KAPITEL 21
Karl.
K omm rein, mon Cheri. Möchtest du eine Tasse Tee?“
Karl küsste Inés liebevoll auf beide Wangen. „Gerne. Aber du, setz dich ins Wohnzimmer. Ich mache den Tee.“ Er schob sich an ihr vorbei und ging in die Küche. Kurz darauf stellte er zwei dampfende Becher Earl Grey auf dem Couchtisch vor ihr ab.
„Wird Zeit, dass Ekaterina endlich wiederkommt, um dir unter die Arme zu greifen“, brummte er. „Wo bleibt sie überhaupt so lange?“
„Ekaterina? Sie hilft meiner Schwester bei der Pflege unserer Mutter. Die Arme ist gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen. Sie ist schließlich nicht mehr die Jüngste. Spätestens im Jänner sollte sie zurück sein. Glaub mir, ich kann es auch kaum erwarten, dass sie wieder bei uns ist. Das Haus ist nicht dasselbe ohne sie.“
„Das kann ich verstehen. Aber nun zu dir: Wie geht es dir, meine Teuerste?“
„Ganz gut, danke.“
„Du siehst erschöpft aus. Außerdem bist du zu dünn.“
„Danke auch“, lachte sie.
„So meinte ich das nicht. Du bist natürlich schön wie immer. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Ferdinand hat mir schon vor über einer Woche erzählt, dass du gesundheitliche Probleme hast. Seither warte ich darauf, dass du mich endlich ins Vertrauen ziehst. Also jetzt ganz ehrlich: Wie geht es dir wirklich ?“
Inés seufzte. „Tut mir leid, dass ich nicht früher etwas gesagt habe. Du weißt, du bist mein bester und ältester Freund. Aber es laut auszusprechen macht es irgendwie so … real.“ Sie streckte die Hand aus und drückte die seine.
„Mir ist ständig übel, ich habe keinen Appetit, fühle mich benommen. Am liebsten würde ich den ganzen Tag schlafen. War das ehrlich genug für dich?“
Ungläubig schüttelte er den Kopf. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Sorgenfalte.
„Und was sagt dein Arzt?“
„Er meint, die Zirrhose sei schon recht weit fortgeschritten. Ich bekomme einen Medikamentencocktail, der die Immunreaktion meines Körpers in Schach halten soll. Aber früher oder später brauche ich eine Spenderleber. Besser früher als später.“
„Scheiße“, entfuhr es Karl. Dass es so schlimm um sie stand, hatte er nicht gedacht. „Wissen die Kinder Bescheid?“
„Seit ein paar Tagen. Sie haben es nicht sehr gut aufgenommen.“
„Wen wundert’s“, erwiderte Karl düster. Was er da hörte, erschütterte ihn zutiefst. Wie er wusste, neigte Inés dazu, die Dinge zu verharmlosen. Wenn das die harmlose Version der Wahrheit war, wollte er lieber nicht wissen, wie die Realität tatsächlich aussah.
„Ich habe Ferdinand schon lange gesagt, er soll etwas kürzertreten und sich mehr um dich kümmern“, stieß er schließlich hervor.
„Das ist doch nicht seine Schuld. Keiner hat Schuld. Und er kann ja auch nichts dagegen machen. Außerdem scheint er im Moment extrem unter Druck zu stehen. Ich will niemandem zur Last fallen.“
„Du fällst uns doch nicht zur Last!“, widersprach Karl vehement. „Immer dasselbe mit dir. Immerzu stellst du die Probleme der anderen über deine eigenen. Du musst auch einmal an dich denken!“
„Ich habe Glück, dass ich so gute Freunde wie dich habe. Dafür bin ich dankbar.“
„Wenn du irgendetwas brauchst, zögere nicht, zu fragen. Und wenn es nur jemand ist, der dich ins Krankenhaus fährt, Besorgungen macht, deinem Arzt in den Arsch tritt oder den du anschreien kannst, weil alles Scheiße und ungerecht ist – ich bin jederzeit für dich da.“
Inés lachte leise. „Stets der treue Beschützer.“
Karl zuckte die Achseln. „Dafür hat man Freunde.“
„Da gäbe schon etwas, das ich dich gern fragen wollte“, begann Inés nach einer kurzen Pause zögernd.
„Alles, was du willst.“
„Ferdinand und ich waren heute beim Notar. Ich wollte meine Angelegenheiten regeln.“
„Inés!“ Karl sprang auf. „Steht es wirklich so schlecht um dich?“
Beschwichtigend zog sie ihn auf die Couch zurück. „Karl, mon Cheri, beruhige dich. Nein, so schlimm ist es nicht. Aber ich habe meine Krankheit zum Anlass genommen, mich dieser lästigen Thematik anzunehmen. Ich denke darüber nach, eine Stiftung zu gründen.“
„Eine Stiftung? Und was sagt Christian dazu? Ihr wart doch bei ihm?“
„Ja, natürlich. Er hält es für eine gute Idee. Ich lasse es mir ein paar Tage durch den Kopf gehen. Aber vorab wollte ich dich fragen, ob du dir vorstellen könntest, einer der Stiftungsvorstände zu werden. Selbstverständlich würden wir dich großzügig dafür entlohnen. Aber mir fällt niemand ein, dem ich das Vermögen meiner Kinder lieber anvertrauen würde als dir.“
„Natürlich! Ich fühle mich geehrt. Aber warum nicht Ferdinand?“
„Würde ich ja“, seufzte sie. „Aber angeblich dürfen Begünstigte und nahe Angehörige nicht in den Vorstand.“
„Ich verstehe. Wie gesagt, gerne – wenn du das möchtest. Aber hoffen wir einmal, dass es nicht so weit kommt, ja? Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen – und gedenke vor dir ins Gras zu beißen. Also pass bitte auf dich auf!“
Inés lächelte dankbar. „Versprochen. Und danke.“
„Aber jetzt zu dir“, wechselte sie das Thema. „Was macht die Frauenwelt? Ist endlich eine Frau Winkler in Sicht?“
„Du kennst mich ja“, grinste Karl. „Ich bin ein ewiger Junggeselle.“
„Aber auch du brauchst jemanden, zu dem du nach Hause kommen kannst, der auf dich wartet und dir den Rücken stärkt. Du wirst schließlich auch nicht jünger!“
„Hey!“, verteidigte sich Karl lachend. „Jetzt kriege ich es aber ab.“
„Nicht nur du darfst dich um andere sorgen“, entgegnete Inés sanft.
„Tja, nachdem du ja unbedingt Ferdinand heiraten musstest, gibt es keine guten Frauen mehr am Markt“, scherzte er.
„Du elender Schleimer“, konterte Inés, aber er konnte sehen, dass sie sich über das Kompliment freute.
„Stets zu Diensten“, zwinkerte er.
Nach einer weiteren halben Stunde belanglosen Geplänkels gähnte Inés. Die Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Karl verabschiedete sich. In Gedanken war er wieder bei ihrem Ehemann. Er würde ihm ins Gewissen reden. Ferdinand musste sich dringend mehr Zeit für seine Frau nehmen. Das war er ihr verdammt nochmal schuldig.
KAPITEL 22
Ferdinand.
F erdinand steuerte seinen Porsche die Zufahrtsstraße entlang, die zu seinem Heimatgolfclub führte. Die Allee aus Kastanienbäumen erstrahlte in der Sonne in leuchtenden Rot- und Gelbtönen. Der Colony Club Gutenhof lag etwa vierzig Minuten vom Zentrum entfernt und an den Wochenenden tummelten sich hier viele Wiener und frönten dem Golfsport. Der Country Club umfasste nicht nur zwei Bahnen à achtzehn Loch, sondern auch einen Swimmingpool, mehrere Tennisplätze und einen Wellnessbereich samt Schwimmbiotop. Das Restaurant im Klubhaus war bekannt für seine kulinarischen Köstlichkeiten.
Nachdem er sein Golf Trolley aus dem Auto gewuchtet hatte, machte er sich auf den Weg in Richtung Driving Range. Seine Tee Time war erst in einer guten halben Stunde, er hatte also noch genügend Zeit, ein paar Bälle rauszuhauen und sich aufzuwärmen. Das Wetter war mit seinen fünfzehn Grad für Anfang November ungewöhnlich warm.
Pünktlich um 13 Uhr erreichte er den ersten Abschlag, wo seine Mitspieler, Thomas und Gernot, bereits auf ihn warteten. Thomas war um die sechzig und ein Löwe von einem Mann, der stetig die Karriereleiter einer prominenten Rechtsanwaltskanzlei erklommen hatte, wo er inzwischen zu einem der Seniorpartner aufgestiegen war. Er und Ferdinand trafen sich in regelmäßigen Abständen zum Golf und auch sonst häufig bei gesellschaftlichen Anlässen. Er war es gewesen, der Céline ein Praktikum in seiner Kanzlei verschafft hatte und Ferdinand gedachte sich mit einer Essenseinladung im Anschluss an ihre Golfrunde dafür erkenntlich zu zeigen. Gernot hingegen war ein blasser Geselle, der eine kleine Steuerberatungskanzlei unterhielt. Ferdinand hatte ihn vor Jahren im Herrenclub über seinen Bruder Konstantin kennengelernt, mit dem Gernot eng befreundet war. Karl, der gerade den Kiesweg entlanggeschritten kam, vervollständigte das Vierergespann.
Die Männer begrüßten einander mit kräftigem Händedruck und dann ging es auch schon los. Thomas, der das beste Handicap des Flights hatte, machte den Anfang. Sein Ball stieg in einem vollendeten Bogen in die Luft und kam in der Mitte des Fairways zum Liegen. Auch die anderen packten ihre Driver aus, um es ihm gleichzutun.
„Wie geht es dir, Thomas? Viel los in der Kanzlei?“, begann Ferdinand das Gespräch, als sie den Abschlag, ihre Trolleys vor sich herschiebend, hinter sich ließen.
„Ich kann nicht klagen. Wir haben mehrere aussichtsreiche Fälle am Laufen, an Arbeit mangelt es uns jedenfalls nicht. Aber die Konzipienten von heute sind nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Die erwarten so etwas, das sich Work-Life-Balance schimpft! Lassen um 19 Uhr den Stift fallen und machen Feierabend. Das hätte es zu unserer Zeit nicht gegeben“, schnaubte dieser.
Ferdinand gab ein verständnisvolles Brummen von sich. „Ja, der Fluch der Generation Y. Als wir in deren Alter waren, konnten wir uns glücklich schätzen, wenn wir den Sonntag frei hatten.“
„Da kann ich mich nur anschließen“, schaltete sich Gernot ein. „Als ich in der Steuerberatung begonnen habe, haben wir regelmäßig bis spät in die Nacht gearbeitet, oft sogar im Büro übernachtet! Das junge Gemüse meckert schon, wenn es einmal neun wird. Deren Wunsch nach Freizeit müssen dann einige wenige ausbaden.“
„Danke übrigens nochmal, dass ihr Céline bei euch aufgenommen habt“, wandte sich Ferdinand an Thomas.
„Versteht sich doch von selbst. Die Elite muss doch zusammenhalten“, erwiderte Thomas mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Ich weiß diese Geste jedenfalls sehr zu schätzen. Wie macht sie sich überhaupt? Nimm sie ruhig hart ran, sie soll schließlich etwas lernen.“
„Um ehrlich zu sein, habe ich selbst nicht viel mit ihr zu tun. Bei unserem strengen Hierarchiegefüge arbeitet sie unseren Junganwälten zu. Aber ich habe sie einem meiner vielversprechendsten Mitarbeiter zugeteilt. Bisher hat er sie in hohen Tönen gelobt, deine Tochter macht einen engagierten und interessierten Eindruck.“
Ferdinands Brust füllte sich mit Stolz. „Musik in meinen Ohren! Wenn sie sich anstrengt, wird sicher einmal eine herausragende Anwältin aus ihr. Ihr Studium nimmt sie jedenfalls sehr ernst. Jeden Tag bricht sie frühmorgens auf, um an die Uni zu fahren. Sie wird das Jusstudium in Mindestzeit und mit Bestnoten abschließen, davon bin ich überzeugt“, prahlte er.
Sie hatten das erste Loch hinter sich gelassen, Thomas und er hatten das Par Vier mit Bravour gemeistert. Nur Karl hatte seine Probleme mit dem Bunker gehabt und zähneknirschend mit zwei über Par abgeschlossen.
„Und was ist mit Camillo? Er studiert Wirtschaft, wenn ich nicht irre? Weiß er schon, was er nach seinem Bachelorstudium machen will?“
„Mein Sohn wird eines Tages in das Immobiliengeschäft einsteigen. Bereits jetzt hat er sich für alle passenden Wahlfächer angemeldet. Irgendjemand muss das Familienunternehmen schließlich übernehmen.“
„Du hast wirklich großes Glück mit deinen Kindern“, bewunderte ihn Gernot. „Ich wünschte, die meinen wären so zielstrebig. Alles, was für meinen Jungen zählt, sind Fußball und Frauen. Lernen für die Schule? Fehlanzeige! Ich kann nur hoffen, dass er rechtzeitig die Kurve kriegt“, ergänzte er mit einem tiefen Seufzer.
„Kinder brauchen eine starke Hand. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, ihn in ein Internat zu stecken? Unsere Frauen verhätscheln die Jugendlichen doch nur. Bei Inés und Ekaterina ist es nicht anders. Würde ich nicht für Disziplin und Ordnung in der Familie sorgen, wären die beiden längst nicht dort, wo sie jetzt sind“, entgegnete Ferdinand blasiert.
„Apropos Frauen: Wie steht es eigentlich mit dir, Karl? Lernen wir endlich eine künftige Frau Winkler kennen?“, wechselte Gernot das Thema.
Dieser grinste. „Dasselbe hat mich Inés auch unlängst gefragt. Ich warte auf die zweite Runde. Die Weiber um die dreißig heutzutage haben nur mehr ihre Karriere im Sinn. Du und Ferdinand habt wirklich einen Glückstreffer gelandet.“
Thomas, der selbst zwei Mal geschieden war, nickte zustimmend.
„Aber es hat doch auch seine Vorteile, Single zu sein“, wandte Ferdinand ein. „Mit den Frauen ist es wie mit dem Essen. Ich für meinen Teil liebe Schnitzel. Aber fünfundzwanzig Jahre jeden Tag nur Schnitzel? Du kannst an einem Tag Schnitzel, am nächsten Lasagne und am übernächsten Steak essen. Das hat doch auch etwas. Die Abwechslung macht den Unterschied.“
„Besonders, wenn das Kalb noch schön jung und blutig ist“, grinste Thomas.
Die Männer lachten. Nur Karl bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln und schwieg.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Bald hatten sie vierzehn Bahnen gespielt. Ferdinand war in Hochstimmung. Er genoss die Zeit mit seinen Freunden, sein Golfspiel lief zu Hochformen auf und die Sonne schien mit seiner guten Laune um die Wette.
„Wie läuft es eigentlich bei euch in der Firma?“, wollte Gernot wissen. „Das Letzte, das ich mitbekommen habe, war diese unschöne Angelegenheit mit der missglückten Umwidmung im vergangenen Jahr. Das war vielleicht ein Pech. Hat sich inzwischen alles wieder eingerenkt?“
„Ach das“, entgegnete Ferdinand mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Stimmt, das war unglücklich. Aber wir konnten den Verlust schon bald aufholen. Wir haben mehrere vielversprechende Projekte an Land gezogen, die Firma boomt regelrecht! Wir wissen gar nicht, wie wir die vielen Aufträge abwickeln sollen. Wenn das so weitergeht, müssen wir sogar mehr Mitarbeiter einstellen.“
Lügner , meldete sich die Stimme der Wahrheit in seinem Hinterkopf. Ferdinand wischte sie beiseite. Gernot war ein enger Freund von Konstantin. Gut möglich, dass jedes Wort, das er erzählte, eins zu eins zu ihm durchdringen würde. Und vor seinem perfekten Bruder wollte er sich nicht die Blöße geben, einzugestehen, dass seine Firma in Schwierigkeiten war. Sollte er ruhig glauben, dass alles in bester Ordnung war.
Sie beendeten ihre Golfrunde und aßen anschließend gemütlich im Klubhaus zu Abend. Ferdinand hatte sich nicht lumpen lassen und die Rechnung für seine Freunde beglichen. Als sie sich schließlich am Parkplatz voneinander verabschiedeten und alle in ihren jeweiligen Wagen stiegen, hielt Karl ihn am Arm zurück.
„Hast du noch einen Moment? Ich würde gerne etwas mit dir besprechen.“
„Natürlich. Was ist los, Karl? War doch ein schöner Tag, oder nicht? Ich denke, den beiden hat es gefallen. Das Wetter war auch wirklich ein Traum!“
„Ja sicher. Es geht nicht um die heutige Runde. Ich wollte mit dir über Inés sprechen.“
„Was ist mit ihr?“, erwiderte Ferdinand stirnrunzelnd.
Karl fuhr sich unsicher durch das schüttere Haar. „Ich weiß, es steht mir nicht zu und ich will mich auch nicht in deine Angelegenheiten mischen. Aber Inés hat mich unlängst ins Vertrauen gezogen, was ihren Gesundheitszustand betrifft. Ich mache mir große Sorgen um sie. Wenn du mich fragst, solltest du ihr mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich weiß, in der Firma geht es im Moment drunter und drüber, aber meinst du nicht, du könntest zusehen, dass du etwas früher nach Hause kommst? Oder ihr zumindest an den Wochenenden unter die Arme greifen? Ekaterina ist schließlich nicht da und in ihrem Zustand sollte sie nicht alles alleine schaffen müssen. Wenn du mehr Unterstützung in der Arbeit brauchst, sag es mir und ich übernehme gerne ein paar von deinen Agenden. Deine Familie braucht dich jetzt. Deine Frau braucht dich.“
Ferdinand zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Hat sie dir gegenüber denn etwas dergleichen erwähnt?“
„Nein, natürlich nicht. Du weißt doch, wie Inés ist. Nie würde sie sich über irgendetwas beklagen. Und sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als dich zu bitten, beruflich kürzer zu treten. Aber ich kenne sie, Ferdinand. Im Grunde ihres Herzens wünscht sie sich, mehr Zeit mit dir zu verbringen. Und sie hat die Zuwendung verdient.“
Eine Mischung aus Verärgerung und schlechtem Gewissen machte sich in Ferdinand breit. Karls Aufforderung hatte natürlich seine Berechtigung. Dennoch stand es seinem Freund nicht zu, sich in seine Ehe einzumischen. Wofür hielt er sich? Inés war seine Frau, nicht Karls!
„Karl, mein Lieber. Ich weiß deine Sorge zu schätzen. Aber sei dir versichert, ich habe alles im Griff. Es ist meine Ehe, nicht deine.“
Mit diesen Worten stieg er in seinen Porsche und brauste davon.
KAPITEL 23
Emma.
E mma sprintete die Treppe des Juridicums hinauf. Es war schon zwei Minuten nach vierzehn Uhr – vor zwei Minuten hatte ihre erste Uni-Klausur offiziell begonnen. Außer Atem erreichte sie den Seminarraum und blickte sich hastig um. In der vorletzten Reihe entdeckte sie Céline, der Sitzplatz neben ihr wurde von ihrer brandneuen Louis Vuitton Tasche eingenommen. Sie drängte sich zwischen ihren Kommilitonen durch, schob die Handtasche zur Seite und sank auf den Stuhl.
„Danke, dass du mir einen Platz freigehalten hast“, japste sie.
„Klar. Wo bist du gewesen? Es geht gleich los.“
„Habe noch gelernt. Zeit übersehen“, keuchte Emma. Was nur zur Hälfte stimmte. Tatsächlich hatte sie den Vormittag damit zugebracht, sämtliche Hofer-Filialen der Stadt abzuklappern, um dort Zettel anzupinnen. Wie sich herausgestellt hatte, gab es verdammt viele Hofer-Filialen in Wien.
Bevor Céline Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, wurde der Klausurbogen auch schon vor ihr auf den Tisch geknallt. Emma begann zu schreiben. Obwohl sie vor ihrem Umzug nach Wien nie in Erwägung gezogen hatte, Jura zu studieren, fand sie die Inhalte überraschend interessant. Das Lösen fiktiver Fälle machte ihr Spaß, selbst wenn es sich – wie hier – um antiquiertes römisches Recht handelte. Die Stunde verging wie im Flug. Kurz vor Ende der Arbeitszeit tauschten Céline und sie einen kurzen Blick. Céline nickte ihr zu. Also war es auch ihr gut ergangen. Sehr gut. Der Professor forderte die Studenten auf, ihre Lösungen nach vorne zu bringen.
„Soll ich deine mitnehmen?“, bot Emma an.
Céline streckte ihr den Lösungsbogen entgegen und verließ erleichtert grinsend den Seminarraum. Nachdem sie außer Sichtweite war, zog Emma, unbemerkt von den Augen des Professors, einen computergeschriebenen Zettel aus dem Ärmel ihres Pullovers. Unauffällig schob sie ihn zwischen Célines Klausurbogen. Dann händigte sie der Klausuraufsicht die beiden Arbeiten aus. Verstohlen sah sie sich um. Niemand hatte etwas bemerkt. Alles lief wie geplant.
Céline wartete vor dem Saal auf sie. „War ganz okay, oder? Jedenfalls machbar.“
Emma nickte zustimmend. „Ja, ich hätte es mir schwerer vorgestellt. Mensa?“
„Ich kann leider nicht“, bedauerte Céline. „Ich habe meinen Arbeitstag in der Kanzlei von letzter Woche auf heute verschoben. Ich muss gleich weg.“
„Na gut, dann morgen“, lächelte Emma. Die Mädchen tauschten Küsschen aus und Céline eilte davon.
Emma folgte ihr gemächlich. Sie musste erst in ein paar Stunden im Kinkys sein, sie hatte also noch etwas Zeit. Sie beschloss, sich zur Feier des Tages einen überteuerten Starbucks-Kaffee zu gönnen. Ohne Eile schlenderte sie in Richtung Schottentor. Nach den Anstrengungen des Vormittags und der Klausur eben war sie froh, ausnahmsweise einmal nicht im Stress zu sein.
Die Starbucks-Filiale war wie üblich brechend voll. Der verlockende Duft von Karamell und Kaffee lag in der Luft und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Gerade überlegte sie, ob ihr mehr nach einem Karamell-Macchiato oder einem Vanilla-Latte war als ihr Blick jenen eines großgewachsenen Mannes mit wohlbekannten, stahlblauen Augen kreuzte, der vor ihr in der Schlange stand.
„Du schon wieder“, zwinkerte er ihr zu. „Verfolgst du mich?“
Emmas Herz machte einen Sprung. Wie bereits bei ihrer ersten Begegnung, fühlte sie sich von seiner Attraktivität regelrecht erschlagen.
Sie ließ sich ihre Aufregung jedoch nicht anmerken und zog stattdessen eine Augenbraue hoch. „Na wenigstens fahren Sie mich diesmal nicht über den Haufen“, konterte sie und streckte ihm dann die Hand entgegen. „Emma.“
„Sehr erfreut. Alex.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du der Starbucks-Typ bist, Alex“, erwiderte sie keck.
„Wie soll ich das denn verstehen?“
„Überteuertes Zuckerzeug. Du wirkst nicht gerade wie ein Café Latte-Trinker.“
„Und woher willst du wissen, wie ich meinen Kaffee mag? Du wirst es außerdem nicht glauben – aber sie haben hier auch Espresso.“
„Der nächste“, krähte in diesem Moment die Barista. Alex wandte sich zu der Frau um. „Einen großen Karamell-Macchiato bitte. Und für die Dame einen doppelten Espresso.“
„Nicht dein Ernst“, stammelte Emma, der ausnahmsweise partout kein schlagfertiger Kommentar einfallen wollte.
Alex bezahlte und reichte Emma den winzigen Becher mit der dunklen Flüssigkeit, wobei er sie mit einem spitzbübischen Grinsen bedachte. Er ging voraus zu einem der Stehtische und Emma folgte ihm.
„Was verschlägt dich in diese Gegend?“, fragte ihn Emma. „Wir sind hier ja nicht gerade in der Nähe eures Büros.“
Vorsichtig nippte sie an dem heißen Getränk. Nicht eben das, was sie sich von ihrem Besuch bei Starbucks erhofft hatte. Sie zwang sich, trotz des bitteren Geschmacks, keine Miene zu verziehen. Sehnsüchtig starrte sie auf den Karamell-Macchiato ihres Gesprächspartners.
„Du meinst außer meine Liebe zu überteuertem Zuckerzeug?“, feixte er. Dann wurde er wieder ernst. „Ich hatte ein Meeting in der Gegend.“
„Was ich dich letztes Mal schon fragen wollte: Wie ist es denn für Herrn Lauderthal zu arbeiten? Und was sollte die ominöse Ansage: Vielleicht besser so? “
Alex zuckte die Achseln. „Er ist ein arroganter, cholerischer Chauvinist. Seine weiblichen Angestellten sind nicht gerade zu beneiden. Aber er ist auch intelligent und geschäftstüchtig und die Firma gibt mir die Gelegenheit, spannende Projekte zu betreuen. Und was führt dich hierher? Wohnst du in der Gegend?“
„Nein, nein. Ich studiere am Juridicum und hatte noch Zeit für einen Zwischenstopp.“
„Eine Studentin also. So so. Und was hat eine angehende Juristin dazu veranlasst, sich für einen langweiligen Job in der Immobilienbranche zu bewerben? Nicht gerade naheliegend, wie ich finde.“
„Die Suche nach einem Job, der die Miete für mein überteuertes kleines Loch zahlt“, lachte sie und blinzelte ihn von unten durch ihre langen Wimpern hinweg an.
Alex nickte verständnisvoll. „Die Mietpreise in Wien sind in den letzten Jahren stark angestiegen. Und an die Mietzinsbeschränkungen hält sich leider kaum jemand. Altbau?“
„Was meinst du?“
„Nun ja, nach dem österreichischen Mietrechtsgesetz gibt es fixierte Höchstmieten, jedenfalls für Gebäude, die vor 1953 errichtet wurden, also sogenannte Altbausubstanz. Aber solange sich die Mieter nicht wehren, verlangen die Vermieter oft, was sie wollen. Such mal im Internet danach. Da gibt es ein Berechnungstool, anhand dessen sich leicht feststellen lässt, ob deine Miete zu hoch ist. Möglicherweise kannst du dich an die Schlichtungsstelle wenden und sie herabsetzen lassen.“
„Gut zu wissen, danke. Spricht da die Erfahrung aus dir? Vermietet Lauderthal Immobilien etwa auch zu überhöhten Preisen?“, fügte Emma augenzwinkernd hinzu.
„Nicht schlecht, Frau Anwältin! Aber ich verweigere die Aussage. Außerdem ist das nicht mein Zuständigkeitsbereich“, schmunzelte Alex. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „So. Ich muss jetzt leider los zum nächsten Termin“, stellte er mit einem bedauernden Seitenblick auf Emma fest.
Emma überlegte fieberhaft, wie sie das Gespräch noch etwas in die Länge ziehen konnte. Oder wie sie ihn zumindest dazu brachte, sie nach ihrer Handynummer zu fragen.
„Würdest du mir vielleicht den Link zu der Seite mit der Schlichtungsstelle schicken, von der du gesprochen hast?“, improvisierte sie. Sie kramte in ihrer Tasche nach Block und Stift und kritzelte ihre E-Mail-Adresse auf eine Ecke, die sie abriss und Alex hinhielt.
Er nahm den Zettel entgegen und steckte ihn in die Sakkotasche. „Kein Problem. Mache ich gerne.“
Dann hielt er Emma die Hand zur Verabschiedung hin und bedachte sie mit einem seiner durchdringenden Blicke, die ihr die Knie weich werden ließen. „Pass auf, dass du nicht überfahren wirst. Wäre schade um dich!“, zwinkerte er. Dann wandte er sich um und steuerte auf den Ausgang zu.
KAPITEL 24
Ferdinand.
F erdinand starrte geistesabwesend durch das Fensters seines Büros. Die Eiche im Hof hatte dem kommenden Winter Tribut gezollt und sich bereits der meisten ihrer bunten Blätter entledigt. Trüber Nebel lag über der Stadt und umhüllte die wie hilflose Arme in die Luft gereckten Äste des Baumes. Die Einsamkeit und Trostlosigkeit, die ihn bei diesem Anblick erfüllte, spiegelten sich in seiner eigenen tristen Stimmung wider.
Er war jetzt seit sechs Uhr morgens hier. Vor ihm stand die dritte Tasse Kaffee. Seine Gedanken kreisten um die unverhohlene Drohung von Herrn Krall und er zermarterte sich das Hirn nach einer Möglichkeit, sein Projekt und damit die Firma zu retten. Doch zu seinem Ärger wollte ihm schlichtweg keine einfallen. Selbst wenn sie rechtzeitig ein neues Bauunternehmen fänden – wie sollte er das nötige Kapital für die Anzahlung aufbringen? Das Fiasko im letzten Jahr hatte die Reserven des Unternehmens stark strapaziert. Seine eigenen Rücklagen reichten nicht, um den Verlust abzudecken. Inés konnte und wollte er nicht um eine Finanzspritze bitten.
Und dann war da noch Natascha. Ferdinand seufzte.
Er hatte im Laufe der Jahre zahlreiche Affären gehabt. Meist auf Geschäftsreisen oder mit einer seiner Angestellten. Kurzweilige Liebeleien voll leidenschaftlichem Sex aber ohne Verpflichtungen. Stets hatte er rechtzeitig den Absprung geschafft. Nicht im Traum hätte er es für möglich gehalten, dass er einmal echte Gefühle für eine seiner Gespielinnen entwickeln würde. Aber mit Natascha war das etwas anderes.
Alles hatte auf einer Benefizveranstaltung im letzten Jahr begonnen. Inés war krank gewesen und hatte nicht mitkommen können, sodass er ohne sie losgezogen war. Ferdinand musste lächeln, als er an den Tag zurückdachte. Er kannte Natascha bereits flüchtig von einigen gesellschaftlichen Anlässen, sie war eine alte Freundin seiner Frau aus dem Golfclub. Vor jenem schicksalhaften Abend war ihm jedoch nie aufgefallen, wie ausgesprochen schön sie war. In dieser Nacht trug sie ein umwerfendes schwarzes Abendkleid, das ihre weiblichen Rundungen an den richtigen Stellen betonte und zu seinem Entzücken war sie ebenfalls alleine gekommen und zudem noch seine Tischdame. Sie unterhielten sich angeregt und Ferdinand war überrascht, wie klug und witzig Natascha war. Das eine führte zum anderen. Seither war nichts mehr wie zuvor. Er spürte eine Verbindung zu dieser Frau, die er zu Inés auch in über zwanzig Jahren Ehe nicht hatte aufbauen können. Natascha gab ihm das Gefühl, wirklich ihn zu sehen. Von ihr fühlte er sich verstanden.
Inés hingegen war eine Heilige. Die Ehefrau aus dem Bilderbuch. Schön, gebildet, manierlich, sanftmütig. Nie wurde sie laut, verlor die Beherrschung oder sagte etwas Unbedachtes. Stets war sie verständnisvoll. Dazu kam das schier unerschöpfliche Familienvermögen. An Inés Seite führte er das Leben, das er sich immer erträumt hatte. Sie war sein Lottosechser. Aber alles im Leben hatte seinen Preis. Wer lebte schon gerne mit einem Engel zusammen? Sie waren ein gutes Team, keine Frage. Aber ebenbürtige Partner? Nein, das nicht. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass er ihr alles verdankte und dafür liebte und hasste er sie zugleich. Sie war es gewesen, die Lauderthal Immobilien GmbH gegründet und ihn als Geschäftsführer eingesetzt hatte. Und so schwer er auch schuftete, spürte er doch, dass es in Wahrheit ihr Verdienst war. Er lebte in einem goldenen Käfig, dessen war er sich bewusst. Und das hatte ihm auch nie etwas ausgemacht – bis er Natascha getroffen hatte.
Er liebte diese Frau – mehr als er je eine andere geliebt hatte. Aber hatte er wirklich den Mut, alles für sie aufzugeben? Er konnte sich nicht von Inés trennen. Das wäre sein finanzieller Ruin. Das Ende seines Lebens, wie er es kannte und schätzte.
Er gestand es sich ungern ein, aber mit der Nachricht von Inés Leberzirrhose war für ihn ein Licht am Horizont erschienen. Auch wenn er sich für seine Gedanken schämte – mit ihrem Tod würden sich all seine Probleme auf einen Schlag in Luft auflösen. Mit seinem Teil des Erbes könnte er die Firma sanieren und nach einer angemessenen Trauerphase mit Natascha ein neues Leben beginnen. Das Unmögliche schien auf einmal in greifbarer Nähe.
Freilich machte die Sache mit der Stiftung alles komplizierter. Erst am Vorabend hatte Inés ihm eröffnet, dass sie sich für die Gründung der Privatstiftung entschieden und für Dezember einen weiteren Notartermin vereinbart hatte. Und so sehr er sich auch bemüht hatte, sie umzustimmen, war es ihm nicht geglückt. Vom guten Willen eines Stiftungsvorstands abhängig zu sein, gefiel ihm gar nicht. Wäre er mit einer anderen Frau an seiner Seite überhaupt noch vom Kreis der Begünstigten umfasst? Er bezweifelte es.
Ein zaghaftes Klopfen an der Zimmertür riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.
„Ja?“
Frau Wagner trat zögerlich ein.
„Herr Magister, haben Sie kurz Zeit?“
Ferdinand machte eine auffordernde Handbewegung.
„Herr Magister, im Empfangsbereich sitzen … Leute. Viele Leute. Sie meinen, sie wollen zu Ihnen. Sind Sie bereit, Ihren Besuch zu empfangen?“
„Was für Leute?“, fragte er verständnislos. „Ich habe heute keine Termine.“
„Sie sagen, sie beziehen sich auf eine Hofer-Anzeige.“
„Was für eine Anzeige?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Darf ich sie nun hereinbitten?“
Ferdinand nickte unwirsch. Der Tag wurde immer besser.
Seine Assistentin verschwand und führte kurz darauf eine merkwürdige Ansammlung von Menschen in sein Büro.
„Was für ein schöner Schreibtisch, der passt wunderbar, nicht war Eddie?“, kreischte eine der Frauen, kaum dass sie das Büro betreten hatte. Schnurstracks kam sie auf seinen Arbeitsplatz zu und strich besitzergreifend mit den Händen über das Holz. Angewidert bemerkte Ferdinand die dunklen Ränder unter ihren Fingernägeln. Sie standen in Einklang mit ihrem auch ansonsten ungepflegten Erscheinungsbild. Er rümpfte die Nase.
„Ich war zuerst hier! Ich habe Anrecht auf den Tisch!“, beschwerte sich ein kleinwüchsiger Mann mit Glatze hinter ihr.
Entsetzt beobachtete Ferdinand die Truppe, die sich wie Ungeziefer im ganzen Raum verteilt hatte und sein Inventar begutachtete, als befänden sie sich auf einem Flohmarkt. Was zum Teufel wollten diese Leute von ihm?
„Darf ich fragen, was Sie hier zu suchen haben?“, rief er mit lauter Stimme in die Menge.
„Na die Anzeige!“, entgegnete ein anderer und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wäre er debil. „Wie viel für die Lampe?“
„Was für eine Anzeige?“, polterte Ferdinand. Sengende Hitze wallte in ihm hoch und er konnte spüren, wie sein Gesicht krebsrot anlief.
Der junge Mann mit Brille reichte ihm ein Blatt Papier.
Während er den Text überflog, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
NOTVERKAUF, BÜROAUSSTATTUNG ZU SPOTTPREIS ZU VERGEBEN. ABZUHOLEN AB 4. NOVEMBER 2019, 9 UHR, FLORIANIGASSE 40A, 1080 WIEN. ANSPRECHPERSON: FERDINAND ENGENBERG.
Fassungslos starrte Ferdinand auf den zerknitterten Zettel in seiner Hand. Das konnte doch nicht wahr sein.
„Woher haben Sie das?“, blaffte er den Mann an.
„Hing in Hofer an Pinnwand. Was wollen Sie für Lampe? Gute Preis?“
Ferdinand hatte das Gefühl, als würde sein Kopf jeden Moment explodieren. Die Wut, die ihn durchflutete, übernahm die Oberhand und bahnte sich unaufhaltsam ihren Weg durch seinen Mund.
„Raus hier! Alle! Sofort! Es gibt keinen Notverkauf!“, brüllte er. „Verschwinden Sie aus meinem Büro!“ Spuckefetzen flogen aus seinem Mund. Mit dem hochroten Gesicht und der wutverzerrten Fratze sah er aus wie ein tollwütiges Tier.
„Und Sie da, nehmen Sie gefälligst ihre dreckigen Finger von meinem Besprechungstisch!“
Die Meute wich unter wütendem Gemurmel zurück.
„Frau Wagner!“
Die junge Frau eilte herbei.
„Schmeißen Sie diesen Pöbel auf direktem Weg aus dem Büro! Und passen Sie auf, dass niemand etwas anfasst!“, donnerte er.
Frau Wagner starrte ihn mit angstgeweiteten Augen an.
„Haben Sie mich nicht verstanden? Sofort!“
Die Angestellte löste sich aus ihrer Schockstarre und bemühte sich, den zornigen Mob aus seinem Zimmer zu geleiten. Maulend und fluchend folgte er ihr.
Endlich fiel die Tür hinter der letzten Person ins Schloss. Er war wieder allein.
Immer noch rasend vor Wut griff Ferdinand nach der Kaffeetasse auf seinem Schreibtisch und schleuderte sie mit aller Kraft gegen die Tür. Die Tasse zersprang in tausend Scherben. Kaffeesprenkel verteilten sich auf der weißen Wand. Schnaufend tigerte er im Raum umher. Was sollte das? Was war momentan nur los? Irgendwer versuchte, ihn zu sabotieren, das wurde ihm auf einen Schlag klar. Aber nicht mit ihm. Wer auch immer für dieses Spektakel verantwortlich war, konnte etwas erleben!
KAPITEL 25
Emma.
S turmfrei! Party bei mir, Oberer Schreiberweg 112a, 1190 Wien. 9. November 2019, 21 Uhr. Keine Ausreden! XoXo“. So hatte die Einladung der Prinzessin gelautet. Und da war sie nun, ausstaffiert in einem enganliegenden schwarzen Kleid und gemeingefährlich hohen Schuhen. Man passte sich schließlich an. Das Teil war zwar ziemlich alt, saß dafür aber wie angegossen.
Emma drückte den Klingelknopf und das große Eisentor glitt zur Seite. Sie musste an das letzte Mal denken, als sie vor diesem eindrucksvollen Anwesen gestanden hatte. Erinnerte sich an die Hoffnung, die sie damals erfüllt hatte. Die Aufregung, endlich ihre leibliche Mutter kennenzulernen. An den Wunsch, Ekaterina würde sie in den Arm nehmen und ihr ins Ohr flüstern, sie hätte einen schrecklichen Fehler begangen und sei unendlich glücklich, sie wiedergefunden zu haben. Wie sehr sich Traum und Wirklichkeit doch voneinander unterscheiden konnten, dachte sie bitter. Diese Gedanken kamen ihr vor wie aus einem anderen Leben.
Vorsichtig, um auf den hohen Hacken nicht zu verunfallen, stöckelte Emma die lange Einfahrt hinauf. Als sie die Treppen erreicht hatte, wurde die Eingangstüre aufgerissen und Céline warf sich ihr in die Arme.
„Da bist du ja endlich! Komm rein, wir starten die erste Tequila-Runde!“, quiekte sie. So ähnlich hatte sie damals Sarah begrüßt, wie Emma sich erschaudernd erinnerte. Mit dem befremdlichen Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein, folgte sie ihrer Freundin ins Haus. Oder sollte sie eher sagen – in den Palast?
Der riesige Eingangsbereich war mit hellem Marmor gefliest und führte in eine geräumige Garderobe. Emma hängte ihre Jacke neben die der anderen.
„Soll ich die Schuhe ausziehen?“, fragte sie höflich.
Céline warf ihr einen spöttischen Blick zu und hob eine Augenbraue. Also nicht. Auch gut. Vom Flur zweigten einige Türen in angrenzende Zimmer ab. Emma war neugierig, was sich wohl dahinter verbergen mochte, aber die Gastgeberin gab ein zügiges Tempo vor und schien keine Hausführung eingeplant zu haben. Der Gang wurde breiter und mündete in einen quadratischen zweistöckigen Raum, von dem wiederum verschiedene Türen in andere Bereiche des Hauses und eine Treppe in das obere Stockwerk führten. Der Boden war mit dunklem Fischgrät Parkett ausgelegt. Céline steuerte schnurstracks auf eine große Doppelflügeltür zu. Fröhliches Gelächter und Gläserklirren drang an ihre Ohren.
Sie passierten die Tür und Emma riss beeindruckt die Augen auf. Das musste das Wohnzimmer sein. Es war so groß, dass die ganze Wohnung der Schneiders problemlos hineingepasst hätte. Die Decken waren mindestens vier Meter hoch. Der rechte Teil des Raums wurde von einer gemütlichen Sitzgruppe eingenommen, auf der bequem zehn Leute Platz fanden. Diverse Stehlampen verströmten warmes Licht und sorgten gemeinsam mit dem beachtlichen Perserteppich für eine heimelige Atmosphäre.
Emma fühlte den altbekannten Stich in der Brust. Nicht, dass sie sich je besonders für diesen Reichtum interessiert hätte, aber dem Gedanken, dass all das ihr Leben hätte sein können, konnte sie sich trotzdem nicht ganz verschließen. Die bekannte Wut ob der Ungerechtigkeit regte sich in ihr.
Im Wohnzimmer tummelten sich bereits etwa fünfzehn Mädchen und Jungs in ihrem Alter. Einige davon, darunter Sarah, Stephanie und Caro, erkannte sie wieder, andere hingegen hatte sie noch nie gesehen.
Ein gutaussehender junger Mann gesellte sich zu ihnen und legte besitzergreifend einen Arm um Célines Taille. Er war großgewachsen und breitschultrig und trug seine blonden, halblangen Haare nach hinten gegelt.
„Das ist Marc. Marc, das ist Emma“, stellte Céline die beiden einander vor. Das war also ihr Freund. Emma erkannte ihn von Célines Facebook-Fotos wieder.
Marc begrüßte Emma, wobei seine Augen für ihren Geschmack etwas zu lange an ihrem Dekolletee hängenblieben. Céline schien das nicht zu bemerken, denn sie wuselte schon weiter und drückte den beiden kurz darauf je ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit samt Zitronenscheibe in die Hand.
„Auf uns!“, prostete sie ihnen zu und stürzte das Getränk hinunter. Die anderen taten es ihr gleich. Emma verzog angeekelt das Gesicht. Sie hatte Tequila noch nie besonders leiden können.
Die Musik wurde lauter und die Stimmung ausgelassener. Emma unterhielt sich eine Weile mit Caro, die ihr eine geschlagene Stunde von ihrem aktuellen Objekt der Begierde – einem von Marcs Freunden – vorschwärmte, was Emmas Nerven stark strapazierte.
„Dir liegen doch immer alle Männer zu Füßen. Wie machst du das bloß?“, wollte sie wissen.
„Ist das so?“
Caro hob überrascht die Brauen. „Das musst du doch bemerkt haben! Sieh doch nur, wie sie dich ansehen. Selbst Marc kann die Augen nicht von dir lassen.“
Emma zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte sich nie viele Gedanken über ihre Wirkung auf das männliche Geschlecht gemacht und war immer wieder verwundert, was andere Frauen für einen Affentanz aufführten, um die Aufmerksamkeit von Jungs zu erregen. Während Emma nach einer höflichen Antwort suchte, gesellte sich ein Mädchen in einem roten Jumpsuit zu ihnen. Emma ergriff die Gelegenheit zu entkommen beim Schopf und entschuldigte sich in Richtung Toilette. Die Einfältigkeit der Anwesenden war wirklich anstrengend.
Sie kehrte in den quadratischen Vorraum zurück, und überlegte, welche der vielen Türen wohl zum Badezimmer führte. Planlos öffnete sie eine von ihnen und spähte hinein. Ein Staubsauger, eine Bügelmaschine und verschiedene andere Haushaltsgeräte kamen zum Vorschein. Definitiv nicht das Bad. Sie schloss die Tür wieder und versuchte es bei der nächsten. Interessiert ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Am Fenster stand ein pompöser Schreibtisch, auf dem ein Computer mit zwei Bildschirmen thronte. Die Wände waren mit Regalen gesäumt, die eine beeindruckende Ansammlung grauer Aktenordner beherbergten. Das musste das Arbeitszimmer von Herrn Lauderthal sein, schoss ihr durch den Kopf.
Sie blickte über die Schulter. Niemand zu sehen. Kurz entschlossen trat sie ein und ließ die Tür lautlos hinter sich ins Schloss fallen. Wenn sie nun schon einmal hier war …
Emma ging zum Schreibtisch und knipste die Schreibtischlampe an. Auf Zehenspitzen schlich sie an den Regalen entlang und inspizierte die feinsäuberlich beschrifteten Aktenordner. Neugierig zog sie einen mit dem Titel Lauderthal Immobilien GmbH, Objekte 1080 aus der Stellage und schlug ihn auf.
Die Trennblätter waren mit Adressen von Häusern im achten Wiener Gemeindebezirk betitelt. Sie blätterte zu der Rubrik Lerchenfelder Straße 48 . Eine Liste mit Namen kam zum Vorschein, gefolgt von Mietverträgen und anderen Dokumenten, mit denen sie nichts anfangen konnte. Das mussten die Unterlagen zu den Zinshäusern sein, die im Eigentum der Lauderthal Immobilien GmbH standen. Alex Bemerkung letzte Woche auf die Frage, ob Lauderthal Immobilien auch zu überhöhten Preisen vermietete, kam ihr in den Sinn. Kein Kommentar. In ihrem Kopf reifte ein verwegener Plan. Schnell zog sie ihr Handy hervor und fotografierte das Inhaltsverzeichnis. Insgesamt waren fünf Objekte angeführt. Sie überzeugte sich davon, dass das Bild gut lesbar war, und stellte den Aktenordner dann an seinen ursprünglichen Platz zurück. In dem Regal befanden sich noch acht weitere Ordner mit ähnlicher Beschriftung. Sie zog einen nach dem anderen heraus und verfuhr wie mit dem Ersten.
Nachdem sie fertig war, blickte sie auf die Uhr. Sie war jetzt schon zwanzig Minuten weg von der Party. Hoffentlich suchte niemand nach ihr. Rasch erhob sie sich und vergewisserte sich, dass sie alles so hinterließ, wie sie es vorgefunden hatte, dann löschte sie das Licht und schlüpfte in den quadratischen Raum zurück.
„Hey! Was hast du da zu suchen?“, tönte eine Stimme hinter ihr. Emma fuhr herum.
Es war Sarah. Sie stand mit ihrem Glas in der Hand an die Wand gelehnt und beäugte sie argwöhnisch.
„Habe die Toilette gesucht“, entgegnete Emma scheinheilig. „Habe mich verlaufen. Weißt du, wo ich sie finde?“
Sarah deutete auf die Tür zu ihrer Linken. Einen Dank murmelnd drängte sie sich an ihr vorbei und betrat das Badezimmer. Huch, das war knapp, dachte sie. Diese Sarah war eine Plage!
Anschließend mischte sie sich wieder unter die Partygesellschaft, wo ein Grüppchen bereits ausgelassen zur Musik wippte. Auf der Sofalandschaft saß ein Pärchen und knutschte.
„Emmmaaa“, rief Céline. Ihre Augen waren glasig und ihre Wangen vom Alkohol gerötet. Widerwillig erwiderte sie die Umarmung und ließ sich zu noch einem Drink überreden.
Mit ihrem Glas Prosecco in der Hand beobachtete sie die Meute mit einer seltsamen Mischung aus Abscheu und Faszination. So musste Célines Jugend ausgesehen haben. Sie fühlte einen Anflug von Neid ob der ausgelassenen Unbeschwertheit der Anwesenden. Wie schön es sein musste, wenn die größten Sorgen im Leben waren, bei wem die nächste Hausparty stattfand und wer das neueste Modell der Louis Vuitton Taschenkollektionen trug! Sie selbst war nie auf irgendwelchen Partys eingeladen gewesen. Sie hatte ihre Abende stattdessen an Fionas Seite im Nexos verbracht, war in der Schule die Außenseiterin, bei den Schneiders unerwünscht gewesen. Auf einmal wollte sie nur noch nach Hause. Was machte sie eigentlich hier? Sie passte nicht zu diesen Leuten. Sie hatte in dieser Welt voller Oberflächlichkeiten und falscher Freundlichkeit nichts verloren.
KAPITEL 26
Céline.
A ngespannt beobachtete Céline, wie der Professor, eine große Aktentasche unter dem Arm, forschen Schrittes den Seminarraum betrat. Da mussten die Klausurlösungen drin sein, dachte sie, während sie ihre Finger abwechseln ineinander verschränkte und wieder löste. Für diese Klausur hatte sie sich besser vorbereitet als jemals zuvor für eine Prüfung. Der Stoff war sperrig gewesen und hatte ihr mehr als nur eine schlaflose Nacht beschert. Das Lösungsschema für die Fälle aus römischem Recht hatten ihr einfach nicht in den Kopf wollen. Aber der Aufwand hatte sich gelohnt. Im Grunde wusste sie, dass sie bestanden haben musste.
Mit quälender Langsamkeit teilte der Professor die Klausuren aus. Gerade knallte er Emma einen Stapel Zettel vor die Nase. Neugierig lugte sie über die Schulter ihrer Freundin. Mit roter Schrift prangte unleserlich die Gesamtbeurteilung Gut auf der Arbeit.
„Super gemacht“, freute sich Céline. „Zeig mal!“
Rasch überflog sie den Lösungsbogen. „Puh, die Fragen zu dem zweifachen Verkauf des Sklaven waren wirklich fies. Da habe ich sicher auch einige Punkteabzüge bekommen. Aber abgesehen davon warst du echt gut.“
Atemlos verfolgte Céline wie Professor Kerchner sich zwischen den Bänken hindurchschlängelte. Er war mit dem Austeilen fast fertig. Nachdem er mit einem anerkennenden Lächeln einer Studentin in der vordersten Reihe ihre Arbeit überreicht hatte, kehrte er zur Tafel zurück und warf einen Blick auf seine Notizen.
„Lauderthal, nach der Stunde bitte zu mir“, rief er mit gebieterischer Stimme in den Saal.
Céline blinzelte verwirrt. Weshalb bekam sie ihre Lösungen nicht wie all die anderen? Sie warf Emma einen fragenden Blick zu. Die zuckte nur ratlos mit den Schultern.
„Vielleicht konnte er deine Schrift nicht lesen und hat noch eine Frage?“, raunte sie ihr zu.
Céline nickte langsam. Ja, so musste es sein. Ungeduldig wartete sie ab, bis die Lehrveranstaltung geendet hatte und ihre Kommilitonen auf den Ausgang zuströmten.
„Geh doch schon einmal vor in die Mensa, ich komme gleich nach“, rief sie Emma über die Schulter hinweg zu und eilte nach vorne zum Professorenpult.
„Sie wollten mich sprechen?“, wandte sie sich an Mag. Kerchner, kaum dass sie ihn erreicht hatte. „Stimmt etwas nicht mit meiner Klausur? Konnten Sie alles lesen?“
Nervös trat sie von einem Bein aufs andere. Der Professor ließ sie dadurch jedoch nicht beirren, sondern packte in Ruhe seine Sachen zusammen, ehe er sich ihr mit ernster Miene zuwandte.
„Es tut mir leid, Frau Lauderthal, aber ich konnte Ihre Arbeit nicht werten.“
Céline glaubte, sich verhört zu haben. „Aber ... aber warum denn nicht?“, stammelte sie verständnislos.
Wortlos ließ er einen kleinen, computergeschriebenen Zettel auf das Pult gleiten. „Kommt Ihnen der bekannt vor?“
Fassungslos starrte Céline auf das zerknitterte Papier. Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. „Sie glauben doch nicht etwa ...“, sie brach ab. „Der gehört mir nicht“, brachte sie schließlich mit zitternder Stimme hervor.
Professor Kerchner seufzte. „Er wurde aber in Ihrem Klausurbogen gefunden, Frau Lauderthal. Ihnen ist doch klar, wie das für mich aussieht. Wem soll er denn sonst gehören?“
„Das weiß ich nicht. Mir jedenfalls nicht!“, beteuerte Céline. Ihre Wangen brannten vor Scham. Sie hatte nicht geschummelt. Ganz im Gegenteil – nie zuvor hatte sie so viel Zeit in die Vorbereitung für eine Prüfung investiert wie für diesen Kurs.
Der Professor bedachte sie nur mit einem mitleidigen Lächeln. „Ich kann keine Schummeleien in meinen Kursen tolerieren. Noch dazu, wenn Sie quasi auf frischer Tat ertappt werden. Mir bleibt nichts anderes übrig, als diesen Vorfall der Studienleitung zu melden.“
Céline gab ein gequältes Stöhnen von sich. Die Machtlosigkeit und Ungerechtigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen. „Aber ... ich schwöre Ihnen, Professor, das muss ein Missverständnis sein! Der Zettel muss irgendwie in meinen Klausurbogen geraten sein. Ich habe gewiss nicht gemogelt!“
Ihre Verzweiflung schien Wirkung zu zeigen, denn der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wurde weicher. Er trat einen Schritt auf sie zu und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Céline blickte mit feuchten Augen zu ihm hoch. „Bitte, ich bitte Sie ...“
„Es tut mir wirklich leid. Aber mir sind die Hände gebunden. Wenn Sie Probleme mit dem Stoff haben, hätten Sie doch zu mir kommen können. Schummeln hingegen ist keine Option. Merken Sie sich das.“
„Aber ich habe nichts gemacht!“, schluchzte Céline.
Der Professor lächelte besänftigend zu ihr herab und drückte ihren Arm.
„Beruhigen Sie sich, Frau Lauderthal. Ich werde mich dafür einsetzen, dass Sie mit einer Verwarnung davonkommen und ungeachtet dieser Vorkommnisse an der zweiten Klausur teilnehmen dürfen. Wenn Sie die zumindest mit einem Befriedigend bestehen, können Sie meine Vorlesung trotz allem positiv abschließen. Lernen sie ordentlich, dann schaffen Sie es bestimmt. Mehr kann ich nicht für Sie tun.“ Er hob mahnend den Zeigefinger. „Aber kein Mogeln mehr!“
Céline schniefte. Diese Ungerechtigkeit stank doch zum Himmel. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Dass ausgerechnet ihr so etwas passieren musste! Sie hatte noch nie geschummelt, nicht einmal in der Schule. Dafür hatte sie viel zu große Angst, erwischt zu werden.
Schließlich wischte sie sich die triefende Nase und nickte ergeben. Immerhin flog sie nicht von der Uni.
Mit hängenden Schultern verließ sie den Saal und machte sich auf den Weg in die Mensa, wo Emma bereits auf sie wartete. Dem Gesicht ihrer Freundin nach zu urteilen merkte man ihr deutlich an, dass etwas nicht stimmte. Bestimmt war ihr Make-up vom Weinen ruiniert.
„Was ist denn passiert? Ist alles in Ordnung? Was wollte er denn von dir?“, bestürmte Emma sie, kaum dass sie in Hörweite war.
Céline sank auf einem freien Stuhl in sich zusammen. Erneut spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Warum ich auch so nahe am Wasser gebaut sein muss , fluchte sie lautlos und fuhr sich unwirsch mit dem Ärmel über die feuchten Wangen.
„Meine Klausur wurde nicht beurteilt!“, klagte sie.
Emmas Gesicht nahm einen schockierten Ausdruck an. „Was soll das heißen, sie wurde nicht beurteilt? War sie denn negativ?“
„Nein!“, entgegnete Céline aufgebracht. „Irgendwie muss ein Schummelzettel in meine Lösungen gerutscht sein. Professor Kerchner hat ihn gefunden und dachte, ich hätte betrogen.“
„Ich fasse es nicht“, widersprach Emma ungläubig. „Hast du wirklich geschummelt?“
„Natürlich habe ich das nicht!“
„Aber wie konnte das dann passieren?“
„Ich weiß es doch auch nicht! Vermutlich gehört er irgendeinem anderen Studenten. Aber da der Zettel nun einmal in meinen Lösungen steckte …“ Sie brach ab und verbarg verzweifelt das Gesicht in den Händen. Ihr Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt.
Zaghaft streckte Emma die Hand aus und strich ihr tröstend über den Rücken. Céline warf die Arme um die Schultern ihrer Freundin und drückte sie so fest, dass Emma ein erschrecktes Keuchen von sich gab. Nach einer Weile schien sie sich zu entspannen und erwiderte die Umarmung.
„Und was passiert jetzt?“, hörte sie Emma an ihrem Haar flüstern. „Was hat Professor Kerchner denn noch gesagt?“
„Er muss den Vorfall der Studienleitung melden. Immerhin will er für mich ein gutes Wort einlegen, sodass ich trotzdem an der zweiten Klausur teilnehmen darf. Wenn ich die bestehe, falle ich zumindest nicht durch. Aber es ist alles so verdammt ungerecht!“
Widerstrebend löste sie sich von Emma. „Wie soll ich das nur meinem Vater erklären?“, schniefte sie.
„Warum musst du es ihm denn überhaupt erzählen?“
Céline gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Dad fragt uns ständig, wie es mit der Uni läuft. Und ich habe ihm gesagt, dass die Klausur gut gelaufen ist. Du hast keine Ahnung, wie mein alter Herr ist. Das Einzige, was ihn interessiert, sind Camillos und meine Leistungen. Alles andere zählt für ihn nicht. Wahrscheinlich hat er längst vor seinen Freunden damit geprahlt, was für eine tolle Studentin seine Tochter doch ist.“
Emma senkte beschämt den Blick und schwieg.
„Wie ist das eigentlich bei deinen Eltern? Interessieren sie sich für deine Erfolge an der Uni? Ich wette, sie sind stolz auf dich, dass du gleich beim ersten Anlauf eine Zwei bekommen hast.“
Ihre Freundin stieß ein trockenes Lachen aus. „Zu meinen leiblichen Eltern habe ich keinen Kontakt und meine Adoptiveltern kümmert mein Leben einen Dreck“, brach es aus ihr hervor. „Entschuldige die Wortwahl.“
Céline sah überrascht auf. „Du bist adoptiert? Das wusste ich gar nicht.“
Ihre Freundin zuckte nur die Achseln. „Du hast nie gefragt. Und ich rede nicht gerne über meine Familie.“
„Weißt du denn, wer deine leiblichen Eltern sind?“
„Sagen wir es so – sie wollen keinen Kontakt.“
„Aber wer wäre denn nicht stolz, jemanden wie dich als Tochter zu haben?“, entfuhr es Céline ungläubig. Auf einmal überkam sie ein schlechtes Gewissen, wie sie dasaß und über ihren Vater jammerte, wo Emma es doch noch so viel schlimmer getroffen hatte.
„Lieb, dass du das sagst“, gab Emma zurück. Ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass ihr das Thema peinlich war. „Und jetzt lass uns über etwas anderes reden, ja? Wollen wir noch auf einen Kaffee zu Starbucks? Ich habe den restlichen Nachmittag frei.“
„Liebend gerne, aber ich muss leider gleich weg“, stöhnte Céline. „Ich treffe mich um vier Uhr mit Sarah im Landtmann .“
Emma warf einen Blick auf das Display ihres Handys. „Dann musst du dich aber beeilen, es ist schon fünf Minuten vor vier.“
Céline zuckte zusammen und sprang auf. „Mist, das auch noch. Mit Sarah ist es im Moment sowieso schwierig. Ich glaube, sie ist eifersüchtig, dass wir uns so gut verstehen. Ich kann unmöglich zu spät kommen. Mach’s gut Süße, wir können ja später noch einmal telefonieren. Ich hab‘ dich lieb – und danke fürs Trösten!“
Mit diesen Worten raffte sie ihre Sachen zusammen und eilte davon.
***
Das Landtmann , ein Altwiener Kaffeehaus, bekannt für seine exquisiten Mehlspeisen und die typisch Wienerische, grantige Bedienung war wie immer brechend voll. Atem ringend drängte sich Céline an einer Gruppe Touristen am Eingang vorbei und fand Sarah im Wintergarten an einem Fenstertisch sitzend vor. Vor ihr stand ein halb voller Café Latte.
Céline erkannte sofort, dass ihre Freundin schlechte Laune hatte. Missmutig beäugte sie ihre sorgsam manikürten, magentafarbenen Fingernägel und warf einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr.
„Du bist zu spät.“
„Tut mir echt leid, aber ich kann nichts dafür. Ich wurde von meinem Professor aufgehalten“, entschuldigte sich Céline. Dass sie im Anschluss daran noch mit Emma in der Mensa zusammengesessen hatte, behielt sie lieber für sich.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Sarah halbherzig.
„Ja, alles bestens. Aber lass uns über dich sprechen: Wie war deine Woche bisher? Die Party letzten Freitag war gelungen, findest du nicht? Ich für meinen Teil habe jedenfalls das ganze Wochenende gebraucht, um wieder einigermaßen nüchtern zu werden. Alle haben sich prächtig amüsiert.“
„Den Eindruck hatte ich auch“, entgegnete Sarah säuerlich.
„Aber …?“
„Diese Emma. Mit der stimmt etwas nicht.“
„Fängst du jetzt schon wieder damit an?“, stöhnte Céline und kam nicht umhin, entnervt die Augen zu verdrehen. Diese ständige Eifersucht ging ihr gehörig auf die Nerven.
„Ich habe nur dein Bestes im Sinn, Honey, und ich sage dir, diese Emma ist ein faules Ei. Bei der Party habe ich sie erwischt, wie sie aus dem Arbeitszimmer deines Vaters kam. Weiß der Henker, was sie dort zu suchen hatte!“
„Wahrscheinlich hat sie nur die Toilette gesucht“, erwiderte Céline mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Du weißt doch, was für ein Labyrinth unser Haus ist.“
„Ja, das hat sie auch gesagt“, entgegnete Sarah verdrießlich. „Ich glaube es ihr nur nicht. Nenn es Instinkt, was weiß ich.“
„Das ist doch lächerlich. Schon seit ich Emma zum ersten Mal erwähnt habe, machst du so ein Theater. Lass sie in Frieden bitte, ja? Ich habe gerade wirklich keinen Nerv für deine Dramen.“
„ Ich mache Theater? Du scharwenzelst doch um dieses Mädchen herum, als wäre sie die Königin von England höchstpersönlich!“
„Ich scharwenzle um niemanden herum – ich bin mit ihr befreundet . Kannst du es etwa nicht ertragen, dass ich auch andere Freundinnen neben dir habe?“, konterte Céline mit einem Anflug von Ungeduld. „Sie findet dich übrigens nett.“
Sarah hob zweifelnd die rechte Braue. „Na vielen Dank auch. Ich mache mir doch bloß Sorgen um dich, das ist alles.“ Ihre Miene verfinsterte sich. „Bist du wirklich so selbstverliebt, dass du glaubst, ich wäre eifersüchtig auf deine anderen Freundinnen? Und dann auch noch auf so eine dahergelaufene Schnepfe? Pff.“
Normalerweise hätte Céline eingelenkt und Sarah mit ein paar versöhnlichen Worten besänftigt, ihren Ärger über deren egozentrisches Verhalten hinuntergeschluckt. Doch nicht an diesem Tag. Ihr Geduldsfaden war zum Zerreißen gespannt und mit ihrer Mutter und der verpatzten Prüfung hatte sie wahrhaft genug Sorgen, als dass sie sich auch noch mit Sarahs Befindlichkeiten befassen konnte.
„Ich soll selbstverliebt sein? Du spinnst wohl“, brach es aus ihr hervor.
Sarah schürzte die Lippen und erhob sich so rasch, dass die Kaffeetasse vor ihr gefährlich ins Wanken geriet.
„In Anbetracht unserer langjährigen Freundschaft lasse ich dir das noch einmal durchgehen“, sagte sie hochnäsig. „Aber so sprichst du nicht mit mir.“ Sie wandte sich zum Gehen.
Das war zu viel für Céline.
„Wunderbar, dann geh doch“, stieß sie hervor. „Spinn dich in Ruhe aus. Du lässt mir das durchgehen ? Wer von uns beiden ist hier selbstverliebt? Ich bitte dich, Sarah, nimm dich doch nicht immer so wichtig. Du bist nicht der Mittelpunkt des Universums.“
Diese gab nur verächtliches Schnauben von sich. Dann wirbelte sie auf dem Absatz herum und stürmte mit einem letzten wütenden Blick auf Céline aus dem Lokal. Céline blieb alleine zurück. Verbittert starrte sie vor sich hin.
Erst die Nachricht mit der Klausur und jetzt auch noch der Bruch mit Sarah. Was für ein Scheißtag! Der Streit hatte sich im Grunde über Monate hinweg angekündigt, trotzdem war sie überrascht über die Heftigkeit ihres Gefühlsausbruchs. Sarah war immer schon eine Dramaqueen gewesen. Stand sie nicht im Mittelpunkt, konnte es unschön werden und Céline und ihre Freundinnen achteten stets darauf, ihr die Bühne zu lassen, die sie so dringend brauchte. Aber Sarahs Engstirnigkeit ging ihr zunehmend auf die Nerven und den verbalen Seitenhieb auf Emma hatte sie einfach nicht hinnehmen können. Diese schien sich wenigstens aufrichtig für sie und ihre Probleme zu interessieren. Anders als Sarah. Wann hatte diese sie zum letzten Mal gefragt, wie es ihr ging und es wirklich wissen wollen?
Auf einmal musste sie an Ekaterina denken und die Sehnsucht versetzte ihr einen Stich. Noch nie war sie so lange von ihrer Ziehmutter getrennt gewesen. Ekaterina hatte zwar immer wieder versucht, sie zu erreichen, trotzdem lag ihr letztes Gespräch bereits Wochen zurück. Kurzerhand fischte sie ihr Telefon aus der Tasche und wählte ihre Nummer.
Es klingelte vier Mal und Céline wollte gerade auflegen, da drang Ekaterinas vertraute Stimme an ihr Ohr.
„Céline, was für eine Überraschung! Vorhin erst habe ich von dir gesprochen. Wie geht es dir denn?“
Célines Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr Ekaterina ihr gefehlt hatte.
„Nicht so gut, um ehrlich zu sein“, gab sie kleinlaut zu. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet.
„Meine arme Kleine! Was ist denn passiert?“
„Einfach alles“, krächzte Céline. „Gerade hatte ich einen heftigen Streit mit Sarah. Aber das ist es nicht, was mich wirklich belastet. Meine Klausur …“, sie stockte. „Du weißt schon, römisches Recht. In meiner Arbeit wurde ein Schummelzettel gefunden – und bevor du fragst: Nein, ich habe nicht gemogelt! Der Zettel muss von einem anderen Studenten stammen. Aber da er in meinen Lösungen steckte …“. Ihre Stimme brach.
„Ach Süße! Ich weiß doch, dass du niemals schummeln würdest. Hast du denn mit dem Professor geredet? Ihm erklärt, dass ein Irrtum vorliegen muss?“
„Natürlich habe ich das!“, klagte Céline. „Aber er glaubt mir nicht. Meine Klausur wird nicht gewertet, daran ist nicht zu rütteln. Dabei habe ich wochenlang dafür gelernt!“
„Manchmal hat man einfach Pech im Leben, Céline. Kränk dich nicht, das nächste Mal läuft es bestimmt besser.“
„Ich kann nur hoffen, dass du Recht hast. Ich weiß bloß nicht, wie ich Dad beibringen soll, dass ich bei der Klausur versagt habe. Er wird unglaublich wütend sein. Er war doch so glücklich, als ich eingewilligt habe, Jus zu studieren. Ich möchte ihn so gern stolz machen. Ständig fragt er, wie es mit der Uni läuft. Und weiß Gott, ich gebe mir wirklich Mühe, seinen hohen Anforderungen gerecht zu werden. Aber dieses trockene Juristenzeug will mir einfach nicht in den Kopf. Und jetzt auch noch dieses Pech mit dem Schummelzettel!“, schluchzte sie.
„Ach Süße. Dein Vater kann manchmal ein richtiger Idiot sein. Du bist seine Tochter und er liebt dich. Und ich weiß, dass er im Grunde seines Herzens wahnsinnig stolz auf dich ist. Er kann es nur nicht immer zeigen. Aber wie ich dir schon im Sommer gesagt habe: Du solltest dein Leben nicht ausschließlich nach den Wünschen deines Vaters ausrichten. Was für ihn das Beste ist, muss nicht gezwungenermaßen auch für dich das Richtige sein. Sieh dir das Studium eine Weile an. Und wenn du erkennen solltest, dass du Jus nicht magst, kannst du jederzeit damit aufhören und etwas anderes studieren. Dein Vater wird stolz auf dich sein, egal was du machst. Und ich bin es ebenso. Also Kopf hoch, ja?“
Wie immer vermochten es Ekaterinas Worte, sie zu besänftigen. Die Verkrampfung in ihrer Brust löste sich ein wenig.
„Wann kommst du denn endlich wieder nach Hause?“, flüsterte sie. „Du fehlst mir schrecklich. Du bist schon viel zu lange weg!“
„Ich vermisse dich doch auch. Du bist das Letzte, an das ich vor dem zu Bett gehen denke und das Erste, wenn ich aufstehe. Ich wäre tausendmal lieber bei euch als hier in Paris. Ein paar Wochen noch, dann bin ich wieder da, versprochen!“
Céline gab ein enttäuschtes Brummen von sich.
„Aber jetzt sag einmal: Wie geht es deiner Mutter?“, wechselte Ekaterina das Thema.
„Es scheint, als würde sie gut auf die Medikamente ansprechen. Aber genau wissen kann man es nicht. Du weißt ja, wie Maman ist. Sie würde sich nie beklagen“, seufzte Céline. „Ich mache mir wirklich Sorgen um sie.“
„Bestimmt wird sich alles zum Guten wenden. Das muss es einfach. Ich habe sie in meine Gebete eingeschlossen. Der heilige Kamillus wird sich unser schon erbarmen. Wann auch immer du darüber sprechen willst – ich bin nur einen Anruf entfernt. In Ordnung?“
„Okay“, schniefte Céline.
„Und nun zu etwas Fröhlicherem: Wie läuft es denn mit Marc?“, wechselte Ekaterina geschickt das Thema.
Erneut stieß Céline einen tiefen Seufzer aus. „Ich weiß nicht so recht. In letzter Zeit habe ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Er wirkt irgendwie … distanziert. Ich weiß nicht, woran das liegt oder ob ich es mir nur einbilde. Er meint, er habe nur viel mit der Uni zu tun“, erwiderte Emma missmutig.
„Marc vergöttert dich, das weißt du. Du bist eine wunderbare, starke Persönlichkeit! Er wäre ein Dummkopf, wenn er das nicht sieht. Als ich euch zum letzten Mal zusammen gesehen habe, konnte er die Augen nicht von dir lassen. Sorge dich nicht. Ich bin mir sicher, er hat einfach nur viel um die Ohren.“
„Ich hoffe es“, stöhnte Céline.
„Bestimmt sogar. So, mein Schatz, so gerne ich auch weiter mit dir plaudern würde, muss ich jetzt leider aufhören, deine Tante ruft schon. Aber vergiss nicht, wie lieb‘ ich dich habe. Und ruf bald wieder an, ja?“
KAPITEL 27
Ferdinand.
S chon wieder Leute wegen der Anzeige?“, blaffte Ferdinand seine Sekretärin an, als er das Büro betrat und die vielen fremden Menschen erblickte, die sich im Eingangsbereich tummelten.
Frau Schönhof nickte.
„Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, dass Sie sie wegschicken sollen?“, grummelte er.
„Ich habe es ja versucht“, entgegnete diese. „Aber die wollen persönlich mit Ihnen sprechen, da auf der Anzeige ausschließlich Sie als Ansprechperson genannt sind. Sie lassen sich von mir nicht verscheuchen.“
„Dann rufen Sie den Sicherheitsdienst. Es ist mir egal, wie Sie es bewerkstelligen, aber halten Sie mir dieses Gesindel vom Leib.“
Die Frau senkte den Kopf und nestelte am Kragen ihrer Bluse. „Herr Magister“, begann sie zögerlich. „Ich weiß, es geht mich ja nichts an, aber ... befindet sich die Firma in finanziellen Schwierigkeiten? Ich frage auch nur, weil ... nun ja, ich brauche diesen Job.“
Nervös zwirbelte sie an einer Haarsträhne. Sie hob den Blick und starrte Ferdinand mit einem angsterfüllten Ausdruck in den Augen an.
Ferdinand sog scharf die Luft ein. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, nicht auf der Stelle laut loszuschreien. „Die finanzielle Lage der Lauderthal Immobilien GmbH ist hervorragend“, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Da hat sich jemand mit uns einen schlechten Scherz erlaubt. Das ist alles. Haben Sie verstanden? Es ist alles in bester Ordnung!“
Frau Schönhof bejahte eilig. Sie sah erleichtert aus.
Lügner, meldete sich die ungeliebte Stimme der Wahrheit in seinen Hinterkopf zu Wort. Wütend verbannte er sie aus seinen Gedanken. Sein Blick flog zu den Menschen im Flur, dann wandte er seine Aufmerksamkeit rasch wieder seiner Sekretärin zu. Ihm war eine Idee gekommen. Zumindest eines seiner Probleme würde sich lösen lassen. Warum hatte er bloß nicht gleich daran gedacht?
„Wo sagen diese Leute nochmal, wo sie die Anzeige herhaben?“
„Hing im Hofer an der Pinnwand. Weshalb fragen Sie?“
„Was würden Sie davon halten, wenn Sie morgen ausnahmsweise nicht ins Büro kommen würden? Frau Wagner kann Sie am Empfang vertreten. Klappern Sie dafür bitte sämtliche Hofer-Filialen der Stadt und Umgebung ab und sammeln diese vermaledeiten Anzeigen ein.“
„Natürlich, Herr Magister. Wenn Sie das wünschen.“
Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Mit etwas Glück hatte der Spuk bald ein Ende.
An die wartenden Menschen am Eingang gewandt rief er. „Mein Name ist Ferdinand Lauderthal. Ich bin der Geschäftsführer. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie umsonst hergekommen sind. Die Anzeige, auf die Sie sich beziehen, war eine Fehlinformation. Bitte verlassen Sie umgehend die Geschäftsräumlichkeiten meines Unternehmens, die Leute hier versuchen zu arbeiten!“
Dann wirbelte er auf dem Absatz herum und machte sich pfeifend auf den Weg in sein Büro. Froh, endlich Ruhe zu haben, ließ er sich auf den ledernen Bürostuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. Er hatte einige wichtige Telefonate zu führen.
Dazu sollte es jedoch nicht kommen, denn kaum hatte er den Computer hochgefahren und seinen E-Mail-Posteingang aufgerufen, wurde er durch ein Klopfen an der Zimmertür erneut aus seiner Konzentration gerissen.
„Herr Lauderthal, haben Sie eine Minute?“ Herr Kembrand war im Türrahmen aufgetaucht, dicht gefolgt von Karl.
Ferdinand stöhnte entnervt auf. Wie es aussah, war ihm heute keine Ruhe vergönnt. „Kommen Sie herein“, wies er seine Mitarbeiter an und minimierte das Bildschirmfenster, auf dem zahlreiche ungelesene E-Mails aufgetaucht waren.
Die beiden taten wie ihnen geheißen und schlossen die Tür hinter sich.
„Wir wollten Sie kurz über die aktuellsten Entwicklungen betreffend Projekt Reinprechtsdorfer Straße unterrichten.“
Ferdinand bedeutete ihnen, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. „Nun, wo stehen wir?“
„Willst du erst die gute oder die schlechte Nachricht hören?“, vermeldete Karl.
„Eigentlich will ich gar keine schlechten Nachrichten hören“, seufzte Ferdinand. „Aber wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann immer die Gute zuerst.“
Herr Kembrand ergriff das Wort. „Es ist mir gelungen, eine Baufirma zu finden, die Ihren Erwartungen gerecht werden sollte. Die Suche hat sich zwar als schwieriger herausgestellt als erwartet, aber ich habe ein Unternehmen mit exzellentem Ruf ausfindig machen können, das bereit wäre, den Auftrag in der gewünschten Zeit auszuführen.“
„Na das sind doch mal gute Neuigkeiten“, freute sich Ferdinand. „Gut gemacht.“
Herr Kembrand nickte. „Das Ganze hat allerdings einen Haken.“
„Und der wäre?“
„Der potenzielle Auftragnehmer gibt an, er hätte die Kapazitäten, den zeitlichen Rückstand des Projekts weitestgehend aufzuholen. Das hätte den Vorteil, dass wir das Objekt mit nur marginaler Verspätung übergeben könnten.“ Er hielt einen Moment inne. „Dafür verlangt er allerdings ein horrendes Honorar. Es übersteigt jenes, das wir Firma Watzlaw bezahlt hätten, bei Weitem.“
„Wie viel?“, knurrte Ferdinand.
„Der zuständige Geschäftsführer meint, er müsse Personal von anderen Projekten abziehen, um den Auftrag in der vorgegebenen Zeit ausführen zu können. Insgesamt will er fünf Millionen. Zwanzig Prozent als Akonto.“
Ferdinand fiel bei diesen Worten fast die Kinnlade hinunter. „Bitte?“, keuchte er. „Das ist fast ein Viertel mehr, als das Projektbudget hergibt! Abgesehen davon, dass die Anzahlung, die wir der Watzlaw Baugesellschaft mbH. geleistet haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit verloren ist.“
Herr Kembrand verzog keine Miene. „Ich weiß, es ist verdammt viel Geld. Wir können natürlich weitersuchen. Aber Sie wissen ja – die Zeit läuft.“
Ferdinand fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch die Haare. „Und die zweite Nachricht?“
„Ich hatte gestern einen Termin bei der Bank. Die wollen unseren Kreditrahmen nicht erhöhen. Meinen, das wäre ihnen zu riskant“, berichtete Karl sachlich.
„Scheiße!“, entfuhr es Ferdinand. „Und wie sollen wir die Anzahlung für die neue Baufirma aufbringen, wenn wir nicht das notwendige Kapital haben?“
„Ich weiß, es ist schlimm“, nickte Karl ernst. „Aber unsere Optionen sind überschaubar. Entweder wir suchen ein günstigeres Bauunternehmen und nehmen das Risiko in Kauf, dass sich die geplante Übergabe noch weiter nach hinten schiebt. Mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Oder aber, wir beauftragen dieses Unternehmen, das uns zugesagt hat, dass wir den Zeitplan mit nur wenigen Wochen Verspätung doch noch einhalten können, dafür aber zwanzig Prozent an Mehrkosten, natürlich zuzüglich der verlorenen Anzahlung an Firma Watzlaw, verursacht.“
Ferdinand zog nachdenklich die Stirn kraus. „Also haben wir die Wahl zwischen Pest und Cholera.“
Er stand auf und trat ans Fenster. In Gedanken wog er seine Möglichkeiten ab. Wobei er in Wahrheit wusste, dass er nur eine Option hatte. Lebhaft hatte er noch den drohenden Ausdruck in Herrn Kralls aufgedunsenem Gesicht vor Augen, als er ihm eröffnet hatte, die Übergabe würde sich womöglich verzögern. Jemanden wie ihn wollte man nicht zum Feind haben. Allein die Rufschädigung wäre enorm. Abgesehen davon, dass die Schadenersatzklagen die Zusatzkosten bei weitem übersteigen würden, von den Anwaltskosten, die ein Prozess verursachen würde, ganz zu schweigen. Dann konnte er gleich zusperren.
„Herr Lauderthal, darf ich Ihnen eine unangenehme Frage stellen?“, zog Herr Kembrand Ferdinands Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Befindet sich die Firma in einer existenzbedrohenden Lage?“
Ferdinand fuhr herum. „Wie kommen Sie denn auf diese Idee?“
„Die Auswirkungen des Umwidmungsfiaskos ist an keinem von uns spurlos vorübergegangen. Mir ist außerdem zu Ohren gekommen, dass in letzter Zeit öfter Leute hier waren, die irgendwelche Einrichtungsgegenstände des Unternehmens kaufen wollten. Die Angestellten sind besorgt, sie fürchten, dass sie ihren Job verlieren könnten. Ist da etwas Wahres dran?“
Der seit dem Morgen mühsam unterdrückte Ärger erlangte einen neuen Höhepunkt. Trotzdem zwang sich Ferdinand zu einer, wie er hoffte, ruhigen und professionellen Antwort. Herr Kembrand war trotz der Katastrophe mit Projekt Reinprechtsdorfer Straße einer seiner vielversprechendsten und zuverlässigsten Angestellten.
„Ich kann Ihnen versichern, dass die Firma derzeit problemlos in der Lage ist, ihren finanziellen Pflichten nachzukommen“, erläuterte er sachlich. „Die Leute, von denen Sie gesprochen haben, waren hier, weil irgendjemand in diversen Supermarktfilialen Anzeigen verteilt hat, dass Lauderthal Immobilien im Rahmen eines Notverkaufs sein Inventar zu Spottpreisen verschleudert. Da ist aber nichts dran und Sie können davon ausgehen, dass ich alles daransetzen werde, den oder die Verantwortlichen ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist ein Streich. Kein sehr lustiger, wie ich finde, aber jedenfalls hat die Belegschaft nichts zu befürchten. Es besteht also kein Grund zur Sorge.“ Er legte eine kurze Pause ein.
„Ich werde noch heute eine Rundmail an alle Angestellten aussenden und den Vorfall erläutern, um die Spekulationen im Keim zu ersticken. Ich danke Ihnen, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, dass hier Gerüchte kursieren. Das Letzte, was wir brauchen können, ist, dass die Mitarbeiter reihenweise kündigen, weil sie denken, ohnehin bald gekündigt zu werden.“
Herr Kembrands Körperhaltung entspannte sich sichtlich. „Danke für die offenen Worte, ich weiß das zu schätzen. Sollten mich noch weitere Kollegen auf diese Angelegenheit ansprechen, werde ich das auch entsprechend weitergeben.“
„Wunderbar. Nun aber zurück zum Thema“, entgegnete Ferdinand. „Ich habe mich entschieden. Ich werde Ihrer Empfehlung folgen und dieses Bauunternehmen beauftragen. Das Risiko, dass Herr Krall uns sonst mit Schadenersatzklagen überhäuft, ist einfach zu groß. Das nämlich würde die Firma weniger gut wegstecken. Herr Kembrand, kann ich mich darauf verlassen, dass diesmal nicht wieder etwas schiefgehen wird?“
Der Bereichsleiter nickte ernst. „Das können Sie. Ich gebe Ihnen mein Wort.“
„Alles schön und gut“, wandte Karl ein. „Aber wie wollen wir die Anzahlung finanzieren?“
Ferdinand seufzte. „Aus der Portokasse werden wir sie jedenfalls nicht schütteln. Wir brauchen einen zusätzlichen Finanzgeber. Ich nehme mir die Bücher vor. Wenn ich Kalkulationen richtig im Kopf habe, haben wir bei einigen anderen Projekten mehr Spielraum und können umschichten. Damit haben wir ein paar Wochen Zeit gewonnen, einen neuen Investor zu finden.
Wenn einem von euch jemand einfällt, der in Frage käme – ich bin offen für Vorschläge. Wenn alle Stricke reißen und wir niemanden auftreiben, muss ich überlegen, ob sich bei mir im Privatbereich etwas machen lässt.“
„Wir denken darüber nach“, nickte Karl.
„Gut, das werde ich auch“, erwiderte Ferdinand und erhob sich. Die beiden anderen taten es ihm gleich und wandten sich zum Gehen.
„Und – Kembrand?“
„Ja?“
„Gute Arbeit. Trotz allem. Ich weiß, Sie konnten nichts dafür. Ich hätte die Pleite mit Firma Watzlaw ebenso wenig vorhergesehen.“
Nachdem Karl und Herr Kembrand gegangen waren, ließ Ferdinand bei Frau Wagner durchläuten und orderte eine frische Tasse Kaffee. Es gab vieles, über das er nachdenken musste.
Seit einem Jahr hatte er eine regelrechte Pechsträhne zu verzeichnen. Alles hatte mit der im letzten Moment gescheiterten Umwidmung im vergangenen Winter begonnen. Dann der Konkurs der Firma Watzlaw dieses Jahr, die aufgestochenen Reifen seines armen Cayennes. Nicht zu vergessen die Hofer-Anzeige mit dem angeblichen Notverkauf.
Die ersten beiden Pleiten ließen sich wohl noch als Ausdruck unternehmerischen Risikos verbuchen – aber der Rest? Irgendjemand versuchte, ihn zu sabotieren, davon war er felsenfest überzeugt. Aber wer konnte dahinterstecken? Irgendwie schien alles mit der Firma zusammenzuhängen. Ein ehemaliger Mitarbeiter vielleicht? Wen hatte er bloß so verärgert, dass er an ihm Rache nehmen wollte?
Ferdinand war sich bewusst, dass er kein einfacher Chef war. Er setzte hohe Maßstäbe, sowohl an sich als auch an seine Mitmenschen. Dummheit und Faulheit tolerierte er nicht. Schon so manche Mitarbeiterin hatte bei ihm auf die harte Tour lernen müssen, dass ein bisschen Augenklimpern und Arschwackeln nicht ausreichten. Ihm kam seine ehemalige Assistentin, Frau Wagners Vorgängerin, in den Sinn. Frau Ludwig. Dann war da noch das Mädchen vor ihr, Frau Strunz. Beiden hatte er fristlos gekündigt. Völlig zu Recht natürlich.
Ferdinand beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Er blätterte in seiner Kontaktliste und wählte eine Nummer. Es läutete vier Mal, bevor jemand abhob.
„Rohrfeld.“
„Ferdinand Lauderthal hier. Ich habe einen neuen Auftrag für Sie. Können Sie gerade ungestört sprechen?“
„Schönen guten Tag, Herr Lauderthal. Selbstverständlich. Was kann ich für Sie tun?“
In kurzen Worten schilderte Ferdinand dem Privatdetektiv die Ereignisse im Zusammenhang mit seinem Wagen und schließlich von dem schlechten Scherz mit dem Notverkauf. Sein Gesprächspartner hörte aufmerksam zu.
„Ich möchte, dass Sie für mich herausfinden, wer hinter all dem steckt“, schloss er.
Eine nachdenkliche Pause entstand am anderen Ende der Leitung. „Verstehe“, sagte der Detektiv langsam. „Haben Sie irgendjemand Speziellen im Verdacht?“
„Zwei meiner ehemaligen Mitarbeiterinnen. Beide habe ich im letzten Jahr gekündigt. Im privaten Umfeld würde mir ad hoc niemand einfallen, der ein Interesse daran haben könnte, mir oder der Firma Schaden zuzufügen.“
Kurz erschien das Bild seiner unehelichen Tochter Emma vor seinem inneren Auge. War es möglich, dass sie hinter all dem steckte? Er verwarf den Gedanken rasch wieder. Das Mädchen hatte keinen besonders rachsüchtigen Eindruck gemacht, im Gegenteil, sie hatte eher verletzt ausgesehen. Und selbst wenn sie auf Rache aus sein sollte, hätten sich ihre Rachefantasien doch auf sein privates Umfeld gerichtet und nicht auf sein Unternehmen, oder etwa nicht?
Schließlich entschloss er sich, Herrn Rohrfeld, auch von Projekt Reinprechtsdorfer Straße und der unverhohlenen Drohung des Käufers zu berichten. Man konnte ja nie wissen.
„Ich werde sehen, was ich tun kann. Es wird aber Zeit brauchen, bis ich diese Leute überprüft habe. Wenn Ihnen noch jemand einfällt oder es zu weiteren Vorfällen kommen sollte, zögern Sie nicht, mich anzurufen.“
„In Ordnung. Ach, ... Herr Rohrfeld? Haben Sie noch etwas bezüglich Frau Hofmann in Erfahrung bringen können?“
„Bedauerlicherweise nein, Herr Lauderthal. Steht sie auch auf der Liste der Verdächtigen? In welchem Verhältnis stehen sie zu ihr?“
„Nein, nein. Danke für Ihre Mühe“, erwiderte Ferdinand rasch und unterbrach die Verbindung.
KAPITEL 28
Emma.
E lisabeth steckte ihren Kopf durch die Tür zum Wohnzimmer und eine Wolke süßlichen Parfums wallte Emma entgegen. Die Beine ihrer Mitbewohnerin steckten in einem Minirock, der ihr gerade einmal über den ausladenden Hintern reichte. Ihre Augen waren mit dunkelviolettem Lidschatten und schwarzem Kajalstift betont, was ihr das Aussehen eines Waschbären verlieh.
„Ich bin jetzt weg. Du kannst die Pizza von gestern aufessen, wenn du willst. Ist im Kühlschrank“, rief sie. Dann zog sie ihren Kopf aus der Tür und kurz darauf fiel die Wohnungstür krachend hinter ihr ins Schloss. Die Parfümwolke verflüchtigte sich.
Emma atmete erleichtert auf. Endlich Ruhe. Céline verbrachte das Wochenende bei ihren Großeltern in Paris und die nächste Klausur war erst für Mitte Dezember angesetzt, sodass sie ausnahmsweise auch nicht lernen musste. Ihre Mitbewohnerin war als eingefleischte Partymaus nicht vor den frühen Morgenstunden zurückzuerwarten. Sie selbst hatte ihre Schicht im Kinkys kurzfristig mit einer Kollegin getauscht. Emma konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal Zeit für sich gehabt hatte.
Gemütlich fläzte sie sich auf das Sofa und wartete darauf, dass die wohlverdiente Entspannung einsetzte. Aber der ersehnte innere Frieden wollte sich nicht einstellen. Die Stille, die über der Wohnung lag, schien eher den gegenteiligen Effekt auf sie zu haben. Unruhig trommelten ihre Finger auf die Sofalehne. Und auch wenn die verwöhnte Prinzessin ihr bisweilen auf die Nerven ging, musste sie zugeben, dass sie Gefallen daran zu finden begann, Zeit mit ihr zu verbringen. Zumindest wurde es mit ihr niemals langweilig. Von Fiona abgesehen hatte sie noch nie zuvor so viel Zeit mit einem Menschen verbracht.
Auf einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr sie ihre Freundin aus Affing vermisste. Ihr letztes Telefonat lag schon Ewigkeiten zurück. Emma hatte das Gefühl, dass sie seit ihrem Umzug nach Portugal in Fionas Leben keinen Platz hatte und es vermieden, sie anzurufen. Trotzdem sehnte sie sich danach, mit jemandem zu sprechen, der sie verstand und dem sie ehrliche Zuneigung entgegenbrachte.
Kurz entschlossen nahm sie ihr Handy zur Hand und wählte Fionas Nummer.
„Emma, bist du’s?“, drang die vertraute Stimme an ihr Ohr. Sie wirkte einigermaßen überrascht.
„Ja, ich bin’s.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich dachte, ich melde mich mal. Ist immerhin eine Weile her, seit wir uns zuletzt gesprochen haben.“
„Ich weiß“, stöhnte diese. „Tut mir leid, dass ich so lange nicht angerufen habe. Ich freue mich jedenfalls total, dass du anrufst.“
„Wie läuft es so in Portugal? Hast du den Laden schon übernommen?“, scherzte Emma. Die Stimme ihrer Freundin zu hören, steigerte ihre Laune beträchtlich. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie ihr gefehlt hatte.
„Mir geht es blendend. Die Arbeit im Hotel ist anstrengend, aber spannend. Ich lerne jeden Tag tausend neue Dinge.“
„Das freut mich wirklich für dich“, krächzte Emma. Die Sehnsucht nach ihrer Freundin war auf einmal kaum zu ertragen.
„Ja, es ist echt toll. Nächsten Sommer musst du mich unbedingt besuchen kommen. Und was ist mit dir? Wie läuft es in Wien?“
„Ganz gut eigentlich. Die Uni macht mir mehr Freude als erwartet.“
„Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet du einmal Jura studieren würdest. Erzähl mir davon. Ich will alles wissen!“
Emma berichtete detailreich von den Professoren, ihren Klausuren und dem Lernstoff. Besonders die Lösung zivilrechtlicher Fälle machte ihr ausgesprochen Spaß.
„Das ist großartig, Em! Sieh zu, dass du brav lernst, bei meiner ersten Scheidung musst du mich schließlich vertreten können“, lachte sie. „Und was tut sich an der Front? Hast du die Lauderthals schon in den Wahnsinn getrieben?“
Grinsend berichtete Emma ihrer Freundin von der Episode in der Tiefgarage und den Notverkaufsanzeigen.
Fiona kicherte schadenfroh. „Wie gern hätte ich das Gesicht von diesem eingebildeten Schnösel gesehen, als er bemerkt hat, dass die Reifen seines Wagens im Eimer sind!“
„Ja, ich auch. Er muss rasend wütend gewesen sein. Und ich würde zu gern wissen, wie er reagiert hat, als wildfremde Leute seine Büroausstattung kaufen wollten.“
„Geschieht ihm Recht.“
„Ach ja, erinnerst du dich noch an den Typen, den wir im Büro meines Vaters gesehen haben?“
„Mr. Sexy mit den blauen Augen? Klar erinnere ich mich an den.“
„Ich bin ihm vor kurzem im Starbucks über den Weg gelaufen. Seinen Angaben zufolge ist mein Vater übrigens – wie war das noch gleich? – ein arroganter, cholerischer Chauvinist.“
„Na das wundert mich nicht. Du hast ihm aber doch nicht etwa verraten, wer du wirklich bist?“
„Natürlich nicht. Ich bin ja nicht blöd. Aber er hat mir, ohne es zu ahnen, einige interessante Informationen zugespielt. Offenbar vermietet die Firma meines Vaters zu überhöhten Preisen an ihre Mieter.“
„Auch das wundert mich keine Sekunde. Der geldgeile Arsch. Und weiter?“
„Alex hat mir erzählt, dass man sich in solchen Fällen an eine Schlichtungsstelle wenden kann. Die sorgen dann dafür, dass der Mietpreis auf das gesetzlich zulässige Maß heruntergesetzt wird. Ich habe das eingehend recherchiert. Offenbar kann der Vermieter nicht viel dagegen machen, da es sich um einen Verstoß gegen zwingendes Mietrecht handelt.“
„Du nennst ihn also schon Alex. So so“, feixte Fiona. „Und du willst seine Mieter jetzt anstacheln zur Schlichtungsstelle zu gehen?“
„Ganz genau. Erst letzte Woche habe ich Stunden damit zugebracht, an jeder Wohnungstür ein entsprechendes Informationsschreiben anzubringen. War nicht ganz einfach, ohne Schlüssel in die Häuser hineinzukommen, aber inzwischen habe ich alle abgeklappert. Mein alter Herr wird noch sein blaues Wunder erleben!“
„Du Miststück“, frohlockte Fiona. „Wie bist du denn an die Adressen gekommen?“
„Mein Vater bewahrt einige Firmendokumente zu Hause in seinem Arbeitszimmer auf. Als ich bei der Prinzessin zu einer Hausparty eingeladen war, habe ich mich zufällig dorthin verirrt und bin über die Unterlagen gestolpert.“
„Nicht schlecht. Apropos. Wie läuft es mit der jungen Lauderthal?“
„Sie frisst mir aus der Hand“, grinste Emma. „Meine Halbschwester ist ein naives, oberflächliches Ding.“
„Kein Wunder, bei dem Vater.“
„Hey!“, protestierte Emma.
„Die Erziehung, Em. Das liegt nur an der Erziehung.“
„Meinetwegen wurde sie übrigens beim Schummeln erwischt.“
„Sie hat geschummelt?“, wunderte sich Fiona. „Bei einer Prüfung?“
„Nein, so etwas würde sie nie tun. Aber in ihrer Klausur wurde zuufällig ein Schummelzettel gefunden.“
Fiona kicherte.
„Die Aktion hat aber keine großen Konsequenzen nach sich gezogen. Sie darf an der nächsten Prüfung teilnehmen und die wird sie auch sicher bestehen. Ich muss mir also etwas Besseres einfallen lassen, wenn ich ihre Welt ein wenig auf den Kopf stellen will.“
Bei diesen Worten überkam Emma ein Hauch schlechten Gewissens. Céline hatte sich ihr gegenüber schließlich immer liebenswürdig und gastfreundlich gezeigt. Sie schien nicht im Mindesten zu ahnen, was Emma in Wahrheit im Schilde führte. Rasch schob sie den Gedanken beiseite. Sie führt das Leben, das dir zusteht , erinnerte sie sich.
„Bei deiner Kreativität fällt dir bestimmt etwas ein. Aber übertreib es nicht, ja? Harmlose Streiche sind in Ordnung, aber richte keinen ernsthaften Schaden an, okay?“
„Sowieso. Ich will nur, dass meine süße kleine Halbschwester, das Prinzesschen , einmal sieht, dass das Leben nicht immer ein Zuckerschlecken ist. Auch wenn man mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde.“
„Und deine Mutter? Hast du sie inzwischen zu Gesicht bekommen?“
„Nein, leider. Céline hat erzählt, dass sie sich derzeit bei ihrer Tante in Frankreich aufhält. Mehr konnte ich bislang nicht in Erfahrung bringen. Aber es hat sich so angehört, als würde sie bald nach Wien zurückkommen.“
„Da bin ich ja gespannt. Du musst mich unbedingt auf dem Laufenden halten.“
„Mache ich.“
Eine Weile sagte keine von ihnen ein Wort.
„Du fehlst mir!“, brach es plötzlich aus Emma hervor.
„Und das aus deinem Mund“, erwiderte Fiona sanft. Emma konnte hören, wie sehr sie sich über die seltene Gefühlsbekundung freute.
„Ich vermisse dich auch. Und wie! Wir müssen in Zukunft regelmäßiger telefonieren. Nur weil ich jetzt in Portugal lebe, heißt das nicht, dass ich mich nicht für dein Leben interessiere. Wir sind schon viel zu lange befreundet, als dass wir zulassen dürfen, dass unser Kontakt abreißt.“
„Da hast du verdammt Recht.“
„Du meldest dich also in Zukunft öfter bei mir? Versprochen?“
„Ehrenwort.“
„Musik in meinen Ohren. Ich muss jetzt aber leider aufhören, ich habe heute noch eine Million Dinge zu erledigen. Meine Tante hält mich ganz schön auf Trab.“
„Na dann los. Mach mich stolz!“
Emma legte auf. Gedankenverloren starrte sie an die Zimmerdecke, die sicher irgendwann einmal weiß gewesen war, inzwischen aber einen hässlichen Gelbstich angenommen hatte. Jetzt, da sie mit Fiona telefoniert hatte, bereitete ihr die Entfernung zu ihrer Freundin fast körperlichen Schmerz.
Mit einem Ruck erhob sie sich. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde nicht den ganzen Abend alleine zu Hause herumsitzen und Trübsal blasen. Ebenso gut konnte sie ins Zentrum fahren und irgendwo etwas trinken gehen. Immerhin fühlte sie sich dann in Gesellschaft einsam.
Rasch schlüpfte sie in ihre Lieblingsjeans und ein schwarzes Top. Sie strich Mascara auf ihre Wimpern, trug einen Hauch Rouge auf und schnappte sich ihren Wohnungsschlüssel. Der Abend war noch jung. Und man lebte schließlich nur einmal, oder etwa nicht?
***
Mit einem Ruck stieß Emma die Lokaltür auf. Sie hatte sich für ihren spontanen Ausflug für ein winziges Pub in der Innenstadt entschieden. Die Klientel bestand überwiegend aus Studenten aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten und obwohl es noch nicht einmal neun Uhr war, war die Bar bereits gut gefüllt. An den Wänden flimmerten riesige Bildschirme. Der Tafel über der Theke entnahm sie, dass an diesem Abend ein Fußballspiel stattfand, das hier live übertragen wurde.
Das Lokal stank nach Bier und Zigarettenrauch – in die Winkel dieser Spelunke schien das allgemeine Rauchverbot offenbar noch nicht durchgedrungen zu sein. Emma bestieg einen der hohen Barhocker und deutete dem Barkeeper, ihr ein Bier zu bringen. Obwohl sie Nichtraucherin war, fühlte sie sich in diesem versifften Pub deutlich wohler als in den schicken Cocktailbars, in die Céline sie sonst zu schleifen pflegte. Die zerschlissene Einrichtung und die schummrige Atmosphäre erinnerten sie an Affing. Wer hätte gedacht, dass ihr das Nexos einmal fehlen würde, dachte Emma mit einem wehmütigen Lächeln.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine Gruppe junger Männer strömte in das Lokal. Gedankenverloren beobachtete sie die Truppe. Emma schätzte, dass sie ungefähr in ihrem Alter sein mussten. Ein hübscher blonder Junge, der als letzter über die Schwelle trat, kam ihr merkwürdig bekannt vor. Er schien dasselbe zu denken, denn er starrte angestrengt in ihre Richtung. Rasch wandte sie den Blick ab, während sie fieberhaft überlegte, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.
Dann fiel es ihr mit einem Schlag wieder ein. Das musste Marc sein, Célines Freund. Im Augenwinkel beobachtete sie, wie sich die Männer auf einer Sitzgruppe direkt vor einem der größten Monitore niederließen.
Emma gab dem Kellner ein Zeichen, ihr noch einen Humpen Bier zu bringen. Kurz darauf schob ihr der Barkeeper, ein glatzköpfiger Hüne um die dreißig, das gewünschte Getränk über den Tresen hinweg zu, dazu zwei kleine Fläschchen mit dunkelbrauner Flüssigkeit. Jägermeister, wie sie dem Etikett entnehmen konnte.
„Geht aufs Haus“, zwinkerte er und prostete ihr zu.
Emma bedankte sich höflich und hob die Flasche, um mit ihm anzustoßen. Der Kräuterlikör schmeckte ihr weit besser, als jeder Tequila es jemals könnte, mochte er auch noch so teuer gewesen sein.
Halbherzig verfolgte sie das Fußballspiel, das soeben begonnen hatte. Die Österreicher waren elende Fußballer, dachte sie. Nicht, dass sie ein großer Fußballfan war, aber sogar ein Laie musste erkennen, dass zwischen der Performance der Deutschen und der dieser Spieler Welten lagen!
Als sie sich über einen besonders stümperhaften Torangriff mokierte, spürte sie, wie ihr jemand auf die Schulter tippte. Emma wirbelte herum. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sie betatscht wurde. Gerade wollte sie den Störenfried anfahren, er solle sie in Ruhe lassen, da erkannte sie, dass es Marc war, der hinter ihr an der Bartheke aufgetaucht war.
„Erkennst du mich noch?“, begrüßte er sie. Ein gewinnendes Lächeln zierte sein hübsches Gesicht. „Emma, richtig?“
Ungefragt hievte er sich auf den freien Hocker zu ihrer Linken.
„Was machst du denn hier, so ganz alleine?“
„Bis eben habe ich die Ruhe genossen“, konterte sie. Was wollte er bloß von ihr?
„Das sieht man“, spöttelte er. „Und lässt dich dabei von den Barkeepern anquatschen und auf Drinks einladen. Nur gut, dass ich da bin, um auf dich aufzupassen.“
„Zu freundlich von dir, aber ich denke, ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Und bis gerade eben hat mich eigentlich niemand blöd von der Seite angequatscht“, entgegnete Emma. Versuchte er etwa mit ihr zu flirten? Wusste er denn nicht, dass sie mit Céline befreundet war?
Doch die verbale Abfuhr schien Marc nicht im Mindesten etwas auszumachen. Stattdessen orderte er ebenfalls ein Ottakringer Bier und musterte Emma mit unverhohlenem Interesse.
„Interessierst du dich für Fußball?“, versuchte er, eine Unterhaltung in Gang zu bekommen.
Emma gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Für österreichischen Fußball eigentlich nicht. Das sind doch alles Amateure.“
Marc fasste sich an die Brust, als hätte ihn ihre Erwiderung schwer getroffen. „Ich warne dich, Süße! Beleidige bloß nicht Rapid , die sind klasse!“
Emma grinste und zuckte unschuldig die Achseln.
„Ich gebe zu, mit der deutschen Nationalmannschaft können wir nicht mithalten. Aber wir haben ein paar brauchbare Spieler – und das hier“, er deutete auf den Monitor, „ist auch nicht Bundesliga. Aber Rapid wird das Match gewinnen, du wirst schon sehen!“
Der Barkeeper stellte den georderten Bierkrug vor Marc auf dem Tresen ab und dieser hob ihn, um mit ihr anzustoßen. Emma tat ihm den Gefallen.
Nachdenklich musterte sie ihr Gegenüber. Marc war gutaussehend, das stand außer Frage. Und sein Blick, der von ihrem Gesicht über ihre welligen Haare glitt und einen Augenblick zu lange am Ausschnitt ihres Tanktops hängen blieb, ließ keinen Zweifel daran, dass er mit ihr flirtete. Typisch , dachte Emma. Die Männer waren doch alle gleich. Dennoch war sie neugierig. Wie weit er wohl gehen würde?
„Ich bin froh, dass ich heute doch noch ausgegangen bin. Wer sitzt schon gern an einem Freitagabend alleine zu Hause?“, klimperte sie mit den Wimpern.
„Das wäre wirklich eine Verschwendung gewesen. Ein Glück für die Männerwelt und für mich ganz besonders, dass du es dir anders überlegt hast.“
Emma lächelte und senkte kokett den Blick.
„Macht es deinen Freunden denn gar nichts aus, dass du nicht bei ihnen bist?“
„Die haben Verständnis“, lachte er. „Ich glaube, jeder von denen würde gerade gerne an meiner Stelle mit dir hier sitzen.“
„Nicht, dass ich dich vertreiben will, aber ... bist du nicht mit Céline zusammen? Sie hat doch bestimmt etwas dagegen, wenn du in Bars mit fremden Mädchen sprichst.“
„Wieso fremd? Du bist doch eine Freundin. Ich bin mir sicher, sie wäre froh, wenn sie wüsste, dass ich auf dich achtgebe.“
Das bezweifelte Emma, nickte aber scheinheilig.
„Was studierst du eigentlich?“, wechselte sie das Thema.
„Wirtschaftsuniversität. Internationale Betriebswirtschafts-lehre.“
„Klingt spannend.“
„Im Prinzip nicht. Aber mit dem Bachelor in der Tasche und dem Master, den ich nächstes Jahr in der Schweiz machen will, habe ich in der Finanzbranche die besten Karten. Und das langweilige Zeug – da muss man nun einmal durch. Aber das brauche ich einer Jurastudentin ja wohl kaum zu erklären.“
Die nachfolgende Unterhaltung drehte sich um ihre jeweiligen Studien, Fußball und die anstehenden Partys im Freundeskreis. Marc war wie eine männliche Version von Céline. Genauso privilegiert, oberflächlich und eingebildet. Nur fehlte ihm Célines kindliche Naivität und die Aura der Unschuld, die ihre Halbschwester umgab und um die sie diese heimlich beneidete. Ob sie selbst wohl auch so geworden wäre, wenn sie in deren behüteten Kokon aufgewachsen wäre?
Das Fußballspiel neigte sich dem Ende zu. Rapid führte inzwischen eins zu null. Marc freute sich wie ein kleines Kind über den Erfolg seiner Mannschaft. Sein jungenhaftes Strahlen, wenn er über seine Lieblingsspieler sprach und sie anfeuerte, brachte Emma ein ums andere Mal zum Schmunzeln.
Die beiden tranken noch ein paar weitere Bier miteinander und Marc lud sie auf mehrere Stamperl Jägermeister ein. Der Alkohol machte Emma beschwingt und abenteuerlustig. In Célines Gegenwart hielt sie sich immer zurück, war stets darauf bedacht, einen klaren Kopf zu behalten. Aber hier, mit Marc an ihrer Seite, genoss sie es, die Zügel der Selbstbeherrschung ausnahmsweise ein wenig zu lockern. Der harmlose Flirt tat ihr gut. So musste es sich anfühlen, wenn man keinen schweren Rucksack voller Altlasten mit sich herumtrug, dachte sie. Himmlisch . Emma war gespannt, ob Marc Nägel mit Köpfen machen und sie für ein Tête-à-Tête zu sich nach Hause einladen würde. Vielleicht besaß er ja doch so etwas wie Anstand und ihm würde rechtzeitig einfallen, dass er eigentlich vergeben war.
Plötzlich spürte Emma ihr Telefon in der Hosentasche vibrieren. Immer noch über einen von Marcs Scherzen grinsend, zog sie es hervor und überflog die eingegangene Nachricht. Was sie da las, riss ihr schier den Boden unter den Füßen weg und ihr Lächeln erstarb jäh. Auf einen Schlag fühlte sie sich wieder vollkommen nüchtern. Die E-Mail war von Onkel Phil. Mit rasendem Herzen starrte sie auf die Zeilen.
„Schluss mit lustig, Emma. Ich will mein Geld. Ich war bisher sehr geduldig mit dir, aber du willst es anscheinend nicht anders. Du hast dreißig Tage Zeit, mir die Kohle zu überweisen. Ansonsten komme ich dich holen. Glaub bloß nicht, du könntest dich vor mir verstecken. Ich warne dich!“
Ein Schauer der Angst kroch ihr den Rücken hinunter. Seit seiner ersten Nachricht waren einige Wochen verstrichen und Emma hatte schon halb gehofft, dass er sie nicht weiter belästigen würde, nachdem sie nicht auf seine Forderungen eingegangen war. Auch wenn sie tief in ihrem Herzen gewusst hatte, dass das nichts als Wunschdenken war. Ihr Onkel war ein Pitbull, wenn es darum ging, sich zu holen, was er wollte. Das hatte sie oft genug am eigenen Leib erfahren müssen.
Mit zitternden Händen vergrub sie ihr Handy in den Untiefen ihre Handtasche. Selbst wenn sie gewollt hätte – sie konnte ihm das Geld nicht zurückzahlen. Sie hatte es nicht mehr. Das Leben als Célines Freundin hatte seinen Tribut gefordert. Aber Onkel Phil konnte doch nicht wissen, wo sie war – oder?
Bist du dir da so sicher , widersprach eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Wenn er dich finden will, wird er das auch. Das weißt du genau.
Emma winkte den Barmann heran und bestellte noch zwei Jägermeister. Alles, was sie wollte, war sich in die benebelnden Wirkungen des Alkohols zu flüchten. Der Realität und ihrer aufkommenden Panik noch für eine kurze Weile zu entfliehen. Der Kellner stellte die beiden Fläschchen vor ihnen ab und sie reichte eines an Marc weiter. Ohne zuvor mit ihm anzustoßen leerte sie das ihre in einem Zug.
„Da ist aber jemand motiviert“, grinste Marc und zog nach.
Auf einmal wurde die Bar von begeisterten Jubelrufen erfüllt.
„Tor!!!“, grölten die Männer und Frauen ringsum, einige waren aufgesprungen und klatschen in die Hände. Emmas und Marcs Blick flog zum Bildschirm an der Wand. Rapid hatte in der Nachspielzeit noch ein zweites Tor geschossen.
„Großartig!“, freute Marc sich. „Siehst du? Von wegen Amateure!“
„Ich gratuliere“, grinste Emma. „Trinken wir noch einen letzten Absacker?“
Bevor Marc zu einer Erwiderung ansetzen konnte, traten seine Freunde zu ihnen an die Bar.
„Hey, Mann. Wir gehen jetzt. Viel Spaß noch mit der Kleinen“, raunte ihm einer von ihnen mit einem vielsagenden Blick auf Emma ins Ohr. Diese senkte peinlich berührt den Kopf.
Nachdem die Truppe abgezogen war, rückte Marc ein Stück näher an sie heran.
„Meine Wohnung ist nur ein paar Straßen weiter“, hauchte er ihr ins Ohr. „Lust auf einen richtigen Drink? Ich verspreche dir, ich mache den besten Gin Tonic der Welt. Der wird dein Leben verändern.“ Seine Augen leuchteten und die Mundwinkel umspielte ein anzügliches Grinsen.
Emma zögerte. Da hatte sie ihre Antwort. Mit Anstand und Treue schien es bei Marc nicht weit her zu sein. Aber sie war selbst schuld. Hatte sie es nicht eben darauf angelegt?
Vielleicht lag es am Alkohol, aber Marc wirkte auf einmal ungemein anziehend. Und die Vorstellung, nach dem, was Phil gerade geschrieben hatte, alleine nach Hause zu laufen, trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Aber konnte sie das wirklich tun? Sie hatte schon immer Probleme mit Nähe gehabt und wusste nicht, ob sie es ertragen würde, die Hände eines Mannes auf ihrem Körper zu spüren. Kein Wunder – der einzige Mann, mit dem sie je zusammen gewesen war, war Onkel Phil. Und das hatte nicht gerade auf gegenseitigem Einvernehmen beruht. Onkel Phils keuchende Fratze tauchte vor ihrem inneren Auge auf und Emma erschauderte unwillkürlich. Andererseits – sollte sie wegen dieses Ekelpakets ihr Leben lang auf Sex verzichten? Dann hätte Onkel Phil gewonnen und sie müsste sich eingestehen, dass er sie zerstört hatte. Diese Genugtuung wollte sie ihm auf keinen Fall geben. Und dann war da auch noch Céline. Ihr eine Klausur zu verpatzen war eine Sache, aber mit ihrem Freund zu schlafen? Das war etwas völlig anderes. Emma rang innerlich mit sich.
Denk daran, weshalb du überhaupt erst nach Wien gekommen bist , herrschte sie sich selbst an. Was hat dir dein Moralkodex bisher schon gebracht? Du willst es Céline heimzahlen! Das ist die Gelegenheit!
„Na, was sagst du?“
Hoffnungsvoll blickte Marc auf sie herab. Seine Augen waren tiefblau, hatten aber nicht diesen faszinierend durchdringenden Ausdruck wie die von Alex. Weiß der Teufel, warum ich ausgerechnet jetzt an den Angestellten meines Vaters denken muss , dachte sie. Zwar hatte er ihr den Link zur Schlichtungsstelle wie versprochen geschickt, sie seither aber nicht mehr kontaktiert. Von der Einladung zu einem Date ganz zu schweigen.
Energisch verbannte sie Alex und Onkel Phil aus ihren Gedanken und fasste einen Entschluss. Sie würde Onkel Phil nicht die Genugtuung geben, sie gebrochen zu haben. Sie war eine vollwertige, erwachsene Frau. Und Frauen hatten gerne Sex!
„Aber nur ein Drink“, stimmte sie schließlich mit einem scheuen Lächeln zu.
Marc strahlte über das ganze Gesicht. „Dann mal los!“
Er beglich die Rechnung und sie wandten sich zum Gehen.
Auf dem kurzen Weg zu Marcs Apartment konnte Emma nicht anders, als sich immer wieder heimlich umzusehen. Er ist nicht hier , erinnerte sie sich. Onkel Phil weiß nicht, wo du bist. Dennoch war sie erleichtert, als Marc einen Arm um ihre Schulter legte, froh, einen Beschützer an ihrer Seite zu wissen.
Nach kaum fünf Minuten Fußmarsch erreichten sie das Haus, in dem Marc wohnte. Emma kannte die Gegend inzwischen ganz gut, denn die Universität lag nur ein paar Straßen entfernt. Die Wohnung war größer, als Emma erwartet hatte und geschmackvoll eingerichtet.
Natürlich ist sie das , dachte sie mit einem Anflug von Missmut. Vermutlich haben seine Eltern alles so arrangiert.
Marc deutete ihr, auf der Couch im Wohnzimmer Platz zu nehmen, und verschwand in der Küche. Kurz darauf kehrte er mit zwei bis zum Rand gefüllten Gläsern mit einer glasklaren Flüssigkeit und Gurkenscheiben darin zu ihr zurück.
Dankbar nippte Emma an ihrem Glas. Der Drink schmeckte tatsächlich gut, war aber so stark, dass sie unwillkürlich das Gesicht verzog.
„Habe ich zu viel Gin reingetan?“
„Nein, geht schon“, brachte Emma zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der Alkohol würde ihren angespannten Nerven guttun. Wie um sich selbst davon zu überzeugen, leerte sie ihr Glas mit einem Zug zur Hälfte.
„Trinkst du dir gerade Mut an?“, grinste Marc. Seine Hand fand ihr rechtes Knie. Instinktiv zuckte Emma zurück. Erneut drängte sich das Bild von Alex vor ihr inneres Auge. Sah ihn vor sich, wie er lässig am Stehtisch im Starbucks lehnte und sie mit diesem unglaublich intensiven Blick bedachte. Auf einmal wünschte sie sich inständig, er wäre es, der hier neben ihr saß. Célines anklagender Gesichtsausdruck gesellte sich zu dem von Alex. Resolut schob sie die Gedanken an die beiden beiseite.
„Du musst das nicht tun, das weißt du, oder?“, flüsterte Marc, der ihr innerliches Hadern mitbekommen zu haben schien.
„Nein, nein“, erwiderte sie rasch. „Es ist nur … das letzte Mal ist schon eine Weile her.“
„Du bist entzückend“, hauchte er und rückte näher. Er saß jetzt so nahe bei ihr, dass sie den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. Begierig legte er den Arm um sie.
Unruhe machte sich in Emmas Gedärmen breit und verwandelte sich in Panik. Unter Aufbringung all ihrer Kräfte versuchte sie, ihren Fluchtinstinkt zu unterdrücken. Beruhige dich, verdammt nochmal , mahnte sie sich. Du willst das hier!
„Du wirkst immer so taff, aber im Herzen bist du dann doch ein kleines Mädchen“, raunte Marc ihr ins Ohr zu. „Ich finde das unglaublich süß.“
Emma konnte sich zwar nicht erinnern, jemals von irgendjemandem als kleines Mädchen bezeichnet worden zu sein, aber seltsamerweise beruhigten sie die Worte ein wenig.
Dann beugte sich Marc vor und drückte seine Lippen auf die ihren. Emma zwang sich, den Kuss zu erwidern. Er war erstaunlich sanft, doch so sehr sie sich auch anstrengte, ihr Körper wollte sich einfach nicht entspannen.
Als Marc die Hand um ihre Hüfte legte, um sie näher zu sich heranzuziehen, wallte die Panik in einer Intensität in ihr auf, die sie nach Luft schnappen ließ. Und auf einen Schlag war es ihr klar: Sie konnte das nicht. Es war zu früh. Marc war nicht der Richtige – er war Célines Freund, verdammt nochmal! Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, sich in diese Lage zu bringen?
Zitternd entwand sie sich aus seiner Umklammerung und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hoch.
„Es tut mir leid“, murmelte sie. „Ich kann das nicht.“
Dann schnappte sie sich ihre Handtasche und floh ohne einen Blick zurück auf Marc aus der Wohnung.
KAPITEL 29
Ferdinand.
D er Strauß roter Rosen wog schwer in Ferdinands Hand, während er mit hastigen Schritten die Stufen zu dem Haus erklomm, in dem Natascha wohnte. Natascha wartete bereits an der Wohnungstüre auf ihn. Sie trug ein enganliegendes dunkelblaues Kleid, in dem sie absolut hinreißend aussah. Durch die angelehnte Tür drang ihm der Duft von frisch zubereitetem Essen in die Nase.
„Für die schönste Frau der Welt“, begrüßte er sie überschwänglich und überreichte ihr die Blumen.
„Vielen Dank – das wäre doch nicht nötig gewesen“, murmelte sie und errötete.
„Doch, war es“, erwiderte er mit Nachdruck. „Du hast in den letzten Wochen viel zu viel Zeit ohne mich verbringen müssen, und das bedauere ich zutiefst.“
Die Geliebte nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn zärtlich auf den Mund. „Komm rein. Ich habe uns etwas Schönes gekocht. Hirschrückensteaks mit selbstgemachten Kroketten und Rotkraut.“
Bei diesen Worten lief Ferdinand das Wasser im Mund zusammen. Im Gegensatz zu seiner Frau war Natascha eine begnadete Köchin – nur eines ihrer vielen Talente.
„Das klingt himmlisch! Na, dann ist es ja gut, dass ich den hier mitgebracht habe.“ Er streckte ihr eine Flasche Chateau Lafite entgegen. Natascha riss die Augen auf.
„Der ist doch viel zu teuer“, stieß sie hervor. Selbst Natascha, die bei Gott keine Weinkennerin war, erkannte, dass die Weinflasche, die sie in Händen hielt, ein Vermögen gekostet hatte.
„Für dich ist nur das Beste gut genug“, erwiderte er galant und schlüpfte in die Wohnung.
Der Tisch im Esszimmer war bereits festlich gedeckt, der Raum wurde nur von zwei silbernen Kerzenständern erleuchtet. Aus dem CD-Player erklang klassische Musik. Natascha holte den Flaschenöffner aus der Küche und überreichte ihn Ferdinand, der die Flasche mit geübtem Griff entkorkte. Sie nahmen einander gegenüber Platz. Natascha lobte den Wein, er wiederum bewunderte ein ums andere Mal ihre Kochkünste. Der Hirschrücken zerging praktisch auf der Zunge.
Die Unterhaltung plätscherte dahin. Wie immer genoss Ferdinand die Zeit mit Natascha in vollen Zügen. Diese Frau war nicht nur wunderschön, sondern auch noch klug, kultiviert – und vor allem betete sie ihn an. Ihm gefiel der bewundernde Ausdruck in ihren Augen, wenn sie seinen Ausführungen lauschte. Jener Ausdruck, der ihn wissen ließ, wie weltgewandt und mächtig er war, ein Mann, der stets wusste, was zu tun war und alles im Griff hatte. Dieses Gefühl der Wertschätzung berauschte ihn regelrecht. Nur Natascha schien seine schillernde Persönlichkeit in vollem Ausmaß erfassen zu können. Wenn er bei ihr war, lebte er im Hier und Jetzt. Alltagstrott und Probleme waren auf einmal nicht mehr wichtig.
„Gibt es schon etwas Neues betreffend Inés?“, fragte Natascha beiläufig und betrat damit gefährliches Terrain.
„Du meinst gesundheitlich?“ Ferdinand seufzte. „Es geht ihr nicht gut. Gar nicht gut. Die letzten Untersuchungen haben ergeben, dass ihr Zustand ziemlich kritisch ist. Sie braucht einen Spender, sonst ...“ Er vollendete den Satz nicht.
Bei diesen Worten huschte ein Schatten über Nataschas Gesicht, sagte aber nichts. Das war auch gar nicht nötig. Ferdinand wusste auch so, was sie dachte.
„Baby, hör mir zu“, begann Ferdinand. „Ich liebe dich, mehr als alles andere auf der Welt, aber ich kann Inés nicht verlassen, wenn nicht einmal sicher ist, ob sie die nächsten Monate überstehen wird.“
„Ich weiß“, flüsterte sie.
„Inés und ich, wir schlafen schon lange nicht mehr in einem Bett. Bereits bevor das mit uns losgegangen ist, haben wir das nicht mehr. Bitte versteh mich doch. Es gibt nur dich für mich. Aber im Moment … ich kann sie in dieser Situation einfach nicht verlassen. Das würden mir meine Kinder niemals verzeihen. Und ich mir auch nicht.“ Nur ein Aspekt der Wahrheit, wie Ferdinand sehr wohl wusste. Aber eine Wahrheit, die Natascha respektieren musste .
„Ich verstehe dich“, erwiderte sie schlicht und senkte den Blick.
Ferdinand langte über den Tisch und griff nach ihrem Kinn, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. „Ich werde Inés verlassen. Das steht fest. Aber nicht jetzt, nicht in ihrer aktuell so prekären gesundheitlichen Verfassung.“
Oder – im Idealfall – erübrigt sich das Problem von ganz alleine , schoss ihm durch den Kopf. Unwirsch schüttelte er den Gedanken ab.
„Ich glaube dir und werde dich unterstützen. Wenn du mich brauchst, ich bin für dich da.“
„Ich weiß gar nicht, womit ich dich verdient habe“, flüsterte Ferdinand und küsste ihre Hände.
Natascha antwortete nicht. Stattdessen deutete sie ihm mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, ihr ins Schlafzimmer zu folgen. Was er nur zu bereitwillig tat. Diese Frau war ein Geschenk des Himmels.
Er durfte sie um keinen Preis der Welt verlieren.
KAPITEL 30
Emma.
N acheinander zündete Emma die Kerzen ihres Adventkranzes an. Zum ersten Mal alle vier auf einmal. Zufrieden lehnte sie sich auf der Couch zurück und starrte gedankenverloren in die Flammen. Der Kerzenschein tauchte das heruntergekommene Wohnzimmer in warmes Licht. Draußen war es bereits finster und über der Stadt lag diese besinnliche, fast ehrfürchtige Stimmung, die nur der Weihnachtsabend aus den sonst so grantigen Wienern hervorzulocken vermochte. Zu Emmas Bedauern hatte es noch nicht geschneit, aber man konnte schließlich nicht alles haben. Im Hintergrund lief das alte Radio ihrer Mitbewohnerin. Weihnachtsmusik, wie sie derzeit jeder Radiosender in Dauerschleife zum Besten gab.
Das war das erste Jahr, in dem sie Weihnachten nicht mit ihrer Adoptivfamilie verbrachte. Einen Moment hatte sie mit dem Gedanken gespielt, zu ihnen nach München zu fahren, den Plan jedoch rasch wieder verworfen. Auch wenn sie Julian gerne gesehen hätte – es gab kein Zurück für sie. Mit Sicherheit war Onkel Phil zu Heiligabend bei den Schneiders und außerdem hatte sie seit dem Sommer keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt. Also hatte sie sich darauf beschränkt, ihrem Adoptivbruder eine Weihnachtskarte zu schreiben und sich mit dem Gedanken abgefunden, dass sie zu Weihnachten alleine sein würde.
Dieser Tage vermisste sie Fiona mehr denn je. Normalerweise verbrachten sie den vierundzwanzigsten Dezember immer zusammen, bis sie zur Bescherung nach Hause mussten. Dieses Jahr war sie zum ersten Mal mutterseelenallein. Die Einsamkeit lastete schwer auf ihr. Sie redete sich ein, dass es besser so war. Geschieht dir Recht. Das hast du davon, wenn du die Leute zu nahe an dich heranlässt , feixte ihr hässliches Alter Ego.
Sie hatte sich für die kommenden Tage für jede freie Schicht im Kinkys gemeldet. Ihre Kollegen waren dankbar dafür – viele von ihnen fuhren über die Feiertage zu ihrer Familie – und Emma war froh, wenn sie beschäftigt war. Céline wurde derzeit von einer Familienfeier zur nächsten geschleift, bevor sie in einigen Tagen nach Frankreich zu ihrer Tante und Großmutter aufbrechen würde. Der Gedanke versetzte Emma den altbekannten Stich. Hör auf, dich zu bemitleiden , wies sie sich zurecht.
Gelangweilt nahm sie ihr Handy zur Hand und scrollte ziellos durch ihre Kontakte. Gab es denn niemanden, der wissen wollte, wie es ihr zu Weihnachten ging? Neben Célines Nummer, der ihrer Arbeitskolleginnen und einiger von Célines Freundinnen war ihre Kontaktliste wenig ergiebig. Sie seufzte.
Wie so oft in letzter Zeit musste sie an Alex denken. Sie wusste selbst nicht genau, warum. Nach ihrer Begegnung im Starbucks hatte sie erwartet, dass er sie um ein Date bitten würde. Er hatte eindeutig Interesse an ihr gehabt, da war sie sich sicher. Sie kannte die Männer und ihre Blicke und dieser Mann hatte sie ganz klar interessant gefunden. Was soll’s , dachte sie. Was habe ich schon zu verlieren?
Sie öffnete ihr E-Mail-Programm und tippte kurzerhand eine Nachricht: „Frohe Weihnachten. Bin lange nicht mehr beinahe überfahren worden. Fährst du neuerdings U-Bahn? ;-)“
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, drückte sie auf Senden. Selbst die Initiative zu ergreifen war eigentlich nicht ihr Stil.
Dann schaltete sie den Fernseher ein, entschlossen, sich abzulenken. Sie hatte „Der Grinch“ zwar schon zigmal gesehen, aber zu Weihnachten war der Film schließlich ein Klassiker, das sahen offenbar auch die Österreicher so.
Alex antwortete überraschend schnell. Bereits eine halbe Stunde später verkündete ihre Mailbox den Eingang einer neuen E-Mail.
„Dir auch besinnliche Weihnachten. Ich kann doch Starbucks nicht seiner besten Kundin berauben, das wäre unverantwortlich! Bist du über die Feiertage nach Hause gefahren oder dürfen sich die Wiener deiner Anwesenheit erfreuen?“
Ihr Herz machte einen Satz. Na bitte, ging doch.
„Sehr rücksichtsvoll von dir! Ich bin in Wien geblieben, muss für die erste große Prüfung lernen. Der Grinch und ich verbringen den Abend zu zweit. Und du? Familienmarathon?“
Wieder kam die Antwort prompt.
„Ganz die brave Studentin! Ich bin bei meinen Eltern zum Weihnachtsessen in Niederösterreich. Nach dem Truthahn und der Jahresration Kekse, die mir heute aufgenötigt wurde, kehre ich dann morgen als Schwergewicht in die Stadt zurück.“
Emma schmunzelte und hämmerte beschwingt in die Tasten. „Na dann solltest du dringend Sport machen. Ich habe mir sagen lassen, ab dreißig geht’s mit dem Stoffwechsel bergab! Kannst du Eislaufen? Ich teile gerne den Schützengraben mit dir im Kampf gegen die Kekskilos.“
„Charmant, junge Dame! Eislaufen hört sich nach einer guten Idee an. Auch wenn ich zuletzt vor gut fünfzehn Jahren am Eis gestanden bin. Du wirst also etwas zu lachen haben. Morgen, siebzehn Uhr am Rathausplatz?“
„Klingt gut. Ich freue mich.“
„Wunderbar. Der alte Mann geht jetzt ins Bett. Wir betagten Herren brauchen schließlich unseren Schönheitsschlaf. Genieß den Abend noch. Und grüß den Grinch von mir.“
Zufrieden sank Emma auf die Couch. Manchmal musste man die Dinge einfach selbst in die Hand nehmen.
***
Alex erschien am nächsten Tag pünktlich um siebzehn Uhr, mit einer Sporttasche bewaffnet, am vereinbarten Treffpunkt. Er trug Jeans und einen dicken Winterpullover, auf dem ein großer Schneemann prangte und in dem er zum Anbeißen aussah, wie Emma fand.
Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen und der Wiener Rathausplatz erstrahlte im Licht der Weihnachtsbeleuchtung. Von der Eisbahn hatte man einen traumhaften Blick auf das Rathaus, das ebenfalls hell erleuchtet war. Die Weihnachtsmusik, die aus den Lautsprechern plärrte, sorgte für ausgelassene Stimmung.
Wie es schien, waren sie nicht die Einzigen, die auf die Idee gekommen waren, am Christtag Eislaufen zu gehen. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, bis Emma sich Leihschuhe besorgt hatte und sie endlich das Eis betraten. Emma hatte in Affing viele Nachmittage mit Fiona am ortseigenen Eislaufplatz verbracht und glitt mit sicheren Bewegungen dahin.
Sie wandte sich zu Alex um und musste unwillkürlich grinsen, als sie sah, wie dieser vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte und sich alle paar Meter an der Absperrung festklammerte.
„Das mit den fünfzehn Jahren war wohl nicht gelogen“, lachte sie. „Brauchst du Hilfe?“
„Danke der Nachfrage. Du hast gut lachen! Ich möchte mir möglichst nicht gleich bei der ersten Runde alle Knochen brechen!“
„Keine Sorge. Ich besuche dich dann im Krankenhaus. Wenn du Glück hast, bringe ich dir sogar Kekse mit.“
Alex grinste. „Was bin ich doch für ein Glückspilz! Wo hast du überhaupt so gut Eislaufen gelernt?“
„Zu Hause in Bayern war ich mit meiner Freundin im Winter mindestens einmal die Woche am ortseigenen Eislaufplatz.“
„Vermisst du es?“
„Das Eislaufen?“
„Nein, ich meine Deutschland, deine Heimat.“
„Eigentlich nicht.“
„Und deine Familie?“
„Ich hatte kein besonders gutes Verhältnis zu meinen Adoptiveltern. Ich bin bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abgehauen und denke nicht daran, dorthin zurückzukehren. Also – nein. Ich vermisse Deutschland im Grunde überhaupt nicht.“
Alex schwieg eine Weile und konzentrierte sich auf seine Füße. Mit der Zeit wurde er etwas sicherer und Emma passte ihr Tempo dem seinen an. Langsam lief sie neben ihm her.
„Bist du denn in Wien aufgewachsen? Hast du nie überlegt, von hier wegzugehen?“
Er zuckte die Achseln. „Ich war nach dem Studium zwei Jahre im Ausland. Aber Wien ist mein Zuhause. Mir gefällt es hier.“
„Es ist ja auch eine tolle Stadt.“
„Ja, das stimmt. Und wie hat es dich ausgerechnet hierher verschlagen? Ich meine, du hättest überall hingehen können, oder?“
Emma reagierte ausweichend. „Hat sich so ergeben. Ich wollte hier studieren.“ Sie zuckte die Achseln.
Alex war höflich genug, nicht weiter nachzubohren.
„War das dein erstes Weihnachten alleine?“
„Na ja, ich und der Grinch“, erwiderte sie mit einem schiefen Lächeln. „Ich gebe zu, es war merkwürdig. Und ein bisschen einsam war es auch. Aber man ist seines eigenen Glückes Schmied, oder nicht? Ich bereue keine Sekunde, dass ich nach Wien gezogen bin. Ich stehe auf eigenen Beinen, verdiene mein eigenes Geld, bin unabhängig. Das gefällt mir. Ich will das Beste aus meinem Leben machen. Und ich habe das Gefühl, ich bin auf dem richtigen Weg.“
Alex nickte nachdenklich und bedachte sie mit einem Seitenblick, den sie nicht recht zu deuten wusste. „So, ich brauche eine Pause. Da drüben sind Punschstände. Was meinst du?“
„Gern.“
Sie verließen das Feld und stapften zum nächstgelegenen Stand, der den Duft von Lebkuchen und dem süßen Heißgetränk verströmte.
„Kinderpunsch?“, feixte er.
„Jetzt hör aber auf! Ich bin neunzehn!“
Grinsend bestellte er zwei Becher Orangenpunsch und hielt ihr einen davon hin.
Emma ließ nicht locker. „Das ist also der Grund, warum du dich nicht eher bei mir gemeldet hast. Du findest, ich bin zu jung für dich?“
„Nun ja“, entgegnete Alex gedehnt. „Uns trennen immerhin über zehn Jahre Altersunterschied.“
„Vielleicht bin ich anders als die Neunzehnjährigen, die du bisher kennengelernt hast“, schoss Emma zurück.
„Auf den Gedanken bin ich auch schon gekommen“, murmelte Alex, auf einmal ernst, und fixierte sie mit diesen unglaublich blauen Augen, die ihr Herz schneller schlagen ließen.
Na also , dachte sie zufrieden. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Er hatte Interesse an ihr. Selbstbewusster als ihr eigentlich zumute war, trat sie einen Schritt näher auf ihn zu, ohne den Blickkontakt zu brechen. Sie standen jetzt sehr nahe beieinander. Auch Alex wandte den Blick nicht ab, die Spannung zwischen ihnen war mit Händen greifbar.
„Wir sollten noch eine Runde laufen“, wisperte Emma schließlich.
„Ja, das sollten wir wohl“, erwiderte er. Dennoch bewegte sich keiner von ihnen auch nur einen Millimeter. Stattdessen legte Alex die letzten Zentimeter zu ihr zurück.
Der Kuss war zart und süß. Alex Lippen waren erstaunlich weich und jagten Emma wohlige Schauer über den Rücken. Vorsichtig schob sich seine Zungenspitze in ihren Mund und massierte die ihre. Emma keuchte auf. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals auf diese Weise geküsst worden zu sein. Zaghaft schlang sie die Arme um seinen Hals, genoss seinen männlichen Duft.
Erst nach einer Ewigkeit lösten sie sich wieder voneinander. Alex starrte sie unverwandt an.
„Ich muss zugeben, ich habe dich unterschätzt“, krächzte er. „Du bist ganz und gar kein Kind mehr. Ganz im Gegenteil. Du bist eine beeindruckende Frau, Emma Schneider.“
KAPITEL 31
Ferdinand.
M it stolzgeschwellter Brust erklomm Ferdinand die majestätische Treppe des Palais Auersperg. An seinem rechten Arm hatte sich Inés untergehakt. Sie trug ein bodenlanges Abendkleid. Das dunkle Blau betonte ihren hellen Teint und ließ ihre feinen Gesichtszüge erstrahlen. Ein traumhaftes Diamantcollier zierte ihren schlanken Hals. Ferdinand war immer wieder verwundert, was ein bisschen Make-up alles richten konnte. Lebhaft erinnerte er sich noch an die tief in den Höhlen liegenden Augen seiner Frau von heute Morgen. Ihre Haut hatte sich fahl über die Wangenknochen gespannt, die Arme waren wie dünne Äste aus dem Morgenmantel herausgeragt. Als wollte ihr Körper keinen Zweifel an seiner schlechten Verfassung aufkommen lassen und ihn Mitleid heischend anschreien. Jetzt aber, in diesem Kleid, schritt sie anmutig neben ihm her, und obwohl ihre immer schon schlanke Gestalt ein paar ihrer femininen Rundungen eingebüßt hatte, sah sie attraktiv aus. Die repräsentative Ehefrau, wie sie leibt und lebt.
Die Treppe mündete in eine prächtige Galerie und Ferdinand ließ seinen Blick über die Gäste schweifen. Er entdeckte einige bekannte Gesichter und nickte ihnen höflich zu. Wie jedes Jahr war der Wiener Altschottenball ein Fixpunkt in ihrem Kalender. Er schätzte die Veranstaltung als Gelegenheit, Kontakte zu pflegen und um der Tradition willen. Der Ball wurde von der Vereinigung ehemaliger Schottengymnasiasten ausgerichtet, jener Schule, die er selbst einst besucht hatte. In der guten alten Zeit als diese noch ausschließlich Jungen vorbehalten gewesen war.
„Möchtest du etwas trinken? Ein Glas Champagner vielleicht?“
„Ich darf keinen Alkohol trinken, das weißt du doch. Aber ein Mineralwasser wäre schön“, erwiderte Inés.
„Ach stimmt ja, entschuldige.“ Er winkte einen Kellner heran und gab die Bestellung auf. Ein befreundetes Pärchen, deren Namen ihm gerade nicht einfallen wollte, gesellte sich zu ihnen an den Stehtisch.
„Inés, Ferdinand, was für eine Freude!“
„Schön euch zu sehen, Franz! Isabella!“, begrüßte Inés die beiden. Auf seine Frau und ihr Namensgedächtnis war stets Verlass.
Eine oberflächliche Unterhaltung kam in Gang, der Ferdinand jedoch nur mit halbem Ohr folgte. Gerade hatte er Natascha erspäht, die sich den Gang entlang auf sie zu bewegte. Immer wieder blitzte ihr rubinrotes Abendkleid in der Menge auf, in dem sie absolut atemberaubend aussah. Das schien auch der Mann an ihrer Seite zu finden, denn er redete unablässig auf sie ein. Geschmeidig lief er neben ihr her, das markante Gesicht unverwandt auf Natascha gerichtet. Unvermittelt brandete Eifersucht in ihm hoch. Wer war dieser Kerl, mit dem seine Geliebte gekommen war? Kurz erwog er, die Konkurrenz in die Schranken zu weisen, konnte sich jedoch im letzten Moment davon abhalten. Auch Inés hatte die beiden entdeckt.
„Natascha! Ich wusste gar nicht, dass du auch kommst. Gesellt euch doch zu uns.“
Zähneknirschend beobachtete Ferdinand, wie der Mann Natascha den Arm anbot und sie sich bei ihm unterhakte.
Sie tauschten Luftküsse aus. „Inés! Schön, dich zu sehen. Wladimir, das sind meine langjährige Freundin Inés und ihr Mann Ferdinand Lauderthal.“
Ferdinand drückte die Hand des Neuankömmlings fester als nötig und bedachte ihn mit einem stechenden Blick. Seine Körperhaltung signalisierte dem Russen klar und deutlich: Sie gehört mir, mir ganz alleine! Natascha schmunzelte, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
„Wladimir ist erst vor Kurzem von Moskau nach Wien gezogen. Er ist Alleineigentümer und Geschäftsführer der russischen Iwanow Investments O.O.O., die sich mit der Investition in namhafte Immobilienprojekte im gesamten osteuropäischen Raum beschäftigt. Kürzlich hat er aus strategischen Gründen eine Tochtergesellschaft in Wien gegründet, um von hier aus auch auf dem deutschen und österreichischen Markt Fuß zu fassen. Habe ich das richtig zusammengefasst, Wladimir?“
„Völlig richtig, meine Liebe“, bestätigte dieser. Sein russischer Akzent ging Ferdinand durch Mark und Bein und ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen.
„Und was machen Sie beruflich, Herr Lauderthal?“
„Die Lauderthals betreiben ein Immobilienimperium in Wien, die Lauderthal Immobilien GmbH, vielleicht hast du schon von ihr gehört. Ferdinand ist Geschäftsführer des Unternehmens“, erläuterte Natascha.
Der Russe nickte und musterte Ferdinand interessiert.
Na großartig , dachte Ferdinand missmutig. Nicht nur, dass mir dieser Affe die Frau streitig machen will, ist er offenbar auch noch ein einflussreicher Investor. Wäre er nicht Nataschas Begleitung, würde er sich ins Zeug legen, ihn als Geldgeber für eines seiner Immobilienprojekte zu gewinnen. Vergiss deinen Stolz doch ausnahmsweise einmal , ermahnte er sich. Denk an die Firma. Harte Zeiten erfordern noch härtere Maßnahmen!
„Ihr Betätigungsfeld hört sich interessant an. Vielleicht kann ich Sie ja für eines meiner Projekte begeistern? Unser Unternehmen ist immer auf der Suche nach Investoren. Und die Renditen sind nicht zu verachten!“, hörte sich Ferdinand sagen. Die Galle stieg in ihm hoch als er sein Gesicht zu einem, wie er hoffte, gewinnenden Lächeln verzog.
„Das ist eine ganz wunderbare Idee!“, flötete Natascha.
„Geben Sie mir doch Ihre Karte, vielleicht kommen wir zusammen“, erwiderte Iwanow glatt. Ferdinand kramte in der Tasche seines Fracks und überreichte dem Russen seine Visitenkarte, der ihm im Gegenzug die seine zusteckte.
„Fein, ich werde mich Anfang der Woche mit Ihnen in Verbindung setzen“, verkündete Ferdinand.
„Dürfen wir Sie auf etwas zu trinken einladen? Sie sitzen doch auf dem Trockenen, wie ich sehe!“
Sie bestellten eine Flasche Moët Champagner. Das Gespräch kreiste nun um private Themenbereiche. Ferdinand verschanzte sich hinter seiner Maske des charmanten Manns von Welt. Als sich Inés in Richtung Toilette entschuldigte und Franz und seine Frau Herrn Iwanow in eine angeregte Unterhaltung über die Vorzüge des Golfressorts in der Freudenau verwickelt hatten, wandte sich Ferdinand an Natascha.
„Du siehst absolut hinreißend aus“, raunte er ihr zu.
Diese errötete. „Danke. Gleichfalls. Der Frack steht dir ausgezeichnet.“
„Was willst du denn mit dem Wicht?“, wisperte Ferdinand betont beiläufig. Das Missfallen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Natascha lachte leise. „Ist da jemand eifersüchtig?“, fragte sie grinsend.
„Sollte ich?“
„Mach dir keine Gedanken. Aber wenn du mich schon nicht zu gesellschaftlichen Anlässen begleiten kannst, muss ich mir eben Ersatz suchen“, erwiderte sie unschuldig.
Ferdinand knirschte mit den Zähnen und Natascha verzog ihr Gesicht zu einem breiten Lächeln, die die Grübchen in ihren Wangen zum Vorschein brachten, die er so liebte. Ferdinand hätte am liebsten besitzergreifend den Arm um sie gelegt.
„Wladimir schien recht angetan von dir zu sein. Wäre doch schön, wenn sich da etwas arrangieren ließe.“
„Danke. Das können wir im Moment gut brauchen. Du bist meine Heldin. Und damit du es weißt: Das ist das letzte Mal, dass ich ohne dich an meiner Seite auf einen Ball gehe.“ Sanft strich er ihr mit den Fingerspitzen über ihre Schulter.
„Musik in meinen Ohren“, flüsterte Natascha und ihre Augen leuchteten auf.
Ferdinands Blick glitt an ihrem Rücken entlang und blieb an einem Augenpaar hängen, das sich zielstrebig auf sie zu bewegte. Inés. Rasch rückte er etwas weiter von Natascha ab und zog seine Hand zurück.
„Willst du tanzen?“, fragte er an Inés gewandt, als sie das Grüppchen erreicht hatte.
„Liebend gerne“, erwiderte seine Frau. Sie klang überrascht.
Kein Wunder , dachte Ferdinand. Normalerweise scheute er das Tanzparkett wie der Teufel das Weihwasser. Er zwinkerte Natascha zu, verabschiedete sich höflich von Wladimir und den anderen und machte sich an Inés Seite auf den Weg in Richtung Ballsaal, von wo bereits die unverkennbare Musik der Mitternachtsquadrille zu ihnen herüberschallte.
Seine Laune hatte sich deutlich gehoben. Die Bekanntschaft mit Herrn Iwanow gab Anlass zur Hoffnung. Vielleicht, so dachte er insgeheim, würden sich ja doch noch all seine Probleme in Wohlgefallen auflösen.
KAPITEL 32
Emma.
F rustriert starrte Emma auf das aufgeschlagene Buch vor ihr auf dem Tisch. Seit letzte Woche die Lehrveranstaltungen wieder losgegangen waren, fühlte sie sich von der schier unendlichen Stoffmenge geradezu erschlagen. Die zweite Klausurrunde ihrer Pflichtvorlesungen stand unmittelbar bevor, darüber hinaus befand sie sich mitten in den Vorbereitungen für die erste Modulprüfung, die für Ende Jänner angesetzt war. Emma rauchte der Kopf. Sie wusste gar nicht, was sie zuerst lernen sollte. Dennoch war sie glücklicher und ausgeglichener als je zuvor. Seit Weihnachten hatte sie jede freie Minute mit Alex verbracht und die Tage waren wie im Fluge vergangen, berauscht von angenehmen Empfindungen und Schmetterlingen im Bauch.
Seufzend wandte sich Emma wieder dem Lernstoff zu. So schön die Zeit mit Alex auch gewesen war, hatte sie doch dazu geführt, dass sie ihre Prüfungsvorbereitungen sträflich vernachlässigt hatte.
Sie hatte sich soeben in die Angabe eines besonders kniffligen Zivilrechtsfalls vertieft, da spürte sie das Vibrieren ihres Handys auf der Tischplatte. Emma warf einen Blick auf das Display. Eigentlich konnte sie gerade keine Ablenkung gebrauchen, aber als sie Fionas Namen auf dem Screen erkannte, nahm sie doch ab.
„Hey, Fi! Schön von dir zu hören. Wie läuft‘s?“
„Hervorragend!“, drang die aufgeregte Stimme ihrer Freundin an ihr Ohr. „Stell dir vor, ich bin befördert worden! Ich bin jetzt ganz offiziell die rechte Hand meiner Tante“, plapperte sie drauflos. „Und rate mal, wem ich als Erstes davon erzählen wollte: Meiner allerbesten Freundin, die leider viel zu weit weg ist und mit der ich in diesem Moment am liebsten feiern gehen würde!“
„Fi, das ist ja großartig! Ich freue mich so für dich! Das hast du wirklich verdient.“
„Danke, Emma. Ich sage dir, ich bin ja so stolz! Irgendetwas muss ich tatsächlich richtig gemacht haben“, trällerte sie. „Und was treibst du Schönes? Irgendwelche Neuigkeiten?“
Emma gab ein leises Stöhnen von sich. „Ich lerne wie verrückt. Erinnerst du dich noch daran, dass wir meinten, die Stoffmenge für das Abitur wäre kaum zu bewältigen? Das war ein Klacks gegen das, was ich hier vor mir habe. Hunderte Seiten juristisches Kauderwelsch. Ekelhaft.“ Sie grinste selig in sich hinein. „Aber irgendwie auch spannend.“
„Ich habe mich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass du jetzt die brave Studentin mimst. Wenn du mir das vor einem Jahr gesagt hättest, hätte ich gelacht und dich für verrückt erklärt.“
„Ja stimmt“, lachte Emma. „Aber es gibt da tatsächlich eine Sache, von der ich dir gerne erzählen wollte. Stell dir vor, ich habe etwas mit Alex angefangen.“
„Der süße Kerl mit den blauen Augen von Lauderthal Immobilien?“
„Genau der!“
„Ich fasse es nicht. Du hast einen Freund? Ausgerechnet du ?“
„Na ja“, wand sich Emma. „Wir sind nicht offiziell zusammen. Noch nicht. Wir treffen uns erst seit Weihnachten. Aber ich denke, vielleicht ... ich meine ... ich mag ihn wirklich.“ Sie brach ab. Die Röte war ihr ins Gesicht geschossen, was Fiona zum Glück durchs Telefon nicht sehen konnte.
„Okay ... Nun mal langsam. Wer bist du und was hast du aus dem unnahbaren Kühlschrank gemacht, der sich meine beste Freundin schimpft?“
Emma kicherte. „Ich weiß. Aber ich mag ihn wirklich.“
„Nochmal von vorne. Mein Letztstand war, dass er sich nach eurer zufälligen Begegnung nicht mehr gemeldet hat. Ich will alles von Anfang hören. Und lass ja keine schmutzigen Details aus!“
Emma schilderte Fiona haarklein von den Entwicklungen der letzten Wochen. Als sie geendet hatte, pfiff diese anerkennend durch die Zähne. „So habe ich dich ja noch nie erlebt, Em. Du hörst dich wirklich glücklich an. Ich freue mich so für dich.“
„Danke.“
„Habt ihr schon miteinander geschlafen?“
„Fi!“
„Na hör mal, ich bin deine beste Freundin. Jetzt sag endlich – habt ihr oder habt ihr nicht?“
„Wir wollen es langsam angehen“, erwiderte Emma zögerlich. „Aber um ehrlich zu sein, bin ich ganz schön nervös deswegen.“
„Sorge dich nicht, Süße. Du magst ihn und wie es aussieht, mag er auch dich. Aber wehe, du rufst mich hinterher nicht sofort an und erzählst mir alles!“
„Das werde ich, versprochen.“
„Das will ich dir auch raten. Und was ist mit der Prinzessin? Hast du sie schon in den Wahnsinn getrieben?“
„Ich arbeite daran. Ich habe den ultimativen, superfiesen Plan ausgeheckt.“
„Erzähl!“
„Ich habe dir doch erzählt, dass Céline beim Schummeln erwischt wurde. Nach der Klausurrückgabe hat Mag. Kerchner sie noch für ein Gespräch unter vier Augen dabehalten und ihr eröffnet, dass ihre Klausur nicht gewertet wird. Eigentlich wollten wir uns im Anschluss an die Lehrveranstaltung in der Mensa treffen, aber ich habe vor dem Seminarraum gewartet und ihre Unterhaltung beobachtet. Céline hat geweint, sie war total fertig. Offenbar hat sie dem Professor leidgetan, denn er hat sie getröstet. Im Grunde völlig harmlos. Aber ich habe die Gunst der Stunde genützt und ein Foto von den beiden gemacht. Von meinem Standpunkt aus wirkte es, als würden sie sich jeden Moment küssen. Und ebenjenes Bild steckt jetzt in einem Umschlag, den ich an die Studienleitung adressiert habe. Das war‘s dann mit der Uni. Die werfen sie hochkant raus, wenn sie das sehen.“
Atemlos harrte Emma der Reaktion ihrer Freundin.
„Sag schon, was denkst du?“, drängte Emma.
„Versteh das bitte nicht falsch, aber ... findest du nicht, dass du damit etwas zu weit gehst?“
„Wieso das denn?“, erwiderte sie ungehalten. Sie hatte erwartet, dass Fiona ihr zu ihrem Einfallsreichtum gratulieren würde.
„Denk doch über die Konsequenzen nach. Das, was du vorhast, hat schließlich nicht nur Folgen für deine Halbschwester, sondern auch für diesen Mag. Kerchner, richtig? Er bekommt sicher Ärger, dabei hat er sich nichts zuschulden kommen lassen. Ich verstehe ja, dass du Céline einen Denkzettel verpassen willst. Aber der Professor hat dir nichts getan. Und ein Univerweis? Das ist mehr als nur ein Streich, damit beschädigst du ihre Zukunft nachhaltig. Willst du das wirklich? Du weißt, ich bin auf deiner Seite, egal was du tust. Aber erinnere dich an unseren Pakt, keinen ernsthaften Schaden anzurichten.“
Emma schwieg. Gedankenverloren fingerte sie an einer Ecke des Briefumschlags. Auch wenn sie es ungern zugab, hatten Fionas Einwände etwas für sich.
„Bitte überlege es dir noch einmal, in Ordnung?“
Widerwillig nickte Emma. „Na gut. Ich werde darüber nachdenken.“
„Mehr will ich ja auch gar nicht. Was du so erzählst, bist du glücklich in Wien. Du hast einen tollen neuen Freund, die Uni macht dir Spaß. Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, deine Rachepläne gut sein zu lassen? Oder sie zumindest auf deinen ekelhaften Vater zu beschränken?“
Nachdem sie noch einige Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten, beendeten sie das Telefonat. Emma wandte sich wieder ihrem Prüfungsstoff zu, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, ihre Gedanken schweiften ständig ab. Fionas Worte hatten ihr zu denken gegeben. Hatte ihre Freundin womöglich Recht, und hatte sie die Grenze des Vertretbaren bereits überschritten? Hatte sie sich etwa schon so tief in ihren Rachefantasien verstrickt, dass sie nicht mehr zwischen richtig und falsch zu unterscheiden vermochte?
Entschlossen schob sie den Brief zu Seite. Für den Moment hatten ihre Prüfungen Vorrang. Alles andere konnte warten.
KAPITEL 33
Emma.
K euchend stapfte Emma den langen und inzwischen vertrauten Weg von der Straßenbahnstation zum Haus der Lauderthals hinauf. In den letzten Tagen hatte es unaufhörlich geschneit und die Straße war von Glatteis überzogen. Die Reisetasche, in der sie alle notwendigen Utensilien verstaut hatte, wog schwer auf ihrer Schulter und sie musste aufpassen, nicht auf dem glatten Untergrund auszurutschen.
Nach einem fünfzehnminütigen Fußmarsch tauchte das Anwesen endlich in der Dunkelheit vor ihr auf. Emma sah sich um. Wie erwartet waren die Straßen um kurz nach Mitternacht menschenleer. Konzentriert tippte sie den Nummerncode in die Schaltfläche neben dem Eingang und das schwere Eisentor glitt lautlos zur Seite. Céline hatte ihr den Code verraten, als sie sich einmal bei ihr zu Hause zum Lernen getroffen hatten.
Katzengleich schlüpfte sie durch das Tor und erklomm die Zufahrtsstraße zum Haus. Nur ein einziges Fahrzeug stand in der Einfahrt. Célines Wagen. Wie Emma wusste, war die restliche Familie am Vorabend in den Skiurlaub aufgebrochen.
Umsichtig stellte sie die Tasche auf dem Boden ab und zog den Reißverschluss auf. Mehrere bis zum Rand gefüllte Wasserkanister lugten daraus hervor. Emma versicherte sich noch einmal, dass sie auch wirklich alleine war. Aber sie hätte sich nicht sorgen müssen, die Villa lag vollkommen ruhig und in völliger Dunkelheit da. Die Fenster stierten aus schwarzen Augenhöhlen auf sie hinab, kein Licht brannte.
Emma zog die Handschuhe über, die sie mitgebracht hatte, schraubte den ersten Kanister auf und begoss damit die Motorhaube von Célines Audi. Genauso verfuhr sie mit den übrigen Behältern, bis das Auto vollständig mit einer feinen Wasserschicht bedeckt war. Zuletzt gönnte sie den Türrahmen des Wagens noch eine Extraportion Wasser.
Zufrieden rieb sie sich die Hände. Ihre Arbeit war getan. Und so unbemerkt, wie sie gekommen war, verließ sie das Grundstück und trat den Rückweg nach Hause an.
Céline.
Céline erwachte am nächsten Morgen noch vor dem ersten Weckerklingeln. Obwohl sie zeitig zu Bett gegangen war, fühlte sie sich wie gerädert. Sie hatte schlecht geschlafen, zwei Mal war sie schweißgebadet aufgewacht, fest davon überzeugt, verschlafen zu haben.
Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass es schon wieder schneite. Dicke Flocken fielen vom Himmel, die sich kaum von der dichten weißen Wolkendecke abhoben. Rasch erhob sie sich und zog sich an. Dann tapste sie nach unten.
Die erste Tasse Kaffee weckte ihre Lebensgeister und während sie frühstückte, ging sie noch einmal in Ruhe ihre Notizen durch. Ihr Lernpensum der letzten Wochen war die Hölle gewesen, der Stoff hatte ihr einfach nicht in den Kopf gehen wollen. Was hätte sie für zwei zusätzliche Tage Vorbereitungszeit gegeben!
Sie vertiefte sich in das Skriptum und als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, stellte sie entsetzt fest, dass sie die Zeit aus den Augen verloren hatte. Es war bereits viertel nach sieben, eine Stunde vor Prüfungsbeginn. Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen. Hastig schlüpfte sie in Stiefel und Moncler -Jacke, schnappte ihre Autoschlüssel und trat hinaus in das Schneegestöber.
Eine Windböe erfasste sie, kaum, dass sie das Haus verlassen hatte, und ließ sie beinahe das Gleichgewicht verlieren. Ihr Wagen war von einer dicken Schneeschicht bedeckt. Fluchend rannte sie ins Haus zurück, um einen Besen zu holen, mit dem sie Windschutzscheibe und Türen von der weißen Pracht befreite. Dann betätigte sie die Fernsteuerung des Audis, der sie mit einem kurzen Aufleuchten der Warnlichter begrüßte.
Céline stapfte zur Fahrerseite und zog am Türgriff. Nichts passierte. Ungeduldig riss sie erneut an der Tür. Wieder nichts.
So ein Mist. Ausgerechnet heute.
Nach mehreren gescheiterten Versuchen trat sie ein paar Schritte zurück und beäugte den Audi misstrauisch. Der Wagen hatte sie noch nie im Stich gelassen und gerade jetzt konnte sie eine Verzögerung gar nicht brauchen.
In diesem Moment bemerkte sie die dünne Eisschicht, die das gesamte Fahrzeug wie ein hauchdünner Film überzog. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Das gibt es doch nicht , dachte sie mit wachsendem Entsetzen. Die ganze letzte Woche war es klirrend kalt gewesen, aber so etwas hatte sie noch nie erlebt. Ihr geliebtes Auto sah aus, als wäre es neu lackiert worden, nur dass die Schicht, die sich über das gesamte Fahrzeug zog, aus Eis bestand.
Panik wallte in ihr hoch. Wie sollte sie ohne ihr Auto rechtzeitig zu ihrer Prüfung kommen? Sie hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wieso hatte sie sich nur nicht früher auf den Weg gemacht? Konnte sie nicht einmal in ihrem Leben pünktlich irgendwo auftauchen? Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln brauchte sie über eine halbe Stunde und so viel Zeit hatte sie nicht mehr. Ein Taxi war ihre einzige Chance.
Mit zitternden Fingern zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer eines bekannten Taxiunternehmens.
„Ein Taxi in den Oberen Schreiberweg 112a, 1190 Wien, bitte.“
Die Dame an der Vermittlung wiederholte den Auftrag und teilte ihr mit, dass das Fahrzeug in etwa zehn Minuten bei ihr eintreffen sollte.
„Zehn Minuten?“, keuchte Céline. „Geht das nicht schneller? Es ist wirklich dringend!“
„Tut mir leid, Frau Lauderthal. Der Fahrer ist unterwegs, aber bei dem Wetter kann es eine Weile dauern bis er bei Ihnen ist.“
Sie legte auf. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Je mehr Zeit verstrich, desto länger würde die Fahrt dauern, der Frühverkehr in Wien war – gerade, wenn es geschneit hatte – nicht zu unterschätzen. Bibbernd schlang sie die Arme um den Körper. Ihr war bitterkalt.
Zwölf Minuten später traf das Taxi ein. Céline eilte ihm entgegen, kaum, dass es in ihrem Sichtfeld erschienen war. Sie rutschte auf die Rückbank und flehte den Fahrer an, Gas zu geben.
Die Fahrt zur Uni schien endlos zu dauern. Ihre Augen waren starr auf die Uhr am Armaturenbrett gerichtet, als ob sie den Lauf der Zeit dadurch verlangsamen könnte. Doch die Zeiger krochen unbarmherzig dahin. Als sie endlich das Juridicum erreichten, war es bereits halb neun – die Prüfung hatte vor mehr als fünfzehn Minuten begonnen.
So schnell sie ihre Füße trugen, sprintete sie in den ersten Stock und stürzte atemlos in den Lesesaal, in dem das Examen abgehalten wurde. Einige Studenten sahen erschrocken auf, alle waren schon fleißig am Arbeiten.
Schwer atmend ließ sie sich auf einen freien Tisch fallen und winkte den Tutor herbei, dem die Prüfungsaufsicht oblag.
„Sie sind zu spät“, stellte dieser überflüssigerweise fest.
„Was Sie nicht sagen. Ich darf doch trotzdem noch mitschreiben?“
Wortlos überreichte er ihr den Prüfungsbogen. „Ich kann Ihnen aber nicht mehr Zeit geben als den anderen“, erwiderte er mit einem bedauernden Blick auf seine Armbanduhr. „Sie haben noch zwei Stunden fünfzehn übrig.“ Dann ließ er sie alleine.
Céline schrieb, als ob es um ihr Leben ginge. Doch so sehr sie sich auch abmühte, die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern. Als die Studierenden schließlich aufgefordert wurden, ihre Arbeiten nach vorne zu bringen, fehlte ihr noch gut die Hälfte eines der drei Prüfungsgebiete. Die dreißigminütige Verspätung würde sie Kopf und Kragen kosten. Hektisch arbeitete sie weiter, ihre Hände brannten von der ungewohnten Belastung. Die Prüfungsaufsicht musste ihr den Prüfungsbogen beinahe gewaltsam entreißen.
„Sie müssen jetzt wirklich abgeben“, meinte der Prüfungsaufseher streng und nahm die Zettel an sich.
Unendlich erschöpft und deprimiert packte sie ihre Sachen zusammen. Wie in Trance folgte sie ihren Kommilitonen in die Mensa, die bereits voll besetzt war.
„Céline!“, rief Emma sie an einen der Tische. Immer noch völlig paralysiert ließ Céline sich auf den Stuhl neben ihr sinken.
„Wie ist es gelaufen? Den Rechtsphilosophieteil fand ich schwer, aber der Rest war ganz in Ordnung, finde ich. Wie ist es dir ergangen?“
Die Anspannung fiel allmählich von ihr ab und wich tiefer Verzweiflung. Nicht schon wieder , dachte Céline, schaffte es aber nicht, die Tränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen schossen.
„Ich bin nicht fertig geworden“, brachte sie schluchzend hervor.
Emma tätschelte ihr beruhigend den Arm. „Mach dir keinen Kopf. Ich habe auch nicht alle Fälle vollständig lösen können. Aber es wird gereicht haben, du wirst schon sehen.“
Céline wurde daraufhin von nur noch heftigeren Weinkrämpfen geschüttelt. „Nein, du verstehst nicht“, japste sie. „Mir fehlt fast die Hälfte des Zivilrechtsteils. Ich war zu spät!“
„Was soll das heißen, du warst zu spät?“
„Mein Auto“, weinte sie. „Es ist über Nacht komplett zugefroren. Ich habe es einfach nicht aufbekommen. Und bis das Taxi da war, hatte ich schon zu viel Zeit verloren. Ich dämliche Kuh, wieso bin ich bloß nicht früher losgefahren?“
Die Tränen flossen in Strömen und sie konnte regelrecht spüren, wie ihr die Wimperntusche in gräulichen Schlieren über die Wangen lief, aber ausnahmsweise war es ihr egal, wie sie aussah. Sie hatte es vermasselt. Die wichtigste Prüfung des Semesters – und sie hatte versagt.
Tröstend strich ihr Emma über den Rücken. „Das wird schon. Jetzt warte doch einmal ab.“
„Nein. Es kann nicht gereicht haben. Du weißt doch, dass wir in jedem Teilgebiet für sich positiv sein müssen, um zu bestehen. Und das kann sich bei Zivilrecht beim besten Willen nicht ausgegangen sein. Ich bin durchgefallen. Ich weiß es.“
Emma wich ihrem Blick aus. Es schien ihr unangenehm zu sein, dass Céline in der Öffentlichkeit weinte. Resolut wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Tut mir leid, dass ich schon wieder heule“, krächzte sie.
„Das braucht dir doch nicht leidzutun. Du hattest auch wirklich immenses Pech!“
„Ja“, klagte Céline hilflos. Aber instinktiv wusste sie, dass sie selbst schuld an ihrer Misere war. Wäre sie nur einmal in ihrem Leben pünktlich gewesen, würde sie jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken.
„Kann ich am Abend bei dir vorbeikommen?“, brach es unvermittelt aus ihr hervor.
Emma starrte sie überrascht an. „Ja, natürlich, wenn du das willst.“
„Danke“, schniefte sie. „Ich möchte heute einfach nicht alleine sein. Meine Familie ist verreist und Marc hat morgen eine Prüfung. Ich könnte es nicht ertragen, zu Hause herumzusitzen und Trübsal zu blasen.“
„Du bist natürlich immer bei mir willkommen. Wir bestellen Pizza und machen uns einen netten Abend. Meine Mitbewohnerin ist zu ihren Eltern gefahren, wir sind also unter uns.“ Sie kaute nervös an ihren Fingernägeln. „Aber erwarte dir nicht zu viel, meine Wohnung ist nicht so ein Palast wie euer Haus.“
„Das ist doch ganz egal. Danke Emma! Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde“, keuchte sie erleichtert und umarmte ihre Freundin heftig.
Wenn ich schon zu blöd für die Uni bin, habe ich wenigstens gute Freundinnen.
KAPITEL 34
Emma.
E mma flitzte nach Hause. Wenn Céline sie tatsächlich besuchen wollte, musste sie dringend ein wenig Ordnung schaffen. Ihre Freundin sollte nicht gleich vor Schock über ihre heruntergekommene Behausung in Ohnmacht fallen.
Die Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld. Überall stolperte man über leere Flaschen und Pizzakartons, auf allen Ablageflächen lagen Skripten und Berge schmutziger Wäsche türmten sich im Badezimmer. Ein Zeugnis der lernintensiven vergangenen Wochen.
Kaum hatte sie den letzten Pappkarton in einen großen Müllsack gestopft, da läutete es auch schon an der Tür. Sie betätigte den Türöffner und blickte sich nochmal gehetzt in dem kleinen Raum um. Immer noch lagen diverse Lernutensilien verstreut, aber dafür war jetzt keine Zeit mehr.
„Hey, du“, begrüßte sie Céline mit sanfter Stimme. „Komm rein! Du kannst die Schuhe anbehalten, wenn du willst.“
Mit einer verlegenen Geste deutete sie auf die Wohnküche. „Voilà, darf ich vorstellen, mein kleines Reich. Immerhin ist Elisabeth nicht da, wir sind also unter uns.“
„Schön hast du es hier“, meinte Céline höflich, aber ihre Augen straften ihre Worte Lügen. Emma konnte sehen, wie entsetzt sie war.
„Möchtest du ein Bier? Oder Weißwein?“
„Hast du Gin?“
Emma zog eine Augenbraue hoch. „Du willst jetzt einen Gin Tonic? Es ist noch nicht mal sechs Uhr!“
Céline machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mir egal. Ich brauche etwas Hochprozentiges.“ Kritisch beäugte sie die fleckige Couch, bevor sie sich naserümpfend auf ihr niederließ.
Emma inspizierte den Inhalt des Kühlschranks. Von ein paar Bier- und einer halbvollen Weinflasche abgesehen nichts als gähnende Leere. Schließlich förderte sie aus dem Tiefkühlfach eine Flasche Wodka zutage. „Ist Wodka auch okay? Orangensaft haben wir auch noch irgendwo. Ich mache uns Wodka-Orange.“
Ein paar Minuten später stellte sie zwei randvolle Gläser des Mischgetränks vor Céline auf dem Couchtisch ab und ließ sich neben ihrer Freundin auf das Sofa sinken.
„Cheers“, prostete sie ihr zu.
Céline langte nach dem Glas, als wäre sie kurz vorm Verdursten und nahm gleich mehrere große Schlucke, wobei sie einen genießerischen Laut ausstieß. „Genau das, was ich jetzt brauche. Danke Emma.“ Vorsichtig stellte sie das Glas wieder auf dem Tisch ab, der immer noch mit Unterlagen überladen war.
„Wie geht es dir?“, fragte Emma behutsam. „Hast du den Schock schon einigermaßen überwunden?“
„Wie es mir geht?“, sie stieß ein trockenes Lachen aus. „Ich habe gerade die erste wirklich wichtige Prüfung meines Lebens in den Sand gesetzt. Mein Vater wird mich umbringen.“
„Ach, warten wir einmal ab. Vielleicht irrst du dich ja, und es ist doch alles gut gegangen. Wie hat er eigentlich damals auf die verpatzte Klausur reagiert? Hast du überhaupt mit ihm darüber gesprochen?“
Céline schnaubte. „Ließ sich nicht vermeiden. So wenig sich mein alter Herr auch sonst für seine Kinder interessiert, nach unseren Studienergebnissen vergisst er sich nie zu erkundigen. Braucht wahrscheinlich etwas, mit dem er bei seinen Freunden angeben kann.“ Sie stieß ein bitteres Lachen aus. „Wir sind für ihn doch nichts als weitere Trophäen. Solange wir funktionieren, ist alles wunderbar. Mehr kümmert ihn nicht.“
„Was hat er denn genau gesagt?“
„Na was wohl, enttäuscht war er. Hat nur gemeint, dass er mehr von mir erwartet hätte, er und meine Mutter würden mir doch alles ermöglichen, meine einzige Aufgabe sei das Studium, bla bla bla. Und er hat Recht – ich bin eine miese Tochter und eine noch miesere Studentin.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht.“
Céline ging nicht darauf ein. „Weißt du, Emma, ich wünschte, mein Vater wäre nur einmal stolz auf mich. Weiß Gott, ich gebe mir wirklich große Mühe, seinen hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Aber alles, was er sieht, sind meine Fehltritte. Was gäbe ich dafür, dass er sich einmal wie ein richtiger Vater verhalten würde. Dass er sagen würde, dass er mich liebhat. So wie ich bin, ohne seine Liebe an irgendwelche Leistungen zu koppeln.“
Emma schwieg. Célines Gefühlsausbruch erschütterte sie bis ins Mark. Sie hatte immer gedacht, Ferdinand würde zumindest seine ehelichen Kinder anständig und respektvoll behandeln. Offenbar hatte sie falsch gelegen.
„Wenigstens hast du jemanden, den du enttäuschen kannst. Jemanden, der sich für deine Leistungen interessiert. Ich bin mir sicher, er will nur das Beste für dich“, entgegnete sie leise.
Céline blickte Emma über den Rand ihres Glases traurig an.
„Tut mir leid. Ich vergesse immer, dass du es noch viel schwerer hast als ich.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ist schon in Ordnung.“
„Nein ist es nicht!“, rief Céline lauter als nötig. „Ich egoistische Kuh denke einmal wieder nur an mich und meine Probleme. Bitte verzeih.“
„Alles gut, wirklich“, hob Emma beschwichtigend die Arme und nahm selbst einen großen Schluck aus ihrem Glas. Das schlechte Gewissen rumorte in ihren Eingeweiden. Was hatte sie nur getan?
„Was ist das eigentlich?“, fragte Céline unvermittelt und zog ein Briefkuvert vom Unterlagenstapel, auf dem sie ihr Glas abgestellt hatte. „Was willst du denn von der Studienleitung?“
Panisch entriss Emma ihr den Brief.
„Ich bewerbe mich als Studienassistentin“, improvisierte sie. „Am Institut für römisches Recht ist eine Stelle frei.“
„Gute Idee.“ Sie warf einen Blick auf den Abdruck, den ihr Glas auf dem weißen Umschlag hinterlassen hatte. „Aber jetzt brauchst du ein neues Kuvert. So sieht das schlampig aus.“
„Ich kümmere mich die nächsten Tage darum“, entgegnete Emma hastig. Rasch eilte sie mit dem Brief aus dem Zimmer und deponierte ihn außerhalb von Célines Sichtweite auf dem Beistelltisch im Flur. Mit klopfendem Herzen ließ sie sich wieder auf die Couch sinken und nahm zur Beruhigung einen großen Schluck aus ihrem Glas. „Damit ich ihn morgen nicht vergesse“, erklärte sie an ihre Freundin gewandt.
Céline nickte, schien mit ihren Gedanken aber bereits ganz woanders zu sein. Emma atmete erleichtert auf. Das war knapp gewesen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Céline den Brief geöffnet und das Bild von ihr mit dem Professor darin gefunden hätte! Eigentlich hatte sie schon vor einer Weile beschlossen, Fionas Ratschlag zu beherzigen und ihn wegzuwerfen. Nur hatte sie ihn in all dem Lernstress völlig vergessen.
Emma bemerkte, dass Célines Glas leer war und lief in die Küche, um für Nachschub zu sorgen. Da sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, spürte sie bereits die angenehme Wirkung des Alkohols, eine wohlige Wärme, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Die Anspannung der letzten Wochen fiel allmählich von ihr ab.
„Soll ich uns Pizza bestellen? Ich sterbe vor Hunger.“
Céline nickte zustimmend. „Gute Idee. Wir sollten dringend etwas in den Magen bekommen. Für mich Salami mit Mais bitte.“
Emma nahm ihr Handy zur Hand, rief die App eines Lieferservice auf und gab die Bestellung auf.
Schweigend saßen sie einträchtig beieinander, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft. Widerwillig gestand sich Emma ein, wie wohl sie sich in Célines Gesellschaft fühlte. Alex hatte ein Geschäftsessen und auch sie hätte den Abend nur ungern alleine verbracht.
Keine zwanzig Minuten waren vergangen, da läutete es bereits an der Wohnungstür.
„Das muss die Pizza sein“, bemerkte Emma und erhob sich. Auch Céline stand auf.
„Darf ich mal euer Badezimmer benutzen?“
Emma deutete auf eine Tür am anderen Ende des Wohnzimmers. „Fühl dich wie zu Hause.“
Sie selbst lief zur Eingangstür. Die Geldbörse gezückt, riss sie die Tür auf – und erstarrte. Denn der Mann, der draußen stand, war nicht der Pizzabote.
KAPITEL 35
Ferdinand.
F erdinand hob beim ersten Klingeln seines Handys ab.
„Lauderthal?“, bellte er in den Hörer.
„Guten Tag, Herr Lauderthal, Rohrfeld hier. Ich rufe an, um Ihnen ein Update über die Nachforschungen zu geben, die Sie beauftragt haben. Hätten Sie kurz Zeit?“
„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Ferdinand ohne Umschweife.
„Meinen Recherchen zufolge steckt jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit keine ihrer ehemaligen Angestellten hinter den Anschlägen auf Ihr Unternehmen.“
„Tatsächlich? Sind Sie sicher?“
„Die Überwachungsbänder der Tiefgarage zeigen, dass es sich bei der Person, die die Reifen Ihres Wagens aufgestochen hat, um eine Frau handelt. Leider stand sie mit dem Rücken zur Kamera, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen. Aber wir wissen nun, dass sie mittelgroß und schlank ist. Fällt Ihnen da jemand ein?“
„Geht es vielleicht noch ungenauer?“, erwiderte Ferdinand unwirsch. „Diese Beschreibung trifft auf die Hälfte der weiblichen Bevölkerung zu. Und wie kommen Sie darauf, dass es sich dabei nicht um Frau Ludwig oder Frau Strunz handeln kann?“
Der Detektiv seufzte. „Ich habe den aktuellen Aufenthaltsort der beiden ausfindig gemacht. Frau Strunz befindet sich nach Aussagen ihrer Vermieterin seit drei Monaten auf Weltreise. Ich denke, wir können Sie damit von der Liste der Verdächtigen streichen. Natürlich könnte sie einen Dritten beauftragt haben, Ihren Wagen zu beschädigen, doch das halte ich für eher unwahrscheinlich. Frau Ludwig hat vor einigen Wochen einen Job als Sekretärin in einer Unternehmensberatungskanzlei angetreten. Dort schwört man Stein und Bein, dass sie zur Tatzeit noch im Büro war.“
„Und wer soll es bitte sonst gewesen sein?“
„Das ist die Gretchenfrage und deswegen rufe ich auch an. Denken Sie noch einmal scharf nach: Gibt es neben Ihren ehemaligen Mitarbeiterinnen irgendjemanden, der ein Interesse daran haben könnte, Ihnen oder Ihrem Unternehmen Schaden zuzufügen? Hatten Sie vielleicht einen Streit mit Ihrer Ehefrau? Einer heimlichen Geliebten? Einer verärgerten Geschäftspartnerin oder Konkurrentin?“
Frustriert fuhr sich Ferdinand mit beiden Händen durchs Haar. „Nicht, dass ich wüsste. Und was ist mit Herrn Krall? Konnten Sie irgendeine Verbindung zu ihm herstellen?“
„Bislang nicht, aber da werde ich selbstverständlich noch tiefer graben. Aber mit Verlaub, Herr Lauderthal – ich halte es für unwahrscheinlich, dass er dahintersteckt. Die aufgestochenen Reifen schreien geradezu nach der Rache einer impulsiven und verletzten Frau. Ein Klassiker sozusagen. Die Sache mit der Notverkaufsanzeige ist dagegen deutlich perfider. Eine wohlkalkulierte Maßnahme, das Vertrauen Ihrer Angestellten und Geschäftspartner in Ihr Unternehmen zu erschüttern. Ich kann mir nicht vorstellen, was Herr Krall für einen Nutzen daraus haben sollte. Und möglicherweise gibt es auch gar keine Verbindung zwischen den Taten. Diese könnten auch zufällig in zeitlicher Nahebeziehung zueinanderstehen, meinen Sie nicht?“
„Mag sein“, seufzte Ferdinand. „Aber Mutmaßungen und Verschwörungstheorien bringen uns nicht weiter. Ich habe Ihnen alles gesagt, das ich weiß. Die Lösung des Rätsels ist Ihre Aufgabe. Ich bitte Sie also, Herr Rohrfeld, verschwenden Sie nicht meine Zeit. Finden Sie den Verantwortlichen, dafür werden Sie schließlich bezahlt.“
Bevor der andere Gelegenheit hatte, noch etwas zu erwidern, legte er auf.
KAPITEL 36
Emma.
M it einem Satz war der vermeintliche Pizzabote in der Wohnung. Vertraute Hände schlossen sich um Emmas Kehle und drückten zu. Röchelnd krachte sie mit dem Rücken gegen die Wand. Sie fühlte sich wie ein Ballon, aus dem alle Luft gepresst worden war.
„Mein Geld“, fauchte Onkel Phil. „Wo ist es?“
Emma rang nach Atem. „Ich hab es nicht mehr“, brachte sie keuchend und nach Luft ringend hervor.
„Schluss mit Mätzchen, Emma“, zischte er. „Ich will mein Geld!“ Bei diesen Worten drückte er noch etwas fester zu. Sein wutverzerrtes Gesicht begann vor Emmas Gesichtsfeld zu verschwimmen, allmählich wurde ihr schwarz vor Augen. „Was soll das heißen, du hast es nicht mehr?“
Der Onkel holte unvermittelt aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Emmas Kopf flog zur Seite. Sie spürte, wie ihre Lippe aufplatzte und der metallische Geschmack ihres Blutes ihren Mund erfüllte.
Wenigstens hatte er den Würgegriff ein wenig gelockert, sodass sie nach Luft schnappen konnte.
„Es ist für die Miete draufgegangen“, japste sie. „Es tut mir leid, Onkel Phil. Ich kann es dir nicht zurückzahlen.“
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Wie er da mit hochrotem Gesicht und einem grimmigen Zug um den Mund auf sie herabblickte, sah er aus wie ein rasender Stier.
„Wofür hältst du dich eigentlich, du dumme Schlampe? Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich bestehlen und damit durchkommen? Hast gedacht, ich finde dich nicht, hmm?“ Er stieß ein hämisches Lachen aus. „Da hast du mich aber falsch eingeschätzt, junge Dame. Noch nie etwas von Laptop Tracking Software gehört, was? Wer denkst du denn, wer es war, der Julians Laptop neu aufgesetzt hat, als du ihn bekamst?“ Er schnaubte und feine Tröpfchen seiner Spucke stoben aus seinem Mund. „Na warte, das wird dir noch leidtun ...“
Mit erhobenen Fäusten ging er erneut auf sie los. Emma wich zur Seite aus und stieß mit dem Rücken gegen die Türklinke der geschlossenen Wohnungstür. Sie saß in der Falle. Innerlich wappnete sie sich für das Unvermeidliche.
Onkel Phil packte sie mit der Rechten im Nacken und kickte ihr mit dem Fuß die Beine weg. Emma taumelte nach vorne und ging mit einem dumpfen Krachen in die Knie. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Kniescheibe. Mit roher Gewalt zwang er sie zu Boden. Verzweifelt versuchte Emma, ihn abzuwehren, doch Phil in seiner blinden Raserei war stärker. Er fixierte das Mädchen auf den schmutzigen Bodendielen und begann wie wild an ihren Leggins zu zerren.
Emma wurde übel vor Angst.
„Bitte nicht“, wimmerte sie. „Ich beschaffe dir dein Geld, ich verspreche es, nur bitte, bitte ...“
Doch Onkel Phil lachte nur. Emma hörte das gefürchtete Geräusch eines aufgezogenen Reißverschlusses, dann wurde ihr Kopf auf den Laminatboden gepresst. Staub drang ihr in Mund und Nase und ließ sie husten. Unbarmherzig spreizte er ihre Beine mit seinen Knien.
Emma schloss ergeben die Augen. Ihr Schwur an ihrem letzten Abend bei den Schneiders kam ihr in den Sinn. Niemals wieder. Doch das Schicksal schien es nicht gut mit ihr zu meinen. Denk an einen schöneren Ort, mahnte sie sich. Denk an Alex.
In diesem Moment hörte sie ein dumpfes Geräusch gefolgt von einem überraschten Schmerzensschrei. Und wie durch ein Wunder lockerte sich der Griff um ihren Nacken und Onkel Phil ließ von ihr ab.
Emma fuhr herum und erblickte Céline, die hinter Onkel Phil aufgetaucht war, die Messinglampe vom Couchtisch kampfbereit erhoben, jederzeit bereit, erneut zuzuschlagen.
Onkel Phil fuhr sich über den Hinterkopf und starrte fassungslos auf das Blut auf seiner Handfläche.
„Wer sind Sie und was haben Sie hier zu suchen?“, brüllte ihre Halbschwester den Eindringling an.
„Was fällt dir ein, du dumme Göre? Du hättest mich umbringen können! Ich blute!“, keifte er zurück und rappelte sich hoch.
Céline holte erneut mit der Lampe aus. „Keinen Schritt näher“, knurrte sie warnend. Wut blitzte in ihren Augen.
„Geh mir aus dem Weg“, zischte Phil. „Das hier“, er deutete auf Emma, „ist meine Nichte. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Mädchen. Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst.“
„Das sieht ja sehr familiär aus“, erwiderte Céline mit unverhohlenem Zorn und Ekel. Sie fixierte Onkel Phil mit kaltem Blick. Einem Blick, den Emma noch nie zuvor an ihr gesehen hatte und der ihr einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Das naive und sanftmütige Mädchen, das Emma kannte, war verschwunden und einer selbstbewussten Person mit autoritärer Ausstrahlung gewichen. Die Ähnlichkeit zu ihrem Vater war frappierend.
„Wagen Sie es nie wieder, Hand an meine Freundin zu legen, ich warne Sie!“
„Deine Freundin hier ist eine miese kleine Diebin. Sie hat mir zweitausend Euro gestohlen. Wusstest du das?“, höhnte der Onkel.
Céline verzog keine Miene und als sie das Wort ergriff, hatte ihre Stimme einen bedrohlichen Unterton angenommen. „Ich glaube Ihnen kein Wort. Und selbst wenn sie Ihnen eine Million Euro gestohlen hätte, könnte es Ihr Verhalten nicht rechtfertigen. Und ich sage Ihnen noch etwas: Ihre haltlosen Anschuldigungen werden Ihnen auch nicht weiterhelfen, wenn ich Sie erst wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt habe. Sie werden im Gefängnis landen, wo Sie hingehören.“ Ein humorloses Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Mein Vater hat einflussreiche Freunde, wissen Sie? Einen Haufen Anwälte, die nur darauf warten, Ihr Leben in Stücke zu reißen. Anwälte, die Sie sich nicht in ihren kühnsten Träumen leisten könnten. Ich warne Sie also ein letztes Mal: Wenn Sie sich Emma auch nur noch ein Mal auf einen Kilometer nähern, verklage ich Sie, bis Ihnen nicht einmal mehr ihr schäbiges Dach über dem Kopf bleibt.“
Wie um ihre Worte zu bekräftigen, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und trat drohend einen Schritt auf ihn zu. Und obwohl Onkel Phil sie um mehr als eine Kopflänge überragte und fast doppelt so breit und schwer war wie sie, wich er zurück. Ungläubig starrte er sie an.
„Und jetzt – verschwinden Sie von hier.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Emma konnte sehen, wie die Gedanken in seinem Kopf durcheinanderwirbelten. Schließlich warf er Céline einen vernichtenden Blick zu, murmelte „Fickt euch doch. Alle beide!“, und verließ die Wohnung.
Sofort ließ Céline die Lampe fallen und hockte sich neben Emma, die immer noch am Boden kauerte und am ganzen Leib zitterte. Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht. Ihre Freundin schlang die Arme um sie und wiegte sie wie ein Kind. Vor und zurück, vor und zurück.
„Alles ist gut“, wisperte sie ihr ins Ohr. „Ich bin ja da. Alles wird gut.“
Emma brachte keinen Ton hervor, das Wasser lief ihr in Sturzbächen die Wangen hinab, sie fühlte sich, als könnte sie nie wieder mit dem Weinen aufhören. Hemmungslos schluchzend klammerte sie sich an ihre Halbschwester. In ihrem Inneren war ein Damm gebrochen.
Ihre Gefühle, die sie sonst eisern unter Verschluss hielt und geschickt vor der Außenwelt verbarg, bahnten sich unaufhaltsam einen Weg durch ihre Tränendrüsen. Schock und Verzweiflung, gepaart mit Erleichterung und Dankbarkeit gegenüber ihrer Freundin, wogten in ihr.
Eine gefühlte Ewigkeit saß sie so da, in Célines Armen vergraben, die ihr unablässig beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Erst das Klingeln der Wohnungstür riss Emma aus ihrer Schockstarre. Ein ängstliches Wimmern entfuhr ihr und sie zuckte heftig zusammen.
„Alles in Ordnung, Süße. Das ist bestimmt bloß die Pizza. Ich werde nachsehen“, beruhigte Céline sie. Und sie sollte Recht behalten.
Mit zwei Pizzakartons in Händen hockte sie sich zu Emma, die immer noch auf dem Boden saß.
„Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen. Du musst dringend etwas essen“, lockte sie sanft.
Der verführerische Duft von Käse und Salami drang Emma in die Nase. Auf einmal merkte sie, wie hungrig sie war. Mühsam rappelte sie sich hoch und folgte Céline in den angrenzenden Raum.
„Danke“, brachte sie schließlich hervor, nachdem sie sich neben Céline auf dem Sofa niedergelassen hatte. „Dass du mich gerettet hast. Wenn du nicht gewesen wärst ...“ Sie brach ab und senkte beschämt den Blick.
„Das war doch selbstverständlich“, murmelte sie. Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Möchtest du darüber reden? Über deine Familie, deinen Onkel?“
Nein, das wollte Emma nicht. Sie wollte nicht über ihre Jugend sprechen, über das Elend, dem sie mit ihrer Flucht aus Affing zu entkommen geglaubt hatte, nicht über ihre Adoptiveltern, ihren kleinen Bruder, den sie trotz allem schmerzlich vermisste, und schon gar nicht über Onkel Phil. Nicht einmal Fiona hatte sie jemals die ganze Geschichte erzählt. Doch ihre Zunge schien andere Pläne zu haben und wollte ihr nicht gehorchen.
Erst stockend, dann zunehmend flüssiger berichtete sie über ihre Kindheit, von den Veränderungen in ihrem Leben, die Julians Geburt mit sich gebracht hatte, das erst unbestimmte und immer stärker werdende Gefühl, nicht zu den Schneiders zu passen und die Kluft, die sich zwischen ihr und ihren Adoptiveltern aufgetan und nie wieder weggegangen war. Sie erzählte von dem schicksalhaften Maiabend vor fünf Jahren und den zur Gewohnheit gewordenen Übergriffen ihres Onkels, den Problemen mit den Schülern in ihrer Klasse und von Fiona. Sie sprach über ihren Plan, nach dem Abitur nach Berlin zu ziehen und der herben Enttäuschung, als sich herausstellte, dass ihre Freundin nicht mit ihr gehen würde. Schilderte, wie sie herausgefunden hatte, dass sie adoptiert worden war und damit endlich wusste, weshalb ihre Adoptiveltern sie und ihren Bruder so ungleich behandelt hatten. Am Ende erzählte sie ihr sogar von dem geplanten Umzug der Schneiders, in den sie nicht einbezogen worden war. Einzig und allein den wahren Grund, warum sie sich ausgerechnet für Wien entschieden hatte und wer ihre leiblichen Eltern waren, behielt sie für sich.
Und umso länger sie sprach, desto besser fühlte sich Emma. Es war merkwürdig – all die Monate hatte sie sich mit aller Macht innerlich gesträubt, sich ihrer Halbschwester zu öffnen, doch nun, da sie endlich mit der Wahrheit herausrückte, durchflutete sie eine überwältigende Erleichterung.
Céline hörte ihr aufmerksam zu und unterbrach sie kein einziges Mal. Was Emma da erzählte, mochte so gar nicht zu ihrer eigenen heilen Welt passen, doch sie ließ es sich nicht anmerken und Emma war dankbar dafür.
Als Emma geendet hatte, waren auch ihre Tränen versiegt. Erschöpft ließ sie den Kopf an die Rückenlehne des Sofas sinken.
Eine ganze Weile sagte keine von ihnen ein Wort.
„Meine Mutter ist krank“, durchbrach schließlich Célines Stimme die Stille.
Emma horchte auf. „Was sagst du da?“
Céline hielt den Blick gesenkt, als fürchtete sie, jeden Moment in Tränen auszubrechen. „Es ist ihre Leber. Sie leidet an Autoimmunhepatitis. Das heißt, ihr Körper greift die eigenen Leberzellen an. Sie braucht dringend eine Organspende, sonst könnte sie ... ich meine ... sie könnte sterben“, offenbarte sie mit zitternder Stimme.
Eine neuerliche Woge des schlechten Gewissens überkam Emma. „Das tut mir so leid, Céline. Ich hatte ja keine Ahnung! Wie lange weißt du es schon?“
„Seit ein paar Monaten.“
„Können die Ärzte denn gar nichts dagegen unternehmen?“
Céline zuckte hilflos die Achseln. „Sie nimmt einen Haufen Medikamente. Aber sie sagt uns nicht, wie es ihr wirklich geht. So ist meine Mutter eben. Aber allein die Tatsache, dass sie Camillo und mir überhaupt etwas gesagt hat, werte ich als schlechtes Zeichen. Und man braucht sie bloß anzusehen, um zu wissen, dass es schlimm sein muss.“
„Das tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, murmelte Emma tonlos. Was sie da gerade gehört hatte, erschütterte sie zutiefst.
„Danke. Ich mache mir wirklich Sorgen um sie, weißt du? Ich weiß einfach nicht, wie ich ihr helfen soll.“
Betretenes Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus.
„Es mag vielleicht komisch klingen, aber ich dachte immer, dein Leben wäre perfekt. Dass du alles hast und noch mehr“, brach es aus Emma hervor. „Auf eine gewisse Weise war ich wahnsinnig eifersüchtig auf dich. Ich hatte ja keine Ahnung ...“ Beschämt senkte sie den Kopf. Eine erneute Woge der Scham drohte sie zu übermannen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht – zu glauben, sie könnte über das Leben eines anderen Menschen urteilen?
„Tja, es ist nicht immer alles, wie es auf den ersten Blick scheint“, erwiderte ihre Halbschwester mit einem schiefen Lächeln.
„Und bis zu einem gewissen Grad hast du ja auch recht, im Vergleich zu dir muss mein Leben tatsächlich ziemlich unkompliziert wirken. Aber seit ein paar Monaten ist es irgendwie anders. Alles, was ich für selbstverständlich betrachtet habe, scheint mir zu entgleiten. Und anstatt die Konsequenzen zu ziehen, mich auf die Uni zu konzentrieren und um meine Mutter zu kümmern, habe ich Partys gefeiert und versucht, den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Was für ein oberflächlicher Mist!“
Emma antwortete nicht. Das Gefühl von Schuld und Reue war schier überwältigend.
„Camillo und ich werden uns testen lassen, ob wir als Spender für meine Mutter in Betracht kommen. Maman ist zwar dagegen, aber ich kann einfach nicht länger mitansehen, wie sie an ihrer Krankheit zugrunde geht.“
„Das finde ich sehr großzügig von dir.“
Céline schnaubte. „Eigentlich ist es selbstverständlich. Ich hätte das schon vor Wochen in die Wege leiten sollen. Aber was habe ich gemacht? Ich habe versucht, meine Probleme zu verdrängen und mich darauf verlassen, dass sich alles von alleine zum Guten wenden würde. Aber damit ist jetzt Schluss!“
Emma drückte tröstend ihre Schulter. „Sei nicht zu hart zu dir. Du tust, was du kannst. Du solltest stolz auf dich sein.“
„Und was dich betrifft“, fuhr Céline fort, ohne auf ihre aufmunternden Worte einzugehen, „du solltest zu uns ziehen! Das meine ich ernst. Zumindest für ein paar Wochen, bis wir sicher sein können, dass wir deinen Onkel, diesen elenden Wichser, ein für alle Mal in die Flucht geschlagen haben.“
„Ich wusste gar nicht, dass du über ein so derbes Vokabular verfügst“, grinste Emma.
„Manchmal muss man die Dinge einfach beim Namen nennen!“
„Das ist wirklich lieb von dir und ich weiß dein Angebot sehr zu schätzen. Mehr als du dir vorstellen kannst. Aber das kann ich nicht annehmen. Was sollen denn deine Eltern sagen? Außerdem kann ich gut auf mich selbst aufpassen.“
„Wir haben mehr als genug Platz!“, insistierte Céline. „Ich weiß, du bist stark. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so stark ist wie du, und dafür bewundere ich dich. Aber Stärke bedeutet manchmal auch, sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht. Und sie auch anzunehmen.“
„Von welchem Selbsthilferatgeber hast du das denn“, feixte Emma. Dennoch keimte Hoffnung in ihr auf. Warum eigentlich nicht?
„Aber es stimmt! Ich weiß, was für ein stolzer Sturkopf du bist. Aber sieh dich hier doch einmal um! Ich hatte mir vorgenommen, nichts zu sagen, aber ist das dein Ernst? Diese Bude ist ein Drecksloch, das auch noch in einer elenden Gegend liegt. Hier kannst du auf keinen Fall bleiben!“
In Emmas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die Vorstellung, in dem schönen Haus in Grinzing zu wohnen, wenn auch nur für ein paar Wochen, klang verlockend. Außerdem hätte sie dann endlich Gelegenheit, auch den Rest ihre Familie näher kennenzulernen.
„Meinst du wirklich?“, fragte sie zaghaft.
„Und ob ich das so meine! Meine Entscheidung steht. Ich dulde keine Widerworte. Morgen Nachmittag komme ich vorbei und wir holen deine Sachen. Ende der Diskussion!“
„So resolut kenne ich dich ja gar nicht“, lachte Emma, widersprach ihr aber nicht.
„Vielleicht kennst du mich ja noch nicht gut genug. Wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, passiert das auch. Darauf kannst du wetten!“
Das hingegen glaubte Emma ihr aufs Wort.
KAPITEL 37
Emma.
N acheinander verstaute Emma ihre Klamotten und die Lernutensilien in ihrer zerschlissenen Reisetasche. Es kam ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her, nicht erst wenige Monate, dass sie ihr Zimmer in der Wohngemeinschaft bezogen hatte. Wie viel seither doch passiert war!
„Verreist du?“
Elisabeth war im Türrahmen aufgetaucht, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie war früh am Morgen von ihren Eltern zurückgekehrt und hatte sich den ganzen Vormittag lautstark über das Chaos im Wohnzimmer beschwert, das Céline und sie am Vorabend hinterlassen hatten.
„Ich ziehe aus“, teilte Emma ihr förmlich mit. Sie war mit ihrer Mitbewohnerin nie wirklich warm geworden und konnte es nicht erwarten, diesen Lebensabschnitt endlich hinter sich zu lassen.
„Was soll das heißen, du ziehst aus? Jetzt? Einfach so?“
„Du bekommst natürlich noch meinen Anteil der Miete für den Februar. Aber ja, ich habe eine andere Wohnmöglichkeit gefunden, tut mir leid.“
„Du lässt mich hier sitzen?“, erwiderte Elisabeth fassungslos.
„Wie gesagt, es tut mir leid. Aber sieh mal, Elisabeth. Wir wissen doch beide, dass es mit uns nicht geklappt hat. Dich stört, dass meine Lernsachen überall herumliegen, mich wiederum dein permanentes Rauchen im Wohnzimmer. Ich bekomme davon Kopfschmerzen. Dabei hast du mir bei meinem Einzug versichert, dass du nicht in der Wohnung rauchen würdest. So ist es das Beste. Du findest bestimmt bald eine andere Mitbewohnerin.“
Elisabeth schnaubte. „Das hoffe ich für dich. Du zahlst gefälligst Miete, bis ich Ersatz für dich gefunden habe!“
Emma seufzte. „Ich habe dir jetzt zwei Mal gesagt, dass es mir leidtut. Und habe mich bereiterklärt, die Miete noch für den nächsten Monat zu bezahlen. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass wir nicht einmal einen ordentlichen Mietvertrag aufgesetzt haben. Du sagtest, es sei dir lieber, wenn weiterhin nur du als Mieterin im Vertrag angeführt bleibst. Also sei froh, dass du fünf Wochen Zeit hast, eine neue Mitbewohnerin zu finden und lass mich gehen.“
„Ein Semester Jusstudium und du machst einen auf knallharte Juristin? Pff. Aber bitte, dann geh doch!“
Emma stöhnte genervt. „ Danke . Ich wünsche dir nur das Beste. Und wenn du willst, helfe ich dir bei der Suche nach einer Nachfolgerin.“
Die andere würdigte sie keines weiteren Blickes, sondern stapfte wütend aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Emma atmete erleichtert auf. Das wäre geklärt. Prüfend sah sie sich noch einmal in dem winzigen Raum um. Sie hatte fast alles beisammen, jetzt musste sie nur noch ein paar verstreute Lernunterlagen einsammeln. Rasch sammelte sie die Papiere ein und blickte suchend umher. Irgendetwas fehlte, das spürte sie genau. Dann fiel es ihr wieder ein. Wo war eigentlich der Brief an die Studienleitung geblieben? Sie musste ihn unbedingt vernichten. Die Ereignisse des gestrigen Abends hatten sie in ihrer Entscheidung nur bekräftigt. Schlimm genug, was sie Céline bisher alles angetan hatte, doch damit war jetzt Schluss. Sie hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, aber endlich gestand sie sich ein, dass sie sich in ihrer Halbschwester getäuscht hatte. Ungeachtet ihrer oberflächlichen Fassade hatte sie das Herz am rechten Fleck. Für ihr Einschreiten bei Onkel Phils Auftauchen würde sie ihr ewig dankbar sein.
Emma glaubte, sich zu erinnern, dass sie den Brief gestern im Flur abgelegt hatte. Doch am Beistelltisch im Eingangsbereich war er nicht mehr. Fieberhaft suchte sie die Wohnung nach ihm ab. Irgendwo musste der Umschlag doch sein! Vielleicht war er zwischen ihre Skripten gerutscht? Sorgfältig durchsuchte sie die Unterlagen. Aber das Kuvert blieb verschwunden.
„Elisabeth?“, rief sie. „Hast du zufällig einen Brief von mir gesehen? Ich hatte ihn auf den Tisch im Flur gelegt!“
„So ein weißer Umschlag?“, tönte es missmutig aus dem Wohnzimmer.
„Ja, genau!“
„Den habe ich in der Früh mit zur Post genommen. Dachte, ich tue dir einen Gefallen und nehme ihn mit. Da wusste ich noch nicht, was für ein undankbares Miststück du bist!“
„Du hast ihn mitgenommen“, stotterte Emma fassungslos. Panik wallte in ihr hoch.
„Du brauchst mir nicht zu danken. Verpiss dich einfach aus meiner Wohnung!“
Scheiße, scheiße, scheiße . Das durfte nicht wahr sein! Was war sie nur für ein Idiot, sie hätte den Brief sofort zerreißen sollen!
„Welcher Briefkasten?“, keuchte sie.
„Die nächste Postfiliale ist ein paar Gassen von hier, in der Nussdorferstraße.“
Ohne weitere Worte zu verschwenden, schnappte Emma ihre Schlüssel und die Winterjacke und sprintete los. Wenn sie Glück hatte, war der Postkasten noch nicht geleert worden. Sie musste ihn um jeden Preis finden, bevor das Unglück seinen Lauf nahm!
Außer Atem erreichte sie die Postfiliale, von der Elisabeth gesprochen hatte. Auf der Eingangstür prangte ein Schild.
Wegen Umbau geschlossen.
Darunter an der Hausmauer war ein quadratischer gelber Briefkasten befestigt. Hier musste Elisabeth das Kuvert abgegeben haben. Eine Weile befingerte sie den Schlitz des Postkastens. Ohne Erfolg.
„Was tun Sie denn hier?“, zeterte eine alte Dame, die stehengeblieben war und ihre verzweifelten Versuche argwöhnisch beobachtete.
„Ich habe vor ein paar Stunden einen Brief hier eingeworfen. Den brauche ich unbedingt wieder. Es ist wirklich wichtig!“, japste sie.
„Aber Sie können doch nicht einfach den Briefkasten demolieren! Muss ich die Polizei rufen?“, drohte sie.
„Nein, nein“, murmelte Emma. Da wollte man ein Mal alleine sein und prompt fanden die Wiener doch zu ihrer Zivilcourage! Angst schnürte ihr die Kehle zu. Wie hatte sie nur so dumm sein können, den Brief nicht gleich zu vernichten?
Die Frau beäugte sie weiterhin misstrauisch. Sie machte keine Anstalten, ihren Weg fortzusetzen.
Verflucht .
Mit einem letzten verzweifelten Blick auf den Briefkasten trat Emma den Rückweg zur Wohnung an. Sie betete inständig, dass die Studienleitung den Brief als dummen Streich abtun und ihr Handeln keine weiteren Konsequenzen nach sich ziehen würde.
KAPITEL 38
Emma.
C éline ließ das Fenster ihres Wagens hinunter. „Brauchst du Hilfe beim Tragen?“
Emma öffnete die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen. „Nein ich habe alles, du kannst losfahren.“
Céline warf einen skeptischen Blick auf die schäbige Reisetasche zu Emmas Füßen. „Darin kann doch unmöglich dein ganzes Zeug Platz haben.“
„Du wirst es nicht für möglich halten, aber es gibt Leute, die kommen ohne begehbaren Kleiderschrank aus“, zwinkerte sie.
Céline grinste. „Touché!“
***
„Willkommen im Hause Lauderthal. Fühl dich wie zu Hause. Mi Casa es su Casa“, bedeutete Céline ihr mit einer angedeuteten Verbeugung einzutreten.
Emma tat wie ihr geheißen.
„Sind deine Eltern da? Ich sollte mich ihnen vorstellen.“
„Nein, die sind immer noch Skifahren und kommen erst morgen zurück. Aber mein Bruder sollte daheim sein.“
„Camillo!“, rief sie mit lauter Stimme in Richtung Treppe. „Komm Hallo sagen!“
Es dauerte nicht lange und eine große breitschultrige Gestalt polterte die Stufen hinunter.
„Hallo Schwesterherz. Wen haben wir denn da?“ Wohlwollend beäugte er Emma von Kopf bis Fuß.
„Camillo, das ist meine Freundin Emma. Sie wird eine Weile bei uns im Gästezimmer wohnen. Emma, das ist mein Bruder Camillo.“
Camillo trat auf sie zu und verbeugte sich zu einem formvollendeten Handkuss. „Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Emma.“
Dann wandte er sich an seine Schwester. „Wieso hast du mir dieses wunderschöne Wesen bisher vorenthalten?“
„Camillo! Meine Freundinnen sind tabu“, hob diese warnend den Zeigefinger. Der aber lachte nur, was die Grübchen in seinen Wangen zum Vorschein brachte. Emma war er auf Anhieb sympathisch.
„Lass mich deine Tasche tragen.“ Er schulterte Emmas Reisetasche und trug sie ins Gästezimmer im Erdgeschoss.
„Danke. Du kannst uns jetzt wieder alleine lassen“, befahl Céline.
Camillo ließ einen theatralischen Seufzer hören. „Wir sehen uns, schöne Emma!“, zwinkerte er ihr zu, dann zog er von dannen.
„Das ist also dein Bruder“, stellte Emma fest. „Sehr charmant.“
„Ja, das ist Camillo. Aber ich rate dir, nimm dich vor ihm in Acht. Er ist ein unverbesserlicher Frauenheld!“
Emma grinste in sich hinein. „Keine Sorge.“
„Lust auf eine Hausführung?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Céline voraus und führte Emma in den ihr bereits bekannten quadratischen Raum, von dem aus die meisten Räume des unteren Stockwerks zu erreichen waren.
„Den Salon kennst du ja schon. Oben sind die Privaträume meiner Eltern und die Schlafzimmer untergebracht. Komm, ich zeige dir mein Zimmer.“
Sie stiegen die Treppe hinauf in den oberen Stock.
„Schlafzimmer meines Bruders, Fitnessraum, Fernsehzimmer, Bibliothek, Ekaterinas Zimmer, Bad. Da hinten sind noch ein zweites Gästezimmer und der Schlaftrakt meiner Eltern“, erklärte sie und deutete auf die jeweiligen Zimmertüren. Am Ende des Flurs hielt sie inne. „Nach dir.“
Emma trat ein und riss sogleich überrascht die Augen auf.
Das cremeweiß gestrichene Zimmer war einfach zauberhaft. Ein herrliches Himmelbett nahm eine Seite des Raums ein, die andere beherbergte einen Schreibtisch und unzählige Bücherregale. Emma ließ den Blick über die Regale schweifen. Sie erkannte viele der Kodizes und Lernutensilien wieder, die auch sie selbst besaß. Ein flauschiger Teppich verlieh dem Raum ein gemütliches Flair. Eine Glastür führte auf einen kleinen Balkon, von dem aus man bestimmt einen atemberaubenden Ausblick auf den Garten hatte.
„Es ist wunderschön“, hauchte Emma ehrlich beeindruckt.
Céline zuckte nur verlegen die Achseln. „Ja, ist ganz okay.“
„Und was ist da hinten? Wo sind eigentlich deiner ganzen Kleider?“
Grinsend steuerte ihre Freundin auf die Tür am anderen Ende des Raums zu, die Emma zunächst nicht aufgefallen war, und öffnete sie.
Emma keuchte, als sie den riesigen begehbaren Kleiderschrank entdeckte. Fasziniert ließ sie den Blick über die feinsäuberlich aufgereihten Schuhe in allen erdenklichen Farben und Ausführungen gleiten, daneben stapelten sich auf einer Ablage Sonnenbrillen, Hüte, Haarbänder und andere Accessoires. An der Stirnseite des Zimmers prangte eine wunderschöne weiße Frisierkommode.
Von so einem Anziehzimmer konnte jedes Mädchen nur träumen, dachte Emma und fühlte den bekannten Stich in der Brust. Langsam schlenderte sie auf die Kommode zu und begutachtete die zahlreichen Schminkutensilien, die sich darauf türmten.
„Wow“, entfuhr es ihr. Bewundernd fuhr sie mit den Fingern über das Möbelstück.
„Ja, ich liebe diesen Raum“, gab Céline breit lächelnd zu.
Emma nickte nur. Ein roter Schminkstift von Chanel hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Zaghaft streckte sie die Hand aus und begutachtete das teure Stück. Sie selbst hatte nie Geld für solchen Luxus gehabt, hatte sich stets mit den billigsten Produkten begnügen müssen. Neugierig schraubte sie den Deckel auf. Der Lippenstift in leuchtendem korallenrot war nagelneu.
„Probier‘ ihn mal!“, forderte Céline sie auf.
Mit einem unsicheren Seitenblick zu Céline führte sie ihn an die Lippen und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild. Staunend stellte sie fest, wie erwachsen der kräftige Rotton ihr Gesicht wirken ließ. Normalerweise trug sie nichts als farblosen Lipgloss.
„Die Farbe steht dir großartig!“, rief ihre Freundin begeistert.
„Findest du?“
„Ja, unbedingt! Du siehst wahnsinnig sexy aus. Weißt du was? Behalte ihn! Ich schenke ihn dir. Für meinen hellen Teint ist er sowieso zu intensiv.“
„Das kann ich nicht annehmen!“, widersprach Emma und ließ den Lippenstift wieder auf die Kommode gleiten.
„Klar kannst du. Und du wirst es auch. Keine Widerrede!“
Emma warf ihrer Freundin einen unschlüssigen Blick zu. Aber deren Miene spiegelte nur aufrichtige Bewunderung und Freude. Sie meinte es offensichtlich ernst.
„Na gut. Aber nur, wenn du ihn wirklich nicht tragen würdest.“
„Würde ich nicht. Jetzt nimm ihn schon!“
„Danke“, erwiderte Emma beschämt und steckte den Lippenstift in die Tasche ihrer Jeans. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Nichts zu danken.“