»Skandal im Sperrbezirk«
Diese Nacht war für Hansi wieder einmal wenig erholsam. Dieses ungenießbare und furchtbar gesunde Pastinaken-Wirsing-Linsenpüree in Kombination mit dem Malzbier war eine elend schlechte Idee gewesen. Zu seinen Kieferschmerzen bekam er jetzt auch noch heftige Blähungen und musste die ganze Zeit unglaublich pupsen beziehungsweise schoasln , wie man auf gut bayerisch sagte. Aber wahrscheinlich war sein Magen-Darm-Trakt jetzt einfach auch total überrascht. Hansi konnte sich überhaupt nicht erinnern, wann er jemals solche Pastinaken gegessen hätte. Er hatte halt einfach einen geübten Presssack- und Lüngerl-Darm, das war somit wieder einmal eindeutig bewiesen. Und dem Malzbier hatte er eigentlich auch seit dem Filzer-Goldfest vor 38 Jahren abgeschworen, denn damals entdeckte er ein noch viel besseres Bier und hatte daraufhin die Sorte gewechselt. Seine Schmerzmittel ließen auch langsam nach und die Spekulationen über den heutigen Tag, mit sämtlichen neuen Erkenntnissen, taten ihr Übriges, um ihm den Schlaf zu rauben.
Wer war nur die stöhnende Langhaarige im dem Video und warum um alles in der Welt war da ein Film vom Brotzeitkammerl auf Monacos Computer? Vermutlich hatte der Heidecker die Bauhofmänner heimlich gefilmt? Aber warum?
Gleich morgen müsste er als Erstes ganz dringend in Indiras Computer noch mehr dieser Filme und Dateien anschauen. Und die Handydaten hatte er auch noch nicht zu Gesicht bekommen. Da würde man doch sicher viele Nachrichten lesen können, die der Monaco zu Lebzeiten an seine »Vollbusigen Britschen «, »Versauten Matzn «, »Kleine Flitscherln «, »Heißen Alten« oder auch seine »Scharfen Prinzessinnen« geschickt hatte. Das hatte Hansi damals schon immer brennend interessiert, wenn er wieder mal das Heidecker Mobiltelefon fiepen hörte. Apropos Prinzessin. Wie war das nochmal in dem ersten Film von vorhin? Hatte da der Monaco nicht etwas vom durchgeschüttelten Krönchen einer Prinzessin gestöhnt? Vermutlich war die Langhaarige in diesem Sex-Tape eben genau die »Scharfe Prinzessin«, mit der er auch via Handy recht viel Kontakt gehabt hatte. Wer konnte das nur sein? Diese Stimme ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und er wusste nicht warum.
Auch der Besuch des Bürgermeisters beschäftigte ihn nachhaltig. Warum hatten Wiggerl und er nur so eine angespannte Beziehung? War es wirklich wegen der Frau Bürgermeister? Wie hing das nur alles zusammen?
Am nächsten Tag war Hansi zwar unausgeschlafen, aber vollkommen motiviert, sich nochmal in Ruhe sämtliche Ordner der gehackten Monaco-Dateien einzuverleiben. Wenn jetzt dann gleich alle restlichen Scharnagls aus dem Haus wären, hätte er genug Zeit und wäre ungestört. Ein kleines morgendliches Familiendrama beim Frühstück durchkreuzte allerdings seine Pläne.
Der Stammhalter und dessen Mutter saßen gerade in der Küche, als Hansi völlig gerädert vom Schlafzimmer in das Erdgeschoss schlurfte. Die Mädels waren offenbar schon aus dem Haus, was Bettina wieder einmal nutzte, um auf ihren Sohn wie ein Wasserfall einzureden und seine Bedrücktheit der letzten Wochen zu ergründen.
»Hansi, jetzt sei halt nicht so stur. Red halt mir mit. Ich helf dir doch! Ich bin doch deine Mutter. Es gibt auf jeden Fall etwas, was hier nicht stimmt. Das fühle ich doch schon so lange. Herrschaftszeiten noch a mal, sag's mir halt gleich, irgendwann werd ich's sowieso rausfinden … du bist ja noch bockiger als dein Vater …« Sie schien allerdings langsam die Geduld zu verlieren.
Der Junior tat dem Senior schon im Treppenhaus leid, als dieser hörte, wie unerbittlich die fürsorgliche Mutter auf den Sohn einredete. Bettina gab dann einfach keine Ruhe mehr, wenn sie an irgendetwas dran war, das kannte Hansi aus seiner mehr als 25-jährigen Ehe nur zu gut. Da war Frau Scharnagl wie ein kleiner Wadlbeißer.
Der Herr des Hauses setzte sich nach Ankunft in der Küche schweigend mit einer heißen Tasse Milchkaffee ebenfalls an den Tisch und wollte sich das Drama vorerst einmal als Unbeteiligter ansehen. Dies war aber leider nicht möglich, denn er wurde sofort ungewollt in die Szenerie mit einbezogen. Bettina packte nämlich sofort seinen wohlduftenden Kaffeebecher, den Hansi vor einer halben Sekunde vor sich abgestellt hatte und tauschte ihn wortlos gegen einen frisch aufgebrühten Kräutertee. Diese Handlung fand der Patient aber absolut nicht in Ordnung, was er auch verbal zum Ausdruck brachte: »Was soll jetzt das werden?«
»SCHONKOST, Hansi! Mehr muss ich ja nicht sagen, oder? Da gehört selbstverständlich Kaffeeverzicht auch dazu. Außerdem ist Kaffee sowieso nicht gut, wenn man so viele Schmerzmittel nimmt, wie du im Moment. Denk an dein Herz!«
Hansi überlegte ein paar Sekunden und entschloss sich, aufgrund dieser unmöglichen Bevormundung ab sofort grantig zu sein. Das Fass zum Überlaufen brachte dann jedoch noch eine Schüssel Haferschleim, die ihm vor die Nase gesetzt wurde. Das sollte sein Frühstück sein? Wo war seine geliebte Streichwurstsemmel? Die könnte man ja auch wunderbar abschlecken.
Geh hau doch ab! Das schaut aus, als hätt' das schon a mal jemand gegessen. Ja Pfui Deife!
»Weißt' was, Bettina? Manchmal gehst du mir wirklich auf die Nerven! Ich bin ja kein Kindergartenkind, du hast schon drei Kinder … reicht dir das vielleicht nicht? Und übrigens, wenn unser Bub dir was erzählen will, dann tut er das bestimmt. Und wenn er nix sagt, dann sagt er nix. Er ist alt genug und ein Mann, wir reden halt nur, wenn’s wichtig ist«, platzte es aus ihm heraus.
Der Junior sendete seinem Vater einen dankbaren Blick über den Tisch, was aber natürlich von Mata Hari-Scharnagl nicht unbemerkt blieb.
»Hansi! DU, weißt was? Ich glaub's ja nicht. Ihm erzählst du, was los ist, und mir nicht? Ha! Sag a mal … ich will jetzt sofort wissen, was hier gespielt wird!«, zischte Bettina ihre beiden Männer an.
Der Ältere davon erinnerte sich in diesem Moment, dass er seiner Frau diese Neuigkeiten ja tatsächlich schon erzählt hatte. Aber Bettina hatte dies vorgestern ganz offenbar nicht ernst genommen und tatsächlich hatte auch Hansi diese Sensationsnachrichten, die er bei nicht ganz klarem Verstand erfahren hatte, schlicht und einfach vergessen. Vor lauter Schmerzen und Trauer über sein eigenes Schonkost-Schicksal waren die Probleme seines Sohnes leider etwas in den Hintergrund gerückt, was er in diesem Moment beschämt und erschrocken feststellen musste.
»Kann ich es ihr erzählen? Das wird sie aber jetzt schon umhauen …«, sprach er mit solidarischem Tonfall hinüber zu seinem Sohn und zwinkerte ihm zu. Dies war jedoch ein taktischer Fehler, wie sich gleich herausstellen sollte.
»Ach, macht‘s doch, was ihr wollt! Ihr nehmt mich sowieso nicht ernst. Immer zieht der Papa alles ins Lächerliche. Ich muss jetzt zur Arbeit, außerdem komm ich ohne euch eh besser klar«, platzte es wütend aus dem Scharnagl-Spross heraus. Er sprang auf und stapfte mit hochrotem Kopf zur Haustür hinaus.
»HANSI! Sag jetzt sofort, was der Bub hat! Siehst du denn nicht, wie verzweifelt der ist. Wir müssen ihm helfen. Aber dazu muss ICH JETZT SOFORT wissen, was los ist!« Bettina sprang auf, beugte sich über den Tisch zu Hansi und sah ihn wütend an. Er konnte ihren Atem fühlen und das war erfahrungsgemäß ein deutliches Zeichen, dass die Löwenmutter ab sofort kein Erbarmen mehr kannte.
»Ich hab's dir eh schon gesagt. Vorgestern. Er hat eine Bank überfallen und du wirst Oma.«
Nachdem Hansi diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm erst das gesamte Ausmaß dieses Dramas vollumfänglich bewusst, darum schob er noch ein leises und schockiertes »Hundsdreck verdammter« hinterher. Bettina ließ sich vor lauter Schreck wieder auf ihren Stuhl plumpsen und sagte erst einmal gar nichts.
»Wie? Eine Bank überfallen? Wo soll der denn eine Bank überfallen haben? In Unterfilzbach? Das wäre doch in der Zeitung gestanden«, stotterte Mama Scharnagl nach ein paar Minuten mit Tränen in den Augen.
»Stimmt, das hätten wir eigentlich mitbekommen …«, flüsterte Hansi und blickte ebenfalls niedergeschlagen ins Leere.
Ein oder zwei Minuten später kehrte erneut fassungslose Stille in der Scharnaglschen Küche ein, die aber schon bald darauf Bettinas erwachendem Aktionismus weichen musste. Sie holte ihr Handy heraus und wischte darauf herum.
Mit hochrotem Kopf durchsuchte sie wahrscheinlich das komplette Internet nach Meldungen von Banküberfällen. Jedoch fand sich absolut nichts, was auch nur annähernd im Raum Niederbayern passiert war oder sich im Zeitraum der letzten Wochen ereignet hatte.
Diese Informationslosigkeit brachte Frau Scharnagl nun erst recht auf 180 und sie sprang plötzlich wild entschlossen auf.
»Geh weiter, wir fahren jetzt auf die Baustelle zum Hansi. Das können wir ja jetzt nicht einfach so aussitzen! Wir müssen was tun!«
Keine zwei Minuten später saßen die Scharnagls auch schon im japanischen Kleinwagen und Hansi klammerte sich mit aller Gewalt und beiden Händen verängstigt an den oberen Haltegriff der Beifahrerseite. Seine Frau preschte durch das Dorf, als wäre ein ganzer Mafia-Clan hinter ihnen her. Sie raste über die Landstraße, bis sie kurz darauf in Rekordzeit in Fichtenberg auf der Baustelle ankamen, auf der ihr Sohn momentan mit seinem Arbeitgeber Elektro Garhammer stationiert war.
Es musste ein wirklich lustiges Bild abgegeben haben, als Bettina wie das SEK höchstselbst auf die Baustelle gebrettert kam und es sicher gut 30 Sekunden gedauert hatte, bis sich der aufgewirbelte Staub wieder gelegt hatte. Natürlich sorgte diese spektakuläre Ankunft des winzigen, roten Flitzers für ordentlich Aufsehen. Sämtliche Baustellengewerke vom Schreiner bist zum Installateur, standen neugierig an den Fensteröffnungen des Rohbaus und wollten natürlich wissen, was hier jetzt gleich passieren würde.
Und dann standen dort die Scharnagls. Bettina war noch in ihre Daheim-Wohlfühlhose in Zebraoptik gekleidet und auch Hansi trug ein lockeres Homie-Outfit mit Streichwurstflecken und prunkvoller »Kopf-Nasen-Kappe« auf seinem Haupt als Highlight.
»Scharnagl! Fia di!«, schrie Tom, der Elektro-Garhammer-Vorarbeiter in das Innere des Rohbaus hinein und lächelte die eingetroffenen Unterfilzbacher amüsiert an.
»Servus, Bettina. Servus, Hansi«, sprach er belustigt, während er eine mordsgroße, hölzerne Kabeltrommel an ihnen vorbeirollte.
Das Scharnagl-Sorgenkind schlich kurz darauf mit gesenktem, hochrotem Kopf heraus und zischte seinen Eltern im Vorbeigehen nur scharf zu: »Ihr seid‘s so unglaublich peinlich! Hat's das jetzt wirklich gebraucht?« Mit einer kurzen Kopfbewegung signalisierte er ihnen, ihm zu folgen. Der Junior setzte sich in Bettinas Auto und wartete darauf, dass sich »seine Alten« ebenfalls zu ihm gesellten.
»Es tut mir leid, mein Bub … ehrlich. Aber es hilft ja nix! Sag uns jetzt sofort, was genau passiert ist. Dann können wir überlegen, was wir tun können. Es gibt für alles eine Lösung, mein Hase …«, fing Bettina sofort wieder an, auf ihn einzureden.
»Mei, Mama … bitte sag halt nicht immer Hase zu mir. Ich bin 20 und erwachsen. Ich komm schon klar. Das passt schon. Ich regle meine Sachen schon selbst«, stotterte der Bub.
»Wir helfen dir! Dafür sind wir doch da. Wir Scharnagls halten doch zusammen!«, ermunterte die Mutter ihren Sohn nochmals, nun Klartext zu reden. »Ich hab im ganzen Internet nirgendwo was über einen Banküberfall gefunden. Ist das vielleicht noch gar keinem aufgefallen? Das wär ja super, weil dann wär's ja jetzt noch Zeit, sich zu stellen. Hast du schon a mal überlegt, dass du dafür ins Gefängnis kommst? Gib deine Beute zurück, dann wird’s nicht so schlimm werden …«, fügte sie noch hinzu und starrte ihn sorgenvoll an.
»Welche Beute?«, entgegnete der Junior nun leicht verwundert.
»Na, die vom Banküberfall. War's a Sparkasse oder die Raiffeisen oder die Hypo. Jetzt red halt!«, sprach Hansi Senior aufgeregt.
»Ha? Wie kommt's denn jetzt auf eine Sparkasse? Es war doch eine Samenbank, und …«, fing der Stammhalter nun endlich an zu erklären. In Kurzform informierte er die Insassen des Fahrzeugs, was passiert war, dabei war große Verzweiflung in seiner Stimme zu hören und der deprimierte Junior vergoss sogar ein paar Tränen. Diese ganze pikante Angelegenheit machte ihm offenbar sehr zu schaffen. Allerdings konnte man ihm bei jedem ausgesprochenen Wort sehr deutlich seine immer größer werdende Befreiung ansehen. Mit einem hörbaren Seufzer ließen sich seine Eltern daraufhin erleichtert in die Autositze zurückfallen.
»Gott sei Dank!«, seufzte der Vater.
Erleichtert und aufgewühlt zugleich fuhren die Scharnagls wieder Richtung Unterfilzbach zurück. Jedoch raste Bettina abermals mit demselben Tempo und derselben rasanten Fahrweise über die Landstraßen des Bayerischen Waldes, die sie schon auf dem Hinweg an den Tag gelegt hatte. Diesmal war dieser brachiale Fahrstil damit begründet, dass sie eigentlich schon vor einer halben Stunde ihren Dienst an der Supermarktkasse hätte antreten sollen.
Fix und fertig und sichtlich von diesem zweifachen Höllenritt und den dramatischen Szenen dazwischen gezeichnet, stieg Hansi daheim aus dem Auto und schleppte sich erst einmal auf seine geliebte Hausbank, um nach der ganzen Aufregung kurz durchzuatmen. Was für ein Tag! Und es war noch nicht einmal halb zehn. Bettina hatte sich ohne weitere Kommunikation sofort umgezogen und wie ein geölter Blitz auf den Weg zur KaufGut-Supermarktkasse gemacht, somit hatte Hansi ab sofort sturmfrei. Endlich konnte er sein morgendliches Vorhaben in die Tat umsetzen. Vorher wollte er noch etwas die Ruhe genießen, schließlich war er krankgeschrieben, da sollte er sich ja auch wirklich erholen und nicht von einem Psychothriller in den nächsten schlittern.
Aber auch diese Entspannungsphase währte nur kurz, denn gleich darauf fiepte sein Handy: Eine Sprachnachricht war eingetrudelt. Um diese dann auch hörbar abspielen zu können, brauchte Hansi leider wieder mal etwas länger, obwohl er selber seine Neugierde kaum im Zaum halten konnte. Manchmal stand er sich einfach selber im Weg, denn wenn er aufgeregt war, klappte das ganze Technik-Glump noch weniger als im Normalzustand.
Mein lieber Hansi! Ich hoffe, es geht dir schon besser und deine Verletzungen heilen. Wie gerne würde ich deine wunde Wange streicheln und dich gesund pflegen. Sobald du wieder kannst, müssen wir uns dringend sehen. Ich bin sehr verzweifelt und habe wirklich große Angst, dass bald ein Unglück geschehen könnte. Leider gibt es nicht viele Menschen, denen ich noch vertraue, aber ich denke wirklich, ich bin in großer Gefahr. Aber wer, wenn nicht du, könnte mir helfen? Du bist doch mein Held und meine starke Schulter. Es war eindeutig Schicksal, dass wir uns getroffen haben, daran glaube ich ganz fest. Denn bei dir fühle ich mich beschützt, du bist mein Seelenverwandter. Wir sind füreinander bestimmt, das fühle ich ganz deutlich. Und jetzt genau brauch ich deinen Schutz ganz dringend. Du musst mich aus dieser Ehe-Hölle befreien! Dann können wir das Leben und unsere Liebe endlich frei genießen … Ruf mich zurück oder schreib mir. Kuss, deine Ella.
Hansi musste sich diese Sätze sage und schreibe sechsmal anhören, um zu verstehen, was denn nun die eigentliche Botschaft war. Dabei stellte er mit stolzgeschwellter Brust fest, dass er nun langsam tatsächlich wusste, was er mit seinem Handy anstellen musste, um die Nachrichten auch deutlich hören zu können. Nach der letzten Wiedergabe dieser theatralisch geschluchzten Nachricht lehnte er sich zurück und überlegte.
Also langsam spinnt die aber schon, diese damische Durl! Wer sagt denn, dass ich mit ihr »unsere Liebe« teilen mag? Was heißt hier überhaupt »unsere Liebe« und »wir wären füreinander bestimmt«? Ich hab doch mein Zuckerschoasal! Ich glaub, das muss ich der gspinnerten Baronin jetzt dann langsam a mal sagen, auch wenn es ihr bestimmt das Herz brechen wird. Und dann …
Mitten in seinem Denkprozess hatte er plötzlich wieder einen Geistesblitz. Jetzt wusste er es!
Er eilte in den Keller und setzte sich an Indiras Laptop, der zum Glück noch offen dastand und ohne großartiges Passwort-Primbamborium sofort machte, was er wollte.
Ha! Ich bin fast schon so gut wie ein richtiger Informatiker!, dachte er stolz.
Auch das Fenster mit dem gestrigen »Schnackslvideo« war noch geöffnet. Hochkonzentriert schaffte Hansi heute sogar auf Anhieb einen Doppelklick und fühlte sich unheimlich gut dabei.
»Wann können wir das Leben und unsere Liebe endlich frei genießen?« , hörte er die langhaarige Dame im Video immer wieder zu Monaco sagen. Derselbe Satz, den er auch gerade von seinem Handy vorgespielt bekam. Die lüsterne Prinzessin mit »durchgeschütteltem Krönchen« im nächtlichen Sex-Tape war keine Geringere als Freifrau Baronin Ella von Bieberstein. Er wusste sofort, dass ihm diese Stimme bekannt vorgekommen war.
Hansi war zwar immer schon naiv gewesen, aber sogar ihm leuchtete nun recht schnell ein, dass die gute Freifrau offenbar doch nicht so unsterblich in ihn verliebt war, wie er anfangs dachte. Zwar fühlte er nach dieser Erkenntnis schätzungsweise eineinhalb Minuten durchaus schmerzhaften Liebeskummer, aber davon erholte sich die niederbayerische Frohnatur recht bald wieder.
»Ja schau dir das kleine Flitscherl an! Die macht das anscheinend mit allen Männern so … mit jedem will sie gleich ihr Leben verbringen, dabei haben wir ja nicht einmal was miteinander gehabt. Die spinnt!«, sprach Hansi in seiner Kellerwerkstatt zu sich selber kopfschüttelnd und versuchte fieberhaft noch weitere Dateien aus Monacos Filmsammlung zu öffnen. Auch der nächste Doppelklick gelang ihm wunderbar. Wenn das so weiterginge, würde er noch zum Unterfilzbacher Steve Jobs mutieren.
Wiederum öffnete sich ein recht schlüpfriges Filmchen. Dabei fühlte er sich fast ein wenig wie damals, als er knietief pubertierend gemeinsam mit seinem Spezl dem Huber Michl, immer heimlich auf dem VHS-Videokassettenrecorder vom alten Huberbauern den bayerischen Softpornoklassiker »Das Glöcklein unterm Himmelbett« angeschaut hatte. Diese Version, die er gerade vor sich auf Indiras Laptop betrachtete, war so etwas wie ein Remake oder eine Reality-Verfilmung davon. Erneut war die lüsterne Baronin darin zu sehen, wie sie sich freizügig mit Monaco vergnügte. Diesmal war die Umgebung jedoch eindeutig zu erkennen, es war alles bis auf die kleinste Hautfalte wunderbar ausgeleuchtet, was ihm zeitweise die Schamesröte ins Gesicht trieb. Offenbar spielten sich diese pikanten Szenen im herrschaftlichen Jacuzzi auf dem Gutshof Bieberstein ab, denn obwohl er niemals das dortige Badezimmer betreten hatte, so erkannte Hansi sofort den Stil des prunkvollen Interieurs und auch Ellas roten Bademantel, den sie bei ihrem ersten Zusammentreffen bei seinem Vorstellungsgespräch auf dem Gut trug und aus dem sie sich auch hier filmreif schälte.
»Komm schon, mein Hengst, sag mir, wie du ihn auslöschen wirst. Du machst es doch, oder? Tu's für uns, mein Liebling … mach's bald, ich kann nicht mehr lange warten …«, säuselte sie, während sich »der Hengst« seinen fantasievollen Kosenamen gerade wieder einmal zu verdienen schien. Allerdings törnte ihn dieses Gesprächsthema offenbar nicht besonders an, denn er stöhnte nur recht schroff: »Mei Ella, nicht schon wieder! Jetzt hör halt auf damit, wir sind grad beim Schnacksln …«
Aber auch die Baronin konnte offenbar penetrant sein – sogar während der Penetration. »Moritz, mein Schöner … stell dir doch unser Leben vor, wie es sein könnte, wenn ich eine reiche Witwe wäre. Wir würden in Saus und Braus leben und alles in vollen Zügen genießen. Dolce Vita, Sonne, Meer, Strand, schöne Autos und keine Sorgen mehr. Dir fällt schon was ein, wie du den Hubsi aus dem Weg räumen kannst und dann wartet ein süßes Leben auf dich, mein Hengst«, säuselte sie und versuchte ihn nicht nur mit Worten, sondern auch mit vollem Körpereinsatz zu überzeugen.
Hansi ging ein Licht auf! Die freche Ella wollte einfach einen Gespielen manipulieren, um ihren wohlhabenden Ehemann ums Eck zu bringen. Dann wäre sie die Alleinerbin gewesen. Höchstwahrscheinlich würde sie mit einer Scheidung nicht so einen lukrativen Deal machen. Mit Monaco war aber dieses tollkühne Vorhaben, eine reiche Witwe zu werden, ja schon mal gescheitert. Hätte Hansi nun sogar ihr nächstes »Opfer« werden sollen? Hätte sie ihn so lange umgarnt, bis er ihr verfallen gewesen wäre und ihn dann dazu getrieben, den nichtsahnenden Hubsi umzubringen?
Scharnagl wurde ganz schlecht. Gott sei dank war er glücklich verheiratet und weit davon entfernt, auf die manipulative Baronin hereinzufallen, obwohl sie schon einige ihrer Reize eingesetzt hatte, um ihn einzufangen. Wer weiß, welche Geschütze sie noch aufgefahren hätte. Aber diese neuerliche Entdeckung zeigte auf jeden Fall, dass sie ein durchtriebenes Luder war. Wäre sie denn auch fähig, selber einen Menschen umzubringen? Aber warum hätte sie den Monaco umbringen sollen? Er wäre ja ganz klar ein Teil ihres Plans gewesen. Oder sollte Hansi hier vielleicht andersherum denken? Wie man auf gut bayerisch sagen würden: In aschlen , also Arschlinks.
Was wäre denn, wenn Hubsi von diesen Plänen erfahren hätte? Wäre ER fähig, Monaco abzustechen? Welche Schuhe trug eigentlich Hubsi immer? Hansi musste sich dringend näher mit den Schuhsohlen seiner Mitbürger beschäftigen. Er konzentrierte sich so sehr, dass er gleich ein wenig Kopfschmerzen davon bekam, aber das half jetzt alles nichts, die Detektivarbeit war auch Kopfsache. Wie hatte die Mörder-Schuhsohle in seinem Flashback nochmal ausgesehen? Dunkel? Auf jeden Fall dunkel. Ob sie flach oder ein Stöckelschuh gewesen war, konnte er aber gerade im Moment nicht sagen.
Der Hobbydetektiv hielt für sich gedanklich fest, dass die Biebersteins ab sofort auf jeden Fall im sehr engen Kreis der Hochverdächtigen waren.
Das gelbe Kästchen, das aussah wie eine kleine Aktentasche und darunter den Titel »BH« trug, stach ihm auf dem Bildschirm wieder ins Auge. Nach einem erneuten hervorragenden Parade-Doppelklick öffnete sich ein Dateiverzeichnis mit gut und gerne 50 Unterordnern. Wieder drückte er wild auf der rechten Maustaste umher, bis sich ein neues Fenster auf dem Laptop auftat. Dieses Mal war es allerdings zur Abwechslung einmal kein Film.
Hansi sah zu seiner großen Überraschung nun eine Tabelle vor sich aufploppen. Schnell bemerkte er, dass alle Namen seiner ehemaligen Bauhofkollegen in den Zeilen auf der linken Seite aufgeführt waren. Wiggerl, Reinhard, Martin und auch alle anderen standen dort, jeder war dabei. Hansi las auch seinen Namen. Einer fehlte jedoch! Von einer Moritz- oder Monaco-Zeile war weit und breit nichts zu lesen.
In den Spalten, die sich ziemlich weit nach links ausdehnten, waren bei den jeweiligen Kollegen Zahlen eingetragen. Als Bezeichnungen der Spalten las Scharnagl beispielsweise: »Zu spät gekommen«, »Morgenkaffee nach Dienstantritt«, Brotzeitsemmeln, Feierabendhalbe, Klopausen, Ratschzeiten und noch einige andere Rubriken. Darunter sah Hansi noch eine kleine Anmerkung: Alle Zeitangaben in Minuten, Ausnahme Feierabendhalbe und Brotzeitsemmeln.
Als Titel trug diese interessante Übersicht den Namen: April.
Ja mi leckst am Arsch. Was soll jetzt das sein? , überlegte Hansi angestrengt.
Je länger er spekulierte, desto klarer wurde Sherlock Scharnagl, dass der akribische Monaco ganz offensichtlich seine Kollegen ausspioniert und alles haarklein dokumentiert hatte. Dass der Heidecker so ein Tipferlscheißer war, hätte Hansi ihm gar nicht zugetraut. Andererseits hatte der Niederbayernplayboy ja aber anscheinend auch alle seine Gspusis gefilmt. Bestimmt wollte er sich einfach ein paar Beweise sichern. Wer weiß, wozu er diese ganzen »Schnackslvideos« irgendwann noch hätte brauchen können. Da hätte man sicher allerhand erpressen können. Oder hatte er diese Filmchen sogar bereits zu Geld gemacht? Blöderweise war ihm dann aber ein Schraubenzieher dazwischen gekommen. Es könnte aber natürlich wirklich sein, dass er die eine oder andere der befriedigten Damen um einige Euros erleichtert hatte? Reichte das auch für ein Mordmotiv?
Ja so eine Kameradensau! , ärgerte sich Hansi innerlich, als er sich wieder auf die Tabelle »April« konzentrierte.
Das ist also der Grund, warum der Wiggerl so grantig ist. Aber wart a mal … der Wiggerl ist ja auf den Bürgermeister grantig. Den Monaco hatte er ja immer in den Himmel gelobt. Eigentlich waren sie ja beide immer Feuer und Flamme für den gschleckigen Heidecker. Der Hackl und auch der Brunner …
Das passte alles noch nicht so ganz zusammen. Oder hatte das doch eine Verbindung, die Hansi jetzt nur noch nicht gefunden hatte?
Beim Anstarren der Tabelle musste Hansi jedoch auch das eine oder andere Mal schmunzeln. Der Wiggerl war nämlich in ziemlich vielen Spalten der Spitzenreiter. Seine »Klominuten« waren schon beachtlich. Kurz überlegte Scharnagl, ob der Bauhof-Kapo im April wieder einmal eine seiner berühmt-berüchtigten Sauerkrautdiäten gemacht hatte, die diese Stunden auf dem Klo begründen könnte. Martin war hingegen der Champion im Zuspätkommen, aber das wusste sowieso jeder in der Bauhofmannschaft, dazu hätte jetzt keiner eine Statistik gebraucht. Das lag aber einfach an seinem Schrottkarren, der regelmäßig mitten auf der Straße stehenblieb. Ansonsten war der Martin ein recht fleißiger Kollege und so gut wie gar nie am Klo, rein statistisch gesehen. Wahrscheinlich war er ein Heimscheißer , überlegte Hansi kurz.
Bei den Feierabendhalben war es bei den Bauhofmännern recht ausgeglichen, da hatten sie alle einen guten »Fünfzehnerschnitt«. Wenn man von durchschnittlich 19 Arbeitstagen im April ausging, war das durchaus vertretbar. Bei den Ratschpausen und auch den Brotzeitsemmeln gab es jedoch einen, der uneinholbar an der Spitze stand. Es war derselbe, der auch in der »Klospalte« eindeutig führte. Wiggerl, alias Ludwig Hackl. Nicht ohne Stolz bemerkte Hansi, dass er selber ganz offensichtlich einer der Fleißigsten im Team gewesen war. Der Ex-Bauhofmitarbeiter hatte bei den erledigten Aufträgen die Nase weit vorn und kam tatsächlich null Minuten zu spät.
Ich hab's immer schon gewusst!, schmunzelte er in sich hinein.
Mit diesem zufriedenen Gefühl begab er sich wieder in das Obergeschoss und beschloss, sich für heute einfach nur noch seiner Erholung hinzugeben. Noch immer schmerzte sein gesamter Kopf- und Kieferbereich, vor allem nach so einer anstrengenden Hirnarbeit. Außerdem wollte er so schnell wie möglich diese verhasste »Kopf-Kinn-Kappe« loswerden. Ohne Arbeit war Hansi einfach nicht er selbst. Gut, dass er kein Millionär war und nicht den ganzen Tag irgendwo sinnlos wellnessen oder chillen musste. Auch wenn er nun noch mehr Sehnsucht nach seinem geliebten Bauhof bekam, freute er sich, bald wieder mit seinen Bierfahrerkollegen über den »Bierfunk« schweinische Witze zu erzählen und zu ratschen. So ein Arbeitsalltag ist wirklich etwas Schönes, stellte er fest.
Aber auch im Liegestuhl auf der Terrasse ging ihm der ganze Heidecker-Fall noch immer nicht aus dem Kopf und er durchdachte nochmals alle Hinweise und Indizien, die ihm bisher bekannt waren. Gott sei Dank fand bald auch endlich der Reihengentest zum »Doahodern« im Bierzelt statt. Wer weiß, welche Damen dann noch zusätzlich in seinen Fokus rücken würden. Sherlock Scharnagl hoffte inständig, dass sich damit dieses Chaos der vielen Verdächtigen bald ein wenig ordnen würde.
Nach einigen Stunden auf der sonnigen Terrasse, einer lebhaften Tiefschlafphase mit Träumen von blutigen Schraubenziehern, Schuhsohlen und halbnackten Prinzessinnen erwachte der Hobbydetektiv erst am späten Nachmittag wieder. Er hatte sofort ein Spannungsgefühl im Gesicht und befürchtete schon, dass seine Wange nochmals angeschwollen war, vermutlich war seine Liegeposition nicht förderlich für den Blutfluss der Schwellung gewesen. Seine sturmfreie Zeit war nun auch vorbei, denn langsam trudelten alle restlichen Scharnagls wieder zu Hause ein. Isabelle war die Erste, die Hansi auf der Terrasse begrüßte.
»Servus, Papa. Na? Hast' dich a bisserl ausruhen können?«, fragte sie fürsorglich, bevor sie sofort in schallendes Gelächter ausbrach.
»Was lachst jetzt so?«, wollte ihr Vater natürlich wissen, während er sich streckte und trotz Gummibändern rund um seinen Kopf zu gähnen versuchte.
»Papa, hast du schon a mal in den Spiegel geschaut? Und eventuell nimmst dann a mal dein komisches Kopf-Kinn-Gummiteil ab … bist du vielleicht im Liegestuhl eingeschlafen?«, grölte die Erstgeborene.
Hansi eilte ins Badezimmer und war entsetzt, als er sein Spiegelbild betrachtete. In seinem gesamten Antlitz war seine zarte Haut feuerrot und brannte wie die Sau. Er hatte sich einen mords Sonnenbrand eingefangen und nicht einmal etwas gemerkt, so tief hatte er geschlafen. Das war an sich schon keine schöne Sache, aber nachdem er die breiten Gummibänder seiner »Kopf-Kinn-Kappe« so vorsichtig wie möglich zur Seite geschoben hatte, stellte er erschrocken fest, dass dieses therapeutische Behandlungsaccessoire wohl nun auch nachhaltig längerfristige Spuren in seinem Gesicht hinterlassen würde. Denn neben der feuerroten Haut, die irgendwann hoffentlich einmal braun werden würde, sah man nun deutliche käsig weiße Streifen und Stellen, eben genau an den Positionen, die beim Sonnenbad mit den Gummibändern und der Plastikkappe bedeckt waren. »Hundsdreck verreckter!«, schimpfte Scharnagl.
Isabelle, die ihm ins Bad gefolgt war, konnte sich noch immer nicht beruhigen und lachten ihren armen Vater mit Tränen in den Augen aus.
»Papa, du bist aber wirklich a richtiger Dotsch . Ich mein … so tollpatschig wie du kann man doch eigentlich gar nicht sein. Manchmal tust mir direkt a bisserl leid. Geh weiter, schmieren wir gleich an Quark drauf, dann wird der Sonnenbrand nicht so schlimm. Das hat die Mama bei uns Kindern auch immer gemacht«, schmunzelte die älteste Tochter.
Vater und Tochter waren inmitten der kühlenden Milcherzeugnis-Gesichtsbehandlung, als Isabelle gerade etwas einfiel.
»Was ist eigentlich mit unserem kleinen Hansi los? Die Mama hat heute in der Früh angerufen und so komisch dahergeredet, von einem Banküberfall und ob ich wüsste, ob die Sparkasse ausgeraubt worden wär. Geht’s ihr schon gut? Da hab ich mir direkt Sorgen gemacht, nicht dass sie einen Nervenzusammenbruch gehabt hat?«
»Nein, ihr geht’s gut. Jetzt halt wieder … dein Bruder hat uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Hast du davon was gewusst?«
»Wovon?«
»Na, dass er eine Bank … also ich mein, eine Samenbank überfallen hat«, sprach Hansi und hörte sich absolut banal dabei an, obwohl solche Vorkommnisse sogar bei den Scharnagls nicht an der Tagesordnung waren. Mehr Gesichtsmotorik war aber leider nicht möglich, er konnte nun ab sofort im Gesicht überhaupt nichts mehr ohne Schmerzen bewegen. Der Kiefer und die Wange waren noch immer absolut empfindlich und die verbrannte Haut drumherum machte die ganze Sache nicht besser, eher im Gegenteil. Insofern war auch in seiner Stimme keine Gefühlsregung mehr zu hören. So mussten sich also Frauen nach einer Botox-Behandlung fühlen.
»Geh, hör doch auf, Papa! Was soll er haben? Also, in meiner Familie hat doch wirklich echt jeder einen Vogel. Das glaubt mir kein Mensch, wenn ich das einem Nicht-Unterfilzbacher erzähle …«, sprach die Starfriseuse, als sie sich den restlichen Quark von den Händen wusch.
In diesem Moment trudelte auch das Nesthäkchen ein und bekam ebenfalls einen Lachanfall, als sie ihren Vater in der Küche sitzen sah. Inzwischen war sein Gesicht über und über mit Quark garniert und er sah sie gequält an. Isabelle informierte sie über das misslungene Sonnenbad ihres Erzeugers und fragte im selben Atemzug auch gleich, ob Indira wisse, welche Bank ihr Bruder denn überfallen hatte.
»Da geht man einfach nur mal in sein Praktikum, und wenn man heimkommt, denkt man wieder a mal, man wäre im falschen Film. So was gibt's echt auch nur in unserer Family. Wer hat welche Bank überfallen?«
Auch die Mutter stieß nun dazu und hatte zwei große Aschenbrenner-Taschen im Gepäck. Sie ordnete ein Familienabendessen an, bei dem nun diese tragische Banküberfall-Affäre im engen Kreis besprochen werden sollte.
»Ich hab gerade mit Hansi telefoniert, er kommt gleich heim und wir reden in Ruhe. Und wehe, es lacht jemand! Habt ihr das verstanden?! Er braucht jetzt unsere Unterstützung«, befahl sie in strengem Ton. Allerdings musste nun erst einmal Bettina herzhaft lachen, als sie ihren Mann als sonnenverbrannte Quarktasche leidend am Küchentisch sitzen sah.
Wenn es darauf ankam, konnte sich immer schon ein Scharnagl auf den anderen verlassen und so halfen alle mit. Mit Ausnahme des Familienoberhauptes, der aufgrund seiner multiplen Leidensgeschichte der letzten Tage entschuldigt war. Bis der Stammhalter nach Hause kam, war der Tisch gedeckt, sein Lieblingswurschtsalat vorbereitet, das Bier und das Radler kalt gestellt und die Familienmitglieder hatten sich erwartungsvoll um den Tisch versammelt.
»Servus, Hansi«, tönten die vier Scharnagls im Chor, als der Junior die Küche betrat. In seinem Gesicht war nach dem ersten Schrecken dann doch ein gerührtes Lächeln zu erkennen. Als er seine Familie so versammelt sitzen sah, war seine sture Bockigkeit dann doch verschwunden. »Servus«, hauchte er fast ein wenig schüchtern.
»Komm Bub, setzt dich her, iss erst a mal was und dann reden wir in Ruhe«, sagte Mama Scharnagl zärtlich und strich ihrem Sohn über den Rücken. Sie genossen die gemeinsame Brotzeit und fühlten alle die Harmonie, die im Birkenweg 4 endlich wieder einkehrte. Auch der Junior war nach langer Verschlossenheit wieder gesprächig geworden und erzählte, wie er in diese prekäre Lage geraten war.
»Ich weiß ja auch nicht, wie ich immer in so bescheuerte Situationen reinrutsch … aber irgendwie kann ich gar nix dafür«, begann er.
»Du bist einfach am Papa sei Bua …«, seufzte der Senior und lächelte leidend hinter seiner verbrannten Haut und seinen schwarzen Gummibändern hervor.
»Scheiß Gene, Papa, sag ich da nur. Das war ja alles nur, weil der Monaco, der Jonas und ich uns gegenseitig ständig gehypt haben. Jeder hat in einer Tour geprahlt, wie viele Weiber er flachgelegt hat und wo wir noch welche aufreißen könnten. Der Monaco war wirklich am schlimmsten und ich hab immer gedacht, ich muss da mithalten. In Unterfilzbach hab ich mich aber eh immer zurückgehalten, das müsst ihr mir glauben. Da hab ich keine angefasst. Aber wir sind ja dann auch fast jedes Wochenende nach München, Regensburg oder Passau gefahren, da hab ich's dann schon krachen lassen, schließlich bin ich ja auch nur ein Mann. Irgendwann hat dann der Monaco die bescheuerte Idee gehabt, wir sollten doch mit unserer Männlichkeit auch so noch Geld verdienen und kam auf die saublöde Idee, dass wir Samen spenden sollten, obwohl das dann auch nur 150 Euro gebracht hat. Ich wollte eigentlich sowieso nicht, aber die haben dann so lange auf mich eingeredet, bis ich mitgemacht hab. Dann sind wir in München zu einer Samenbank und haben's halt getan. Aber am gleichen Abend ist mir dann klar geworden, dass ich das wirklich überhaupt gar nicht will. Stellt‘s euch a mal vor, da laufen jetzt dann bald überall Kinder von mir umeinander und ich kenn die gar nicht. Das will ich nicht! Auf keinen Fall!«, erzählte er traurig. »Und dann haben wir halt abends schon ein bisserl was getrunken und ich wollte das alles wieder rückgängig machen. Ich hab das so bereut, das kann ich euch gar nicht sagen. Ich hol einfach mein Sperma da wieder raus, hab ich gesagt, und darum bin ich dann in der Nacht in diese Samenbank eingebrochen. Das war an sich überhaupt kein Problem, weil ein gescheiter Handwerker ja eigentlich sowieso jede Tür gleich knacken kann. Nur gefunden hab ich's halt dann nicht. Da hab ich mich dann natürlich mit meinem Mordsrausch nicht ausgekannt, welches Röhrl jetzt mein Sperma war. Da ist ja nicht Scharnagl draufgestanden, sondern nur Nummern… schlimm! Der Monaco, die blöde Sau, hat mich dabei gefilmt und ich hab's nicht a mal gemerkt.«
Hansi redete wie ein Wasserfall und seine Familie hing an seinen Lippen und lauschte der spannenden Geschichte.
»Und dann? Haben's euch erwischt?«, wollte Isabelle wissen.
»Nein, alles gut gegangen. Aber die beiden haben mich dann täglich damit aufgezogen und gesagt, sie schicken den Film an alle, die mich kennen. Das hat mich echt fertig gemacht. Die zwei Deppen fanden das unglaublich lustig, aber ich eben nicht … und …«
Bettina wurde plötzlich käsebleich im Gesicht, sie hatte einen furchtbaren Verdacht.
»Sag jetzt nicht, DU hast den Monaco umgebracht!?«, kreischte sie ihren Sohn an.
»Was? NEIN! Mama! So was könnt' ich doch nicht. Nein, wir haben uns halt total zerstritten. Der Jonas und ich haben uns dann zwar wieder vertragen, als der Monaco umgebracht worden ist, aber ich will auch mit ihm nix mehr zu tun haben. Die haben mich immer so abfällig behandelt, als wär ich so a kleines Depperl. Solche Freunde brauch ich nicht. Da gehör ich nicht hin, und das mit den ganzen Weibern ist auch nicht meins. Ich will ja eigentlich nur eine, a gescheite, die ich mag und die mich mag. Mehr will ich ja gar nicht. Und Kinder will ich aber auch, eben nur mit der Frau …«, seufzte der Junior deprimiert und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
»Aber geh, Hansi, da kann man doch bestimmt widersprechen. Schau, ich hab das schnell a mal gegoogelt. Da steht: Ihre Entscheidung, als Spender bei uns registriert und tätig zu sein, können Sie jederzeit schriftlich widerrufen. Widerrufen Sie noch während des Spenden-Zyklus, werden alle Proben umgehend vernichtet. Sie müssen nur die Aufwandsentschädigung in voller Höhe zurückerstatten«, las Indira auf ihrem Handy vor.
Der Junior strahlte seine Schwester an.
»Da rufst jetzt morgen gleich an und fragst, ob dein Sperma schon im Umlauf ist, und wenn nicht, dann schicken wir sofort einen schriftlichen Widerspruch. Das kriegen wir schon hin, Big Brother. Mei, wenn du mich nicht hättest«, grinste das Nesthäkchen.
Die Familie verlagerte ihre Runde auf die Terrasse und saß noch bis weit nach Mitternacht bei viel Gelächter und einigen Radlern, Weißwein und Malzbieren zusammen. Und wenn Hansi seinen Gesichts- und Kopfschmerz für ein paar Minuten vergessen konnte, schwebte auch er in der rosaroten Wolke der Familienharmonie.
Ein paar Tage später war es dann endlich soweit. Der mit Hochspannung erwartete Mittwoch war angebrochen und ganz Unterfilzbach stand kopf. Manch einer war einfach nur heiß darauf, aus banaler Sensationslust oder Schadenfreude sich an den Dramen seiner Mitbürger zu ergötzen. Andere wiederum hatten schlichtweg Angst vor ihrem grantigen Ehemann, wenn die heimlichen, lustvollen »Monaco-Kurztrips« nun aufgrund eines schmuddeligen Doahoderns aufgedeckt werden könnten. So manch eine Unterfilzbacherin wünschte den grandiosen Fortschritt auf dem Sektor der Biochemie momentan wahrlich zum Teufel. In einigen Familien war die Luft fast schon zum Schneiden dick, aber bald sollte endlich Licht ins Dunkel dieser dubiosen Angelegenheit kommen. Heute war der Tag der Wahrheit!
Der Termin zum Reihengentest war im amtlichen Schreiben eigentlich ab 11.00 Uhr anberaumt gewesen, aber bereits um 9.00 Uhr herrschte lebhaftes Treiben rund um das Volksfestzelt am Fußballplatz. Ja, mehr noch, man könnte sogar von regelrechter Volksfeststimmung sprechen. So viele helfende Hände wie an diesem Tag hatte der Fußballverein noch bei keinem Spiel, Fest oder sonstigen Aktivitäten gehabt. Dabei gab es lediglich ein paar Bratwürstl, Käsesemmeln, Bier, Radler, Apfelschorle, Wasser und – aufgrund des überdurchschnittlich großen Frauenanteils der heutigen Kundschaft – auch Prosecco am TSV-Verpflegungsstand vorzubereiten. Die zahlreichen Helfer traten sich fast gegenseitig auf die Füße, jeder wollte eine legitimierte Daseinsberechtigung zur geheimen Spionage an Ort und Stelle haben. Auch der Frauenbund, der kurzfristig doch noch einen Kaffee- und Kuchenverkauf auf die Reihe bekommen hatte, war personell überdurchschnittlich gut bestückt. Es waren nicht viele Mitgliederinnen verfügbar, die noch körperlich fähig waren, selbstständig und ohne Pfleger zum Fußballplatz zu gelangen. Die Sedlmayer Zilly und die Günthner Fini übernahmen dann diesen Job, gemeinsam mit ihrem Alphatier Berta Hinkhofer. Die drei Damen waren einige der wenigen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht zum Gentest geladen wurden. Allerdings hatte sich die Hinkhoferin vorgestern noch in einer längeren E-Mail beim bayerischen Polizeipräsidenten beschwert und vehement gefordert, dass gefälligst ihr »biologisches Alter« für die Auswahlkriterien der Testpersonen berücksichtigt werden sollte. Ihrer Beschwerde wurde zwar dann doch nicht stattgegeben, aber ihre E-Mail hatte der höchst belustigte Polizeipräsident ausgedruckt und mit einem breiten Grinsen an seine Pinnwand im Dienstzimmer gehängt. Diese Zeilen der Unterfilzbacher Absenderin hatten innerhalb kürzester Zeit Kultstatus unter den Bediensteten im Polizeipräsidium erlangt, was das Fräulein Hinkhofer jedoch nicht wusste.
Jedenfalls war das Durchschnittsalter dieses ganz besonderen Teams in der Frauenbund-Verpflegungshütte somit sage und schreibe 79,3 Jahre und brachte einige Probleme mit sich. Denn bei zwei Rollatoren und drei Frauen auf eineinhalb Quadratmetern war die Bewegungsfreiheit für Kuchenabschnitt, Kaffeeausschank, Schmutzgeschirrreinigung und den Verkaufsgeschäften faktisch beim Teufel. Aber sie arrangierten sich, wenn auch nicht sofort.
Die gute Berta war inzwischen auch aufgeklärt worden, dass bei diesem noch nie dagewesenen polizeilich angeordneten Gentest-Volksfest lediglich der Mund zu öffnen wäre und alle restlichen Körperöffnungen geschlossen bleiben durften. Manche Augenzeugen hatten kurzzeitig den Verdacht, dass sie nach dieser Nachricht fast ein wenig enttäuscht war.
Immerhin dürfte das Massenscreening in dieser Form trotzdem ziemlich einzigartig sein und wohl auch bleiben. Beim überwiegenden Teil der Besucherinnen war die Stimmung recht ausgelassen, es gab reichlich Essen und Trinken, vor allem der Prosecco entwickelte sich zum Verkaufsschlager, und sogar für musikalische Unterhaltung war bestens gesorgt. Denn die Unterfilzbacher Blaskapelle, die MUMUS, hatte kurzfristig ihre Generalprobe für das eigentliche Volksfest, das erst am Freitagabend starten sollte, auf den heutigen Mittwochvormittag vorverlegt. Die Blechbläserband aus dem kleinen niederbayerischen Dörfchen hatte überregional einen berechtigten Ruf als Unterhaltungsgarant bei derartigen bayerischen Festivitäten und auch bei der heutigen »Probe« ließen sie sich nicht lumpen. Altbekannte Gassenhauer wurden sowohl vom Kapellmeister Fritz, der zusätzlich als Entertainer auf der klassischen Bretterbühne fungierte, als auch vom anwesenden Publikum in den Warteschlangen mitgegrölt. Die Musikauswahl war spitzfindig und sorgte ebenfalls für reichlich Gelächter. Nach »Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben«, »Macho, Macho«, »Ein Bett im Kornfeld« und »Skandal im Sperrbezirk« folgte »I will survive« und »Que Sera Sera - whatever will be, will be« – die MUMUS hatten quasi einen richtigen Soundtrack zur heutigen Veranstaltung geliefert.
Manch ein Außenstehender war sicher überrascht, wie viele Menschen an so einem ganz normalen Arbeitstag mitten unter der Woche keine sonstigen Verpflichtungen wie beispielsweise ihren Beruf hatten und sich ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten derart engagiert widmen konnten.
Auch Hansi und Leopold waren gekommen, denn sie wollten dem undurchsichtigen Kommissar Dietl lieber auf seine dubiosen Wurstfinger schauen. Nicht, dass hier wieder einmal etwas »unter den Tisch« – in diesem Falle Biertisch – fallen gelassen wurde, so wie der noch immer nicht ausgehändigte Tatortbericht der Kriminaltechnik. Dies war für Leopold inzwischen sogar ein Reizthema geworden und er bekam sofort einen blutroten Kopf, wenn Hansi auch nur ansatzweise danach fragte. Dann pfiff er ihn jedes Mal ungehalten an: »Wenn ich ihn schon hätte, würde ich es dir selbstverständlich mitteilen. Also frag nicht ständig, das strapaziert meine Nerven.«
Jedenfalls war Scharnagl zwar Mitglied beim Fußballverein TSV Unterfilzbach und konnte darum durchaus so tun, als würde er heute einfach als Helfer irgendwo herumwuseln – auch wenn ihm die spöttischen Bemerkungen seiner Vereinskollegen aufgrund seiner gestreiften Gesichtsbräunung, seinem kunterbunten Wangerl und seines immer noch seltsam anmutenden Gummiband-Kopfschmuckes wirklich unglaublich auf die Nerven gingen. Leopold hatte dummerweise kein Ehrenamts-Alibi, mit dem er seine Anwesenheit rechtfertigen konnte, denn er war weder Mitglied beim TSV noch beim Frauenbund, nicht einmal passiv. Aber die beiden Hobbydetektive waren schon im Vorfeld sehr kreativ gewesen, was ihre Tarnung anbelangte, und tatsächlich ließen die Polizeibeamten sie gewähren, denn schließlich trugen beide neonorange Ordnerjacken, die Hansi noch vom Maibaumaufstellen im Auto herumliegen hatte. Sie taten einfach ganz selbstverständlich so, als wären sie damit beauftragt worden, die Warteschlangen der Frauen zu beaufsichtigen und im Zaum zu halten, was die Polizisten sehr begrüßten, denn so hatten sie einen noch gechillteren Arbeitstag. Für das Spionagevorhaben war diese Tätigkeit natürlich perfekt, denn damit waren Poldi und Hansi quasi hautnah dabei und konnten die Damen ganz genau und vor allem absolut unauffällig beobachten. Ebenso wie den höchst verdächtigen Dietl, den sie zu keiner Sekunde aus den Augen ließen.
Es war wirklich unschwer zu erkennen, welche der Ladys in den Warteschlangen ein absolut reines Gewissen hatte, und auch wiederum jene Damen, denen die pure Angst ins Gesicht geschrieben stand. Manche sahen wirklich aus, als würden sie zu ihrer eigenen Hinrichtung oder für den Scheiterhaufen anstehen. Frau Scharnagl beispielsweise war ziemlich entspannt, wenngleich es ihr wie immer auch schon wieder pressierte, weil ihre Schicht an der Supermarktkasse bald begann, sie zu spät von der Yogastunde zurückkam und nun noch immer sehr weit hinten in der Schlange warten musste. Die Gattin des Kommissars, die »großnäßige« Dietl Manu, stand gleich hinter Bettina und schaute wie neun Deifen – also neun Teufel gleichzeitig – in die Gegend, so würde zumindest ein Bayer diesen Blick beschreiben. Gut, Frau Dietl war für ihre grantelnde Natur im Dorf eigentlich immer schon bekannt gewesen, somit waren die Zwiederwurz-Vibes eigentlich auch keine große Überraschung. Ihre temporäre Glückseligkeit hatte ziemlich zeitgleich mit dem letzten Atemzug des Moritz Heidecker geendet, und genau darum wurde Hansi einfach den Gedanken nicht los, dass auch sie eventuell heute mit einer Doahodern- Hinterlassenschaft geoutet werden könnte. Dies würde dann natürlich unweigerlich zu einer öffentlichen Blamage des eingebildeten Kommissars führen und darauf hatte die Frau Dietl bestimmt auch keine Lust. Die beiden Hobbydetektive hatten sich darum vorgenommen, das Wattestäbchen, das aus Manus Mund kam, gut zu beaufsichtigen und zur Not einzuschreiten, falls Bernhard Dietl eventuell Schindluder damit treiben wollte.
Auch die Bürgermeistergattin Sabine Brunner hatte sich in der Warteschlange eingereiht, und obwohl sie nicht unbedingt vor Freude strahlte, stand sie nicht mit hängenden Schultern und wie kurz vor der »Hexenverbrennung« auf dem Festplatz. Aber hier war sich Hansi ohnehin schon beinahe sicher gewesen, dass sie nichts mit dem Heidecker am Laufen gehabt hatte, das sagten ihm einfach sein Instinkt und sein untrügliches Bauchgefühl. Da musste es etwas anderes geben, was hier im Busch war und wofür er dringend einmal eine ganz bestimmte Hausbank aufsuchen musste, nämlich die vom Hackl Wiggerl.
Aus der Ferne beobachtete Scharnagl nun, wie der protzige Land Rover des Barons von Bieberstein vor dem Fußballplatz anhielt, jedoch war auch nach zwei Minuten noch immer keiner ausgestiegen. Hansi musste seine Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, was dort in fünfzehn Metern Entfernung von sich ging. Er ärgerte sich kurz, den Fernstecher doch nicht mitgenommen zu haben. In der Hand hatte er ihn schon gehabt, aber dann meinte Leopold, das wäre zu auffällig. Hubsi saß am Steuer und diskutierte im Wagen angeregt mit seiner Beifahrerin. Auch wenn die Hobbyspürnase natürlich nicht hören konnte, was die beiden für angeregte Gespräche führten, so war definitiv klar, dass es sich nicht um Nettigkeiten handelte, die das Ehepaar austauschte. Der Brauereibesitzer hatte einen hochroten Kopf und regte sich wild gestikulierend ganz offenbar über etwas furchtbar auf. Von Weitem schien es, als wollte Ella absolut nicht zu diesem Gentest antanzen, zu dem sie vorgeladen war. Das wunderte Hansi nun natürlich nicht, denn er wusste ja bereits, dass sie ihr Vaginalsekret am toten Monaco-Körper und sehr wahrscheinlich auch am Doahodern hinterlassen hatte. Ob dies jedoch auch Hubertus wusste, bezweifelte er gerade sehr.
Der untersetzte Landadelige tat Hansi inzwischen schon fast leid, denn zum einen hatte ihn seine scharfe Baronin ja nach allen Regeln der Liebeskunst beschissen und das auch noch im eigenen Jacuzzi. Und zum anderen wollte sie ihn sehr wahrscheinlich bald über den Jordan bringen lassen, was natürlich noch schlimmer war, als das nasse Liebesspiel im Gutshof-Whirlpool. Sie müsste halt nur noch einen Blöden finden, der ihr diesen Gefallen tat. Hansi überlegte ernsthaft, ob er nicht demnächst das Gespräch mit seinem aktuellen Chef suchen sollte, womöglich würde dieser ihm die Offenheit und Loyalität sogar mit einer Beförderung in der Brauerei danken. Da Ella sich noch immer mit Händen und Füßen sträubte, aus dem Geländewagen auszusteigen, wendete der Freiherr nun tatsächlich sanfte Gewalt an. Er parkte sein Auto laut quietschend, stieg aus, ging um den Wagen zur Beifahrerseite, packte seine Gattin am Arm und zerrte sie zum Ende der Warteschlange. Fortan stand er die ganze Zeit mit grimmiger Miene neben ihr.
Uiuiui, da hängt aber der Haussegen absolut schief bei den Barons , dachte Hansi.
Er wandte seinen Blick wieder zum aktuellen Abstrich-Geschehen und bemerkte, dass nun die Dietl Manu an der Reihe war. Wie beiläufig schlenderte Hansi zum Verkaufsstand, der neben der Teststation lag und fing eine kleine Plauderei mit dem Weiderer Willi an, der sich als Polizist und Platzwart des TSV Unterfilzbach natürlich fast wie der Gastgeber dieses Gentest-Events fühlte. Passenderweise stand er genau neben Hauptkommissar Bernhard Dietl, den Hansi mit einem lauten und warnenden »Servus« auf seine Anwesenheit aufmerksam machte. Scharnagl sah ihm sehr deutlich an, dass er das Wattestäbchen, das gerade im Mund seiner Frau steckte, nicht aus den Augen ließ. Dietl wirkte absolut unsicher und sah sich nervös um, jedoch war ihm durchaus bewusst, dass er in diesem Moment viel zu viele Zeugen hatte, um dieses Beweisstück verschwinden zu lassen.
»Du, Willi, schau a mal wie der Bernhard schaut! An eurer Stelle würde ich ganz genau auf die Speichelprobe von seiner Alten aufpassen, weil ich dem absolut nicht traue. Und ich hab da so ein Gerücht von am Gspusi seiner Frau mit dem Heidecker gehört«, flüsterte Hansi dem Weiderer unauffällig zu.
»Mei, Scharnagl, bist' wieder als Ermittler unterwegs, ha? Jetzt frag ich dann wirklich bald a mal nach, ob du nicht doch einen Minijob bei uns als Hilfssheriff bekommst«, antwortete Willi lachend.
Diese Bemerkung ging Hansi natürlich hinunter wie Öl, aber für derartige Huldigungen war nun gerade leider keine Zeit. Offenbar hatte sich das seltsame Verhalten des Kommissars inzwischen schon unter seinen Kollegen herumgesprochen, denn der Polizist ergänzte noch im Flüsterton: »Pschscht ! Hansi! Das wissen wir schon, dass wir beim Dietl ganz stark aufpassen müssen. Da hat der Staatsanwalt schon eine interne Mitteilung rumgehen lassen, wir sind vorgewarnt und passen auf die Proben ganz besonders gut auf. Da brauchst dir jetzt keine Sorgen machen. Aber halt bloß dein Maul, gell! Von mir weißt' das nicht. WEHE, SCHARNAGL! Das ist Polizeiinterna!«, zischte der Weiderer hinter vorgehaltener Hand und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Diese Aussage beruhigte Hansi nun ungemein. Zum einen, weil der Dietl inzwischen schon von seinen eigenen Kollegen unter Beobachtung stand, und zum anderen, weil seine Unprofessionalität nun auch endlich intern bekannt war. Insgeheim liebäugelte Scharnagl natürlich immer wieder damit, sich eventuell für eine Umschulung vom Bierfahrer mit Bauhoferfahrung zum Kommissar zu bewerben, sollte die Dietl-Stelle demnächst wirklich einmal vakant werden. Das sollte er auf jeden Fall im Auge behalten.
Nachdem tatsächlich alle Damen ihrer Einladung nachgekommen waren und sich doch keine getraut hatte, diesem Test fernzubleiben, ließen die restlichen Anwesenden, in erster Linie die zahlreichen Helfer und Helferinnen, den Tag noch bei Blasmusik, Wurschtsemmeln und Bier zünftig ausklingen. Dabei rätselten sie gespannt, wann denn nun die Ergebnisse der 16 Doahodern -Gspusis im Dorftratsch die Runde machen würden.
Dummerweise musste Hansi noch immer auf Alkohol verzichten und war zudem ja auch noch krankgeschrieben. Darum zog er es vor, sich zeitnah von der After-Gentest-Party zu verabschieden. Hubsi hatte ihm natürlich einen missbilligenden Blick zugeworfen, als er ihn am Festplatz erblickt hatte. Hansi rechtfertigte seinen Aufenthalt mit dem Bringdienst seiner Bettina und außerdem wäre er ja nicht bettlägerig, aber noch immer zu geschwächt zum Lastwagen fahren, darum wäre es auch nur ein ganz kurzer Abstecher gewesen und er müsste sich bald wieder zurückziehen. Der Baron hatte ein Einsehen und war mit seinen Gedanken ohnehin ganz woanders, denn wirklich interessiert schien er nicht an der Scharnaglschen Leidensgeschichte, die ihm Hansi mit schauspielerischem Talent ausführlich und ausgeschmückt regelrecht nachstellte. Bald darauf genoss er die Ruhe vor dem Casa Scharnagl mit Malzbier und Goasgschau auf seinem Lieblingssitzmöbel.
Es musste schon fast sieben Uhr sein, als auch die Dame des Hauses mit ihrem roten Flitzer in die Einfahrt hereinpreschte. Aus ihrem Kofferraum holte sie allerhand kleiner Kisten, Schäufelchen, kleine Rechen, Säcke voller Blumenerde, Besen und einen großen Beutel mit Zierkies.
»Ja, wo kommst denn du jetzt her?«, fragte ihr Ehemann interessiert.
»Wonach schaut's denn aus, du Schlaumeier?«, antwortete das Zuckerschoasal genervt.
Nachdem sie alles in der Garage verräumt hatte, kam sie mit einer Flasche Bier wieder heraus und ließ sich mit lautem Stöhnen auf die Hausbank plumpsen.
»Verdammte scheiß Schnecken, mistige …«, schimpfte sie, als sie ihre Bierflasche mit dem Flaschenöffner öffnete, den Hansi mit einer Kette an der Hausbanklehne angebracht hatte.
»Ha?!«, fragte das Bärle.
»Du glaubst ja gar nicht, wie viele Schnecken auf unserem Scharnagl-Grab am Friedhof sind. Ich versteh das nicht, links neben uns am Huber-Grab sind keine und rechts neben uns am Aulinger-Grab sind auch keine. Nur bei uns … ich glaub ja, dass der Aulinger, der Depp, alle Schnecken immer heimlich zu uns rübersetzt. Aber irgendwann erwische ich ihn, da kannst dich drauf verlassen«, grantelte Bettina über ihren Chef, der seit dem Tod seines unehelichen Sohnes nicht unbedingt für gutes Betriebsklima im Supermarkt sorgte, was zwar verständlich war, aber langsam dem gesamten Personal etwas zu viel wurde.
Schon seit Wochen beschwerte sich Bettina über Horst Aulinger, der anfangs gar nicht begeistert war, so plötzlich nochmal Vater geworden zu sein, aber sich dann doch langsam an seinen Sohn, den Frauenmagneten, gewöhnt hatte. Als dieser dann den tragischen Schraubenziehertod sterben musste, war Horst Aulinger natürlich tief traurig. Seine Trauer über den Verlust ließ er jedoch nun an seinen Angestellten aus und darum war Bettina Tag für Tag mehr genervt von ihm.
»Aber jetzt pass a mal auf, was ich gefunden hab. Da wirst jetzt gleich schauen, Hansi«, sagte Bettina aufgeregt und wühlte in ihrer Hosentasche.
»Ich hab ja jetzt schon nachschauen müssen, ob die Aulingers auch Schneckenkorn in ihre Graberde gestreut haben, weil ich das ja Kiloweise in unsere Erde reinschütte und sich trotzdem bei uns alle Schnecken des ganzen Friedhofs zur Feierabendparty treffen. Jedenfalls hab ich dann ein bisserl die Erde am Aulinger Grab zur Seite geschoben, weil ich eben nachschauen wollt, was die da treiben, weil da keine einzige von den Viechern ist … und dann hab ich was gefunden. Schau! Da hat jemand einen Brief vergraben. IM GRAB! Das ist doch schon komisch, oder?«, berichtete Frau Scharnagl und hielt Hansi ein schmutziges, nicht zugeklebtes Kuvert unter die Nase.
»Geh weiter! Einen Brief? Ja und von wem? Und warum?«, wollte Hansi wissen.
»Ja, wenn ich das wüsste, dann hätt ich's dir erzählt. Du bist ja der oberschlaue Detektiv, da musst jetzt schon selber a bisserl überlegen. Lies halt erst a mal!«
Hansi stellte sein Malzbier zur Seite, holte ein verknittertes Blatt Papier aus dem Umschlag und begann zu lesen:
Mein über alles geliebter Moritz,
nun ist schon einige Zeit vergangen, seitdem du mir gesagt hast: Es ist aus. Ich wollte dir den Himmel zu Füßen legen, aber ich sehe es ein, die Frau deines Lebens bin nicht ich. Zumindest nicht in DIESEM Leben. Mein gebrochenes Herz ist am Ende und darum ist der Zeitpunkt gekommen, etwas zu verändern. Ich dachte wirklich, wir wären unendlich glücklich gewesen. Wir beide! Für mich warst du mein Seelenmensch, mein Glück, mein Licht, mein Sonnenschein und mein Leben. Ich dachte wirklich, du würdest das Gleiche für mich empfinden. Du hast es nie gesagt, aber ich dachte, ich hätte es in deinen Augen gesehen. Leider hat mich mein Gefühl der Glückseligkeit hier absolut getäuscht. Wie sehr hätte ich mir eine Zukunft mit dir gewünscht. Mehr als alles andere auf der Welt! Aber ich konnte dich nicht glücklich machen. Ich hatte es so sehr versucht, alles hätte ich für dich getan, aber es hat nicht gereicht. Leider muss ich darum nun diesen Schritt gehen, es wird dir nicht wehtun. Du wirst es gar nicht spüren. Aber ich ertrage es nicht länger, dich mit anderen Frauen an deiner Seite zu sehen.
Wir werden uns in einem anderen Leben wiedersehen und dort werden wir füreinander bestimmt sein. So eine große Liebe ist unendlich. Auch du wirst es erfahren, irgendwann in der Ewigkeit.
Ich hoffe, du verzeihst mir!
In unsterblicher Liebe
M.