12
Ein grässliches Schrillen zerriss die Stille, laut und aufdringlich wie eine wild gewordene Feuerwehr. Im Halbschlaf zog Wolf die Decke über den Kopf. Doch das Schrillen hielt an.
Bruchstückhaft kehrte seine Erinnerung zurück. Er sah sich mit einer aufgedrehten Karin Winter verhandeln; die Frau hatte so eine Art, ihm Löcher in den Bauch zu fragen und ständig etwas in ihren Notizblock zu kritzeln. Es folgte eine Szene aus dem Gasthof »Krone«, in der er mit großem Appetit einen Rostbraten verdrückte und genussvoll mit einem Meersburger Roten hinunterspülte. Endlich zu Hause, war er in einen traumlosen Schlaf gefallen – bis dieses nervtötende Schrillen erklang.
Als das Geräusch nicht verstummen wollte, griff er laut fluchend nach dem Hörer. Eine erschreckend muntere Stimme strapazierte sein Trommelfell.
»Chef, Sie sollten mal Ihr Radio aufdrehen. SWR vier. Da läuft ein Bericht über Heaven’s Gate. Dürfte Sie interessieren.«
»Und deshalb rufst du mich am frühen Sonntagmorgen an? Wie spät ist es?«, schnaubte Wolf.
»Halb sieben.«
»Halb sieben? Und du bist schon auf?«, staunte er.
»Noch! Ich bin noch auf!«, girrte Jo und kicherte wie ein Schulmädchen.
Wolf drehte nebenbei das Radio an. »Verstehe, du warst mit dem Ar… mit dem Taximann zusammen. Muss ja eine tolle Nacht gewesen sein.« Übergangslos hing er die Frage dran, was sich bei der Bächle getan habe.
»Keine Ahnung, da müssen Sie meine Ablösung fragen. Wir sehen uns dann bei der Lagebesprechung. Bis später also.« Ehe er noch etwas sagen konnte, hatte sie aufgelegt.
Wolf hatte Mühe, sich auf die Sendung zu konzentrieren. Getragen, fast flüsternd beschrieb der Moderator eine Zeremonie, die Wolf irgendwie bekannt vorkam.
»Die Teilnehmer dieser Zusammenkunft – ich nenne sie jetzt mal Gottesdienst – sind ausnahmslos in lange, weiße Umhänge gekleidet, es fehlen lediglich die Kapuzen, um die Illusion einer Ku-Klux-Klan-Verschwörung perfekt zu machen. Andächtig halten sie die Hände gefaltet, scheinen tief ins Gebet versunken, und über allem schweben leise, mystische Klänge, die uns ein wenig an gregorianische Choräle erinnern …«
Nur mit Müde widerstand Wolf dem Impuls, das Gerät abzuschalten und sich wieder hinzulegen.
»Der Blick der Brüder und Schwestern, wie sich die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft untereinander nennen, richtet sich nun auf einen Mann in ihrer Mitte, einen Mann von beeindruckender Statur, mit schlohweißen Haaren und markanten Gesichtszügen. Als Einziger trägt er einen Anzug, schlicht im Schnitt und natürlich in weiß, anscheinend die bevorzugte Farbe bei Heaven’s Gate. Dieses Outfit weist ihn, wie wir gehört haben, als spirituellen Führer der Glaubensgemeinschaft aus, die vor gut einem Jahr aus den USA zu uns herüberkam …«
»Als ob von dort je etwas Gutes gekommen wäre«, grummelte Wolf abfällig, während der Moderator mit seiner Schilderung fortfuhr.
»In diesem Moment scheint der Gottesdienst zu Ende gegangen zu sein. Wir wollen versuchen, mit dem Führer der Gemeinschaft – seine Anhänger nennen ihn ›Gabriello‹ oder auch ›Meister‹ – zu sprechen, um Näheres über die Glaubensrichtung zu erfahren, die ihren Anhängern die Vergebung ihrer Sünden und – man höre und staune – das ewige Leben verspricht und die speziell im Raum Überlingen frappierenden Zulauf haben soll …«
Wolf drehte das Radio etwas lauter und marschierte in die Küche, um nebenher Kaffee aufzusetzen.
»… wir haben eine Mission zu erfüllen«, verkündete Gabriello gerade mit durchaus überzeugendem Tonfall. »So viele Menschen haben sich von Gott und dem Kreuz abgewandt. Deshalb beten wir täglich um Seine wunderbare Führung, und wir spüren Seine Gegenwart, denn Er hat Seinen Thron bei uns aufgeschlagen.«
»Sie und Ihre Anhänger halten sich für Auserwählte, verstehe ich das richtig?« Der Moderator schien um neutrale Berichterstattung bemüht.
»Wir haben den heiligen Lebensstrom Gottes empfangen. Die Mitglieder unserer Gemeinschaft leben frei von Sünde, eine der Voraussetzungen für ein ewiges Leben …«
Spätestens jetzt hatte Wolf genug gehört, mehr konnte er beim besten Willen nicht ertragen. Mit einem Knopfdruck brachte er den Oberguru zum Schweigen. Der Mann glaubte offenbar, was er sagte. Und er schien keinen blassen Schimmer zu haben, welches Natterngezücht er über lange Zeit an seinem Busen genährt hatte.
* * *
In weiser Voraussicht hatte Sommer die Lagebesprechung in den Konferenzraum verlegt. Inzwischen waren nicht weniger als zwölf Ermittler in den Fall eingebunden, von denen allerdings zwei, darunter Vögelein, zur Observierung der Bächle abgestellt waren. Anwesend waren neben Sommer, Wolf, Jo und Hindemith die vier Kollegen, die mit Vögelein zusammen die Soko gebildet hatten, außerdem vom LKA der Sprengstoffexperte sowie ein Spezialist für Gifte und Drogen, der für eventuell aufkommende Fragen, das Arsen betreffend, zur Verfügung stand. Nicht eingerechnet waren die Kollegen der Technik, welche die Anschlüsse der Bächle und der BWVG einschließlich der Vorstandsmitglieder der Gesellschaft überwachten.
Die Spannung im Raum war mit Händen zu greifen. Jedem der Anwesenden war bewusst: Spätestens morgen früh um sechs würde die Bombe im wahrsten Sinne des Wortes platzen, sollte es ihnen bis dahin nicht gelingen, die Täter – oder die Giftladung! – unschädlich zu machen.
Während Wolf versuchte, seine Nervosität zu verbergen, begann der Sprengstoffexperte, die Ergebnisse des zweiten Tauchgangs zu erläutern. Das Fazit war ernüchternd: Weder die neuen Videoaufnahmen oder die elektronischen Messungen noch der in Loskes Wohnung sichergestellte Schaltplan hatten sie wirklich weitergebracht. Jede Manipulation an der Bombe schied wegen unwägbarer Risiken von vornherein aus. Lediglich beim Zündmechanismus legte sich der LKA-Mann fest: Die Sprengung ließ sich über ein Handy auslösen; die Erpresser mussten dazu lediglich eine vorprogrammierte Kurzwahltaste drücken.
»Lässt sich die Bombe auf diesem Weg von den Tätern auch neutralisieren, sodass sie gefahrlos entfernt werden kann?«, wollte Wolf wissen.
Der Sprengstoffexperte bejahte. »Allerdings dürfte damit erst zu rechnen sein, wenn die Erpresser die auf dem Kreditkartenkonto bereitgestellte Summe bis auf den letzten Cent abgehoben haben – vermutlich irgendwo im Ausland«, fügte er hinzu.
»Weitere Wortmeldungen?«, fragte Sommer und sah sich in der Runde um.
Mehrere Hände gingen hoch, Fragen wurden gestellt, Antworten gesucht und abgewogen; konkrete Pläne jedoch wollten sich partout nicht einstellen – bis Wolf die Hand hob.
Nachdem Sommer ihm das Wort erteilt hatte, lehnte sich Wolf zurück und versuchte, Gelassenheit auszustrahlen. Zunächst gab er das Gespräch mit dem BWVG-Vorstand wieder, schilderte sodann seine Exkursion durch das nächtliche Sipplingen – nicht ohne auf deren dürftiges Ergebnis hinzuweisen – und kam endlich zum spannenderen Teil seiner Rede, nämlich den Schlussfolgerungen – und dem Plan, den er daraus ableitete. Je länger er sprach, desto sicherer wurde er.
Als er geendet hatte, herrschte erst einmal Schweigen.
Erneut war es Sommer, der aufs Tempo drückte: »Herrschaften, eure Meinung bitte. Wer findet ein Haar in der Suppe?«
Als wäre ein Damm gebrochen, hagelte es plötzlich Fragen, Vorschläge und Querverweise, die jedoch allesamt nichts wirklich Neues brachten. Nach einer Viertelstunde brach Sommer die Diskussion ab.
»Also, Leute, ab sofort wird nach Leos Plan vorgegangen. Jeder Einzelne von uns muss durchgehend erreichbar sein, das geringste Vorkommnis ist weiterzumelden. Zentraler Anlauf- und Koordinationspunkt ist hier bei mir, er wird permanent mit zwei Mann besetzt sein. Ich weiß, dass wir allesamt einen langen Tag vor uns haben und vielleicht sogar die Nacht dranhängen müssen, doch es gibt keine Alternative. Sollten wir mit unserem Plan scheitern, kommt es unweigerlich zu einer Katastrophe. So, und nun noch ein Letztes: Über den Kollegen Hindemith hat uns das Landeskriminalamt die Weisung erteilt, je nach Gefährdungslage das SEK anzufordern; die Truppe kann jederzeit in Marsch gesetzt werden, zwischen Anforderung und Einsatzzeit liegen plus minus drei Stunden. Sollte es so weit kommen, wären wir draußen. Dass das jedem klar ist: Wir würden komplett und ausschließlich dem Spezialeinsatzkommando unterstehen und, wie bei derartigen Einsätzen üblich, allenfalls unterstützende beziehungsweise flankierende Aufgaben übernehmen. So, das war’s von meiner Seite. Noch Fragen? … Gut. Ich verlass mich auf euch, Kollegen!«
Ringsum zustimmendes Nicken.
»Okay, ich informiere jetzt die Redaktion des ›Seekurier‹, danach verstärken Jo und ich das Observationsteam vor dem Haus der Bächle. Bis irgendwann also. Drücken wir uns allesamt die Daumen.« Wolf erhob sich und gab Jo einen Wink.
* * *
Die Geduld der Ermittler wurde auf eine harte Probe gestellt. Bis zur Mittagszeit war nicht das Geringste geschehen: Weder hatte Monika Bächle ihr Telefon angerührt oder gar ihre Wohnung verlassen, noch war von den Erpressern eine neue Nachricht eingegangen. Endlos zogen sich die Stunden dahin. Wer konnte, nahm eine Mütze Schlaf oder trank den vierten, fünften Espresso. Es war mit einem Wort: zermürbend.
Kurz nach sechzehn Uhr klingelte Wolfs Handy. Alle im Wagen schreckten hoch. Doch es handelte sich lediglich um einen Routineanruf Sommers, der von seinem Büro aus die einzelnen Einsatzstellen abtelefonierte.
Dann, als schon niemand mehr damit rechnete, ging es plötzlich Schlag auf Schlag. Monika Bächle trat aus dem Haus. Wie elektrisiert griff Wolf nach seinem Handy, gab die Meldung an Sommer weiter. Die Observierte warf einen prüfenden Blick auf ihre Umgebung, dann schlug sie den Weg Richtung Innenstadt ein. Wolf wies Preuss und Hanno Vögelein an, ihr zu folgen. Wenige Minuten danach meldete Vögelein, sie habe die Redaktionsräume des »Seekurier« betreten.
Es war sechzehn Uhr siebenunddreißig, draußen dämmerte es bereits.
Wolf starrte sein Handy an, als wolle er es hypnotisieren. Komm schon, dachte er, melde dich. Sag uns, was sie vorhat, ob wir mit unseren Überlegungen richtig liegen. Es hängt so viel davon ab. Sag uns wenigstens, was sie gerade tut.
Als hätte das Gerät ein Einsehen, begann es unvermittelt zu vibrieren, dann gab es die erlösende Melodie von sich. Schon nach dem ersten Ton drückte Wolf die Empfangstaste. Er hörte kurz zu, sagte »Danke« und unterbrach das Gespräch.
»Sie marschiert durch die Redaktionsräume und plaudert mit den Kollegen«, gab er an Jo weiter.
»Das heißt, sie schnüffelt herum«, antwortete Jo und wirkte erleichtert.
Wolf gab die Information an Sommer und Vögelein durch.
Erneutes Warten. Die Minuten zogen sich, Wolf wurde zunehmend nervöser. Dann erneutes Klingeln, dieselbe Prozedur.
»Sie hat die Anzeige entdeckt, geht jetzt in ihr Büro«, stieß Wolf triumphierend hervor, kaum dass er das Gespräch beendet hatte. »Fahr los!«, rief er Jo zu.
»Wie sie gesagt haben, Chef«, lobte Jo und startete den Wagen. Sie schafften es gerade mal bis zum Goldbacher Bahnübergang, als der nächste Anruf kam.
»Ja«, meldete sich Wolf formlos. Dann ein Nicken: »Schick sie los«, gab er dem Anrufer durch.
»Alles roger?«, fragte Jo und beschleunigte noch ein bisschen mehr.
»Alles roger«, bestätigte Wolf. »Die Bächle hat ihre Komplizen angerufen. Die Kollegen konnten den Anschluss orten. Jetzt haben wir sie im Sack.«
Sieben Minuten später erreichten sie Sipplingen. Sie bildeten gewissermaßen die Vorhut. In der Ortsmitte bogen sie rechts ab und fuhren den Berg hoch. Auf halber Höhe hob Wolf die Hand, Jo wurde langsamer.
»Stell den Wagen ab. Wenn die Luft rein ist, steigen wir aus und spazieren gemütlich diese Straße entlang, eingehakt, wie es sich für ein altes Ehepaar gehört.«
»Das ›alt‹ will ich überhört haben, Chef«, motzte Jo, tat aber, wie geheißen.
Es war sechzehn Uhr achtundfünfzig. Draußen war es inzwischen dunkel geworden.
Dann passierten sie die Frühstückspension »Säntisblick«, kaum dreihundert Meter von der Stelle entfernt, an der sie den weißen Golf gefunden hatten. Im Vorübergehen drückte Wolf Jos Arm. »Das ist es«, flüsterte er kaum hörbar. Nicht zu glauben, dass er vor gut vierundzwanzig Stunden schon einmal hier vorbeigekommen war. So nah war er den Erpressern gewesen, so nah! Gebe Gott, dass es ihnen gelang, die Kerle noch heute Abend einzusacken. Und wenn nicht? Sofort verbot er sich jeden Gedanken an die Folgen. Es musste einfach gelingen!
Zurück im Wagen, nahm Wolf Kontakt mit Sommer auf.
»Haben das Objekt von der Straße aus inspiziert«, gab er durch, »keine Auffälligkeiten. Wir gehen wie besprochen vor. Uhrenvergleich: siebzehn Uhr acht. Verständige uns, wenn Hindemith und seine Leute auf Position sind.«
Die Meldung kam fünfzehn Minuten später. Wolf und Jo waren inzwischen vor dem Hoteleingang vorgefahren, hatten an der Rezeption nach dem Besitzer gefragt und ihn, kaum dass er auf der Bildfläche erschien, in das angrenzende kleine Büro gedrängt. Der Mann fiel aus allen Wolken, als er von der bevorstehenden Festnahme erfuhr, erklärte sich jedoch bereit, mit ihnen zu kooperieren.
Einzeln oder paarweise trudelten die Kollegen ein, der Tarnung wegen im Jogginganzug oder mit Tennisschläger oder einem Gepäckstück bewaffnet. Sie sammelten sich in dem kleinen Büroraum hinter der Rezeption. Anwesend waren außer Wolf und seinen beiden Mitarbeitern noch zwei Kollegen der Soko und natürlich Hindemith. Weitere vier Mann waren draußen rings um das Haus postiert.
In gewisser Weise ähnelte alles der hochnotpeinlichen Verhaftung vom Vortag, außer dass an der Zimmertür diesmal die Nummer neunzehn prangte.
Geräuschlos nahmen die Polizisten ihre Positionen ein. Dann gab sich der Hotelier einen Ruck und klopfte an die Tür. »Zimmerservice«, rief er. »Bitte entschuldigen Sie, ich habe hier einen Getränkekorb für Sie – ein kostenloses Wochenendpräsent für unsere Gäste.«
Wolf glaubte, hinter der Tür ein Tuscheln zu vernehmen. Schließlich meldete sich eine kräftige Männerstimme: »Danke, wir verzichten.« Es klang so endgültig, wie es gemeint war.
»Wie Sie meinen. Entschuldigen Sie bitte noch mal die Störung«, antwortete der Hotelier wie vereinbart. So leise, wie sie gekommen waren, zogen sich die Polizisten wieder zurück.
»Was nun?«, fragte Vögelein nach ihrer Rückkehr in das kleine Büro.
»Das ist große Kacke«, schimpfte Hindemith. »Die haben todsicher nicht nur die Zimmertür verschlossen, sondern auch ständig das Fenster zum See im Blickfeld.« Er wandte sich an den Hotelier: »Zu dem Zimmer gibt es vermutlich keinen weiteren Zugang – eine Verbindungstür oder so was?«
»Nein, tut mir leid.«
»Ist es möglich, von der Seeseite her einen Blick auf die Terrasse zu werfen, ohne selbst gesehen zu werden?«, fragte Wolf den Hotelbesitzer.
»Das geht. Wenn Sie bitte mitkommen wollen?«
Kurze Zeit später sah Wolf, hinter dichtem Buschwerk verborgen, auf die Rückseite des fraglichen Zimmers. Der Raum war über die ganze Breite verglast. Eine Tür führte auf die Terrasse, auf der Wolf zwei Liegen und einen zusammengeklappten Sonnenschirm ausmachen konnte. Die Terrassentür stand einen Spalt weit offen. Das Innere des Zimmers war nur schwach erleuchtet, vermutlich brannte eine der Nachttischlampen. Immerhin bemerkte Wolf eine kleinere, stämmige Männergestalt, die gelegentlich ein Fernglas an die Augen hob und auf den See hinausstarrte. Dabei musste es sich um Neidling handeln. Loske hingegen blieb unsichtbar.
Vorsichtig zog Wolf sich wieder zurück, er hatte genug gesehen.
»Wie sieht’s aus?«, wollte Hindemith wissen.
Wolf hob sein Barett leicht an, um sich am Kopf zu kratzen. »Besch…eiden. Ich sehe nur eine Möglichkeit, unser Ziel zu erreichen: Wir müssen versuchen, durch die Terrassentür einzudringen. Das setzt voraus, dass der Mann am Fenster für einen Moment abgelenkt wird.« Er dachte kurz nach, ehe er den Hotelier ins Auge fasste: »Sie haben doch sicher einen Generalschlüssel dabei?«
Statt einer Antwort förderte der Hotelbesitzer einen umfangreichen Schlüsselbund zutage.
»Gut«, fuhr Wolf fort. »Also, mein Vorschlag ist folgender: Ihr steckt zu einem vereinbarten Zeitpunkt den Generalschlüssel ins Schloss und sperrt, so schnell es geht, die Tür auf. Das dürfte bei dem Mann am Fenster für genügend Ablenkung sorgen. Im gleichen Moment dringe ich von der Terrasse her ein. Alles hängt davon ab, dass die einzelnen Schritte genau aufeinander abgestimmt sind – und dass es uns gelingt, die Erpresser von ihren Handys fernzuhalten.«
Hindemith, der während Wolfs Rede mehrfach Anstalten gemacht hatte, ihn zu unterbrechen, konnte nun nicht länger an sich halten. »Entschuldige, Leo, aber das ist mir zu abenteuerlich. Das Risiko, dass einer der beiden Täter mit dem Finger zuckt und dabei, mit oder ohne Absicht, die Ladung in die Luft jagt, ist mir viel zu hoch.«
»Haben wir eine Alternative – ich meine, außer dass wir die Gangster ziehen lassen und brav das Lösegeld bezahlen?«
»Ja. Das SEK muss her. Das ist ein Fall für Spezialisten. Die machen die Gangster mit einer Blendgranate reaktionsunfähig, eine Sekunde später sind sie drin, und ehe du Piep sagen kannst, haben sie die beiden überwältigt.«
»Und wer sagt uns, dass Loske nicht ausgerechnet bei der Blendgranate die Ladung hochjagt, und sei es nur aus Schreck? Außerdem: Du vergisst, dass die Bächle Loske und Neidling vor einer knappen Stunde über die Anzeige informiert hat, mit der wir ihnen die Bereitstellung der geforderten Summe signalisieren. Sie wissen also, dass ihr Plan aufgegangen ist. Wieso, frage ich dich, sollten sie eine weitere Nacht in diesem Haus verbringen? Sie haben noch eine beschwerliche Flucht vor sich, also werden sie so bald als möglich von hier verschwinden wollen. Und dabei werden sie mit Sicherheit wachsamer sein, als wenn wir sie in ihrem relativ sicheren Zimmer überraschen.«
Über Hindemiths Gesicht flog ein Leuchten. »Aber jaa … das wäre doch überhaupt die Gelegenheit! Schnappen wir sie uns, wenn sie den Bau verlassen.«
»Ach! Und dabei drückt Loske garantiert nicht auf den Knopf, meinst du? Nein, was wir auch tun, dieses Risiko bleibt uns in jedem Fall. Deshalb bin ich dafür, dass wir die beiden so schnell als möglich rausholen. Alles andere kostet uns nur Zeit, ohne dass das Risiko minimiert wird.«
Nach kurzem Zögern nickte Hindemith widerstrebend: »Da könntest du allerdings recht haben.«
»Was heißt das?«
Der LKA-Mann mahlte mit dem Kiefer, die Antwort fiel ihm sichtlich schwer: »Das soll heißen, dass wir nach deinem Plan vorgehen.«
Wolf verzog keine Miene. »Gut. Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren.«
Wenige Minuten später waren alle Details festgelegt. Der Zugriff sollte exakt um siebzehn Uhr fünfundfünfzig erfolgen.
Anfangs lief alles wie am Schnürchen. Wolf, der sich zusammen mit Jo hinter einem Rhododendronbusch versteckt hielt, hatte nur Augen für Neidling, während Jo unverwandt auf ihre Uhr starrte. »Noch zehn Sekunden«, zählte sie, »noch neun, acht, sieben …«
Plötzlich ruckte Neidlings Kopf in Richtung Tür, während gleichzeitig von einem der Betten eine zweite Gestalt aufsprang: Loske.
Das war das verabredete Zeichen: Wie ein geölter Blitz rannte Wolf über die Terrasse und stieß mit vorgehaltener Dienstwaffe die angelehnte Tür auf. Im gleichen Augenblick stürmten von der gegenüberliegenden Seite seine Kollegen in den Raum.
»Polizei«, versuchte Wolf das herrschende Chaos zu übertönen. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Nehmen Sie die Hände hoch, gehen Sie langsam zur Wand, die Beine breit …« Die Wirkung allerdings war nicht ganz so, wie erwartet. Während Neidling sich scheinbar widerstandslos in sein Schicksal ergeben hatte und bereits gründlich gefilzt wurde, war Loske blitzschnell auf das Bett gesprungen. Mit wild entschlossener Miene hatte er seinen rechten Arm gehoben.
»Keinen Schritt weiter, oder die Katastrophe nimmt ihren Lauf!«, brüllte er den anstürmenden Polizisten entgegen.
Wolf lief es eiskalt über den Rücken. Was Loske in der Hand hielt, wog schwerer als eine Waffe.
Es war sein Handy!
Und die Taste, über der sein rechter Daumen schwebte, war nicht irgendeine Taste. Wolf wäre jede Wette eingegangen, dass es sich um die vorprogrammierte Kurzwahltaste handelte, die über Leben und Tod unzähliger Menschen entschied!
Gott verdamm mich!, fluchte er leise. Nun war genau das eingetreten, was er unter allen Umständen hatte verhindern wollen.
Drohend blickte Loske auf die wie angenagelt stehenden Polizisten. Sein rechter Arm schwenkte hin und her, als könne er mit dem Gerät seine Gegner in Schach halten.
»So hab ich das gern! Alles tanzt nach meiner Pfeife.« Sein Mund verzog sich zu einem selbstgefälligen Grinsen. »Das hätten Sie sich nicht träumen lassen, was, Herr Wolf?«
»Was soll das, Loske? Sie verschlimmern Ihre Lage nur noch mehr. Wenn Sie jetzt dieses Dreckspaket da unten hochjagen, bringt Ihnen das gar nichts, im Gegenteil: Je mehr Menschen Sie auf dem Gewissen haben, desto länger schmoren Sie im Knast. Also seien Sie vernünftig und geben Sie mir Ihr Telefon. Sie kommen hier ohnehin nicht mehr ungeschoren raus.«
Loske lachte hämisch. »Das denken Sie! Aber Sie werden nicht riskieren, dass auch nur ein Mikrogramm Arsen ins Trinkwasser gelangt, das können Sie sich als Polizist auch gar nicht leisten. Ich kenne Sie, hab Sie schließlich lange genug studiert. Nein, nein, solange ich den Finger am Drücker habe, können Sie mir nichts anhaben, und das wissen Sie.«
Er hatte noch nicht richtig ausgesprochen, als Neidling zu kreischen begann: »Recht so, zeig’s Ihnen, mach sie fertig!« Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen. Zu Wolfs Erstaunen verzog Loske keine Miene – als wäre sein Komplize Luft für ihn.
»Ich werde Ihnen sagen, wie ich hier rauskomme«, fuhr Loske unbeirrt fort. »Sie, Herr Wolf, stellen mir einen Ihrer Wagen hier vors Haus. Und dann werde ich mir jemand aus Ihrem Team aussuchen, der mich begleitet … zum Beispiel Ihre hübsche Kollegin da.« Er deutete auf Jo. »Legen Sie ihr Handschellen an, und dann schicken Sie sie zu mir rüber, aber ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf.« Mit jedem Wort wurde seine Stimme schärfer.
»Warum jemand aus dem zweiten Glied, Loske?«, warf Wolf hastig ein, »warum nicht ich? Ich könnte für Sie viel nützlicher sein …«
»Quatschen Sie nicht rum, Wolf. Machen Sie einfach, was ich Ihnen sage.«
Als Wolf noch immer zögerte, wurde Loske plötzlich laut: »Wird’s bald oder brauchen Sie eine schriftliche Einladung? Ich glaube, Ihnen ist noch immer nicht klar, was hier eigentlich abläuft. Nur zur Erinnerung: Da unten in diesem verdammten See liegt genug Arsen, um den gesamten Großraum Stuttgart zu vergiften. Es kostet mich nur einen winzigen Druck auf diese Taste hier, um das Zeug freizusetzen, und niemand kann etwas dagegen tun – absolut niemand! Also bewegen Sie gefälligst Ihren gottverdammten Hintern und legen Sie Ihrer Kollegin die Handschellen an. Sollten Sie um ihre Gesundheit fürchten: Ich versichere Ihnen, Sie bekommen sie wohlbehalten zurück – mitsamt Ihrem Scheißauto.«
Da Wolf noch immer keine Anstalten machte, Loskes Aufforderung Folge zu leisten, ergriff Jo nun selbst die Initiative. Sie streckte dem neben ihr stehenden Kollegen beide Hände hin. Nach einem schnellen Seitenblick auf Wolf legte dieser ihr die Handschellen an. Ohne Furcht zu zeigen, ging Jo zu Loske hinüber. »Zufrieden?«, fragte sie ihn.
»Und jetzt den Wagen«, verlangte Loske.
»Steht direkt am Eingang«, gab Wolf Bescheid. »Hier, der Schlüssel.« In hohem Bogen warf er ihn Loske zu. Der machte jedoch keine Anstalten, ihn aufzufangen. Stattdessen schlich sich ein schmales Lächeln auf sein Gesicht.
»Nun enttäuschen Sie mich aber, Herr Wolf. Sie haben doch nicht angenommen, dass ich auf diesen Trick hereinfalle? Ts, ts, ts …« Mit einem Rippenstoß forderte er Jo auf, den Schlüssel aufzuheben.
Abermals ertönte Neidlings Stimme. »Wie lange sollen die mich hier noch festhalten …?«
»Halt die Klappe«, brachte Loske ihn brüsk zum Schweigen. »Jetzt alle da rüber«, befahl er scharf und winkte mit dem Handy die Polizisten in eine Ecke des Zimmers. Er gebrauchte das Gerät wie eine Waffe, was es in gewisser Weise ja auch war.
»So, und jetzt noch einmal langsam zum Mitschreiben, Herr Wolf: Morgen früh um sechs Uhr ist das Kreditkartenkonto wie gefordert gefüllt, richten Sie das gefälligst den Herren von der BWVG aus. Und kommen Sie mir ja nicht mit der läppischen Ausrede, die Bank könne an einem Sonntag nicht buchen.« Belustigt kichernd fügte er hinzu: »Würde keinen sonderlich guten Eindruck auf die Öffentlichkeit machen, wenn der Laden wegen lumpiger zehn Millionen die Hälfte seiner Kunden verliert, und zwar für immer.«
»Was hast du vor?«, begehrte Neidling noch einmal auf. »Wieso befiehlst du ihnen nicht, mich freizulassen? Wir sind doch Partner … oder etwa nicht?« Seine Stimme war zunehmend schriller geworden, er schien mit seinen Nerven am Ende.
Spöttisch sah Loske zu ihm hinüber. »Du überschätzt deine Rolle, Dicker. Du warst mir nützlich, ja. Mehr aber auch nicht.« Er wandte sich an Vögelein, der Neidling am Arm festhielt. »Passen Sie gut auf ihn auf, Sie werden ihn noch brauchen. Irgendwer muss Ihnen ja später die Zusammenhänge erklären. Ich bin sicher, mein ›Partner‹ wird diese Rolle gern übernehmen. Und nun ciao, meine Herren! Kommen Sie nicht auf die Idee, mich aufzuhalten. Vergessen Sie nicht: Ich bin in der stärkeren Position.« Noch während er sprach, bewegte sich Loske langsam rückwärts zur Tür, Jo an den Handschellen mit sich ziehend.
Reflexartig sah Wolf auf die Uhr. Es war achtzehn Uhr sechs.
Nur noch wenige Sekunden, und der Kopf der Erpresserbande wäre entschwunden. Wer hätte ihn jetzt noch aufhalten sollen? Loske hatte ja so recht: Mit dem Finger am Auslöser und Jo als Geisel war er unangreifbar.
Während Wolf noch fieberhaft nach einem Ausweg suchte, löste sich plötzlich ein unartikulierter Schrei aus Neidlings Kehle. Mit einer Geschmeidigkeit, die man ihm bei seiner Leibesfülle gar nicht zugetraut hätte, entwand er sich Vögeleins Griff – doch anstatt sich auf den Komplizen zu stürzen, fuhr seine Hand unter Vögeleins Jacke und zog dem völlig Überraschten die Dienstwaffe aus dem Holster. Noch ehe auch nur einer der Polizisten reagieren konnte, hatte er auf Loske angelegt und abgedrückt – zu spät hatte ihm Hindemith die Waffe nach unten geschlagen.
Im letzten Augenblick noch hatte Loske versucht, Jo wegzuschieben, um an seine eigene Waffe zu kommen. Jo hatte das Unheil kommen sehen, es hatte sich in Loskes Gesicht widergespiegelt. Heftig stieß Jo ihn vor die Brust und warf sich selbst zur Seite. Damit rettete sie vermutlich nicht nur sich, sondern auch ihm das Leben. Als Neidling abdrückte, drang das Projektil in Loskes rechte Brusthälfte und holte ihn endgültig von den Beinen.
Widerstandslos ließ sich Neidling anschließend entwaffnen, klickend schnappten die Handschellen zu. Während Wolf telefonisch den Notarzt rief, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich Jo und zwei weitere Leute um Loske bemühten. Loskes Handy lag neben ihm auf dem Boden. Nur dem traumatischen Schock war es zu verdanken, dass er die Zündung des Sprengsatzes nicht mehr hatte auslösen können – der Treffer hatte Loskes Körperfunktionen schlagartig lahmgelegt.
Endlich fiel eine zentnerschwere Last von Wolf, befreit atmete er auf.
Es war achtzehn Uhr sieben – und alles war vorüber.
* * *
Eigentlich hatte Wolf niemanden mehr sehen oder sprechen wollen, schließlich hatte die Verhaftung das Ende einer tagelangen, kräftezehrenden Jagd markiert. Nun zeigte ihm sein Körper seine Grenzen auf. War es ein Wunder? Er war dreiundsechzig, er hatte verdammt noch mal das Recht, müde zu sein. Noch so ein Showdown, und er würde endgültig den Dienst quittieren. Zumindest würde er seine Pensionierung ernstlich in Betracht ziehen.
Während er noch in sich hineinhorchte, öffneten sich plötzlich die Saaltüren und die Teilnehmer der Soiree ergossen sich über die Stufen ins Freie. Geschwätziges Plaudern löste die friedliche Abendstille ab. Wolf stand im Innenhof des festlich erleuchteten Deutschordenschlosses, einem der Wahrzeichen der Insel Mainau, und sah sich die Augen aus dem Kopf.
Und da tauchte sie auch schon auf, kam mit schnellen Schritten auf ihn zu, fast hätte Wolf sie nicht wiedererkannt.
Anders als sonst hatte Karin Winter diesmal auf Jeans und ein freches T-Shirt verzichtet. Zudem ließ sie die obligatorische Wildlederjacke mit dem lilafarbenen Seidenschal vermissen. Stattdessen präsentierte sie sich ihm im kleinen Schwarzen. Wolf wusste, warum: Bei der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger wurde streng auf die Kleiderordnung geachtet, da kannten die Veranstalter keinen Pardon – auch nicht bei einer Vertreterin der Presse.
»Steht Ihnen gut«, rief er ihr bereits von Weitem entgegen und nickte anerkennend. Er half ihr in den Mantel, und sie setzten sich in Bewegung.
»Bemühen Sie sich nicht, Herr Wolf. Ich komme mir in diesem schwarzen Dingsda immer wie verkleidet vor. Doch nun genug der Höflichkeiten, lassen Sie uns lieber über das reden, was Sie hierher geführt hat. Muss ja etwas äußerst Brisantes sein, was Sie an so einem Abend auf die Mainau führt. Obwohl …«, sie kicherte belustigt in sich hinein, »Sie sind nicht der Einzige, der in diesen Zeiten Opfer bringt, Herr Wolf: Ich lasse Ihretwegen sogar das Festbankett sausen. Ich hoffe, Sie wissen das Opfer zu schätzen.«
»Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«
»Aha, ich soll mal wieder einen Artikel für Sie lancieren«, stellte sie trocken fest. Sie musste gleich darauf lachen.
»Erst morgen, wenn’s recht ist.«
Sie war stehen geblieben, mit großen Augen sah sie hinter ihm her. »Heißt das, Sie haben den Fall gelöst? Sind die Täter gefasst?«
Kaum hatte Wolf genickt, hing sie an seinem Hals und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Stirn. »Entschuldigen Sie, aber das musste sein«, sagte sie und wurde rot dabei.
»Könnten wir das Weitere eventuell bei einem Happen besprechen?«, fragte er lächelnd und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich hab heute kaum was gegessen. Sie sind natürlich eingeladen.«
Karin hakte sich bei ihm unter, und sie setzten sich wieder in Bewegung. »Ist mir recht. Am Tisch kann ich mir wenigstens Notizen machen. Gehen wir in die Schwedenschenke, das sind nur ein paar Schritte.«
»Also, worum geht’s?«, fragte Karin begierig, als sie ihre Bestellung aufgegeben hatten.
»Um Gabriello und seinen Verein.«
»Haben Sie heute den Bericht im Fernsehen gesehen?« Als er sie nur fragend ansah, fuhr sie fort: »Verstehe, Sie waren anderweitig beschäftigt. Na, jedenfalls ist Gabriello ganz gut weggekommen dabei, hat sein messianisches Bemühen geschickt als Ausdruck echter Gottesfurcht verkauft. So was kann einfache Gemüter schon beeindrucken, die hören über kritische Untertöne des Moderators einfach hinweg.«
»Ganz genau, und mag der sich auch noch so ironisch über die Vergebung der Sünden bereits zu Lebzeiten auslassen …«, fügte Wolf hinzu.
»Nicht zu vergessen sein Versprechen auf ein ewiges Leben!«
»Auch das. Ein Grund mehr, solchen Leuten das Handwerk zu legen, wie ich finde. Noch verhängnisvoller ist aber etwas ganz anderes: Heaven’s Gate war für Loske und Neidling wie geschaffen, um gutgläubige Leute auszunehmen, sozusagen der ideale Nährboden. Man muss sich das mal reinziehen: Ausgerechnet eine Gruppe, die für sich in Anspruch nimmt, Menschen zu läutern und auf einen gottgefälligen Weg zu führen, gebiert solche Kreaturen!«
Die bestellten Getränke kamen und sorgten für eine kurze Unterbrechung. Danach unterbreitete Wolf der Journalistin seinen Plan, den diese mit dem lapidaren Satz kommentierte: »Wenn das klappt, dann schlagen wir Gabriello mit seinen eigenen Waffen.«
Wenig später wurde ihr Essen gebracht. Wolf hatte sich für das Hähnchenfilet mit einer Roqueforthaube und Zitronenreis entschieden, Karin für die Gemüseterrine mit Walnussbrot. »Aber bitte nur eine halbe Portion, schließlich will ich auch morgen noch in meine Klamotten passen«, hatte sie bei der Bestellung entschuldigend hinzugefügt.
»Schmeckt vorzüglich«, lobte Wolf zwischen zwei Bissen genießerisch. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich heute über eine schlichte Brotsuppe nicht anders geurteilt hätte – ausgehungert, wie ich war.«
Karin legte ihre Gabel aus der Hand. »Was ich immer noch nicht verstehe: Wieso mussten eigentlich diese drei Penner sterben?«
»Ganz einfach: Diese Wohnsitzlosen, wie man sie im Amtsdeutsch nennt, waren für Loske und Neidling zu einer ernsten Gefahr geworden. Denken Sie nur an Einstein und Havanna: zwei liebenswerte Alte, die Freundlichkeit in Person. Konnten im Grunde keiner Fliege was zuleide tun, so was kommt an bei älteren Damen, scheint irgendwie deren Beschützerinstinkte zu wecken. Wie mir Göbbels erzählte, hatten die beiden im Laufe der Zeit ein besonderes Geschick darin entwickelt, genau diese Klientel der Sekte zuzuführen. Und je betuchter die Damen waren, desto bereitwilliger wurden sie dort aufgenommen, ganz besonders, wenn es sich um alleinstehende Witwen handelte. Natürlich war das Engagement Einsteins und Havannas nicht ganz selbstlos. Loske honorierte ihre Bemühungen großzügig. Dass es Loske und Neidling von Beginn an nur auf den Nachlass der alten Damen abgesehen hatten, ist Einstein und Havanna zu spät aufgegangen. Erst nachdem eine der Verblichenen sie anstelle von Heaven’s Gate als Erben in ihrem Testament bedachte und Loske sie danach unter Druck setzte, auf das Geld zu verzichten, durchschauten sie das perfide Spiel. Als sie drohten, Loske und Neidling bei Gabriello anzuschwärzen, mussten sie aus dem Weg geräumt werden – schließlich hätte das das Ende einer kräftig sprudelnden Einnahmequelle bedeutet.«
Karin schob ihren leeren Teller zurück. Nachdenklich sah sie auf Wolf. »Und als Otto, der von Einstein und Havanna eingeweiht worden war, die Zusammenhänge ahnte und sich an die Polizei wandte, musste er ebenfalls sterben, stimmt’s?«
»So ist es. Die Täter hatten gehofft, dass man bei den Verstorbenen auf natürlichen Tod erkennen würde. Doch da haben sie die Rechnung ohne Dr. Reichmann gemacht. So kam eins zum anderen.«
Karin nickte. »Sie haben mit allen Mitteln versucht, die Morde zu verschleiern.«
»Zum Beispiel, indem sie Ihnen Angst einflößten. Auf diese Art wollte man Sie von der weiteren Berichterstattung abhalten.«
»Ich muss zugeben, das gruselige Auge in meiner Wohnung hat mir ganz schön zu schaffen gemacht.«
»Die Bande schreckte nicht einmal davor zurück, Polizeibeamte tätlich anzugreifen …«
»Wenn Sie schon auf den Zwischenfall in dem Bootshaus anspielen, bei dem Jo ausgeschaltet werden sollte: Wer war eigentlich der geheimnisvolle Helfer, der sie da rausgehauen hat?«
Wolf schmunzelte. »Derselbe, der mich in letzter Sekunde zum Startplatz der Drachenflieger lotste, bei dem Sie, verehrte Frau Winter, abserviert werden sollten: Göbbels.«
»Göbbels? Das ist doch der Anführer der Penner!«
Wolf lachte laut auf. »Sie irren sich, Göbbels war kein Penner, obwohl ich zugeben muss, dass er seine Rolle hervorragend gespielt hat. Er ist ein Kollege und heißt im richtigen Leben Hindemith. Er hat für das LKA in einem Drogenfall recherchiert, in den die Penner verwickelt gewesen sein sollen.«
Karin senkte den Kopf. »Immerhin haben sie es schlauer anfangen als ich … Ihr Mann hat das Schlamassel überlebt.«
Tröstend legte Wolf seine Hand auf ihren Arm. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Frau Winter. Ein solches Ende konnte wirklich niemand vorhersehen. Genauso wenig, wie vorherzusehen war, dass die ganzen Morde in Wirklichkeit nur das Vorspiel zu einer weitaus teuflischeren Tat darstellten.«
»Unter tatkräftiger Mitwirkung meiner Kollegin Monika Bächle …«
»Die übrigens, wie Neidling bei seiner ersten Vernehmung aussagte, Loskes Geliebte war.«
»Wundert mich überhaupt nicht, obwohl sie diese Liaison bis zuletzt geschickt unter der Decke hielt. Die muss dem Kerl regelrecht hörig gewesen sein. Matuschek fiel aus allen Wolken, als ihre Doppelrolle in dieser Sache aufgedeckt wurde … Au verdammt, da fällt mir ein, ich muss Matuschek anrufen, wenn unser Artikel morgen früh im ›Seekurier‹ stehen soll. Der wird sowieso die Nase rümpfen. Jetzt ist es bereits halb neun, spätestens um Mitternacht läuft die Rotationsmaschine an, und ich hab noch keine Zeile geschrieben. Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich geh mal eben telefonieren.«
Wolf machte sich wieder über sein Essen her, zu dem er vor lauter Reden kaum gekommen war. Kurz darauf kehrte Karin zurück. »Alles klar«, berichtete sie. »Wir haben einen zweispaltigen Einklinker auf der Titelseite und den Aufmacher für Seite drei. Wenn’s sein muss kriegen wir die ganze Seite, aber das werde ich nicht schaffen. Allerdings sieht’s mit Bildern schlecht aus, da finden wir bestenfalls was im Archiv. Übrigens, wenn Sie mich nach Überlingen mitnehmen, können Sie mir den Rest unterwegs erzählen.«
»Was ist mit Ihrem Wagen?«
»Kein Problem, den lasse ich morgen abholen.«
Wolf bezahlte, dann brachen sie auf. Sie hatten nicht weit zu laufen, Wolfs Dienstwagen stand gleich hinter der Schwedenschenke, ein Privileg, das er seinem Dienstausweis nebst ein paar guten Worten verdankte.
»Sagen Sie, wie sind Sie eigentlich auf die Sekte gestoßen?«, wunderte sich Karin auf dem Weg zu ihrem Wagen.
Wolf schilderte noch einmal in aller Kürze den Mordversuch Neidlings an Sammet, Neidlings anschließende Flucht und wie sie bei seiner Verfolgung mitten in die Messe der Heaven’s-Gate-Gemeinde geplatzt waren. Er schloss: »Offen gestanden war ich von Anfang an davon überzeugt, dass der Sektenchef nichts von den Vorgängen in seiner Gemeinschaft wusste.«
An dieser Stelle musste Wolf seine Erklärung unterbrechen. »Wir sind da«, sagte er. Sekunden später saßen sie im Wagen und traten die Heimfahrt an.
»Sie haben also die Kerle aus dem Verkehr gezogen. Erzählen Sie«, nahm Karin den Faden wieder auf, kaum dass sie die Insel hinter sich gelassen hatten.
Wolf ließ sich nicht lange bitten, zumal sie die Bande nicht zuletzt mit Karin Winters tatkräftiger Hilfe zur Strecke gebracht hatten. Das würde sogar die Staatsanwaltschaft tolerieren, falls sie von dem Kuhhandel zwischen ihm und der Journalistin erfuhr. Sommer hatte er ohnehin auf seiner Seite.
»Neidling war also das Bauernopfer«, rief Karin überrascht aus, als Wolf seine Ausführungen beendet hatte.
»Als ihm klar wurde, dass Loske sich allein absetzen wollte, noch dazu mit dem ganzen Zaster, da ist er ausgerastet. Hat sich eine Waffe gegriffen und Loske über den Haufen geknallt, noch ehe einer von uns einschreiten konnte.«
»Ich fass es nicht. Wie konnte das geschehen? Und wo hatte er die Waffe her?«
»Tja, da hat Hanno Vögelein nicht aufgepasst. Hatte seine Dienstwaffe ungesichert im Holster stecken. Schade, der Vorfall kostet das D1 einen guten Mann.« Als Karin ihn nur verständnislos ansah, fügte er erklärend hinzu: »Vögelein will sich versetzen lassen.«
»Deshalb?«
»Deshalb! Er möchte nicht zum Gespött der Kollegen werden, sagt er. Kann ich verstehen, passt zu seinem Naturell. Obwohl …«
»Obwohl?«
»Nun, genau genommen war er es, der den Fall durch seinen Lapsus überhaupt zu einem guten Ende brachte. Am Ende hat uns Neidlings Affekthandlung nicht nur Loske in die Hände gespielt und ganz nebenbei auch noch Jo befreit, sondern vor allem dafür gesorgt, dass Loske das Handy losließ, mit dem er das Arsen hochgehen lassen wollte.«
»Da sieht man mal wieder, wozu eine echte Männerfeindschaft gut sein kann. Was passiert eigentlich, wenn Loske die Ladung nicht freiwillig entschärft?«
»Er wird, glauben Sie mir. Eine Weigerung würde sein Strafmaß deutlich erhöhen, und daran kann ihm nicht gelegen sein.
»Ist er über ‘n Berg? Ich meine, wird er überleben?«
»Nach Aussage des Notarztes ja.«
»Wollen wir hoffen, dass Gabriello nicht so glimpflich davonkommt – als Sektenchef, meine ich.«
»Da vertraue ich auf die Kraft der Worte – Ihrer Worte, Frau Winter. Aber ich bin sicher, Sie werden die richtigen finden.«