eskaliert?«

»Aus Ihrer Schilderung folgt, dass der Mörder noch vor der Tat die Polizei gerufen hat«, konstatierte Vögelein, der sich in der Zwischenzeit ebenfalls zu ihnen gesetzt hatte. »Alle Achtung, gut getimt – oder schlecht, je nachdem.«

»Ich denke, es ist offensichtlich, dass ich in eine Falle gelockt werden sollte. Die Rechnung wäre auch sicher aufgegangen, wenn es mir nicht in letzter Minute gelungen wäre abzuhauen.« Karin schluckte. »Wie ein Lamm bin ich denen in die Falle gegangen! Nachdem ihre bisherigen Anschläge gescheitert waren, wollten mir die Kerle nun einen Mord anhängen, um mich aus dem Verkehr zu ziehen. Wäre ihr Plan geglückt, hätten sie damit nicht nur mich ausgeschaltet, sondern einen unliebsamen Maulwurf dazu. Weiß der Himmel, wie sie ihm auf die Schliche gekommen sind. Jedenfalls blieb mir keine andere Wahl, als klammheimlich vom Tatort zu verschwinden.«

»Sie hätten vor Ort mit unseren Kolleginnen und Kollegen Kontakt aufnehmen und aktiv zur Aufklärung der Tat beitragen können«, gab Vögelein zu bedenken.

»Ich bitte Sie, wie hätte ich mich da rausreden sollen, im selben Wagen mit einem Toten und der Mordwaffe! Wahrscheinlich wäre die Wahrheit früher oder später ans Licht gekommen, vielleicht aber auch nicht.«

»Bleibt die Frage: Wenn Sie es nicht waren, wer war’s dann?«, brachte Wolf die Sache auf den Punkt.

»Der Mann, der kurz vor der Einfahrt des Wagens die Antenne eingeschoben und die Beifahrertür geöffnet hat! Der war so wenig ein Angestellter der Firma wie ich. Er muss der Killer gewesen sein!«

Plötzlich knallte Wolf seine Pranke auf den Tisch, sodass die anderen erschreckt zusammenfuhren. »Das darf doch einfach nicht wahr sein!«, rief er aufgebracht. »Ständig sind uns diese Leute einen Schritt voraus!«

»Dabei sind wir so dicht dran«, meinte Jo. »Was Sie nämlich noch nicht wissen, Chef: Alle ermordeten Frauen waren Mitglieder bei Heaven’s Gate. Eigentlich hatte ich gehofft, Sie würden den Sektenchef hier anschleppen.«

»Seine Anhänger haben ihn mit Zähnen und Klauen verteidigt«, empörte sich Vögelein.

»Ich bin mehr denn je der Ansicht, dass dieser selbst ernannte Christusverschnitt …«

»Sie meinen Gabriello?«, fragte Karin Winter und lächelte zum ersten Mal wieder.

»Ja, genau. Ich bin der Ansicht, dass der seine Hände in Unschuld wäscht, zumindest was unseren Fall angeht. Wenigstens wissen wir jetzt, dass er den Laden nicht alleine schmeißt. Es gibt ein paar Leute im zweiten Glied, an die müssen wir rankommen. Leider kennen wir deren Klarnamen nicht. Der Sekte sind sie als Rufus und Jakobus bekannt, und Gabriello schwört …«

»Rufus und Jakobus?«, Karin runzelte die Stirn.

»Ja. Warum?«

»Die kenn ich.«

»Waaas?« Wolf sah Karin Winter fassungslos an.

»Ich hab Ihnen doch erzählt, dass wir über Heaven’s Gate einen ausführlichen Bericht gebracht haben. Dabei sind die beiden Namen gefallen, da bin ich mir ganz sicher … Ich fass es nicht: Rufus und Jakobus sind das Phantom!«

»Sie meinen, die Namen der beiden standen in dem Artikel?«

»Anzunehmen. Auf alle Fälle hab ich sie mir damals notiert. Ich könnte in meinen Notizen nachsehen, dazu brauche ich allerdings das genaue Datum, an dem der Artikel erschien. Kann ich mal telefonieren?« Sie war bereits auf dem Weg zu Wolfs Schreibtisch. »Ist Matuschek da?«, fragte sie, als die Verbindung zustande kam. Kurze Pause. »Immer wenn man ihn braucht, ist der Mann weg. Vielleicht kannst du mir helfen, Moni. Versuch mal, eine Datei zu finden und sie mir vorzulesen. Es geht um einen Bericht, den wir Ende April gebracht haben. Dabei handelt es sich um eine Überlinger Sekte … Nein, die Hintergründe kann ich dir nicht verraten … In welchem Verzeichnis der Text liegt? Das müsstest du aber wissen. Also: lokal, Punkt, großes Ü, großes B, Punkt, Sekte … Hast du’s? … Was soll das heißen, du findest die Datei nicht? Dann probier’s noch mal, Schätzchen … Was sagst du, gelöscht? Wieso gelöscht? Das kann nicht sein …«

Ohne sich zu verabschieden, unterbrach sie das Gespräch und wählte neu. »Wozu hat man schließlich ein Archiv?«, flüsterte sie Wolf und seinen Kollegen hinter vorgehaltener Hand zu, um gleich darauf laut fortzufahren: »Karl, schön, dass ich dich noch antreffe … Ja, ich weiß, es ist schon spät, aber tu mir bitte, bitte noch einen klitzekleinen Gefallen. Ich brauche das Erscheinungsdatum eines Berichts über eine Sekte, oder noch besser den ganzen Bericht, erschienen irgendwann im März oder April, Aufmacher Lokalseite. Wirst du das finden? … Gut, ich warte.«

Sie blinzelte den anderen zu, offensichtlich hatte sie sich inzwischen gefangen. »Ja, ich höre … Genau, der ist es. Bitte leg den Text aufs Fax und schick ihn an folgende Nummer …« Sie nannte dem Archivmitarbeiter die Nummer, die Jo ihr auf einen Zettel gekritzelt hatte. »Danke, Karl, du bist ein Schatz.«

»Gibt’s hier eigentlich keinen Kaffee?«, wandte sich Karin an Jo und lächelte bereits wieder.

»Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, koch ich gerne Kaffee für Sie. Sonst noch jemand?«

»Ich hol Butterbrezeln«, bot sich Vögelein an. »Hoffe, die Cafeteria hat noch welche.«

Er hatte kaum den Raum verlassen, da trudelte das Fax ein. Aufgeregt riss Karin das Blatt an sich und vertiefte sich in den Text. Kurz darauf legte sie ihn wieder zur Seite.

»Tut mir leid, die beiden Namen sind wider Erwarten nicht erwähnt. Aber jetzt weiß ich wenigstens, in welcher Ausgabe der Artikel stand. Kann mich schnell jemand zur Redaktion fahren, damit ich meine Notizen hole?«

»Ja, ich. Hier ist für die nächsten Minuten sowieso tote Hose«, sagte Wolf und bestellte bei der Fahrbereitschaft einen Dienstwagen.

Zwanzig Minuten später saßen alle vier wieder um Wolfs Konferenztisch. Karin Winter blätterte hektisch in ihren Notizen. Plötzlich sprang sie triumphierend auf: »Da haben wir’s ja. Also … Rufus und Jakobus heißen in Wirklichkeit … mit bürgerlichem Namen, meine ich …« Sie hob den Blick und sah die Umsitzenden der Reihe nach an.

»Kommen Sie, machen Sie’s nicht so spannend«, drängte Wolf.

»Peter Loske und Hartmut Neidling.«

Für einen Moment herrschte Grabesstille – bis sich Vögelein auf die Schenkel klatschte und laut »Also doch!« rief.

»Augenblick mal, heißt das, Sie sind bereits auf die Namen gestoßen?«, wunderte sich Karin.

»So ist es«, klärte Wolf sie auf. »Trotzdem danke, Ihr Hinweis ist außerordentlich wichtig für uns. Jetzt können wir wenigstens sicher sein, dass wir in die richtige Richtung ermitteln. Geht aus Ihren schlauen Notizen auch hervor, welche Funktion die beiden bei der Sekte ausüben?«

»Nur ansatzweise. Wenn ich mich recht erinnere, war Loske für das Organisatorische, die Öffentlichkeitsarbeit und die Gebäudetechnik zuständig, während Neidling sich um die Finanzen und alles Kaufmännische kümmerte.«

»Das könnte passen«, sagte Jo und warf einen versteckten Blick auf ihre Uhr.

»Welchen der beiden würden sie als den Dominanteren einschätzen?«, wollte Wolf wissen.

»Loske scheint mir gewandter, intelligenter. Neidling ist eher der Typ ›Befehlsempfänger‹. Leider habe ich keine genaue Vorstellung mehr über ihr Äußeres, zumindest kann ich sie nicht auseinanderhalten.«

»Da kann ich vielleicht behilflich sein«, erklärte Jo und verschwand kurz in ihr Büro. Von dort kehrte sie mit zwei DIN-A4-Blättern zurück, die sie mit der bedruckten Seite nach unten vor Karin Winter hinlegte.

»Sie erinnern sich sicher an unsere Phantomzeichnungen, Frau Winter. Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, die Augen zu schließen und sich, so gut es im Augenblick geht, das Äußere von Loske und Neidling vorzustellen. Konzentrieren Sie sich ganz auf die beiden Physiognomien, ja?«

Karin nickte. Sie schien zu verstehen, worauf Jo hinauswollte. Als sie nach einer längeren Zeitspanne wieder die Augen öffnete und Jo zunickte, drehte diese die beiden Blätter mit den Phantombildern um.

Doch der Knalleffekt blieb aus. Karin starrte auf die vor ihr liegenden Bilder, sichtlich bemüht, die Gesichter in ihrem Kopf mit denen auf den Zeichnungen zur Deckung zu bringen. Endlich schien sie zu einem Urteil gekommen zu sein.

»Schwer zu sagen, schließlich handelt es sich ja nicht um Fotos, sondern um Zeichnungen aus der Erinnerung von Augenzeugen. Trotzdem könnten die Gesichter hier tatsächlich die von Loske und Neidling sein … aber eine Wette möchte ich darauf nicht abschließen. Andererseits … je länger ich mir die Visagen ansehe, desto wahrscheinlicher wird es … ja, es könnte hinkommen. Was wissen Sie über Größe und Statur der beiden?«

»Sag es ihr, Hanno«, bestimmte Wolf.

»Nun, Neidling ist der Kleinere, etwa so groß wie ich, mit einem gedrungenen, fast massigen Körperbau. Er ist der mit der Stoppelfrisur hier.« Vögelein zeigte auf das entsprechende Bild.

»Hm, ich habe Neidling als eher korpulent und kurzhaarig in Erinnerung, das stimmt. Der Mann, der mich verfolgte, hatte allerdings alles andere als eine Stoppelfrisur, eher so wie hier auf dem Bild mit Verkleidung. Was ist mit dem zweiten?«

»Nun, der ist vom Typ her schlank, irgendwie drahtig, gut eins achtzig groß. Er hat rote, mittellange Haare«, klärte Wolf sie auf.

Wieder versank Karin Winter in sich selbst, schien in ihrer Erinnerung zu kramen. Endlich kam sie zu einem Entschluss. Sie nickte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Neidling war, der mir im Hödinger Wald ans Leder wollte. Und die Beschreibung des Zweiten passt auf Loske.«

»Gut«, sagte Wolf aufatmend. Er hatte sich erhoben und sein Barett angriffslustig zurückgeschoben. Konzentriert ging er im Raum auf und ab, den linken Zeigefinger ans Kinn gelegt. »Jetzt haben die Täter endlich ein Gesicht – und sie haben Namen! Worauf warten wir also noch? Lasst uns die beiden einsammeln. Jo und Hanno«, sein Zeigefinger stach in ihre Richtung, »ihr fahrt zu Neidling. Schafft ihn her. Nehmt euch ein paar Kollegen vom Streifendienst mit. Ich selbst werde mir Loske greifen.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich um eine vorläufige Festnahme handelt?«, fragte Vögelein.

»Ja. Wir lassen die beiden morgen dem Haftrichter vorführen.«

Jo sprang auf. »Ja, aber … was ist mit meinem Termin, Chef? Ich hab Ihnen doch erklärt …«

»Ich weiß, was du mir erklärt hast, und ich erinnere mich sehr wohl an meine Antwort. Da wusste ich aber noch nicht, was ich jetzt weiß. Tut mir leid, aber Neidlings Verhaftung hat Vorrang. Jetzt, wo wir so nah am Ziel sind, wirst du deinen privaten Termin wohl verschieben müssen. So, Leute, auf geht’s.«

Jo verbiss sich eine harsche Antwort. Es war ihr anzusehen, dass sie mit Wolfs Ansinnen alles andere als einverstanden war.

»Und was ist mit Mirko?«, wollte Vögelein wissen. »Der gehört todsicher ebenfalls zu dem Haufen.«

»Kleiner Fisch. Um den kümmern wir uns später, zusammen mit Gabriello. Und was Sie betrifft, Frau Winter: Ich würde Ihnen raten, sich ab jetzt noch vorsichtiger zu bewegen. Diese Leute haben auf ihre Art einen Narren an Ihnen gefressen, wenn Sie verstehen, was ich meine …«

Noch ehe Wolf seinen Satz zu Ende brachte, klingelte das Telefon. Unwillig riss er den Hörer hoch und bellte seinen Namen. Je länger er zuhörte, desto stärker wuchs seine Verwunderung. Schließlich legte er wortlos auf. »Ihr glaubt es nicht«, sagte er und ließ sich mit unbestimmtem Lächeln auf einen Stuhl niedersinken, während ihn die Umstehenden erwartungsvoll anstarrten.

Nach einigen spannungsgeladenen Sekunden ertrug Jo das Warten nicht mehr. »Könnten Sie sich eventuell dazu durchringen, uns an Ihrem Wissen teilhaben zu lassen, Chef?«, fragte sie ironisch.

Wolf schreckte hoch, als erwache er aus einem Tiefschlaf. »Wie? Äh, ja, natürlich. Ihr werdet es nicht glauben … das war Göbbels!«

»Göbbels?« riefen die anderen verwundert aus.

»Ja, Göbbels. Wollte sich zurückmelden, was immer das heißen mag. Er sei wieder im Lande und so weit ganz okay, wir könnten die Suche nach ihm einstellen. In Kürze wolle er alles aufklären.«

»Das war’s?«

»Das war’s. Nein, nicht ganz: Er meinte, ich solle nicht allzu überrascht sein und schon mal eine Buddel kaltstellen.«

* * *

Gleich einer spitzen Nadel stach der von Scheinwerfern angestrahlte Sipplinger Kirchturm in den nächtlichen Himmel. Drumherum, wie Küken um eine Glucke, die Lichter aus kleinen bunten Häuschen, die sich terrassenförmig den Hang hochzogen, nach Süden hin mit weitem Blick über den See, den man zu dieser Stunde allerdings mehr ahnte, als dass man ihn sah. Dahinter nachtschwarzer Wald, der sich bis zum Haldenhof hochzog und insbesondere Feriengäste an heißen Tagen mit schier endlosen, schattigen Wegen erfreute. Natur pur eben.

Die beiden Männer jedoch, die auf der Suche nach einer geeigneten Unterkunft langsam das Dorf auf und ab fuhren, hatten anderes im Sinn. Nachdem sie die Nachricht von ihrer drohenden Enttarnung erreicht hatte, waren sie, kaum dass sie ihr Boot in Ludwigshafen vertäut hatten, eiligst in einen weißen Golf gestiegen und nach Sipplingen aufgebrochen. Den Toyota hatte Loskes Freundin nach Überlingen zurückgefahren, damit keine Spur zum Bootsliegeplatz in Ludwigshafen führte. Schade um den Wagen; spätestens morgen würde er den Bullen in die Hände fallen. Egal. Ihnen konnte das nichts mehr anhaben.

»Wie hast du eigentlich von der überraschenden Wendung erfahren?«, hatte Loske noch von ihr wissen wollen, bevor er zu Neidling in den Wagen gestiegen war.

»Die Winter hat sich plötzlich für eure Vergangenheit interessiert. Sobald ihr wieder einfällt, dass sie euch kennt, wird sie garantiert zu Wolf rennen.« Sie hatte leise gekichert. »Aber das werd ich zu verhindern wissen, ich bin schließlich auch nicht blöd.«

Sie waren auf der sicheren Seite, alles klappte wie am Schnürchen. Es war genau das Richtige gewesen, die heiße Phase etwas früher einzuläuten.

Ein hartes Bremsmanöver riss Loske aus seinen Gedanken. Wortlos wies Neidling auf ein Schild am Straßenrand: »Frühstückspension Säntisblick, Zimmer frei«, stand da. Ebenso wortlos stieg Loske aus und lief zu dem Haus hinüber, als wolle er die Aussicht prüfen.

»Astrein! Freier Blick auf den See«, nickte er und klingelte am Hauseingang. Fünf Minuten später bezogen sie in dem Haus ein Doppelzimmer.

»Besser hätten wir’s nicht treffen können«, bemerkte Neidling zufrieden, als sie vom Balkon aus zum See hinabsahen.

»Warten wir’s ab. Am besten, wir hauen uns gleich in die Falle. Spätestens morgen früh muss unsere ganze Aufmerksamkeit dem See gelten, nicht mal ein hustender Wasserfloh darf uns entgehen. Wo sind die Ferngläser?«

»Dort am Fenster. Hoffentlich klappt das mit der E-Mail. Wär doch zu schade, wenn die Nachricht irgendwo im Datennirwana verschwindet.«

»Das klappt, verlass dich drauf.«

»Yippieeeh! Vielleicht sind wir morgen um diese Zeit schon reiche Leute, was meinst du?«

Loske streifte Neidling mit einem Seitenblick. »Freu dich mal nicht zu früh. Bei solchen Coups weiß man nie, wie sich alles entwickelt. Jedenfalls sollte einer von uns gleich morgen früh Zahnbürsten und Rasierzeug besorgen.«

Neidling grinste. »Ist das erste Urlaubsquartier, bei dem ich ohne Gepäck anreise.«

* * *

Die Vögel waren ausgeflogen.

Vergeblich hatte Wolf an Loskes Wohnungstür geklingelt und zuletzt, als sich nichts rührte, mit der Faust dagegengehämmert. Der Lärm hatte lediglich einen Nachbarn auf den Plan gerufen. Loske sei bereits um die Mittagszeit weggefahren, seitdem habe er ihn nicht mehr gesehen, versicherte er. Unverrichteter Dinge musste Wolf wieder abziehen, nicht ohne die zwei mitgebrachten Beamten vom Streifendienst zur Beschattung zurückzulassen – mit der strikten Anweisung, Loske bei seinem Auftauchen sofort festzunehmen und an das D1 zu überstellen.

Kaum war er in seinen Wagen geklettert, hatte Jo angerufen. Auch Neidling habe sich in Luft aufgelöst, berichtete sie. »Fast könnte man auf den Gedanken kommen, die beiden seien gewarnt worden«, fügte sie hinzu.

»Ich bitte dich; wer hätte das tun sollen? Außer uns hat niemand von der drohenden Festnahme gewusst.«

»Was machen wir jetzt?«

»Du und Hanno, ihr schnappt euch Bretschwiler und Mirko. Dann besorgt ihr euch eine Genehmigung zur Konteneinsicht, und zwar für Loske, Neidling, Bretschwiler und Heaven’s Gate. Ich bin sicher, dass wir auf Beweise stoßen.«

»Fahndung nach Loske und Neidling einleiten, Chef?«

»Umgehend. Und schreibt auch die Fahrzeuge zur Fahndung aus.«

Wolf hatte eben den Anlasser betätigt, als das Funkgerät schnarrte. »Leo, wo bist du?«, fragte Sommer.

Der Chef höchstpersönlich, mitten in einem Einsatz? Wolf informierte ihn über seinen Standort und die geplanten Festnahmen.

»Klink dich aus, Leo, du wirst hier gebraucht.«

»Ja, aber …«

»Es ist dringend!«

»Verstanden.« Mussten Jo und Vögelein eben sehen, wie sie ohne ihn zurechtkamen.

Zurück im »Aquarium«, erlebte Wolf die Überraschung seines Lebens. Dieser Kerl da neben Sommer … täuschte er sich oder kam ihm die Visage bekannt vor? Nein, es gab nicht den geringsten Zweifel – das musste Göbbels sein, Göbbels, der zwielichtige, lautstarke, unerschrockene Wortführer der Überlinger Penner! Wolf war völlig perplex. Das also hatte Göbbels gemeint, als er am Telefon von Aufklärung sprach!

»Du kannst den Mund wieder zuklappen, Leo. Darf ich dich mit einem Kollegen bekannt machen: Klaus Hindemith, Sonderermittler beim LKA. Staatsanwalt Dr. Hirth kennst du ja.«

Wie in Trance schüttelte Wolf Göbbels’ Hand, dann die des Staatsanwalts.

»Mit dem Komponisten gleichen Namens weder verwandt, noch verschwägert«, ergänzte Hindemith und weidete sich diebisch an Wolfs Verblüffung.

»Sonderermittler LKA? Ich versteh nicht … Was hat das mit unseren Pennern hier zu tun?« Wolf konnte die Neuigkeit noch immer nicht fassen.

»Verdacht auf Drogenhandel in großem Stil – aber das ist eine längere Geschichte. Seit gestern wissen wir jedenfalls, dass die Dealer nicht von der Überlinger, sondern von der Friedrichshafener Pennerszene aus operieren, deshalb sollte ich abgezogen werden. Allerdings …«

»Allerdings?«

»Nun, ich bin zufällig auf gewisse Verbindungen zwischen den Überlinger Pennern und Heaven’s Gate gestoßen, da hab ich um ein paar Tage Verlängerung gebeten. Wollte rauskriegen, was dahintersteckt.«

»Ah, verstehe! Darum warst du also immer in der Nähe, um Jo und Karin Winter vor Schlimmerem zu bewahren.« Wolfs Gesicht verzog sich zu einem beifälligen Grinsen, mit einer schnellen Drehung wandte er sich zu Sommer um. »Und du hast die ganze Zeit über Bescheid gewusst! Du bist mir ein schöner Freund!«

Wolf umrundete Hindemith einmal zur Gänze. »Und, was macht die Leber?«, fragte er.

Hindemith gelang es nur mit Mühe, ernst zu bleiben. »Danke der Nachfrage. Regeneriert sich gerade wieder.«

Kopfschüttelnd musterte Wolf ihn von Kopf bis Fuß. »Hätte nicht gedacht, dass aus dir jemals wieder ein anständiges Mitglied der Gesellschaft wird.«

»Da siehste mal wieder: Kleider machen Leute.«

»Wie schön. Hinken tun wir auch nicht mehr … und selbst die Beißerchen sind wieder vollzählig an ihrem Platz. Wunder über Wunder!«

»Ja, Herr Kommissar, äh, Leo … Mensch, an diese Anrede muss ich mich erst noch gewöhnen.« Hindemith grinste breit. »Du kennst doch die kleinen Tricks: Mit einer spitzen Einlage im Schuh gehst du bei jedem Schritt ganz automatisch leicht in die Knie – oder hast du noch nie einen Stein im Schuh gehabt? Und was die Zahnlücke angeht: Ein bisschen schwarzen Mattlack auf die Hauer gepinselt, und schwupp, sind sie weg.«

»Stimmt. Selbst ich bin drauf reingefallen«, grinste Wolf.

»Das einzige Problem ist, den Lack hinterher wieder abzukriegen.«

»Bitte, meine Herren«, unterbrach Dr. Hirth den Disput der beiden, »für Ihre Fachsimpeleien haben Sie später noch genügend Zeit. Hier nur so viel, Herr Wolf: Kollege Hindemith vom LKA wird Sie bei den Ermittlungen im BWVG-Erpressungsfall unterstützen«, erläuterte Sommer.

»BWVG-Erpressungsfall? Ich glaub, ich bin im falschen Film. Würde mich bitte mal jemand aufklären?«

Sommer reichte Wolf ein Blatt Papier. »Hier, lies selbst, dann weißt du alles. Kaffee kommt gleich.«

Wolf überflog den Ausdruck, dann ließ er das Blatt sinken.

Zwischenzeitlich hatte Frau Bender den Kaffee gebracht. Ohne ein Wort zu verlieren, verschwand sie wieder.

Wolf nippte flüchtig an seiner Tasse. Er fluchte unterdrückt, als er sich den Mund verbrannte. Danach nahm er sich das Blatt ein zweites Mal vor.

Zunächst fiel sein Auge auf die Absenderadresse im Kopf des Formulars. Vier Buchstaben standen da: BWVG, das Kürzel für die Bodenseewasser-Versorgungsgesellschaft mbH mit Sitz in Sipplingen. Wolf erinnerte sich, das Pumpspeicherwerk, oberhalb von Sipplingen gelegen, irgendwann einmal besichtigt zu haben. Die Tatsache, dass von hier aus halb Süddeutschland mit Bodenseewasser versorgt wurde, hatte ihn außerordentlich beeindruckt.

»Als E-Mail eingegangen, wenn ich es recht sehe«, sagte er, nur um sicherzugehen.

»Richtig«, nickte Hindemith. »Und eine deutliche Spur. Ganz schön unvorsichtig von den Leuten. Dabei hätte ich nach der Höhe der Forderung eher auf Profis getippt.«

Nachdenklich wiegte Wolf den Kopf hin und her. »Vielleicht haben sie ja einen fremden Computer benutzt, in einem Internetcafé oder so. Oder sie nehmen das Risiko, entdeckt zu werden, bewusst in Kauf.«

»Du meinst, sie haben für diesen Fall vorgesorgt? Dann hätten wir allerdings schlechte Karten.«

Wolf knurrte etwas Unverständliches, ehe er sich, diesmal gründlicher, in den Text vertiefte. Als Betreff stand da nur das lapidare Wort »Forderung«.

»Wir fordern bis spätestens kommenden Montag, 12.00 Uhr, zehn Millionen Euro. Die Summe ist bis zum genannten Zeitpunkt auf einem Kreditkartenkonto der Sparkasse Überlingen bereitzustellen, die Nummer lautet 00 145 936. Sollten Sie unserer Forderung nicht nachkommen, werden wir an den Wasserentnahmetürmen zwanzig Gramm Arsentrioxid freisetzen – mit verheerenden Folgen für viele tausend Haushalte, wie Ihnen kompetente Kenner des weißen Giftes gerne darlegen werden. Die Haftladung ist bereits installiert, die Freisetzung kann jederzeit von uns ausgelöst werden. Jeder Versuch, die Ladung zu entfernen oder auch nur zu berühren, leitet unwiderruflich ihre Zerstörung ein und setzt das Gift frei. Alle Folgen, die daraus entstehen, haben Sie zu verantworten.

Kein Absender, kein Hinweis auf eine weitere Kontaktaufnahme – aber auch kein Zweifel, wer als Täter in Frage kam. Das Arsen, insbesondere die genannte Menge, sprach eine allzu deutliche Sprache.

Für einen kurzen Moment glaubte Wolf zu träumen. Wieso hatten sich die Gangster ausgerechnet die BWVG als Opfer ausgesucht? War da überhaupt etwas zu holen? Ein Unternehmen, das sich auf hochriskante Cross-Border-Geschäfte einließ, seine kompletten Betriebsanlagen an einen windigen amerikanischen Finanzier verkaufte und im gleichen Atemzug wieder zurückpachtete, konnte ja nur Verluste produzieren. Aber vermutlich verstand er zu wenig davon.

Wolf reichte den Ausdruck an Sommer zurück. Ein wahrhaft perfider Plan, dachte er. Diese beiden Witwenmörder waren ja noch viel kränker, als er angenommen hatte.

Dr. Hirth, der Wolf die ganze Zeit über aufmerksam beobachtet hatte, ergriff nun das Wort. »Ich denke, Sie sind auf der richtigen Spur, Hauptkommissar Wolf. Auch wir gehen davon aus, dass es sich bei den Erpressern und den von Ihnen gesuchten Arsenmördern um ein und dieselben Leute handelt.«

Wolf kaute auf seiner Unterlippe. Dr. Hirth sprach aus, was er dachte, doch er wollte nicht vorschnell urteilen. »Was macht Sie da so sicher?«, fragte er darum.

»Wir haben soeben den Direktor der Volksbank Friedrichshafen befragt. Das Konto, das die Erpresser in ihrer E-Mail angeben, gehört einem gewissen Peter Loske.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«, platzte Wolf heraus. Wie immer, wenn ihn etwas aufwühlte, sprang er von seinem Stuhl auf und begann, wie ein gefangenes Raubtier hin und her zu tigern – bis er plötzlich abrupt stehen blieb, eine Zigarette aus seiner Tasche fummelte und sie anzündete. Dass sich trotz des Rauchverbots in Diensträumen, zumal in Sommers Büro, kein Protest regte, machte den Ernst der Lage umso deutlicher.

Kaum hatte Wolf den ersten Zug inhaliert, blickte er reihum auf seine Mitstreiter. »Dass Loske und seine Leute alte Damen um die Ecke bringen, um an deren Nachlass zu kommen, das kapier ich ja noch, und irgendwie passen sogar die toten Penner ins Bild – Leute wie Loske lassen sich nicht ungestraft die Butter vom Brot nehmen. Aber ein Unternehmen um zehn Millionen zu erpressen, indem man das Leben von hunderten, im schlimmsten Fall von tausenden unschuldigen Menschen riskiert, das ist eine völlig neue Dimension! Ich frage mich …« Hier stockte Wolf.

Ungeduldig zog Sommer die Augenbrauen hoch. »Ja?«

»Nun, ich frage mich, warum mich dieser Coup dennoch nicht sonderlich überrascht. Diese Kerle sind kaltblütig, durchtrieben, und sie haben eine unglaubliche kriminelle Energie. Würde mich nicht wundern …« Wieder ließ er den Rest des Satzes in der Luft hängen.

»… wenn das von Anfang an Teil ihres Plans war«, vollendete Sommer.

»Kommt mir jedenfalls so vor.« Eine Sekunde lang herrschte Schweigen. »Verdammt, verdammt, verdammt«, brach es plötzlich aus Wolf heraus, anklagend reckte er beide Arme in die Höhe. »Wir waren schon so nah dran an ihnen, so nah …«

Sommer winkte ab. »Das bringt uns jetzt nicht weiter, Leo. Wir müssen vorwärtsschauen. Am besten schilderst du uns den aktuellen Stand der Ermittlungen, dann entscheiden wir über das weitere Vorgehen.«

Mit einer gemurmelten Entschuldigung drückte Wolf seine Zigarette auf seiner Untertasse aus, ehe er Sommers Wunsch nachkam.

»Gut«, resümierte Sommer, als Wolf seinen Bericht beendet hatte, »wenn ich das recht verstanden habe, werden Loske und Neidling bei ihrer Rückkehr von deinen Leuten erwartet. Allerdings können wir uns wohl kaum darauf verlassen, dass sie zurückkehren. Viel eher müssen wir davon ausgehen, dass die beiden zwischenzeitlich über alle Berge sind und ihre Tat aus dem Untergrund zu Ende führen. Was schlägst du konkret vor, Leo?«

In diesem Augenblick klingelte Wolfs Handy. Er sah aufs Display. »Frau Louredo«, erklärte er und nahm das Gespräch an. Schon wenige Augenblicke später beendete er es wieder.

»Bretschwiler und Mirko sind festgenommen und befinden sich auf dem Weg hierher. Allerdings stufe ich die beiden lediglich als Mitläufer ein, sie werden uns nicht wirklich weiterbringen. Deshalb schlage ich folgende Sofortmaßnahmen vor. Erstens: eine Fangschaltung bei der BWVG-Verwaltung. Das Unternehmen ist, zumindest im Augenblick, alleiniger Ansprechpartner der Täter, ziemlich sicher werden sie noch einmal Kontakt mit ihm aufnehmen, zum Beispiel wegen genauer Durchführungsmodalitäten. Zweitens: Die Wohnungen von Loske und Neidling müssen durchsucht werden. Sofort. Ich bin mir sicher, dass wir dort Spuren finden, die uns weiterhelfen. Drittens: Die Täter werden alle Aktivitäten auf dem See kontrollieren wollen. Nach meiner Einschätzung sind sie keineswegs über alle Berge, sondern ziemlich sicher noch hier in der Gegend. Es führt wohl kein Weg daran vorbei, aber wir müssen sämtliche gewerblichen und privaten Vermieter in den Räumen Überlingen, Sipplingen, Ludwigshafen und Bodman abklappern, sobald die Angabe über die Haftladung überprüft ist.«

»Und das am Wochenende«, stöhnte Dr. Hirth.

»Die haben nicht ohne Grund diesen Termin gewählt«, erwiderte Sommer und griff zum Telefon. »Wir setzen natürlich die Kollegen von der Soko ein, doch das wird nicht reichen. Ich versuche, zusätzliche Leute zu bekommen.«

»Was Leo vorschlägt, scheint mir sinnvoll«, sagte Hindemith. »Da ist aber noch was: Die Täter müssen ein Boot benutzt haben. Möglicherweise ist es auf ihren Namen zugelassen. Wenn sich feststellen ließe, wo dieses Boot liegt, könnte uns das vielleicht zu ihrem derzeitigen Aufenthaltsort führen.«

»Falls wir’s personell überhaupt schaffen«, meinte Hirth.

»Wenn wir das nicht sicherstellen können, müssen wir eben bei der Bundespolizei Verstärkung anfordern. Ich brauche wohl nicht daran zu erinnern, was passiert, wenn wir die Täter nicht vor Ablauf der gesetzten Frist aus dem Verkehr ziehen und die Ladung unschädlich machen. Als letztes Mittel bliebe dann nur noch die Abstellung der Wasserversorgung – mit all ihren Folgen.«

»So oder so wäre es eine Katastrophe«, stieß Wolf ins gleiche Horn. »Egal, ob am Ende ›nur‹ fünf oder fünfhundert Tote stehen: Wenn wir versagen, haben wir jeden einzelnen Toten mitzuverantworten.«

»Augenblick mal, ich hab da eine Idee.« Hindemith war von seinem Stuhl aufgesprungen und legte angestrengt nachdenkend den Zeigefinger auf die Lippen. »Ihr sagt, wir brauchen Leute. Wären zehn Mann fürs Erste genug?«

»Wo willst du die hernehmen?«, fragte Sommer erstaunt.

»Gib mir ein bisschen Zeit, und ich bringe sie dir.«

Sommer hob die Augenbrauen, nickte aber.

»Sind bereits Taucher angefordert?«, wollte Wolf wissen.

»Müssten in Kürze vor Ort sein.«

»Gut. Und was das Boot der Täter betrifft: Gleich morgen früh rufe ich das zuständige Schifffahrtsamt in Konstanz an. Außerdem muss ein Sprengstoffspezialist des Landeskriminalamtes her.«

»Ist bereits im Anrollen«, entgegnete Hindemith.

Erneut klingelte Wolfs Handy. Wieder war es Jo, diesmal mit der Meldung, die gesuchten Fahrzeuge von Loske und Neidling seien gefunden worden. »Zur KTU damit«, knurrte Wolf und gab die Information weiter.

Hindemith erhob sich. »Ich fahre nach Sipplingen zur BWVG-Verwaltung. Die Leute dort müssen ja über unsere Pläne informiert werden. Außerdem muss über die Zahlung des Lösegeldes gesprochen werden für den Fall, dass die Vergiftung des Wassers nicht verhindert werden kann. Bei der geringsten Neuigkeit bitte sofortige Kontaktaufnahme.« Schon war er unter der Tür.

»Ich komme mit«, beeilte sich Dr. Hirth zu sagen. Der Fall schien selbst dem leitenden Staatsanwalt Feuer unter dem Hintern zu machen, jedenfalls hatte Wolf ihn noch nie so schnell aufspringen sehen.

Flüchtig winkte er dem noch immer telefonierenden Sommer zu, ehe er sich selbst aufmachte. Ohne richterlichen Beschluss konnten sie sich die Durchsuchung der Wohnungen von Loske und Neidling abschminken, also musste er erst mal diese Hürde aus dem Weg räumen. Hoffentlich hieß der diensthabende Richter nicht Settele!

* * *

»Wir beginnen bei Loske. Er scheint mir der Kopf der Gruppe zu sein. Drei Kollegen von der Spurensicherung begleiten uns. Einer von ihnen ist Schönborn, er versteht sich auf das Öffnen von Türschlössern.«

Mit diesen Worten ließ sich Wolf in den Beifahrersitz fallen und bedeutete Vögelein, endlich loszufahren. Er musste den Ärger mit Richter Settele möglichst rasch vergessen. Der »Kotzbrocken«, wie Wolf ihn insgeheim getauft hatte, hatte sich anfänglich vehement gegen die Ausstellung der Durchsuchungsbeschlüsse und den Antrag auf Konteneinsicht gesträubt und war erst durch den unverblümten Hinweis des Staatsanwaltes auf die drohende Vergiftung und das nachfolgende Inferno zum Einlenken bereit gewesen.

»Wäre es nicht klüger, wir teilen uns auf und nehmen uns beide Wohnungen gleichzeitig vor?«, ertönte da eine Stimme vom Rücksitz.

Überrascht drehte Wolf sich um. »Du hier? Was ist mit deinem dringenden Termin?« Er hatte es nicht übers Herz gebracht, Jo den Abend zu versauen und ihr im Anschluss an Bretschwilers Verhaftung freigegeben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht absehen können, dass sie alle verfügbaren Kräfte brauchen würden.

»Dieser Arsch hielt es auch diesmal nicht für nötig, auf mich zu warten«, antwortete Jo giftig. »Wegen lumpiger zehn Minuten, das muss man sich mal reinziehen! Auf so jemand kann ich gerne verzichten.«

»Na ja, wir sind jedenfalls froh, dass wir dich dabeihaben, nicht wahr, Hanno?«

»Das will ich meinen, als Trio sind wir geradezu unschlagbar. Aber nun lassen Sie mal die Katze aus dem Sack, Chef: Hinter was genau sind wir eigentlich her?«

Mit kurzen Worten schilderte Wolf die neueste Entwicklung. Er war kaum fertig, da trat Vögelein auch schon auf die Bremse. »Wir sind da, Herrschaften.«

Nachdem sich einer der Streifenbeamten als Türöffner betätigt hatte, zogen die Beamten ihre Latexhandschuhe über und verteilten sich wie abgesprochen auf die einzelnen Räume.

Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, als Wolf einen überraschten Ausruf vernahm.

»Das ist ja irre! Kommen Sie mal, Chef?«

Jo hatte sich den Raum vorgenommen, der von Loske anscheinend als Arbeitszimmer genutzt wurde. Sie saß an einem Schreibtisch neben dem Fenster, umgeben von Bergen von Unterlagen, und starrte wie gebannt auf ein Blatt Papier. Als Wolf hinzukam, hielt sie ihm das Schriftstück entgegen.

»Hier, sehen Sie. Kommen Ihnen die Namen auf dieser Liste nicht auch bekannt vor?«

Wolfs Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, als er die Aufstellung überflog. »Teufel noch mal … das sind doch die …«

»Genau. Die gut betuchten alten Damen, die die Brüder des Himmlischen Tores ins Jenseits geschickt haben.«

»Aber hier stehen viel mehr Namen. Es sind insgesamt achtzehn.«

»Das Geschäft mit den Erbschaften muss einträglicher gewesen sein, als wir angenommen haben. Ach, übrigens, hier ist auch eine Mappe mit Kontoauszügen. Enthält auf den ersten Blick allerdings nichts Außergewöhnliches, Bewegungen und Kontostände liegen im üblichen Rahmen.«

»Wenigstens wissen wir jetzt, mit wem er seine Geldgeschäfte tätigt; ist ja auch was wert, oder?«, sagte Vögelein, der sich zu ihnen gesellt hatte.

Wolf zündete sich eine Gitanes an, Jos hochgezogene Augenbrauen wohlweislich übersehend. »Ich gehe jede Wette ein, dass die wirklich interessanten Summen längst ins Ausland transferiert wurden«, sagte er. »Aber die müssen sich ihrer Sache sehr sicher gewesen sein, wenn sie alles hier rumliegen lassen.«

Draußen im Flur verlangte eine Männerstimme nach Wolf. Knurrend löschte er seine Zigarette und machte sich auf die Suche nach dem Rufer. Kurze Zeit später war er wieder zurück. »Hier, das hat die Spusi unter der Post gefunden«, erklärte er. Er legte ein Mäppchen mit dem Aufdruck eines Reisebüros vor Jo auf den Schreibtisch.

»Was ist das?«

»Unter anderem ein Formular mit den Einreisebestimmungen nach Barbados und zwei Kofferanhänger.«

Jo kaute auf ihrer Unterlippe. »Es ist wohl, wie Sie vermutet haben, Chef: Die Kerle haben den Schachzug von langer Hand vorbereitet. Jetzt wird mir auch langsam klar, wie das ablief: Über die Erbschaften besorgten sie sich gewissermaßen das Betriebskapital, bei so einem Coup fällt ja einiges an Kosten an. Schließlich müssen eine neue Identität vorbereitet und eine standesgemäße Bleibe am neuen Domizil erworben werden, dazu ein völlig neues Outfit, ein schickes Boot und natürlich neue Wagen, eine Menge technisches Equipment im Zusammenhang mit dem Sprengsatz. Dann der Transfer und die sichere Anlage des Geldes im Ausland … man ist umzingelt von Leuten, die ständig die Hand aufhalten.«

»So ist es. Ganz zu schweigen von dem erhofften sorgenfreien Leben auf Barbados oder sonst wo, und das, wenn möglich, bis ans Ende ihrer Tage.«

»Das wiederum ist durch die zehn Millionen gedeckt, die dürften dafür wohl reichen. Falls nicht, kann man den Coup ja wiederholen.« Jos Stimme triefte vor Sarkasmus.

In diesem Augenblick stürmte einer der Schneemänner herein, beinahe hätte er Wolf umgerannt. »Hier«, näselte er und hielt Wolf einen unscheinbaren Kartonschnipsel dicht vor die Nase. Unstrittig handelte es sich dabei um den Rest einer kleinen Faltschachtel.

»Woher hast du das?«, fragte Wolf muffig.

»Na, aus dem Abfalleimer in der Küche. Gut, was?«

»Der Müll unserer Kundschaft ist doch immer wieder eine wahre Fundgrube«, seufzte Wolf.

Mit spitzem Zeigefinger wies der Kollege auf eine bestimmte Stelle. »Interessant ist dieser angerissene Aufkleber da.«

Wolf nahm ihm das Kartonstück aus der Hand und führte es nahe an die Augen. »Ziemlich poplig, die Schrift … nee, das kann wirklich keine Sau lesen.«

»Wie wär’s mit ‘ner Brille, Chef?«, fragte Jo.

»Liegt im Büro«, räumte er zerknirscht ein. Er reichte ihr den Schnipsel: »Lies vor, du hast bessere Augen.«

Anfänglich schien auch Jo zu scheitern. »Bei der handschriftlichen Notiz nützen die besten Augen nichts, das ist einfach eine fürchterliche Klaue. Anders verhält es sich mit den beiden gedruckten Zeilen. Warten Sie … die obere heißt ›om-Apotheke‹, die untere ›ugsburg‹. Die Lösung beim letzten Wort scheint mir einfach, da würde ich auf Augsburg tippen. Aber das erste?«

»Das heißt Dom-Apotheke«, klärte Wolf sie auf. »Die Apotheke in Augsburg befand sich in unmittelbarer Nähe des Doms. Demnach lagen wir richtig mit unserem Verdacht: Loske und Neidling sind tatsächlich die Augsburger Arsenräuber.« Mit spitzen Fingern reichte er dem Schneemann den Schnipsel zurück. »Bin mir ziemlich sicher, dass sich der handschriftliche Vermerk auf den Inhalt des Päckchens bezieht. Und der Teufel soll mich holen, wenn darin nicht die Begriffe Barbiturat und Arsentrioxid vorkommen.«

Wolf konnte mit dem bisherigen Erfolg der Durchsuchung mehr als zufrieden sein. Die Namensliste der Mordopfer, die Verpackung aus Augsburg – was wollten sie mehr? Dass die beiden Burschen sich ins Ausland absetzen wollten, war zudem ein deutlicher Hinweis auf ihre Beteiligung an der BWVG-Erpressung.

Und wer konnte wissen, welche Schätze in Neidlings Wohnung auf sie warteten? Er hatte den Gedankengang kaum zu Ende gebracht, da hielt ihm Vögelein sein Handy unter die Nase. »Für Sie, Chef.«

Wolf zerdrückte einen Fluch zwischen den Lippen. Hatte sein eigenes Gerät wieder mal den Betrieb eingestellt? Diese Scheißakkus, immer waren sie im falschen Moment leer. Mit entsprechend schlechtem Gewissen meldete er sich.

Es war Sommer. Er forderte Wolf auf, umgehend zur Schiffslände zu kommen. »Dort wartet ein Boot, das uns nach Sipplingen bringt. Wir wollen uns die Haftladung mal aus der Nähe ansehen. Wir werden drei Polizeitaucher mit Unterwasserkamera dabeihaben. Bis gleich also.«

Mit keinem Wort hatte Sommer nach dem Durchsuchungsergebnis gefragt. Das war typisch für den Kripochef: Warum für derlei Fragen Zeit verschwenden, wenn man sich in wenigen Minuten ohnehin traf. Wolf sagte Jo und Vögelein Bescheid, dann machte er sich auf den Weg. Bereits im Gehen fischte er eine Gitanes aus der Packung und zündete sie an.

Fünfzehn Minuten später legte das Polizeiboot am Mantelhafen ab. Fast wäre Wolfs Barett im Wasser gelandet, als das Boot Fahrt aufnahm. Noch immer dräute schweres Gewölk am Himmel, die Luft war kühl und klamm. Wenigstens hatte der Regen aufgehört. An Bord befanden sich neben den uniformierten Kollegen von der Wasserschutzpolizei mit Wolf, Sommer und Hindemith die leitenden Ermittler, verstärkt durch Staatsanwalt Dr. Hirth und einen weiteren Mann in Zivil, der Wolf als der Sprengstoffexperte des LKA vorgestellt wurde. Auf dem Vorschiff legten die Polizeitaucher gerade ihre Ausrüstung an.

Eine weitere Viertelstunde später hatten sie ihren Zielpunkt erreicht. Alle Lichter außer den Positionslaternen wurden gelöscht. Nach einigen letzten Instruktionen signalisierten die Taucher ihr »Okay« und sprangen nacheinander ins Wasser. Alle anderen – außer dem Wachhabenden – drängten sich um den Monitor, der auf einer Konsole im Steuerhaus stand.

Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Außer grau-grün wabernden Schleiern war minutenlang so gut wie nichts zu sehen. Doch dann, irgendwann, schoben sich auf den Bildausschnitten, von einem der Techniker nebeneinander auf den Monitor gelegt, graue kantige Metallkörper ins Bild, schemenhaft zuerst, doch schnell größer und schärfer werdend, bis sie den Monitor schließlich zur Gänze ausfüllten. Es musste sich um das obere Ende der Wasserentnahmetürme handeln, drei Ungetüme, von denen jedes etwa zehn Meter aus dem Seegrund aufragte. Ihre gleichmäßig gelochte Oberfläche erinnerte ein bisschen an übergroße Küchensiebe.

Lähmend langsam fuhr die Kamera nun an der Turmoberfläche entlang, mit unbestechlichem Auge Meter um Meter inspizierend, immer auf und ab und rundherum. Schon drohte Wolfs Interesse zu erlahmen, als unvermittelt beim linken Ausschnitt etwas die Gleichmäßigkeit der Metallwandung störte, eine handtellergroße Unregelmäßigkeit nur, im diffusen Licht kaum erkennbar, und doch ausreichend, um den Taucher zu alarmieren.«

»Stopp!«, rief Wolf, »können wir Bild eins mal größer haben?«

Per Zoom fuhr die betreffende Kamera mitsamt ihrer Lichtquelle auf den Gegenstand zu, bis er sich scharf und bildfüllend den Beobachtern oben auf dem Schiff präsentierte.

Kein Zweifel, sie hatten die gesuchte Stelle gefunden, den kritischen Punkt, um den sich in den folgenden Stunden alles drehen würde. Und wehe, es gelang ihnen nicht, dieses verfluchte Ding rechtzeitig unschädlich zu machen!

Über die Kommunikationsleitung wies der Sprengstoffexperte den Taucher an, die Haftladung mit der Kamera einmal langsam zu umkreisen. Während der Taucher die Anweisung ausführte, sprach der LKA-Mann seine Beobachtungen in ein Diktiergerät, das plötzlich wie hingezaubert in seiner rechten Hand auftauchte.

»… kubischer Körper, Größe etwa zehn mal zehn Zentimeter, Dicke zirka ein Zentimeter, Oberfläche metallfarben, vermutlich Kunststoff, darauf aufgebracht ein Muster aus schwarzen Punkten, in Größe und Anordnung dem Lochraster des Turmgehäuses täuschend ähnlich. Legt die Vermutung nahe, dass den Tätern die Oberflächenstruktur der Türme bekannt war. Anbringung vermutlich per Magnethaftung. Keine Kabel, keine Kontakte, keine Schalter oder Dioden sichtbar. Zu Sprengkraft und Auslöser sind keine genauen Angaben möglich, jedoch ist das Volumen des Körpers groß genug, um neben dem Gift ausreichend Sprengstoff zu einer vollständigen Zerstörung des Gehäuses aufnehmen zu können.«

»Die Hauptfrage ist doch: Wie wird das Scheißding ausgelöst?«, unterbrach ihn Wolf ungeduldig.

»Schön eins nach dem andern, Kollege, darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen.« Der LKA-Mann fuhr fort, in sein Diktiergerät zu sprechen. »Was die Auslösung betrifft, so kann sie aufgrund der räumlichen Verhältnisse nicht über eine Uhr erfolgen. Nach Lage der Dinge scheidet ein fest eingestellter Zeitzünder ohnehin aus, da er den Tätern nicht genügend Freiheit im Tatablauf bieten würde. Die Gehäusemaße lassen auf einen USK-Schaltkreis beziehungsweise einen baugleichen Typ schließen. Er erlaubt es den Tätern, den Sprengsatz beispielsweise über ein Handy auszulösen …«

»Über Handy? In fünfzig Meter Tiefe? Das ist wohl kaum möglich«, warf Sommer ein. Auch Wolf und Hindemith machten zweifelnde Gesichter.

Der Sprengstoffexperte unterbrach sein Protokoll. »Na klar, ist das möglich. Auch in der Unterwassertelefonie ist die Zeit nicht stehen geblieben. Die Firma Thales Safare zum Beispiel hat ein Modem für Point-to-Point-Anwendungen entwickelt, das noch in Tiefen von mehr als hundert Metern funktioniert. Drahtlos. Und vergessen Sie nicht: Was da unten ankommen soll, ist kein störungsfreies Gespräch, sondern lediglich ein Signal, das den Zünder auslöst.«

In diesem Augenblick betrat ein Wapo-Beamter die Kabine. »Gespräch für den Kollegen Wolf, dringend!«, sagte er entschuldigend in die Runde.

Wolf verließ die stickige Kabine. An Deck holte er erst einmal tief Luft, dann sah er auf die Uhr: beinahe halb zehn. Ein paar Urlaubstage wären schön – wenn er das alles hinter sich hatte. Pastis in Quiberon genießen, Austern schlürfen an der Côte d’Émeraude, die Herbststürme der Bretagne durch die Haare wehen lassen …

Ein Räuspern holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Seufzend nahm er dem Kollegen den Hörer aus der Hand und nannte seinen Namen.

Als er zu den anderen zurückkehrte, hatte der LKA-Mann seine Ausführungen beendet. Fragend sahen Sommer, Hindemith und Dr. Hirth auf Wolf.

»Das war Jo«, berichtete er, »sie haben in Loskes Wohnung eine Tasche mit Perücken und anderen Dingen gefunden, die man für Verkleidungen benutzt. Wichtiger für uns hier dürfte aber etwas anderes sein: Auf Loskes PC konnten die Spusi eine gelöschte Datei wiederherstellen, die eine Art Schaltplan enthält. Wenn wir Glück haben, gehört er zu dieser Bombe hier unter uns.« Spätestens bei den Worten »Schaltplan« und »Bombe« waren auch der LKA-Mann und die Wapo-Beamten ganz Ohr. »Ich habe veranlasst, dass Jo uns mit dem Plan am Mantelhafen erwartet«, fügte Wolf hinzu.

An dieser Stelle machte er eine kurze Pause. Dann sah er die Anwesenden der Reihe nach an: »Außerdem haben sich die Täter gemeldet. Telefonisch. Allerdings kam der Anruf aus einer Zelle.«

»Ja und? Was wollten sie?«, fragte Sommer, der seine Unruhe nicht länger verbergen konnte.

»Sie warnen uns vor Tauchgängen im Seegebiet vor Sipplingen. Drohen damit, die Bombe vorzeitig hochgehen zu lassen.«

Unruhe brach aus, alle redeten durcheinander, bis der Wapo-Schiffsführer seine Stimme hob: »Unsere Taucher müssen sofort hoch! Wir sollten die Aktion auf der Stelle abbrechen, inzwischen wissen wir ohnehin, was wir wissen wollten.«

Wolf winkte ab: »Es besteht keinerlei Anlass zur Eile, Kollegen. Ich denke, wir können die Drohung getrost ignorieren. Die Leute sind scharf auf die zehn Millionen, aber die können sie abschreiben, wenn sie die Ladung vorzeitig zünden. Schließlich ist der Sprengsatz mit dem Gift ihr einziges Druckmittel. Vergessen wir nicht: Ihr Weg zu den Millionen ist bereits jetzt mit Leichen gepflastert; sie werden, ja sie müssen ihn zu Ende gehen, soll das nicht alles für die Katz gewesen sein.«

»Leo hat recht«, nickte Hindemith, »wir dürfen uns nicht ins Boxhorn jagen lassen. Trotzdem bin ich für Abbruch, wir können hier im Moment nicht mehr erreichen.«

»Außerdem möchte ich so rasch als möglich einen Blick auf den Schaltplan werfen«, erinnerte der Sprengstoffexperte.

Ringsum ertönte Zustimmung, da hob Wolf die Hand. »Moment noch, nicht so eilig, Kollegen. Ich finde, wir sollten den Anrufern dankbar sein, dass sie unsere Ermittlungen so konsequent unterstützen, wenn auch gänzlich unbeabsichtigt.«

»Unterstützen? Wie meinst du das?«

»Ist doch klar.« Der Anflug eines Lächelns umspielte Wolfs Gesicht. »Für mich ist der Anruf vor allem der Beweis, dass die Dreckskerle noch hier in der Nähe sind. Vermutlich sitzen sie in diesem Augenblick irgendwo da oben und haben ihre Ferngläser auf uns gerichtet.« Er wies auf die Lichter von Sipplingen.

»Ich hoffe, sie haben Muffensausen«, nickte Sommer düster.

»Hoffentlich nicht. Denn jetzt, wo wir wissen, wo wir sie zu suchen haben, sollen sie da bitte auch noch eine Weile bleiben«, fügte Hindemith hinzu.

* * *

Mit einer Verwünschung machte Wolf seinem Ärger Luft. Er hatte vergessen, beim Edeka-Markt vorbeizugehen und seinen Einkaufskorb abzuholen. Ausgerechnet heute, wo er sich so auf einen Feierabend-Pastis gefreut hatte! Ganz zu schweigen davon, dass er sich auch am folgenden Morgen mit einer Tasse Kaffee würde begnügen müssen.

Grimmig fuhr er nach Hause und schleppte sein Fahrrad in den Abstellraum, stapfte die Treppe hoch und steckte den Schlüssel in das Schloss – da hielt er überrascht inne. Die Tür war zwar eingeschnappt, aber nicht verschlossen. Dabei war er sicher, den Schlüssel wie jeden Morgen zweimal umgedreht zu haben.

Leise schob er die Tür gerade so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte. Und wirklich, er hatte sich nicht getäuscht: Jemand war in seine Wohnung eingedrungen, aus der Küche kamen merkwürdige Geräusche. Auf Zehenspitzen schlich er weiter. Dann stieß er die Tür mit aller Kraft auf. »Sie?«, rief er erstaunt und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Frau Öchsle, die sich rasch wieder gefasst hatte, setzte ein breites Lächeln auf. »Da staunen Sie, was?«, nickte sie triumphierend und nahm verschiedene Gegenstände aus seinem Einkaufskorb, um sie im Kühlschrank zu verstauen. »Damit Sie mir nicht vom Fleisch fallen«, erklärte sie beiläufig. »Bei dem hier bin ich mir allerdings nicht ganz sicher, wo es hingehört.« Sie hielt eine Flasche nahe vor die Augen und studierte das Etikett. »Pastis«, las sie laut, mit Betonung auf der ersten Silbe und hinten mit scharfem S. »Vermutlich ein Reinigungsmittel, nicht wahr?«

Wolf rieselte bei so viel Unkenntnis ein kalter Schauer über den Rücken. »Geben Sie her«, sagte er eine Spur zu ruppig und brachte die Flasche in Sicherheit. »Woher haben Sie das ganze Zeug überhaupt?«

Frau Öchsle sah ihn entrüstet an. »Nun muss ich mich aber doch sehr wundern, Herr Wolf. Sie haben das alles doch gestern selbst bestellt, wissen Sie nicht mehr? Bei Edeka.«

»Ja, schon, aber …«

»Und weil Sie vergessen haben, es abzuholen, hat mich die Marktleiterin angerufen, die kenne ich gut. Wir wissen doch, dass Sie wenig Zeit haben, bei all den schlimmen Verbrechen, die heutzutage passieren …«

»Schön, Frau Öchsle, ich danke Ihnen, Sie sind ein Schatz!«, fuhr Wolf ihr ins Wort und warf einen prüfenden Blick in seinen Kühlschrank. Plötzlich stutzte er. »Und was ist das da hinten?«, wollte er wissen. Ahnungsvoll wies er auf drei verschlossene Gläser mit einem undefinierbaren, dunkelbraunen Inhalt.

»Das? Ooch … das ist nur etwas von meinem Pflaumenmus. Das essen Sie doch so gerne.«

Nun war Wolf nahe daran zu explodieren. »Hab ich das jemals behauptet? Es ist ja nett, dass Sie sich um mein leibliches Wohl sorgen, aber das geht entschieden zu weit. Sie können sich das Einmachen zukünftig sparen – zumindest was mich betrifft. Ich esse kein Pflaumenmus.«

Frau Öchsle sah zu Boden. »Ich mach es ja gar nicht selbst ein«, gestand sie verschämt.

Nun war Wolf erst recht perplex. Hatte sie nicht genau das die ganze Zeit über behauptet? »Wo haben Sie es denn dann her?«

»Von meiner Schwester«, flüsterte sie nach kurzer Pause.

»Und wieso essen Sie es nicht selbst?«

Da hob Frau Öchsle den Kopf und sah Wolf leidend an. »Das will ich Ihnen sagen: Ich kann das Zeug nicht ausstehen!«