KAPITEL 62
Ekaterina.
D ie Morgensonne erhellte die Weinberge und tauchte sie in jenes weiche rot-gelbe Licht, das nur die Morgendämmerung hervorzubringen vermochte. Die Wiesen waren von einer dünnen Reifschicht überzogen, ihr Atem bildete weiße Wölkchen vor ihrem Mund. Ein leichter Wind fuhr ihr durchs Haar. Ekaterina erhöhte das Tempo. Das vertraute Geräusch ihrer Sportschuhe auf dem Untergrund beflügelte sie. Tap, Tap, Tap.
Ekaterina liebte ihre allmorgendlichen Joggingausflüge, die sie auch beim schlechtesten Wetter niemals ausfallen ließ. Immer dieselbe Strecke, neun Kilometer, fünfundfünfzig Minuten. Erst durch die schönen Grinzinger Straßen, die um diese Uhrzeit noch menschenleer waren, anschließend noch eine ausgedehnte Runde im Garten der Lauderthals, der von der Größe her mehr einem Schlosspark denn einer Gartenanlage im herkömmlichen Sinn glich. Es war die einzige Zeit des Tages, die nur ihr selbst gehörte. Die einzige Zeit, die sie nicht damit zubrachte, sich um andere zu kümmern und zu sorgen. Sie liebte die Stille am Morgen, bevor der Trubel losging und sie nutzte die Zeit, um ungestört ihren Gedanken nachzuhängen. Die Bewegung gab ihr die Kraft, die sie im Moment so dringend brauchte. Quality self-time , wie Camillo es nannte.
Ekaterina zog ihren alten iPod aus der Jackentasche und drückte auf Play. Where the streets have no name von U2 plärrte aus den Lautsprechern. Und sie joggte gleichförmig zum Takt der Musik dahin.
Ihre Gedanken kreisten um ihre hässliche Auseinandersetzung mit Céline. Ihre Worte hatten sie schwer getroffen. Céline und sie hatten von jeher ein enges Verhältnis gehabt, noch nie hatte sie einen derartigen Gefühlsausbruch bei ihr erlebt. Und schon gar nicht einen, der sich gegen sie, Ekaterina, richtete. Zum Teufel mit Emma! , dachte sie wütend. Wieso hatte sie unbedingt auftauchen und alles zunichtemachen müssen?
Du bist nicht meine Mutter, hallten Célines Worte in ihrem Kopf wider, die sich auch von U2s kräftiger Stimme nicht vertreiben ließen. Wenn sie wüsste.
Ekaterina hatte die Szenerie im Krankenhaus noch vor sich, als wäre es erst gestern gewesen. Der Brutkasten mit den Babys. Das sanfte weiße Licht, das die Neugeborenenstation erhellte. Die Namensbändchen. Emma und Céline. Inés hatte nur einen Tag vor ihr entbunden, wie bei ihr war es eine Frühgeburt gewesen. In ihren Gedanken Ferdinand, der auf die Adoption drängte, um seinen Betrug zu vertuschen. Sie hatte sich mit Händen und Füßen gegen eine Abtreibung gewehrt. Das widersprach ihrem Glauben – Ekaterina war sehr katholisch und ein menschliches Leben auszulöschen, das in ihrem Bauch heranwuchs, kam für sie nicht in Frage. Und obwohl sie der Adoption schließlich händeringend zugestimmt hatte und entgegen Ferdinands ausdrücklichen Wunsch in Kontakt mit den Adoptiveltern getreten war, graute ihr davor, ihr Baby wegzugeben. Als dieses winzige Wesen zum ersten Mal in ihren Armen gelegen und die großen blauen Augen vertrauensvoll auf sie gerichtet hatte, stand für sie fest: Sie würde sie nicht weggeben. Um keinen Preis der Welt. Sie wollte ihre Tochter aufwachsen sehen, koste es, was es wolle. Und sie hatte die Gelegenheit ergriffen, als sich ihr eine bot. Ein Moment alleine auf der Babystation hatte ausgereicht.
Ekaterina passierte das große Eisentor des Anwesens. Mühelos lief sie am Haus vorbei und bog vor dem Swimmingpool nach links auf den Schotterweg ab. Die hohen Kastanienbäume hatten bereits die ersten rosa Knospen hervorgebracht und Ekaterina war trotz ihrer tristen Gedanken von dem Anblick verzaubert.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie war jetzt zweiundvierzig Minuten unterwegs. Endspurt. Sie legte noch etwas an Tempo zu und endlich stellten sich die ersehnten Endorphine ein.
Ekaterina war so auf sich und ihre Gedanken konzentriert, dass sie den Läufer nicht bemerkte, der hinter ihr um die Hausecke gebogen war. Auf leisen Sohlen näherte er sich ihr. Sie sah den schmalen Schatten des Golfschlägers nicht, der sich über ihr erhob und dann mit voller Wucht ihren Hinterkopf traf. Messerscharfer Schmerz durchfuhr sie. Blut spritzte, Ekaterina taumelte und fiel auf die Knie. Ihre Wange kam auf dem weichen Gras zu liegen.
Aber … wieso? , flehte sie verzweifelt. Wieso ich? Wieso jetzt?
Célines Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge. Es tut mir so leid, mein Baby , dachte sie noch. Dann sauste der Schläger abermals auf sie herab und sie versank in wohltuender Dunkelheit.
KAPITEL 63
Ferdinand.
F erdinand fläzte auf der Sitzgruppe im Wohnzimmer. Vor ihm stand eine dampfende Tasse Kaffee, die Morgenzeitung lag ausgebreitet auf seinem Schoss. Gelangweilt ließ er den Blick über die Schlagzeilen des Wirtschaftsteils wandern. Schlechte Nachrichten, wohin man auch blickte. Er legte die Zeitung zur Seite. Nach den Ereignissen der letzten Monate war sein Bedarf an Katastrophenmeldungen mehr als gedeckt.
Wo steckte eigentlich Ekaterina? Als bekennende Frühaufsteherin werkelte sie um diese Zeit für gewöhnlich schon emsig in der Küche, um den Kindern das Frühstück zuzubereiten. Es wurde langsam Zeit, dass sie auftauchte, schließlich musste er unbedingt noch mit ihr sprechen, bevor er ins Büro aufbrach. Sie musste Céline und Camillo ins Gewissen reden. Vielleicht konnte sie ihnen diese hirnverbrannte Idee mit der Organspende austreiben. Ekaterina hatte einen besonderen Draht zu den beiden, vor allem zu Céline. Und genau den gedachte er sich zunutze zu machen.
Seine Gedanken wanderten zu Inés. Bald war es endlich überstanden. Der Zustand seiner Frau verschlechterte sich täglich und wenn die Ärzte nicht bald einen passenden Spender fanden, war es eine Frage der Zeit, bis sie ihrer Krankheit endgültig erliegen würde. Ferdinand sah sich schon Hand in Hand mit Natascha die Treppe des Palais Auersperg entlangschreiten. Mit seinem Teil vom Erbe würde er die Firma aus den immer roter werdenden Zahlen holen – noch war die Eintragung der Privatstiftung im Firmenbuch nicht vorgenommen worden. Er konnte es kaum erwarten, diesen Lebensabschnitt endlich hinter sich zu lassen.
Ferdinand schüttelte den Kopf, von seiner eigenen Emotionslosigkeit verwundert. Mit welch Kälte und Distanziertheit er sich inzwischen die Folgen Inés‘ bevorstehenden Todes ausmalte. Und das nach fünfundzwanzig Jahren Ehe. Sein Blick fiel auf den silbernen Bilderrahmen auf dem Beistelltisch. Es war eine alte Aufnahme, die irgendwann kurz nach Camillos Geburt aufgenommen worden sein musste. Inés trug ein ärmelloses Leinenkleid und mit ihren dunklen Haaren, die ihr schmales Gesicht umrahmten und ihr bis über die Brust fielen, sah sie hinreißend aus. Keine Spur von der ausgemergelten Gestalt, die die Leberzirrhose aus ihr gemacht hatte. Sein Arm ruhte auf ihrer Schulter und sie lächelten fröhlich in die Kamera. Wie jung und glücklich sie damals doch gewesen waren! Wer hätte gedacht, dass es einmal so enden würde. Er seufzte. Die Erinnerungen an diese Zeit kamen ihm vor wie aus einem anderen Leben.
Die Pendeluhr schlug acht Mal und holte ihn jäh in das Hier und Jetzt zurück. Ekaterina war immer noch nicht auf der Bildfläche erschienen. Langsam musste er sich beeilen, sonst würde er zu spät kommen. Ächzend erhob er sich und ging in die Küche, um sie zu suchen. Auch hier keine Spur von ihr. Die Villa lag ruhig und friedlich da. Alles schien zu schlafen.
„Ekaterina?“, rief er mit lauter Stimme in die Stille. Keine Reaktion. Ferdinand runzelte die Stirn. Wo konnte sie nur stecken? Draußen vielleicht? Er lief auf die Terrasse. Fröstelnd schlang er seinen Morgenmantel enger um den Körper. Auch wenn die frühlingshaften Temperaturen tagsüber schon die Fünfzehngradmarke überschritten, war es in der Früh doch noch empfindlich kalt.
„Ekaterina?“
Nichts. Merkwürdig. Möglicherweise befand sie sich im hinteren Teil des Gartens, wo sie ihn nicht hören konnte. Er glaubte, sich zu erinnern, dass diese Woche der Gärtner kommen sollte. Aller Wahrscheinlichkeit nach zeigte sie ihm gerade die Bäume, die gestutzt werden mussten. Ja, so musste es sein. Rasch schlüpfte er in seine Pantoffel und lief die Terrassenstufen hinab in die Wiese.
Seine Füße versanken im schlammigen Untergrund, kaum, dass er das Gras betreten hatte. Ärgerlich warf er einen Blick auf seine Füße. Er hätte besser daran getan, richtiges Schuhwerk anzuziehen. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, stapfte er über den Rasen und erreichte den Kiesweg. Die Steine knirschten unter seinen Füßen. Er folgte dem Weg in den hinteren Teil des Gartens.
Plötzlich stutzte er. Hinter der nächsten Biegung konnte er etwas auf dem Erdboden ausmachen, das verdächtig nach einem menschlichen Körper aussah.
Scheiße , fluchte er leise, während er auf die am Boden liegende Gestalt zueilte. Beim Näherkommen erkannte er Ekaterinas schlanke Silhouette.
Mit einem Satz war er bei ihr. Ihr Gesicht war zur Seite gedreht und ihre Augen geschlossen. Auf den ersten Blick konnte man meinen, sie schliefe bloß. Dann jedoch bemerkte er die Blutspritzer im Gras. Entsetzt schlug er die Hand vor den Mund.
An Ekaterinas Hinterkopf prangte eine tiefe, blutverkrustete Wunde. Ein Keuchen entfuhr seiner Kehle und er schreckte zurück, als hätte Ekaterinas Körper ihm einen Stromschlag verpasst. Mit zitternden Fingern tastete er an ihrem Handgelenk nach dem Puls.
Bitte , flehte er lautlos. Bitte mach, dass sie noch lebt!
Ekaterinas sonst so warmen Hände waren gespenstisch kalt und schlaff. Doch da, kaum merklich, spürte er ein leises, unregelmäßiges Pochen.
KAPITEL 64
Emma.
S chwungvoll riss Emma die Tür des Kleiderschranks im Gästezimmer auf. Nacheinander zog sie die Kleider von den Haken und beförderte sie auf den anwachsenden Haufen auf dem Bett. Ihre Schminksachen und sonstige Badezimmerutensilien hatte sie bereits beisammen.
Eilig zog sie die zerschlissene Reisetasche unter dem Bett hervor und stopfte nach und nach ihre Habseligkeiten hinein. Keine Minute länger als unbedingt notwendig wollte sie noch in diesem Haus bleiben. Sie war hier nicht mehr erwünscht. Sie flog raus. Wieder einmal . Und was das Schlimmste war – diesmal konnte sie niemand anderem die Schuld daran geben. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben.
In der Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Seit ihrem Gespräch mit Camillo und Céline zermarterte sie sich das Hirn, wo sie jetzt bloß hinsollte. Zurück nach Deutschland? Nur über ihre Leiche. Ihre ehemalige Mitbewohnerin anflehen, sie zurückzunehmen? Auch keine sehr verlockende Vorstellung. Vorübergehend in ein Motel ziehen? Dafür reichte ihr Geld nicht. Aber was dann? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie nicht bleiben konnte, das hatten Céline und Camillo mehr als deutlich gemacht. Am Ende hatten Ferdinand und Ekaterina also doch noch ihren Willen bekommen. Zum Teufel mit den beiden!
Wohin du auch gehst, folgen dir Chaos und Probleme! , schrie Célines Stimme in ihren Gedanken. Du bist nichts als ein nach Liebe und Aufmerksamkeit lechzendes Kind! , pflichtete Alex ihr bei. Und sie hatten verdammt Recht. Sie war eine einzige Katastrophe. Céline und Alex hatten etwas Besseres verdient als sie.
Endlich hatte sie alles beisammen. Mit einem Ruck schulterte sie die schwere Reisetasche und wandte sich zum Gehen. Voller Bedauern sah sie sich ein letztes Mal in dem gemütlichen Raum um, der ihr in den vergangenen Monaten so heimelig geworden war. In diesem Haus hatte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben geborgen und willkommen gefühlt. Aber sie hatte es ja unbedingt vermasseln müssen. Da war sie nun. Wieder alleine, wieder auf sich gestellt, zudem noch obdachlos. Es schien, als könnte sie ihrem Schicksal nicht entfliehen.
Hör auf, dich zu bemitleiden , herrschte sie sich an. Sie zwang sich, die Schultern zu straffen und das Kinn zu heben, in der Hoffnung, die selbstbewusste Haltung würde auf ihr Inneres abfärben. Dann fiel die Zimmertür lautlos hinter ihr ins Schloss.
Emma war froh, auf dem Weg zur Haustür niemandem zu begegnen. Sie hätte es nicht ertragen, in Célines und Camillos anklagende Miene oder das süffisante Grinsen ihres Vaters blicken zu müssen. Schwungvoll riss sie die Tür auf – und erstarrte.
Mit schreckgeweiteten Augen beobachtete sie, wie zwei uniformierte Beamte, ein Mann und eine Frau, die Treppe zur Eingangstür der Villa erklommen. Beide trugen dunkelblaue Overalls, auf denen das Wappen der österreichischen Bundespolizei prangte. Sie schätzte den Mann auf Ende fünfzig. Er trug einen riesigen Schnurrbart, der sein halbes Gesicht verdeckte. Die Frau hatte langes blondes Haar, das sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden hatte. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge verrieten, dass sie noch keine dreißig Jahre alt sein konnte. Mehrere Rettungssanitäter in Orange folgten ihnen auf dem Fuß.
„Kriminalpolizei. Bergmann mein Name, das ist meine Kollegin Frau Fichler. Wir sind wegen des tätlichen Angriffs hier“, begrüßte sie der Schnurrbartmann mit näselnder Stimme.
Emma riss die Augen auf. Sie musste sich verhört haben. Tätlicher Angriff ? Das konnte doch wohl nur ein schlechter Scherz sein! Doch die Polizisten sahen nicht aus, als wäre ihnen nach Scherzen zumute. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Wortlos trat sie einen Schritt zur Seite und ließ die Beamten eintreten.
Ihre schweren Stiefel auf dem Steinboden hallten durch den Eingangsbereich. Ihr Vater, durch das Geräusch angelockt, eilte herbei. So viel zu ihrer heimlichen Flucht, dachte sie düster. Doch dieser beachtete Emma mit ihrer Reisetasche gar nicht. Verwundert registrierte Emma sein ungewöhnlich schlampiges Erscheinungsbild. Sein Hemd war falsch zugeknöpft und hing lose über den Bund seiner Anzughose. Sein unrasiertes Kinn war von Bartstoppeln überzogen, das Gesicht kreidebleich.
„Gott sei Dank, da sind Sie ja endlich! Und die Rettungssanitäter sind auch hier? Kommen Sie! Schnell! Sie liegt im Garten“, rief er den Polizisten zu und eilte voraus.
Sie hasteten hinter dem Hausherrn in Richtung Terrasse und ließen Emma verwirrt und unschlüssig im Flur zurück. Sollte sie einfach abhauen? Aber von was für einem Überfall hatte ihr Vater gesprochen? Schließlich siegte die Neugierde über ihren Fluchtinstinkt.
Mit einigem Abstand folgte sie der kleinen Prozession in den Garten. Was sie dort sah, verschlug ihr den Atem. Neben dem Kiesweg, im Schatten der Kastanienbäume, lag eine einsame Gestalt im Gras. Die Rettungssanitäter beugten sich über den reglosen Körper und versperrten ihr die Sicht. Zögernd trat Emma näher, nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, was sich da vor ihren Augen abspielte.
„Sie haben sie doch nicht etwa bewegt?“, wandte sich ein junger Arzt an Ferdinand und kniete nieder, um die am Boden liegende Gestalt genauer in Augenschein zu nehmen. Dieser schüttelte nur den Kopf. „Nur ihr Handgelenk, um zu sehen, ob sie noch lebt.“
„Schnell, die Trage!“, rief der Sanitäter, nachdem auch er nach dem Puls gefühlt hatte. „Wir müssen sie sofort ins Krankenhaus bringen! Die Kopfwunde sieht böse aus. Und sie hat viel Blut verloren. Verdammt viel Blut.“
„Frau Fichler, bitte rufen Sie die Spurensicherung“, forderte der Mann mit dem Schnauzbart seine Kollegin auf. Diese griff nach ihrem Telefon am Hosenbund.
Mit sicherem Abstand umrundete Emma die Anwesenden. Der Anblick, der sich ihr bot, würde sich für immer in ihre Netzhaut einbrennen.
Die friedlich geschlossenen Augen und die Haare, wie ein Fächer um ihren Kopf ausgebreitet, standen in hartem Kontrast zu der tiefen Wunde am Hinterkopf. Überall war Blut. Unweit im Gras lag ein ebenfalls blutverschmierter Golfschläger. An seinem Kopf klebten dunkle Haarsträhnen und Hautfetzen.
Die Erkenntnis entlockte ihr ein Keuchen. Kraftlos sank Emma zu Boden. Ihre Knie hatten nachgegeben, heftige Übelkeit stieg in ihr hoch. Spontan erbrach sie in die Wiese. Sie spuckte und spuckte, bis ihr nur noch Magensäure von den Lippen tropfte. Ihre leibliche Mutter – niedergeschlagen. Von wer weiß wem. Aus weiß Gott was für einem Grund. Sie wollte es nicht wahrhaben, konnte es nicht glauben. Die Vögel zwitscherten unermüdlich in den Bäumen und schienen sie mit ihrer guten Laune zu verhöhnen.
Auch wenn Ekaterina sich ihr gegenüber wie eine herzlose Rabenmutter verhalten hatte, hatte Emma der Anblick ihres reglosen Körpers schier den Boden unter den Füßen weggerissen. Vor weniger als einer Stunde noch war sie davon überzeugt gewesen, ihre leibliche Mutter niemals wiedersehen zu wollen. Aber jetzt, da ihr diese Möglichkeit vielleicht für immer genommen war, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihr noch einmal Auge in Auge gegenüberzustehen. Ihr all die Fragen stellen zu können, die ihr auf der Seele brannten. Sie wusste doch viel zu wenig über sie, ihr Leben, ihre Beweggründe! Vielleicht hätte sie irgendwann Frieden mit ihr schließen, ihr irgendwann sogar verzeihen können. Nun war es womöglich zu spät. Ihre Chance auf eine Aussprache vertan.
Kurz darauf wimmelte es im Haus nur so vor Polizisten. Die Spurensicherung war eingetroffen und suchte den Garten akribisch nach Hinweisen ab. Die Familie Lauderthal hatte sich im Wohnzimmer zusammengerottet. Emma fühlte sich in dem Trubel wie ein Fremdkörper. Weder Céline noch Camillo würdigten sie auch nur eines Blickes und ihr Vater war von Kommissar Bergmann in Beschlag genommen worden. Die Geschwister klammerten sich wie Ertrinkende aneinander, Céline weinte unaufhörlich leise vor sich hin. Sie sah schlimm aus mit ihren zerzausten Haaren und den tiefen Ringen unter den Augen. Der intensive Alkoholgestank, den sie absonderte, komplettierte das mitleiderregende Erscheinungsbild. So gerne hätte Emma ihre Halbschwester tröstend in die Arme geschlossen. Aber abgesehen davon, dass Céline das mit Sicherheit nicht zugelassen hätte, wusste sie auch nicht, was sie zu ihr hätte sagen sollen. Es gab nichts, das sie sagen oder tun konnte. Ekaterina war wie eine zweite Mutter für sie gewesen. Wenn sie bedachte, wie schwer sie selbst die Erkenntnis getroffen hatte, dass jemand Ekaterina nach dem Leben trachtete, wollte sie sich lieber nicht ausmalen, wie es ihrer Halbschwester damit gehen musste. Ihres Wissens nach hatten sich die beiden nach ihrer letzten Auseinandersetzung nicht einmal ausgesöhnt.
Plötzlich spürte Emma eine Berührung an der Schulter. Sie wirbelte herum. Es war Frau Fichler, die zweite Polizistin, die neben ihr aufgetaucht war, und ihr stumm deutete, ihr zur Befragung ins Nebenzimmer zu folgen.
„Erst einmal auch Ihnen mein aufrichtiges Beileid. Frau Moldova so zu sehen, muss ein schwerer Schock für sie gewesen sein“, begann sie das Gespräch behutsam. Sie hatte eine angenehm melodische Stimme und Emma war die junge Frau sofort sympathisch. „Darf ich fragen, wie Sie heißen und wie ihr Verhältnis zu der Familie ist?“
„Mein Name ist Emma Schneider. Ich wohne seit Ende Jänner bei den Lauderthals. Ich bin ...“, sie stockte einen Moment. Was sollte sie sagen? Wie viel konnte, wie viel durfte sie der Polizei verraten? „Ich bin eine Freundin von Céline“, vollendete sie den Satz schließlich.
„Kannten Sie das Opfer näher?“
Emma zögerte. „Das ist kompliziert, fürchte ich“, erwiderte sie ausweichend.
„Lassen Sie sich ruhig Zeit.“
Emma haderte mit sich, was sie ihr sagen sollte. Doch letztendlich gelangte sie zu dem Schluss, dass es keinen Sinn machte, die Polizei anzulügen. Sie war des Lügens ohnehin überdrüssig.
„Können Sie ein Geheimnis bewahren?“, murmelte sie.
„Das kommt ganz darauf an“, entgegnete die Kommissarin ehrlich. „Meine Diskretion ist abhängig von der Relevanz für den Fall. Aber soweit es mir möglich ist, werde ich natürlich vertraulich mit Ihren Informationen umgehen.“
Emma gab sich innerlich einen Ruck. Was hatte sie jetzt noch zu verlieren?
„Das Opfer, Ekaterina Moldova, ist meine leibliche Mutter“, stieß sie hervor. „Und Ferdinand Lauderthal, der Herr des Hauses, ist mein Vater. Aber ich bitte Sie – Inés Lauderthal, Herrn Lauderthals Ehefrau, weiß nichts von meiner wahren Identität. Sie denkt, ich wäre bloß eine Freundin von Céline. Sie ist todkrank und liegt im Krankenhaus. Ich möchte nicht, dass sie davon erfährt. Das Letzte, das sie in ihrem gegenwärtigen Zustand brauchen kann, ist eine Nachricht wie diese.“ Angstvoll blickte sie zu der Polizistin hoch.
Diese verzog keine Miene, sondern hob nur leicht die Augenbrauen. „Interessant. Weiß der Rest der Familie, wer Sie wirklich sind?“
Emma schloss die Augen. Die Auseinandersetzung des gestrigen Abends erschien vor ihrem inneren Auge. Du widerst mich an! Verschwinde!
„Ich habe es den Kindern, Céline und Camillo, gestern gesagt. Es gab Streit. Herr Lauderthal und Ekaterina selbst wussten natürlich auch davon. Ich bin das unliebsame Ergebnis deren Affäre vor zwanzig Jahren.“
Die Kommissarin notierte etwas auf ihrem Notizblock.
„Aber ich schwöre – ich hatte nichts mit dem Angriff auf Ekaterina zu tun. Ich würde doch nicht meine eigene Mutter umbringen!“, setzte Emma rasch nach und sah Frau Fichler Zustimmung heischend an.
„Schon gut. Davon gehen wir derzeit auch nicht aus“, lächelte diese beruhigend. „Unsere Aufgabe ist es zunächst, uns ein Bild von der Gesamtsituation zu verschaffen.“
Emma nickte erleichtert. Immerhin etwas.
„Wo waren Sie heute Morgen zwischen sieben und acht Uhr dreißig?“
„Da habe ich geschlafen. Im Gästezimmer.“
„Kann das jemand bestätigen?“
Emma lächelte schief. „Wer sollte das schon bestätigen können? Ich schlafe alleine.“
Die Frau nickte und kritzelte abermals ein paar Worte auf ihren Notizblock.
„Haben Sie Hinweise gefunden, wer das getan haben könnte? Irgendwelche Spuren? Fingerabdrücke auf dem Golfschläger?“, wollte Emma wissen.
„Dazu darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Bis wir etwas Konkretes in der Hand haben, behalten wir unsere Ermittlungsergebnisse unter Verschluss. Aber sorgen Sie sich nicht, wir werden den oder die Verantwortlichen schon finden.“
„Wird sie es überleben?“, flüsterte Emma tonlos. Angst vor der Antwort schnürte ihr die Kehle zu. „Sie ist doch nicht ... ich meine, sie wird doch ...“
„Das kann ich nicht sagen“, erwiderte die Andere seufzend. „Frau Moldova wurde mit der Rettung ins Spital gebracht. Die Ärzte kämpfen um ihr Leben. Sie hat einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Mehr weiß ich im Augenblick auch nicht, tut mir leid.“
Emma senkte den Blick.
Frau Fichler klappte ihr Notizbuch zu. „Ich danke Ihnen für die Kooperation und Ihre Ehrlichkeit. Sie bleiben noch eine Weile hier? Im Haus der Familie Lauderthal, meine ich?“
Emma lachte freudlos auf. „Nach meinem Streit mit Céline und Camillo gestern wollte ich eigentlich gerade abreisen, als Sie gekommen sind.“
„Und wo wollen Sie hin? Wo können wir Sie erreichen? Sie verlassen doch nicht etwa das Land?“
„Ich weiß noch nicht, wohin ich jetzt gehen soll“, murmelte Emma leise und schlug beschämt die Augen nieder.
„Nun, für den Moment müssen Sie in Reichweite bleiben. In diesem Fall halte ich es für das Beste, wenn Sie weiterhin hier wohnen, bis wir den Täter gefasst haben. Es ist unabdingbar, dass Sie für weitere Fragen zur Verfügung stehen. Das werde ich auch dem Hausherrn mitteilen. Haben Sie verstanden?“, erwiderte Frau Fichler sanft.
Ein trauriges Lächeln breitete sich auf Emmas Gesicht aus. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Familie davon so begeistert sein wird.“
„Da seien Sie mal unbesorgt. Wir regeln das.“
Emma nickte schicksalsergeben.
„Da wäre noch eine letzte Sache. Bitte sprechen Sie mit niemanden über das, was Sie gesehen haben, vor allem erzählen Sie niemandem von dem Golfschläger. Selbstverständlich müssen wir noch die forensische Untersuchung abwarten, aber so, wie es aussieht, handelt es sich um die Tatwaffe. Diese Information ist von großer Bedeutung für unsere Ermittlungen und darf auf keinen Fall herausgegeben werden. An niemanden.“
Emma nickte. „In Ordnung.“
„Vielen Dank. So. Das wär’s fürs Erste“.
Sie reichte Emma eine Karte. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, mag es Ihnen auch noch so unwichtig erscheinen, zögern Sie nicht, mich anzurufen.“
KAPITEL 65
Céline.
W as machst du denn noch hier? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst verschwinden?“, fuhr Céline Emma an, als sie diese am nächsten Morgen zusammengesunken an der Küchentheke sitzend vorfand.
„Willst du auch eine Tasse Tee? Ich habe Wasser heiß gemacht“, erwiderte Emma, ohne den Blick zu heben.
„Bietest du mir gerade ernsthaft in meinem eigenen Haus etwas zu trinken an? Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Ich will dich hier nicht länger haben!“
Emma seufzte. „Glaub mir, ich wäre auch lieber überall sonst als in einem Haus, in dem mich keiner haben will. Aber die Polizei hat angeordnet, dass ich bis auf Weiteres hierbleiben muss. Ich soll für etwaige Befragungen in der Nähe bleiben.“
„Na toll. Einmal Parasit, immer Parasit, was?“
„Sobald das alles vorbei ist, bin ich weg, das verspreche ich dir.“
Nach einer Weile fügte sie mit sanfter Stimme hinzu, „Es tut mir übrigens leid, was mit Ekaterina geschehen ist.“
Überrascht stellte Céline fest, dass Emma, die selbstbewusste starke Emma, Tränen in den Augen hatte.
„Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle!“, blaffte sie zurück.
„Das behaupte ich auch gar nicht. Aber ich weiß, wie nahe ihr euch steht. Und vergiss nicht, auch wenn ich sie kaum kannte, Ekaterina ist meine leibliche Mutter. Auch ich mache mir große Sorgen.“
„Du weißt gar nichts!“, fauchte Céline.
Da ihre vermeintliche Freundin aber keine Anstalten machte, das Feld zu räumen, ließ sie sich widerwillig auf den Barhocker gegenüber sinken. Sie würde sich doch nicht aus ihrer eigenen Küche vertreiben lassen!
Wortlos griff Emma nach einer frischen Tasse und ließ einen Teebeutel hineingleiten, bevor sie heißes Wasser darüber goss.
„Hier“, schob sie ihr das Heißgetränk zu.
Céline bedachte sie mit einem düsteren Blick, nahm das Getränk aber entgegen.
„Gibt es schon Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?“, brach Emma nach einer Weile das Schweigen.
„Ich war gestern den ganzen Nachmittag dort, aber sie wollten mich nicht zu ihr lassen. Offenbar hat Ekaterina ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten und wurde in den künstlichen Tiefschlaf versetzt. Nur Gott weiß, ob sie je wieder aufwacht“, flüsterte Céline tonlos.
Stille senkte sich über die Mädchen, beide in ihren Gedanken vertieft, dem Blick der jeweils anderen ausweichend. In Célines Kopf rumorte es. Emmas Verrat hatte sie in ihren Grundfesten erschüttert. War überhaupt irgendetwas von all dem echt gewesen? Und sie jetzt, mit reuevoll gesenktem Kopf vor sich zu sehen, führte ihr paradoxerweise schmerzlich vor Augen, wie sehnlichst sie ihre Freundin trotz allem vermisste.
„Ich kann nicht glauben, dass sie vielleicht nie wieder aufwacht“, brach es unvermittelt aus Céline hervor.
„Ich weiß. Ich auch nicht. Es ist furchtbar.“
„Und ich kann nicht aufhören, an unser letztes Gespräch zu denken. Ich habe ihr an den Kopf geworfen, dass sie nicht meine Mutter ist. Dabei wollte sie mich doch nur vor dir beschützen! Ich war so … gemein ! Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihren verletzten Gesichtsausdruck vor mir.“
Wütend wischte sich Céline die Tränen von den Wangen. Warum sprach sie überhaupt mit dieser verabscheuungswürdigen Person? Emma war der letzte Mensch auf Erden, dem sie sich anvertrauen wollte. Ihre vermeintliche Freundin hatte ihr schließlich nicht nur die Uni-Karriere ruiniert und ihre Beziehung dem Erdboden gleichgemacht, sondern war zudem auch noch schuld daran, dass sie sich mit Ekaterina überhaupt erst gestritten hatte! Aber trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, konnte sie nicht anders. Wahrscheinlich war sie es inzwischen zu gewohnt, mit Emma über ihre Probleme zu sprechen. Auch wenn sie nicht mehr ihre Freundin war, so etwas ließ sich nicht so einfach von heute auf morgen ablegen.
„Sie liebt dich. Mehr als alles andere auf der Welt.“
„Ich hasse es, dass ich sie womöglich nie wiedersehe“, schluchzte Céline, die die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. „Ich hasse es, dass ich ihr vielleicht nie wieder ins Gesicht sehen, sie nie wieder umarmen kann. Keine Gelegenheit mehr habe, ihr zu sagen, wie leid mir tut, was ich zu ihr gesagt habe. Und vor allem, wie sehr ich sie liebe!“ Ihre Stimme brach.
„Und ich hasse es, dass ich ständig weine! Seit Monaten mache ich nichts anderes, als zu flennen! Man könnte meinen, ich hätte langsam alle Tränen aufgebraucht! Aber immer, wenn ich denke, ich hätte meinen persönlichen Tiefpunkt erreicht und es müsste endlich wieder bergauf gehen, kommt es noch schlimmer!“
Emma senkte den Blick. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir tut, welche Rolle ich in all dem gespielt habe. Ich habe dein Leben ganz schön durcheinandergebracht. Es tut mir wirklich wahnsinnig, aufrichtig leid!“
Céline schwieg.
„Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Ich kann mir ja nicht einmal selbst verzeihen. Aber du musst wissen, dass nicht alles gelogen war. Unsere Freundschaft war, ist , echt“, beteuerte Emma mit flehender Stimme. „Zugegeben, als ich dich zum ersten Mal traf, habe ich dich für eine verwöhnte Zicke gehalten. Dachte, du solltest erkennen, dass das Leben auch seine Schattenseiten haben kann. Wie es ist, nicht immer auf die Butterseite zu fallen. Aber je näher wir uns kennenlernten, desto mehr ist mir klar geworden, was für eine beeindruckende Person du bist. Du versteckst dich hinter deiner oberflächlichen Fassade, aber im Herzen bist du alles andere als das. Im Gegenteil, du bist herzlich, liebenswürdig, unendlich loyal. Ich habe meine Meinung über dich grundlegend revidiert – und, du kannst mir glauben, das ist mir nicht leichtgefallen! Ich war so unglaublich eifersüchtig auf dich, auf dein perfektes Leben, deine naive Unbeschwertheit. Du führst das Leben, das ich mir immer erträumt habe! Der Brief an die Studienleitung hätte niemals abgeschickt werden sollen. Und am Tag deiner Untersuchung im Krankenhaus war ich bei Marc, um ihm ein für alle Mal zu sagen, dass ich kein Interesse an ihm habe, dass er mich in Ruhe lassen soll.“
Mit einem flehenden Ausdruck in den Augen blickte sie auf Céline herab. „Es war nur ein einziger Kuss, Céline. Ich war ja so dumm. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Aber du sollst wissen, dass unsere Verbindung nicht gespielt war. Und dass ich nichts unversucht lassen werde, um dir das zu beweisen.“
Céline hob den Kopf. Sie ließ den Blick über Emmas vertrautes Gesicht wandern, das auch ohne Make-up und trotz der dunklen Schatten unter ihren Augen noch atemberaubend schön war. Ihre Schultern und Mundwinkel hingen herab, keine Spur mehr von der sonst so selbstbewussten Haltung. In ihren Augenwinkeln schimmerten ungeweinte Tränen. Sie war das personifizierte Häufchen Elend.
Céline rang mit sich selbst. Ein Teil von ihr hätte Emma am liebsten in die Arme geschlossen. Ihr gesagt, dass mit ihnen wieder alles in Ordnung kommen würde. Dass sie ihr vergab. Aber sie konnte es nicht.
„Du hast Recht“, flüsterte sie schließlich. „Ich kann dir niemals verzeihen, was du getan hast.“
Mit diesen Worten erhob sie sich und ließ ihre Halbschwester mit ihrer Verzweiflung und der gerechten Schuld alleine zurück.
Stattdessen durchquerte sie das Esszimmer auf der Suche nach ihrem Vater. Bestimmt hatte er schon mit dem Krankenhaus telefoniert und konnte ihr sagen, ob es Neuigkeiten betreffend ihre Mutter oder Ekaterina gab.
„Dad?“
Dumpf vernahm sie seine Stimme durch die angelehnte Wohnzimmertür. Sie trat näher, um zu hören, mit wem er da sprach. Vielleicht war es das Krankenhaus und sie konnte aus erster Hand mithören, wie es den beiden ging.
„Nein, ich habe nicht mit Inés geredet“, hörte sie ihren Vater sagen. Also nicht ihre Mutter. Gerade als Céline sich abwenden wollte, drangen seine nächsten Worte an ihr Ohr. Neugierig hielt sie inne, um zu lauschen.
„Natascha bitte! Wie stellst du dir das vor? Sie liegt im Krankenhaus, ihre Autoimmunerkrankung hat einen kritischen Punkt erreicht. Die Ärzte meinen, wenn nicht bald ein Wunder geschieht, wird sie die Woche nicht überleben!“
Eine längere Pause entstand, die Person am anderen Ende der Leitung schien unaufhörlich auf ihren Vater einzureden.
Diese Woche nicht überleben? Angst griff nach Célines Herz und ließ sie nach Atem ringen. Lautlos öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer einen Spaltbreit weiter, um besser hören zu können, was als Nächstes kam.
„Ich weiß, wir haben gesagt drei Wochen! Aber ich kann meine Frau nicht verlassen, während sie im Sterben liegt! Das musst du doch verstehen! Ich liebe dich. Daran hat sich nichts geändert. Und ich weiß, es klingt schrecklich makaber, aber wenn Inés stirbt …“ Er brach ab.
„Ja ich weiß, Baby. Bitte hab noch etwas Geduld, so oder so, werden wir zusammen sein. Schon bald.“
Ihr Vater legte auf und pfefferte das Telefon auf das Sofa. Unruhig tigerte er im Wohnzimmer auf und ab. Céline zog sich rasch von der Tür zurück. Ihr Herz pochte so laut in ihrer Brust, dass sie fürchtete, er könnte sie bemerken. Sie konnte nicht glauben, was sie da soeben gehört hatte. Irrte sie sich oder hatte ihr Vater gerade Natascha – einer Freundin ihrer Mutter – gesagt, dass er sie liebte ?
Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung für seine Worte. Einer, die nicht bedeutete, dass ihr Vater eine Affäre hatte. Ausgerechnet mit Natascha. Einer der engsten Freundinnen ihrer Mutter. Sie schüttelte den Kopf. Unmöglich. Sie musste das falsch verstanden haben. So etwas würde er Maman niemals antun.
Ach nein? , vermeldete eine hässliche Stimme in ihrem Hinterkopf. Du hättest es auch nie für möglich gehalten, dass dein Vater ein uneheliches Kind hat. Tja, so viel dazu. Er hat dich und den Rest deiner Familie dein Leben lang belogen. Warum sollte Ekaterina die Einzige gewesen sein, mit der ihr Vater ihre Mutter hintergangen hatte? Wann siehst du endlich ein, dass dein Vater nicht derjenige ist, für den du ihn hältst?
Céline presste die Hände gegen die Ohren, als könnte sie die Stimme in ihrem Inneren so zum Verstummen bringen. Doch die blieb hartnäckig.
Vielleicht hatte Emma ja recht mit ihrem Verdacht. Vielleicht hat dein Vater tatsächlich dafür gesorgt, dass sich der Krankheitsverlauf deiner Mutter beschleunigt. Vielleicht ...
Aber wieso sollte er das tun? Klar, die Ehe ihrer Eltern konnte man schon lange nicht mehr als glücklich bezeichnen – aber ihre Tabletten vertauschen? Das war doch verrückt! Warum sollte ihr Vater so etwas tun?
Weil er deine Mutter dann nicht verlassen muss. Finanziell bestens abgesichert kann er sich seiner aktuellen Geliebten zuwenden. Und niemand wird ihm einen Vorwurf machen können, wenn er sich mit einer anderen Frau tröstet. Bist du wirklich immer noch so naiv? Hat dich die Geschichte mit Emma denn gar nichts gelehrt? Wann lernst du endlich, dass es nichts gibt, das dein Vater nicht tun würde, um zu bekommen, was er will?
KAPITEL 66
Céline.
C éline verabscheute Krankenhäuser. Es roch nach einer Mischung aus Desinfektionsmittel, Krankheit und Tod. Dazu kam noch das grelle Neonlicht, das selbst ihr, mit ihren neunzehn Jahren, Falten ins Gesicht zauberte. Ungeduldig rutschte sie auf dem ungemütlichen Sessel des Wartebereichs hin und her. Wie lange konnte so eine Leberdialysebehandlung denn noch dauern?
„Ich hole Kaffee. Willst du auch einen?“, vernahm sie eine Stimme zu ihrer Linken.
„Nein. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich dich nicht um mich haben will? Verschwinde! Ich kann dich hier nicht gebrauchen“, fauchte sie ihre Halbschwester an.
„Und ich habe dir gesagt, dass ich dich jetzt unter keinen Umständen alleine lassen werde. Es steht dir aber frei, mich aus der Nähe zu hassen. Also: Kaffee?“
„Von mir aus“, brummte sie mit einem finsteren Seitenblick auf Emma. Seit zwei Tagen klebte Emma wie eine Klette an ihr und welch grässliche Dinge sie ihr auch an den Kopf warf – ihre Halbschwester ertrug sie mit stoischer Gelassenheit und ließ sich nicht abwimmeln.
Emma erhob sich und verschwand in Richtung Kaffeeautomat. Endlich Ruhe. Erleichtert atmete Céline auf und versuchte sich auf die Zeitschrift auf ihrem Schoß zu konzentrieren. Aber die Wörter verschwammen vor ihren Augen und als sie bemerkte, dass sie denselben Absatz fünf Mal gelesen hatte, ohne dessen Inhalt zu erfassen, gab sie es schließlich auf.
Ekaterinas blasse, fast wächsern wirkende Haut, kaum abgehoben von den weißen Laken des Krankenhausbettes, tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Wann auch immer sie für einen Moment die Lider schloss, sah sie das Beatmungsgerät, das aus ihrem Mund ragte und fühlte die Kälte, die von ihrem Körper ausging. Sie erschauderte.
Heute Morgen hatten die Ärzte sie endlich zu ihr gelassen. Sie hatten ihr erklärt, dass Ekaterina ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte. Es sah aus, als wären die Sanitäter gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um das Schlimmste zu verhindern. Im Krankenhaus hatte man Ekaterina sofort in künstlichen Tiefschlaf versetzt, um ihren Organismus zu entlasten und die Behandlung zu erleichtern. Die Kühldecke und die Eisbeutel sollten ihren Körper einige Grad abkühlen. Nach Angaben der Ärzte verminderte die niedrigere Körpertemperatur die Gefahr einer tödlichen Hirnschwellung.
Céline hatte sich neben ihr aufs Bett sinken lassen und behutsam auf sie eingeredet. Sie hatte gelesen, dass die Patienten selbst im künstlichen Koma noch Berührungen oder vertraute Stimmen wahrnehmen konnten.
„Es tut mir so leid“, hatte sie ihr wieder und wieder zugeflüstert. „Alles, was ich gesagt habe. Bitte verzeih mir.“
Doch Ekaterina ließ nicht erkennen, ob sie sie gehört hatte, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Nur das monotone Piepsen der medizinischen Geräte erfüllte den Raum. Céline lief bei dieser Erinnerung ein eisiger Schauer über den Rücken. Ihre Ziehmutter so leblos daliegen zu sehen, erschütterte sie zutiefst.
„Du bist wie eine zweite Mutter für mich“, fuhr sie fort. „Ich hätte dir diese schrecklichen Dinge nicht an den Kopf werfen dürfen. Das war nicht fair. Du wolltest mich nur beschützen. Den Schein der heilen Familie für mich aufrechterhalten. Das weiß ich jetzt.“
Sie griff nach Ekaterinas kalter, schlaffer Hand.
„Du hättest mir sagen sollen, wer Emma wirklich ist. Wie schwer muss es für dich gewesen sein, diese Last alleine zu tragen? Das wäre nicht notwendig gewesen. Ich bin schon groß, erwachsen, weißt du? Und das ist zu einem großen Teil dein Verdienst. Aber ich hätte mir gewünscht, die Wahrheit aus deinem Mund zu hören.“
Céline schluckte. Wünschte sich sehnlichst, Ekaterina würde endlich die Augen aufmachen und sie in die Arme schließen. Doch nichts dergleichen geschah. Nichts deutete darauf hin, dass Ekaterina ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt hatte.
Bitte, du musst wieder gesund werden , flehte sie in Gedanken. Ich brauche dich. Es gibt so viel, das ich dir noch sagen, so viel, das ich noch gemeinsam mit dir erleben will. Ich liebe dich so sehr.
Plötzlich spürte Céline eine Hand auf ihrer Schulter. Mit einem Schreckensschrei fuhr sie herum und stellte mit Erleichterung fest, dass es Karl war, der sich im Wartebereich neben ihr niedergelassen hatte.
„Hallo Hübsche!“, begrüßte er sie. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Macht nichts. Ich bin froh, dass du gekommen bist.“
„Ist deine Mutter noch bei der Dialyse?“
Céline nickte missmutig. „Ich sitze bereits seit Stunden hier und warte, dass sie mich endlich zu ihr lassen.“
Karl stöhnte auf, seine Miene spiegelte Verständnis und Sorge. „Sind eure Testergebnisse schon da?“
„Camillo hat gestern die Nachricht erhalten, dass er nicht als Organspender in Betracht kommt. Anscheinend passen seine Gewebeproben nicht. Keine Ahnung, was da bei mir so lange dauert. Dabei haben sie mich doch vor ihm untersucht.“
„Die machen wahrscheinlich nur noch ein paar Tests“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Bestimmt ist das ein gutes Zeichen.“
„Hoffentlich“, seufzte Céline.
In dem Moment kam Emma mit zwei Plastikbechern in Händen zurück und hielt ihr einen vor die Nase. Wortlos nahm ihn Céline entgegen.
„Karl, das ist Emma. Emma – Karl“, stellte sie die beiden einander vor.
Karl musterte ihre Halbschwester von oben bis unten. „Wir haben uns schon einmal gesehen, wenn ich mich nicht irre“, erwiderte er stirnrunzelnd. „Hast du dich nicht im Sommer bei Lauderthal Immobilien beworben?“
„Wie bitte? Was hast du?“, keuchte Céline mit einem wütenden Blick auf Emma.
„Ja, wurde aber nichts draus. Nicht der Rede wert.“
Nachdenklich fixierte Karl sie. Céline konnte sehen, wie es in seinem Kopf rumorte. „Und was machst du hier, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin als Célines moralische Unterstützung hier.“
Céline verdrehte bei diesen Worten genervt die Augen.
„Na dann. Moralische Unterstützung können wir gewiss brauchen“, lächelte Karl freundlich.
„Karl … kann ich dich etwas fragen?“, zog Céline seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Seit sie das Gespräch zwischen Natascha und ihrem Vater belauscht hatte, ging ihr die Sache nicht mehr aus dem Kopf. Und wer sollte besser über die geheimen Machenschaften ihres Vaters Bescheid wissen als sein guter Freund und Geschäftspartner? Vielleicht gab es ja eine simple Erklärung für das, was sie unfreiwillig mitangehört hatte, und das Ganze entpuppte sich als Missverständnis.
„Alles was du willst, meine Liebe.“
Céline überlegte, wie sie die Sache am besten angehen sollte, und entschied sich für den direkten Weg. „Karl, hältst du es für möglich, ich meine, weißt du, ob mein Vater eine Affäre hat?“
Emma riss erstaunt die Augen auf, blieb aber ansonsten stumm. Gespannt blickte sie zwischen den beiden hin und her.
„Dein Vater – eine Affäre?“
Karl warf Emma einen raschen Seitenblick zu.
Céline entging das nicht. „Ich rede nicht von der Geschichte mit Ekaterina damals.“
Karl fuhr überrascht auf. „Du weißt davon?“
„Noch nicht lange“, räumte Céline ein. „Aber darum geht es mir nicht. Ich möchte wissen, ob mein Vater jetzt gerade eine Affäre hat.“
Karl schwieg eine Weile und zupfte nachdenklich an seinem Hemdkragen. „Nicht, dass ich wüsste“, murmelte er. „Wie kommst du denn auf diese Idee?“
Céline zuckte die Achseln. „Ich habe vor ein paar Tagen zufällig mitbekommen, wie Dad mit Natascha telefoniert hat. Es hat sich so angehört, als wäre sie seine Geliebte. Er hat gesagt, er würde Maman verlassen, sobald es ihr gesundheitlich besser geht. Und wenn nicht …“ Sie ließ den Satz unvollendet. Allein der Gedanke, dass ihre Mutter sterben könnte, war mehr, als sie ertragen konnte.
„Das hast du mir gar nicht erzählt“, schaltete Emma sich ein.
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig“, blaffte sie zurück. „Wenn du schon darauf bestehst, mir nicht von der Seite zu weichen, halt zumindest die Klappe, während ich mich unterhalte.“
Emma senkte beschämt den Kopf und schwieg.
„Also?“, wandte sich Céline erneut an Karl.
„Mir gegenüber hat er jedenfalls nichts erwähnt“, erwiderte dieser langsam. „Aber das muss nichts heißen. Dein Vater weiß, wem im Zweifel meine Loyalität gilt und wie ich zum Thema Treue stehe.“
„Hmmm …“
„Glaubst du mir jetzt endlich, dass dein Vater die Finger im Spiel hat, was die vertauschten Tabletten angeht?“, zischte Emma.
„Wie bitte?“, horchte Karl auf.
„Ich habe dir gesagt, du sollst still sein“, fiel Céline ihr sogleich ins Wort. „Misch dich nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen. Das sind schwere Anschuldigungen. Niemand spricht in meiner Gegenwart so über meinen Vater!“, fuhr sie ihre Halbschwester an. Auch wenn Céline sich insgeheim eingestehen musste, dass an Emmas Worten vielleicht etwas Wahres dran war. Sie selbst war ja schon zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Auch wenn sie das gegenüber Emma niemals zugeben würde.
Karl wandte sich an Emma. „Wie kommst du darauf, dass Ferdinand etwas damit zu tun haben könnte?“
Mit einem flüchtigen Seitenblick auf Céline begann Emma zögerlich zu sprechen. „Ist schon eine Weile her. Ein paar Tage bevor Inés ins Krankenhaus kam. Ich wollte in der Früh Laufen gehen und mir vorher nur schnell einen Kaffee aus der Küche holen. Da habe ich durch den Spalt der Küchentür beobachtet, wie Ferdinand Inés Immunsuppressiva weggeworfen und gegen Paracetamol getauscht hat. Aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet“, fügte sie wenig überzeugend hinzu.
„Ja, das hast du wohl“, fuhr Céline ihr über den Mund. „Nur weil mein Vater dich nicht als sein eigen Fleisch und Blut akzeptieren will, heißt das noch lange nicht, dass er ein schlechter Mensch ist. Ich kann dir versichern, so etwas würde er niemals tun. Verschone uns also bitte mit deinen Verschwörungstheorien!“
Emma zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß, was ich gesehen habe. Aber zumindest ist Inés hier im Krankenhaus sicher. Das ist schließlich alles, was zählt.“
„Ja“, erwiderte Karl langsam. Und an Céline gewandt: „Und war es nicht außerdem Ekaterina, die für die Medikation deiner Mutter verantwortlich war?“
Céline schüttelte den Kopf. „Nein. Dad wollte sich lieber selbst darum kümmern. Er hat sich in den letzten Wochen rührend um Maman gekümmert, ihr jeden Morgen und Abend Tee mit den Medikamenten ans Bett gebracht. Das ließ er sich nicht nehmen. So fürsorglich kannte ich ihn gar nicht. Und du hättest sehen sollen, wie sich Maman über seine Zuwendung und Aufmerksamkeit gefreut hat! Ekaterina ist nur eingesprungen, wenn Dad schon früh geschäftliche Termine hatte. Gerade deswegen kommt mir die Sache mit Natascha auch so seltsam vor. Wieso sollte er sich so um Maman bemühen, wenn er ohnehin vorhatte, sie zu verlassen? Das ergibt doch keinen Sinn!“
Bevor einer von ihnen noch etwas sagen konnte, erschien eine Krankenschwester in ihrem Gesichtsfeld.
„Frau Lauderthal?“
Céline zuckte zusammen und richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf. „Ja? Können wir jetzt zu meiner Mutter? Wie geht es ihr?“
Die blonde Frau schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, leider, es dauert noch eine Weile, bis die Dialyse abgeschlossen ist. Aber Ihre Testergebnisse sind da. Wenn Sie bitte mit mir kommen würden?“
Hastig sprang Céline auf und folgte der Schwester in einen angrenzenden Raum, in dem bereits zwei Männer mittleren Alters in weißen Kitteln auf sie warteten.
„Ah, Frau Lauderthal. Bitte setzen Sie sich. Wir haben Ihre Untersuchungsergebnisse und würden diese gerne mit Ihnen durchgehen“, begrüßte sie einer der beiden mit beeindruckendem Bierbauch.
„Und? Kann ich spenden?“, fragte Céline rundheraus. Nervös trat sie von einem Bein aufs andere. Bitte, bitte, bitte , flehte sie lautlos.
„Ich glaube, es ist besser, wenn Sie sich setzen“, erwiderte der Dicke mit ernster Miene.
Oh je. Das klang gar nicht gut. Ungeduldig und mit pochendem Herzen ließ sie sich auf den ihr angebotenen Stuhl sinken. Erwartungsvoll starrte sie zu den Halbgöttern in Weiß hoch.
„Um es kurz zu machen – nein, Sie kommen leider nicht als Organspender in Betracht. Es ist aber der Grund dafür, der uns verwundert und zu weiteren Untersuchungen veranlasst hat. Ihre Blutgruppe ist nämlich nicht kompatibel.“
„Das verstehe ich nicht“, erwiderte Céline verständnislos. „Ich dachte, die Kompatibilität der Blutgruppen wurde vorab überprüft? Dann hätte ich mir das ganze Prozedere doch sparen können!“
„Ja, das ist richtig“, nickte der Arzt. „Sie haben uns gegenüber bekannt gegeben, Sie hätten Blutgruppe A rhesus-negativ. Da Ihre Mutter dieselbe Blutgruppe hat, wären das gute Voraussetzungen.“
„Und was ist dann das Problem?“
„Das Problem ist, Frau Lauderthal, dass Sie nicht tatsächlich die von Ihnen angegebene Blutgruppe haben.“
„Aber wie kann denn das sein?“ Verwirrt blickte sie vom einen zum anderen. „Ich kenne doch meine Blutgruppe!“
„Deswegen hat das Ergebnis auch so lange auf sich warten lassen“, ergänzte der Dünnere. „Wir haben alles dreifach überprüft, um sicherzugehen, dass uns kein Fehler unterlaufen ist. Aber Fakt ist: Sie haben Blutgruppe 0 rhesus-positiv.“
„Okay …“
„Was noch bemerkenswerter ist, Frau Lauderthal, dass Ihre Blutgruppe nicht nur nicht diejenige ist, die Sie uns genannt haben – man kann sich schließlich irren – sondern auch nicht mit der Ihrer Mutter übereinstimmt. Ihre Mutter hat Blutgruppe AA. Ich weiß nicht, wie gut Sie sich in Genetik auskennen – Tatsache ist: Inés Lauderthal kann unmöglich Ihre biologische Mutter sein.“
Céline glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?“, keuchte sie. „Das muss ein Scherz sein!“
Der Arzt seufzte. „Leider nein. Lassen Sie es mich so erklären: Das Gen, das die Blutgruppe bestimmt, besteht aus zwei Teilen, sogenannten Allelen, wobei je eines von der Mutter und eines vom Vater vererbt wird. Was die Blutgruppe betrifft, gibt es drei mögliche Allele: A, B und 0. Die Kombination der vererbten Allele ergibt die Blutgruppe des Kindes. Dabei sind die Allele A und B dominant gegenüber dem 0-Allel. Das bedeutet, dass nur dann, wenn sowohl von der Mutter als auch vom Vater ein 0-Allel vererbt wird, die Blutgruppe 0 entstehen kann. Wenn man also berücksichtigt, dass Ihre Mutter Blutgruppe AA hat – also zwei dominante A-Allele – müssten Sie, abhängig vom Genotyp ihres Vaters, eigentlich Blutgruppe A oder AB haben. Keinesfalls aber 0. Das ist genetisch schlichtweg nicht möglich.“
Atemlos lauschte Céline den Erläuterungen des Arztes. Sie war wie paralysiert, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.
„Das muss ein Schock für Sie sein, das ist uns klar. Aber … kann es sein, dass Sie adoptiert wurden?“
„Nein!“, widersprach Céline lauter als beabsichtigt. „Nein, ganz bestimmt nicht! Was soll die blöde Frage?“
„Beruhigen Sie sich bitte, Frau Lauderthal.“
„Ich soll mich beruhigen? Sie haben mir gerade eröffnet, dass ich nicht die Tochter meiner eigenen Mutter sein soll! Während diese im Sterben liegt und auf eine lebensnotwendige Organspende wartet. Wie ruhig wären Sie denn an meiner Stelle?“
„Ich verstehe Sie ja, Frau Lauderthal. Wirklich. Wir kommen hier nur unserer Aufklärungspflicht nach. Und seien Sie sich versichert, dass wir mit Hochdruck weiter nach einem passenden Spender für Ihre Mutter suchen.“
KAPITEL 67
Emma.
D u bist also wirklich Ferdinands uneheliche Tochter“, stellte Karl fest, nachdem Céline gegangen war.
„So ist es.“
„Unglaublich“, erwiderte Karl kopfschüttelnd. „Wobei ich das nach deinem Auftritt in der Firma schon vermutet habe. Obwohl Ferdinand es natürlich vehement abgestritten hat. Er meinte, du seiest nur auf Geld aus gewesen.“
„Ich soll was ?“, empörte sich Emma. „Was für eine dreiste Lüge! Im Gegenteil! Er wollte mich bestechen, damit ich ein für alle Mal aus seinem Leben verschwinde. Aber ich habe abgelehnt. Darum ging es mir nie.“
Karl nickte nachdenklich. „Ich hatte ohnehin Zweifel an seiner Geschichte. Sie war einfach nicht plausibel. Weshalb solltest du ihn denn mit einer Vaterschaft konfrontieren, wenn nichts dahinter ist? Die Wahrheit wäre nur zu leicht überprüfbar gewesen. Seine Erklärung ergab schlichtweg keinen Sinn für mich.“ Und nach einer Weile. „Weiß Inés davon?“
„Nein, natürlich nicht! Ich wollte meine biologischen Eltern kennenlernen, nicht eine Ehe zerstören! Wobei …“, sie lachte freudlos auf, „das wäre auch gar nicht möglich gewesen. Man kann nichts zerstören, das bereits kaputt ist.“
„Und jetzt liegt deine leibliche Mutter im Koma und wird vielleicht nie wieder aufwachen. Mein herzliches Beileid.“
„Wie gewonnen so zerronnen. Aber danke“, erwiderte Emma düster.
„Weiß man schon Näheres zum Täter?“
„Nicht, dass ich wüsste. Aber ich wäre wohl auch nicht die Erste, die die Polizei informieren würde, schätze ich.“
„Tja, da er oder sie Handschuhe getragen hat, werden wohl auch keine DNA-Spuren auf dem Schläger gefunden worden sein“, dachte er laut.
„Bislang wissen wir jedenfalls nichts Genaueres.“
Emma schwieg eine Weile. „Karl?“
„Ja?“
„Bitte erzähl Inés nicht, wer ich in Wahrheit bin. Sie war immer so nett zu mir. Ich wollte ihr niemals schaden. Sie soll nicht den Preis dafür bezahlen müssen, dass ihr Mann ein betrügerisches Arschloch ist. Das hat sie nicht verdient.“ Dann fiel ihr ein, dass die beiden Männer ja befreundet waren. „Entschuldige. Ich habe fast vergessen, dass ihr euch nahesteht.“
„Schon in Ordnung. Wir sind Freunde und Geschäftspartner – ja. Aber wie ich bereits sagte, ich weiß, wem meine Loyalität gilt. Ich kenne Inés mein halbes Leben. Ich würde alles für sie tun. Sie ist ein Engel. Meine beste Freundin. Mach dir keine Sorgen, ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt.“
„Danke“, flüsterte sie.
„Ich muss dann langsam los“, seufzte Karl mit einem Blick auf seine Armbanduhr. „Muss noch in den neunzehnten Bezirk fahren, um mit Ferdinand ein paar geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen. Wie du vielleicht weißt, steht es um Lauderthal Immobilien nicht zum Besten. Eigentlich wollte ich Inés besuchen, aber wer weiß wie lange die Dialyse noch dauert, und ihr seid ja ohnehin hier. Sag Céline alles Liebe und dass sie Inés von mir grüßen soll, ja?“
„Ist gut. Und danke nochmal“, lächelte Emma ihm zum Abschied zu.
Gerade als Karl sich erheben wollte, ging die Tür zum Ärztezimmer auf und Céline stürmte auf sie zu. Emma bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Gesicht war kreidebleich und ihre Hände zitterten. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.
„Wie war es? Was haben sie gesagt?“
„Welche Blutgruppe hast du?“, fiel Céline ihr keuchend ins Wort.
„Was ich für eine Blutgruppe habe? A, wenn ich mich nicht irre. Aber warum ist das wichtig?“
Wortlos ließ sich Céline neben die beiden fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr schmaler Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt.
„Céline, um Himmels willen! Was ist denn los? Wir finden bestimmt einen anderen Spender, wenn du nicht kompatibel bist. Das wird schon!“, versuchte sie ihre Freundin zu trösten. Zaghaft streckte sie die Hand aus, um ihr beruhigend über den Rücken zu streichen, doch Céline zuckte zurück, als hätte Emma eine ansteckende Krankheit.
„Lass die Finger von mir!“, fauchte sie.
„Céline, um Himmels willen! Was haben die Ärzte denn gesagt?“, schaltete sich nun auch Karl ein.
Langsam hob sie den Kopf. Ihre Augen waren blutunterlaufen.
„Meine Blutgruppe ist nicht kompatibel“, stieß sie tonlos hervor.
„Ach Céline! Kopf hoch, wir finden jemand anderen. Noch ist Zeit!“
„Nein, ihr versteht nicht. Ich habe die falsche Blutgruppe.“ Sie holte tief Luft. „Nicht nur, dass ich nicht für die Organspende in Betracht komme. Meine Blutgruppe passt überhaupt nicht zu der von Maman. Ich kann genetisch gesehen nicht ihre Tochter sein.“
Emma und Karl warfen sich verwirrte Blicke zu. Mit Mühe versuchte Emma zu begreifen, was Céline soeben gesagt hatte. Sie verstand nicht, ihre Worte ergaben einfach keinen Sinn.
„Was soll das heißen, Inés ist nicht deine Mutter? Natürlich ist sie das!“, widersprach Karl stirnrunzelnd.
„Nein!“, kreischte Céline auf. Emma zuckte ob des lauten Geräusches unwillkürlich zusammen. Und dann, mit einem anklagenden Blick auf Emma, „ Du bist es. Du bist ihre leibliche Tochter, nicht ich.“
„Was soll das heißen, ich bin es?“
Céline sprang auf und begann unruhig vor den beiden auf und ab zu laufen.
„Überleg doch mal! Wir sind fast gleich alt. Der Tag unserer Geburt liegt nur einen einzigen Tag auseinander. Wir haben denselben Vater. Meine Blutgruppe passt nicht zu der von Maman, deine aber schon. Sie hat Blutgruppe A, wie du. Ich wette, Maman und Ekaterina haben im selben Krankenhaus entbunden. Sie müssen uns als Babys vertauscht haben. Ja, so muss es sein!“
„Das ist doch Blödsinn!“, widersprach Emma mit Nachdruck. „Es muss eine andere logische Erklärung geben.“
„Nein, die gibt es nicht! Das ist die Erklärung!“, kreischte Céline.
Karl starrte ungläubig von der einen zur anderen. „Nun einmal langsam, Céline. Ich finde auch, dass, das, was du da brabbelst, ziemlich weit hergeholt klingt.“
Doch Céline achtete nicht auf ihn. „Der Zufall wäre zu groß. Mach einen DNA-Test, Emma! Jetzt sofort!“
Emma schwirrte der Kopf. War das tatsächlich möglich? Vertauschte Babys? Solche Dinge gab es doch nur in Filmen.
„Céline, ich …“, begann sie, wurde jedoch unwirsch unterbrochen.
„ Mach den Test! Du hast gesagt, unsere Freundschaft wäre dir wichtig. Wenn dir wirklich etwas an mir liegt, dann machst du jetzt diesen verdammten Test. Für mich! Und wenn ich recht habe, und du Mamans leibliche Tochter bist, stimmst du der Organtransplantation zu. Dann sind wir quitt!“
Schwer atmend blieb sie vor Emma stehen und fixierte sie mit stählernem Blick. Blaue Augen trafen auf braune. Ihr schien es wirklich ernst damit zu sein.
„Céline, das ist doch absurd! Und was soll ich deiner Meinung nach den Ärzten sagen? Uuups, wenn Céline hier nicht die leibliche Tochter von Inés Lauderthal ist, versuche ich einmal mein Glück? Das ist doch Schwachsinn!“
„Es ist mir egal, wie du es anstellst! Tu es! Ich kann schon nicht verhindern, dass ich Ekaterina womöglich verliere. Aber ich werde nicht auch noch Maman verlieren. Nicht, wenn es auch nur die allerkleinste Chance gibt, sie zu retten!“
Karl erhob sich. „Ich muss jetzt wirklich los. Ferdinand wartet bestimmt bereits auf mich. Céline, sagst du Inés bitte, dass ich hier war? Und haltet mich am Laufenden.“
KAPITEL 68
Karl.
K arl drückte das Gaspedal durch. Mit quietschenden Reifen überholte er von rechts ein vorbeikommendes Fahrzeug. Wütendes Hupen ertönte, doch er hörte es kaum.
Das würde Ferdinand büßen. Er hatte seine Frau – seine beste Freundin – nach Strich und Faden betrogen, ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt und ihn und alle anderen über Jahrzehnte hinweg belogen. Und nun sollte er auch noch eine weitere Affäre haben? Karl schüttelte ungläubig den Kopf. Wie hatte er Inés das nur antun können! Der loyalen, liebenswürdigen Inés, die stets nur das Beste für ihn und die Familie im Sinn hatte! Nicht nur, dass er sie betrogen und gedemütigt hatte, trachtete er ihr jetzt auch noch nach dem Leben? Er zweifelte keine Sekunde daran, dass Emma und Céline die Wahrheit gesagt hatten. Und wenn er länger darüber nachdachte, erinnerte er sich, dass Ferdinand in den letzten Monaten ungewöhnlich viele Mittagstermine gehabt hatte, von denen er stets bestens gelaunt und nach frischem Parfum duftend zurückgekehrt war.
So sehr er ihn als Kumpel auch schätzte, Ferdinand war ein berechnender Egomane, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war. Der äußere Schein war alles, was ihn interessierte. Wenn er wirklich in Erwägung zog, Inés für eine andere Frau zu verlassen, musste ihre Autoimmunerkrankung für ihn wie ein Wink des Schicksals gewirkt haben. Es musste ein leichtes gewesen sein, die Tabletten zu vertauschen. Am Ende hätte er seine Hände in Unschuld gewaschen und den trauernden Witwer gegeben.
Karl musste sich eingestehen, dass es ein Fehler gewesen war, Ekaterina anzugreifen. Nicht, dass die einfältige Schlampe es nicht verdient hatte. Immerhin war sie mit ihrem Arbeitgeber ins Bett gehüpft, während sie mit seiner Frau unter demselben Dach lebte. Der Frau, die sie von der Straße geholt hatte, als sie noch nicht einmal sechzehn Jahre alt gewesen war, und die sich wie eine Löwin dafür eingesetzt hatte, dass sie in Deutschland und später in Österreich bleiben konnte. Und so dankte sie es ihr! Ekaterina war eine niederträchtige Person. Sie hatte ihre gerechte Strafe erhalten. Aber die vertauschten Medikamente gingen nicht auf ihr Konto, da hatte er sich geirrt.
Karl langte ins Handschuhfach und tastete nach seiner Waffe, erspürte das kalte Metall seiner Glock. Zufrieden schloss er es wieder und konzentrierte sich auf den Verkehr. Er beschleunigte das Fahrzeug, das nun mit hoher Geschwindigkeit die Grinzinger Straße entlang donnerte.
Ferdinand würde büßen, für das, was er getan hatte. Dafür würde er sorgen. Er hatte ihn mehr als einmal gewarnt, Inés nicht zu verletzen. Aber er hatte ja nicht hören wollen.
KAPITEL 69
Emma.
E mma wandte den Blick ab, als die lange dünne Nadel die Vene ihrer linken Armbeuge durchstach. Was für ein hirnverbrannter Unsinn, dachte sie. Sie und Inés Lauderthals Tochter? Unmöglich! Aber wenn es Céline so viel bedeutete, Gewissheit zu haben, sei es drum.
In Gedanken ging sie wieder und wieder das Gespräch mit Céline und Karl durch. Irgendetwas an dem, was Karl gesagt hatte, hatte bei ihr die Alarmglocken schrillen lassen. Aber was nur? Alles war überlagert von Célines Nervenzusammenbruch und der haarsträubenden Vermutung, sie selbst sei in Wahrheit Inés leibliche Tochter.
Emma beobachtete, wie die Krankenschwester die erste Ampulle in dem dafür vorgesehenen Behälter verstaute und ein weiteres Röhrchen in die Kanüle setzte. Ihre Augen wanderten von den blonden Haaren abwärts und blieben an den dünnen Einweghandschuhen der jungen Frau hängen. Auf einen Schlag wusste sie wieder, was ihr an der Unterhaltung mit Karl seltsam vorgekommen war. Die Handschuhe! Der Golfschläger! Karl hatte davon gesprochen, dass Ekaterinas Angreifer Handschuhe getragen hatte. Er hatte gemutmaßt, dass auf dem Golfschläger keine Fingerabdrücke gefunden worden sein konnten. Hatte die Kriminalbeamtin ihr nicht eingeschärft, nichts von der Tatwaffe zu erwähnen? Ihr erzählt, dass die Polizei keinerlei Informationen über die Ergebnisse der Spurensicherung und der forensischen Untersuchung preisgeben würde? Dass der Golfschläger der wichtigste Hinweis in ihren Ermittlungen war? Woher zum Teufel wollte Karl wissen, dass keine DNA-Spuren gefunden worden waren? Es sei denn … Karls Worte kamen ihr in den Sinn. Ich würde alles für Inés tun . Wirklich alles ? Sogar wenn das hieße, die Mutter des unehelichen Kindes ihres Mannes, dessen ehemalige Geliebte, zu töten?
Ihr Herz begann wie wild zu pochen, als ihr die schreckliche Erkenntnis dämmerte. Sie musste an Karls erschrockenen Gesichtsausdruck denken, als Emma ihren Verdacht geäußert hatte, Ferdinand hätte Inés Medikamente vertauscht. Erst hatte sie seine Verwunderung dem Umstand zugeschrieben, dass er seinem Freund so etwas nicht zutrauen würde. Aber jetzt, wo sie länger darüber nachdachte, ließ seine Reaktion auch eine andere Deutungsmöglichkeit zu. Er war nicht etwa überrascht gewesen, dass überhaupt jemand Inés Medikation manipuliert hatte. Vielmehr hatte er gedacht, es sei Ekaterina gewesen, die dafür verantwortlich gewesen sei. Übelkeit stieg in ihr hoch. Was, wenn es wahr wäre? Wenn Karl, Inés treuer Freund, derjenige war, der Ekaterina angegriffen hatte?
Unvermittelt richtete sie sich kerzengerade auf dem Krankenhausbett auf.
„Achtung meine Liebe“, mahnte die Schwester. „Sie ziehen sich sonst selbst die Nadel aus dem Arm.“
Aber Emma achtete nicht auf sie. Ihr war noch etwas eingefallen. Karl hatte gesagt, er würde zum Haus der Lauderthals fahren, um mit Ferdinand zu sprechen. Was, wenn er vorhatte, auch ihren Vater anzugreifen? Und sie dumme Kuh hatte ihm soeben ihren Verdacht offenbart, Ferdinand sei schuld daran, dass es Inés zunehmend schlechter gehe! Von seiner Affäre ganz zu schweigen. Würde er wirklich so weit gehen, seinen eigenen Freund zu töten? Ich weiß, wem meine Loyalität gilt. Wer einmal einen Mordversuch unternahm, würde nicht vor einem Zweiten zurückschrecken.
Emma fasste ihren Entschluss. Sie musste sofort nach Hause fahren. Vielleicht konnte sie noch das Schlimmste verhindern.
„Ich muss jetzt gehen!“, wandte sie sich an die Schwester.
„Wir sind aber noch nicht fertig“, protestierte diese.
„Haben Sie nicht schon genug Blut für den DNA-Test? Ich muss wirklich los. Es ist wichtig! Ich komme heute noch wieder, ich verspreche es!“
Widerwillig ließ die Schwester von ihr ab. Sie sah auf die Uhr. „Für die ersten Tests, sollte es reichen. Aber vergessen Sie nicht, die Tage von Frau Lauderthal sind gezählt. Sie haben zwei Stunden!“
„In Ordnung.“
So schnell sie ihre Füße trugen, verließ sie das Zimmer und blickte sich suchend nach Céline um. Ihre Freundin war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war sie bei Inés, deren Dialysebehandlung endlich abgeschlossen war.
Kurz erwog Emma, die Polizei zu rufen. Fieberhaft suchte sie in ihrer Tasche nach der Visitenkarte der netten Frau Fichler von der Kriminalpolizei. Mist . Sie musste die Karte auf ihrem Nachttisch liegen gelassen haben. Außerdem – was sollte sie ihr auch sagen? Dass sie vermutete, Karl Winkler, der beste Freund und Geschäftspartner von Ferdinand Lauderthal, würde hinter dem Anschlag auf Ekaterina stecken und plante nun auch, ihren Vater zu ermorden? Was hatte sie denn schon für Beweise? Man würde sie auslachen. Also keine Polizei. Mit bebenden Fingern rief sie ein Taxi und wartete ungeduldig vor dem Gebäude, bis das gelbe Gefährt vor dem Eingang hielt.
„Oberer Schreiberweg 112a, 1190 Wien. So schnell Sie können!“, wies sie den Taxifahrer an und rutschte auf die Rückbank. Zum Glück war wenig Verkehr. Der Mercedes jagte durch die Straßen und so schafften sie den Weg zum Haus der Lauderthals in Rekordzeit.
Emma drückte dem Fahrer ein paar Scheine in die Hand und sprang aus dem Taxi.
„Hey! Ihr Wechselgeld!“, rief er ihr nach, doch Emma achtete nicht auf ihn, sondern sprintete los.
In der Auffahrt standen zwei Fahrzeuge. Der Porsche mit dem unverkennbaren Kennzeichen „IMMO 1“ und ein zweiter Wagen, den Emma nicht kannte. Das musste Karls Auto sein. Hoffentlich kam sie nicht zu spät.
Mit zitternden Fingern schloss sie die Haustür auf. Ihre Schuhe hatte sie vorsorglich vor der Tür ausgezogen, um möglichst wenig Geräusche zu machen.
Hektisch blickte sie sich um. Lauschte. Wo konnten die beiden Männer nur stecken?
Aus dem Obergeschoss drangen gedämpfte Stimmen. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinauf. Die Stimmen wiesen ihr den Weg in den Schlaftrakt ihres Vaters. Sie wandte sich nach rechts, passierte den geräumigen Vorraum und erreichte die Schlafzimmertür.
Sie war nur angelehnt.
KAPITEL 70
Céline.
W ie geht es dir, Maman?“
Ihre Mutter bemühte sich um ein Lächeln, verzog jedoch sofort schmerzverzerrt das Gesicht. „Es geht schon, ma Cherie.“
„Lügnerin“, krächzte Céline.
„Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Ich werde wieder gesund.“
„Camillo und ich haben uns testen lassen. Wir kommen nicht als Organspender in Betracht. Es tut mir so leid. Ich hatte so gehofft, dass wir dir helfen können!“
„Ach, Céline. Das hättet ihr doch nicht tun müssen. Ich hätte euch nie darum gebeten. Ich liebe dich über alles, das weißt du, oder?“
Obwohl Céline sich vorgenommen hatte, nicht zu weinen, liefen ihr Tränen über die Wangen. „Ich liebe dich auch“, schluchzte sie. „Du darfst mich nicht verlassen! Wage es nicht, einfach zu sterben! Ich brauche dich doch!“
Inés streckte die Hand aus und griff nach Célines. Ihre Finger waren erschreckend kalt.
„Ich hätte mich mehr um dich kümmern müssen! Ich hätte diejenige sein müssen, die dich ins Krankenhaus fährt, die an deinem Bett wacht. Ich war ja so egoistisch! Ich habe dich enttäuscht. Bitte verzeih mir, Maman“, weinte sie.
Zärtlich strich ihr die Mutter übers Haar. „Du bist die beste Tochter, die ich mir wünschen konnte, Céline. Hör auf zu weinen. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen sollst, nichts, dass ich dir verzeihen müsste. Camillo und du, ihr seid mein Ein und Alles. Vergiss bitte nie, wie stolz ich auf dich bin. Denn das bin ich. Du bist zu einer faszinierenden Persönlichkeit herangewachsen. Mitfühlend, großherzig, klug und wunderschön. Ihr beide seid das Beste, das ich in meinem Leben hervorgebracht habe. Mehr hätte ich mir nicht erträumen können. Und ich werde nie aufhören, dich zu lieben.“
Schmerz und Angst schnürten Céline die Kehle zu. Die Worte ihrer Mutter klangen nach Abschied. Aber sie war noch nicht soweit! Sie konnte noch nicht Abschied nehmen. Es war zu früh.
Hemmungslos schluchzend vergrub sie das Gesicht im Schoß ihrer Mutter. Denn auch wenn Inés vielleicht nicht ihre leibliche Mutter war – in ihrem Herzen und in Gedanken würde sie immer ihre Maman bleiben.
Ein leises Klopfen war zu hören. Camillo war im Türrahmen erschienen.
„Hallo Maman“, wisperte er.
„Camillo, mein Schatz! Wie war deine Prüfung?“
Er zuckte nur die Achseln. „War ganz okay. Aber viel wichtiger ist, dass ich jetzt hier bin. Bei dir. Céline und ich werden nicht mehr von deiner Seite weichen. Das versprechen wir.“
KAPITEL 71
Emma.
M ach keinen Mist, Karl. Nimm die Waffe runter!“, drangen die Worte ihres Vaters an ihr Ohr. Er klang wütend.
Emma lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hat eine Waffe!
„Wie konntest du nur!“
Karls sonst so ruhige und angenehme Stimme war kalt und voller Abscheu.
„Wovon zum Teufel sprichst du?“
„Hör auf, dich dumm zu stellen! Ich weiß, was du getan hast!“
„Karl, mein Freund. Leg die verdammte Waffe weg. Du machst mich nervös. Lass uns wie Erwachsene miteinander reden, ja?“
Emma versetzte der Tür einen leichten Schubs und ließ sie einige Zentimeter weiter aufschwingen, um einen Blick ins Innere des Raums zu erhaschen. Das Bild, das sich ihr bot, verschlug ihr den Atem.
Ihr Vater stand mit dem Rücken zum Fenster im hinteren Bereich des geräumigen Schlafzimmers. Wenige Meter vor ihm hatte sich Karl aufgebaut. In der rechten Hand hielt er einen Revolver, dessen Spitze auf Ferdinands Brust zielte. Keine der beiden Männer schien bemerkt zu haben, dass sie nicht länger alleine waren.
„Ich will wissen, warum du Inés das angetan hast“, brüllte Karl und fuchtelte mit der Waffe.
„Um Gottes willen! Was ist nur in dich gefahren? Behandelt man so einen alten Freund?“
Der blasierte Ton ihres Vaters ließ Emmas Magen zusammenkrampfen. Selbstgefälliges Arschloch . Das schien auch Karl zu denken, denn er machte einen drohenden Schritt auf Ferdinand zu, wie ein Raubtier, das sich seiner Beute nähert.
„Inés war das Beste, das dir in deinem armseligen Leben passiert ist. Bevor du sie hattest, warst du ein Niemand! Ein fader Abklatsch deines Bruders, ein Schmarotzer, ein Taugenichts! Das Einzige, das du vorweisen konntest, war dein hübsches Gesicht und einen klingenden Nachnamen. Weiß der Himmel, wie du sie je um den Finger wickeln konntest!“
„Jetzt hör aber auf! Was bildest du dir eigentlich ein, so mit mir zu reden?“, erhob nun auch ihr Vater die Stimme. „So dankst du es mir, dass ich dich in die Firma geholt habe?“
„Dass du mich in die Firma geholt hast?“, wiederholte Karl höhnisch. „Dass ich nicht lache! Schon vergessen, dass es Inés ist, der die Firma gehört? Du magst bei Lauderthal Immobilien vielleicht den stolzen Gockel spielen, aber deine Frau ist diejenige, die im Hintergrund die Strippen zieht, das weißt du genau. Ohne sie bist du gar nichts! Sie hat dir alles ermöglicht. Und was machst du im Gegenzug? Du betrügst sie nach Strich und Faden!“
„Redest du von Ekaterina? Das ist doch Schnee von vorgestern. Komm schon Karl, das war vor zwanzig Jahren! Ich habe einen Fehler gemacht. Was kann ich denn dafür, dass Emma, diese geldgeile Schlampe, hier aufgetaucht ist? Inés sollte nie etwas davon erfahren und das wird sie auch nicht. Ich regle das, mach dir da mal keine Gedanken.“
„Sieh mal einer an. Du gibst also endlich zu, dass sie deine Tochter ist? Aber nein, ich spreche nicht von Emma“, schrie Karl außer sich vor Wut. „Auch wenn du mich, was sie betrifft, in jedem einzelnen Punkt belogen hast. Ich habe mit ihr geredet, weißt du? Und ich sage dir noch etwas: Ich glaube jedes Wort aus ihrem Mund. Sie war nicht auf Geld aus. Im Gegenteil, alles was sie wollte, war, ihre leiblichen Eltern kennenzulernen. Das arme Mädchen! Muss ein Schock für sie gewesen sein, am Ende herauszufinden, dass ihr Vater ein widerlicher Wichser ist, der seinen Schwanz nicht in der Hose behalten kann! Aber nein, es geht nicht um Ekaterina und auch nicht um Emma. Ich rede von deiner Affäre mit Natascha. Sie ist eine von Inés ältesten Freundinnen. Wie konntest du nur, verdammt nochmal?“
„Dieses intrigante Miststück!“, zischte Ferdinand. „Jetzt hat sie dich also auch noch auf ihre Seite gezogen. Du darfst kein Wort aus dem Mund dieser falschen Schlange glauben!“
Gebannt folgte Emma dem verbalen Schlagabtausch. War ja klar, dass ihr Vater ihr die Schuld in die Schuhe schieben würde, dachte sie mit einem Anflug von Ekel. Elender Mistkerl . Für einen kurzen Moment erwog sie, einfach wieder zu gehen. Sollten sich die Herren das doch unter sich ausmachen. Hatte sie sich nicht gewünscht, dass Ferdinand seine gerechte Strafe erfuhr? Hatte sie sich nicht nach Rache gesehnt? Deswegen war sie schließlich überhaupt erst in dieses Schlamassel geraten.
Karl hatte völlig recht, ihr Vater war ein schrecklicher Mensch. Eine verabscheuungswürdige Person, die seine Frau betrog und sie am Ende noch ins Grab bringen würde. Sein Verhalten ihr selbst gegenüber entbehrte ohnehin jeden Kommentars. Sie könnte den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Ihr Vater verdiente es nicht anders. Und was kümmerte es sie, wenn Karl ihn tötete? Die Welt wäre ohne ihn ein besserer Ort. An ihren Fingern würde kein Blut kleben.
Gerade als sie sich abwenden wollte, erschien Célines Gesicht vor ihrem inneren Auge und sie hielt inne. Céline würde vielleicht Ekaterina verlieren, ihre engste Vertraute seit Kindheitstagen. Ihre Mutter lag im Sterben. Niemand wusste, ob sie überleben würde. Sie sollte nicht auch noch ihren Vater zu Grabe tragen müssen. Selbst wenn es sich dabei um ein selbstsüchtiges Arschloch wie Ferdinand Lauderthal handelte. Jedes Kind brauchte seinen Vater. War es nicht ebenjener Gedanke gewesen, der sie ursprünglich überhaupt erst nach Wien geführt hatte? Könnte sie mit der Gewissheit leben, dass sie etwas hätte unternehmen können, es aber bewusst unterlassen hatte? Wie so oft seit ihrem letzten Zusammentreffen musste sie an Alex Worte denken. Dein Wunsch nach Rache ist nichts weiter als der Schrei nach Aufmerksamkeit eines nach Liebe und Anerkennung lechzenden Kindes . Aber sie war nicht mehr dieses Kind. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Sie war ein besserer Mensch als ihr Vater. Und sie wandte sich wieder dem Geschehen im Inneren des Schlafzimmers zu.
„Lassen wir Emma aus dem Spiel. Was ist mit Natascha? Und wage es ja nicht, mich anzulügen! Ich warne dich!“
Ferdinand stieß einen tiefen Seufzer aus. Frustriert fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. Emma konnte selbst auf zehn Meter Entfernung sehen, dass seine Hände zitterten. Schließlich schien er zum Schluss gekommen zu sein, dass Leugnen zwecklos war. „Ich habe das nicht geplant“, brach es widerwillig aus ihm hervor. „Ich wollte es nicht, aber ich habe mich in sie verliebt.“
„Hört, hört! Er hat sich verliebt “, höhnte Karl. „Das ist ja süß! Und was jetzt? Bringst du deine Frau um? Weil es einfacher ist? Weil du dann nicht die Konsequenzen deines Betrugs tragen, dein angenehmes Leben aufgeben musst, das du so liebst? Im Ernst, Ferdinand? So tief bist du gesunken?“
„Ich habe Inés nichts getan!“, brüllte Ferdinand. „Sie leidet an einer Autoimmunerkrankung, verdammt nochmal!“
„Ach hör doch auf! Ich weiß von den vertauschten Pillen! Hast du wirklich gedacht, ich würde es nicht herausfinden? Da hast du dich geschnitten, mein Freund. Und ich werde nicht zulassen, dass Inés etwas zustößt.“
„ Herzerwärmend “, spie Ferdinand zurück. „Stets der edle Ritter in schimmernder Rüstung, nicht wahr? Bist du etwa immer noch eifersüchtig, dass ich derjenige war, der Inés geheiratet hat? Nach all den Jahren?“
„Sie hat das nicht verdient! Sie ist zu gut für dich! Ich werde nicht zulassen, dass du ihr etwas antust!“, kreischte Karl. Außer sich vor Wut fingerte er an seinem Revolver und entsicherte ihn.
Ferdinand wich zurück. Er stand jetzt direkt mit dem Rücken zum Fenster. Abwehrend hob er die Hände, die Augen angstgeweitet auf die Waffe in Karls ausgestreckter Hand gerichtet.
„Hör endlich auf mit dem Scheiß, Karl, ich bitte dich! Du willst mit Inés zusammen sein? Weißt du was? Du kannst sie haben. Sie gehört dir. Aber ich warne dich – du hast keine Ahnung, wie es ist, mit dieser Frau verheiratet zu sein!“
Emma lotete ihre Chancen aus. Sollte sie sich bemerkbar machen? Aber dann würde Karl vielleicht schießen. Sie musste es irgendwie schaffen, näher herankommen. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, das spürte sie genau. Hatte ihr Vater denn noch nie etwas von Konfliktmanagement gehört? Mit jedem Wort, das aus seinem Mund kam, schien er Karls Zorn nur noch weiter zu schüren.
Rasch vergewisserte sie sich, dass die Männer keine Notiz von ihr nahmen, doch die waren so in ihr Schreiduell vertieft, dass sie sie nicht bemerkten. Katzengleich schlüpfte sie ins Zimmer. Hinter der nahegelegenen Kommode ging sie in Deckung.
„Inés ist doch nicht dein Eigentum, das du einfach wegwerfen kannst, jetzt wo du genug von ihr hast! Hörst du eigentlich, was du da sagst? Wie kann man nur so ein selbstgefälliges Arschloch sein! Wie kannst du dich überhaupt noch in den Spiegel sehen?“
Emma lugte aus ihrem Versteck hinter der Kommode hervor und suchte den Raum hektisch nach einem harten Gegenstand ab. Nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte. Zum Teufel mit diesem spartanischen Einrichtungsstil , fluchte sie in Gedanken.
Ferdinand fixierte Karl, als versuchte er abzuschätzen, ob er tatsächlich schießen würde. Dann, als ob er auf einmal ihre Anwesenheit gespürt hätte, glitt sein Blick an Karls Hüfte vorbei und traf Emmas. Überrascht schossen seine Augenbrauen nach oben, hatte seine Mimik aber sofort wieder unter Kontrolle. Emma presste den Zeigefinger auf den Mund. Ihr Vater schien den Wink verstanden zu haben, denn er wandte sich rasch erneut Karl zu.
„Wir werden uns scheiden lassen, so oder so. Sobald es Inés besser geht, werde ich mit ihr ein ernstes Gespräch führen“, beteuerte er.
Emmas Blick fiel auf die Messinglampe am Nachttisch. Vom Bett trennten sie nur wenige Meter. Vielleicht konnte sie dorthin robben, ohne dass Karl auf sie aufmerksam wurde? Gerade wollte sie sich in Bewegung setzen, da spürte sie in ihrer hinteren Hosentasche etwas vibrieren. Mein Handy , fiel ihr siedend heiß ein. Wieso hatte sie es nur nicht ausgeschaltet? Während sie noch verzweifelt versuchte, an die Mute-Taste zu gelangen, ertönte auch schon der vertraute Klingelton in voller Lautstärke. Ihr Herz setzte aus. Das war’s.
Karl wirbelte herum, hektisch suchten seine Augen den Raum nach der Quelle des Geräuschs ab. Ferdinand fackelte nicht lange und ergriff die sich ihm bietende Gelegenheit. Mit einem Hechtsprung war er bei Karl und riss ihn zu Boden. Ein Schuss löste sich aus dem Revolver und schlug mit einem ohrenbetäubenden Krachen im hölzernen Bettgestell ein.
Die beiden Männerkörper krachten aufs Parkett, die Waffe glitt aus Karls ausgestreckter Hand und schepperte über den Fußboden. Das war ihre Chance. Emma schnellte hinter der Kommode hervor und auf die Glock zu. Sie bekam sie zu fassen. Das kühle Metall fühlte sich seltsam fremd in ihrer Hand an. Mit zitternden Händen packte sie den Revolver und brachte einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und die Männer. Unterdessen hatte Karl ihren Vater in den Schwitzkasten genommen.
„Auseinander!“, brüllte sie die beiden an.
Karl riss entsetzt die Augen auf, als er die Glock in Emmas Hand registrierte, fing sich jedoch rasch wieder. Widerwillig ließ er von Ferdinand ab.
„Emma, meine Liebe“, keuchte er mit einem Gesichtsausdruck, der wohl ein Lächeln sein sollte. „Gib mir die Waffe zurück. Du kannst mit dem Ding doch gar nicht umgehen. Du wirst noch jemanden verletzen.“
„Gib sie ihm nicht!“, schrie Ferdinand.
Am ganzen Körper bebend blickte sie vom einen zum anderen. Nichts in ihrem Leben hatte sie auf diesen Moment vorbereitet. Trotzdem wusste sie instinktiv, was zu tun war.
Ohne die Männer aus den Augen zu lassen, fingerte sie in ihrer Gesäßtasche nach dem Handy, das inzwischen verstummt war. Es dauerte qualvolle Sekunden, bis ihre schweißtriefenden Finger es zu fassen bekamen. Das Display zeigte einen Anruf in Abwesenheit. Céline. Sie drückte auf Rückruf, betete, dass sie rangehen würde.
„Emma, wo zum Teufel steckst du? Die Schwester hat gesagt, du bist gegangen? Du kannst doch nicht einfach abhauen! Du musst die Untersuchung abschließen!“
„Halt die Klappe, Céline, und hör mir zu. Du musst die Polizei rufen. Sofort. Zu euch nach Hause! Es ist Karl! Bitte, schnell!“
„Emma, was zum …“
„Keine Zeit für Erklärungen! Es geht um Leben und Tod!“, schrie sie in den Hörer. Die Worte fühlten sich abgedroschen an, wie aus einem schlechten Krimi.
Emma schickte ein stummes Dankesgebet gen Himmel, dass Céline sie ausnahmsweise mit ihrem üblichen Redeschwall verschonte und keine weiteren Fragen stellte. „In Ordnung. Halte durch!“, keuchte sie, dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Emma wandte sich wieder den Männern zu. „Keiner von euch bewegt sich! Ich warne euch!“
KAPITEL 72
Emma.
E mma saß zusammengekauert auf dem Sofa im Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch stand ein unberührter Teller Kekse. Der frisch zubereitete Kräutertee vor ihr verströmte sein süßliches Aroma. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper.
Keine zwanzig Minuten nach ihrem Telefonat mit Céline war die Polizei eingetroffen und hatte Karl verhaftet. Die folgende Vernehmung hatte Ewigkeiten gedauert und sie konnte nicht fassen, was sie da gerade erlebt hatte. Alles war so unglaublich schnell gegangen.
Sie bemerkte ihren Vater erst, als sich dieser gegenüber ihr niedergelassen und durch ein Räuspern auf sich aufmerksam gemacht hatte. Emma wich seinem Blick aus. Sie hatte schlichtweg keine Kraft für eine weitere Auseinandersetzung.
„Nun, ich schätze, ich muss mich bei dir bedanken“, ergriff Ferdinand schließlich das Wort, als ihm klar wurde, dass Emma nichts sagen würde. „Natürlich hätte ich die Situation auch selbst in den Griff bekommen. Aber dein Auftauchen war ungemein hilfreich, das muss ich dir lassen.“
„Er hätte dich umgebracht“, flüsterte Emma tonlos.
Ferdinands Miene blieb unbewegt. „Du hast jedenfalls das Richtige getan. Ich muss zugeben, damit habe ich nicht gerechnet. Aber gute Gene setzen sich durch, wie?“
Sein selbstgefälliger Tonfall ließ Emma die Nackenhaare zu Berge stehen.
„Du gibst es also endlich zu? Dass du mein Vater bist?“, brach es aus ihr hervor. Es gelang ihr nicht, die Verbitterung in ihrer Stimme zu verbergen, doch es war ihr egal. Sollte ihr alter Herr doch denken, was er wollte.
Ferdinand stöhnte genervt auf. „Ich kann nicht leugnen, dass deine Einmischung in mein Leben für mich mehr als unerfreulich war. Aber du hast dich letztlich doch als nützlich erwiesen.“ Er machte eine Pause, suchte nach den richtigen Worten.
„Und um meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, möchte ich nochmal auf meinen Vorschlag von letztem Sommer zurückkommen. Dir ist bestimmt selbst klar, dass du nicht auf Dauer bei uns wohnen bleiben kannst. Du passt einfach nicht hierher, nichts für ungut. Ich halte vierzigtausend Euro für angemessen. Ein mehr als großzügiges Angebot. Damit kannst du dir irgendwo ein schönes Leben aufbauen, weit weg von Wien. Was sagst du? Sind wir uns einig?“
Emma starrte ihren Vater ungläubig an. Sie wollte ihren Ohren nicht trauen. „Versuchst du ernsthaft mich zu bestechen ? Nach allem was war? Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass es mir nicht ums Geld geht?“
Die Entrüstung weckte ihren Kampfgeist. Die Erschöpfung war auf einen Schlag verflogen. An ihre Stelle trat kalte Wut.
„Ich habe dir das Leben gerettet! Und alles, woran du denken kannst, ist Geld?“, spuckte sie. „Es ist furchtbar, was Karl Ekaterina angetan hat, und ein Mordversuch ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber in einem Punkt hatte er recht. Du bist ein schrecklicher Mensch. Ein berechnender, eingebildeter alter Mann, der immer nur an sich und seinen eigenen Vorteil denkt. Deine Frau verdient etwas Besseres. Deine Kinder verdienen etwas Besseres. Und um auf deine Aussage letztes Jahr zurückzukommen: Du willst vielleicht nicht mein Vater sein. Aber ich habe auch kein Interesse mehr daran, deine Tochter zu sein. Du widerst mich an.“
Emma richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und reckte angriffslustig das Kinn. Der gerechte Zorn beflügelte sie.
„Und damit eines klar ist: Ich mag dir das Leben gerettet haben. Aber ich habe es nicht für dich getan. Von mir aus hätte Karl dich erschießen können. Ich hätte dir bestimmt keine Träne nachgeweint. Aber aus irgendeinem, mir unerfindlichen Grund bewundern dich deine Kinder. Sie brauchen dich. Sie müssen schon um Ekaterina bangen, werden vielleicht ihre Mutter verlieren. Sie sollen nicht auch noch ihren Vater betrauern müssen – auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, was es da zu betrauern gäbe.“
„Was bildest du dir …“, setzte Ferdinand an, doch Emma unterbrach ihn.
„Ich bin noch nicht fertig: Weißt du überhaupt, was für ein Glückspilz du bist? Du hast ein wunderbares Leben. Geld im Überfluss, einen tollen Job, Kinder, die dich vergöttern, eine Frau, die dir den Rücken stärkt, komme was wolle. Und was tust du? Du trittst dein Glück mit Füßen. Alles, was Céline sich im Grunde ihres Herzens wünscht, ist deine Anerkennung, deine Liebe. Nicht für ihre Leistungen, sondern als deine Tochter. Seit Monaten muss ich mitansehen, wie du sie jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Sie hat das nicht verdient.“
„Maße dir nicht an, über mich zu urteilen“, zischte ihr Vater und beugte sich bedrohlich nach vorne. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du so mit mir sprechen kannst?“
Mit mahlendem Kiefer funkelte er sie an.
„Und ich kann dir sagen, es ist nicht alles Gold, das glänzt! Meine Ehe ist eine Farce. Meine Frau ist todkrank. Mein Unternehmen steht kurz vor dem Bankrott. Die Dinge sind nicht immer bloß schwarz oder weiß. So einfach, wie es für dich aussehen mag, ist mein Leben beileibe nicht!“
Emma lachte freudlos auf. „Armer Daddy . Deine Firma hat Probleme ? Wie schrecklich“, höhnte sie. „Wolltest du Inés deswegen aus dem Weg räumen? Um deine sogenannten Probleme zu lösen? Du weißt doch nicht einmal, wie man Probleme buchstabiert ! Ein Investor springt ab und schon wirfst du das Handtuch! Aber vielleicht waren dir die letzten Monate ja eine Lehre. Hast gesehen wie es ist, wenn dir nicht alles in den Schoß fällt und jeder nach deiner Pfeife tanzt.“
Die Augen ihres Vaters weiteten sich. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Emma konnte sehen, wie seine Gedanken durcheinanderwirbelten und sich neu formierten.
„Das warst du“, keuchte er. „Die aufgeschlitzten Reifen, die Notverkaufsanzeige, der plötzliche Rückzug des Investors … das warst alles du! Ist es nicht so?“
Sein Kopf war hochrot angelaufen. Er schäumte vor Wut. Emma fürchtete, er würde jeden Moment auf sie losgehen.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte sie scheinheilig. Ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
„Du hinterhältiges Miststück!“, brüllte er.
Mit einem Satz war er bei ihr, die Hände zu Fäusten geballt. Mit einem Wutschrei holte er mit der Rechten aus und verpasste ihr eine heftige Ohrfeige. Emmas Kopf flog nach hinten, der vertraute Geschmack von Blut trat ihr in den Mund.
„Dad!“, tönte plötzlich eine donnernde Stimme von der Wohnzimmertür. Es war Camillo. Er eilte herbei und riss Ferdinand von ihr weg, der gerade zum nächsten Schlag ausholte.
„Was ist nur in dich gefahren? Nimm die Finger von ihr!“
Während Emma ihre pochende Unterlippe betastete, beobachtete sie atemlos das stumme Blickduell zwischen Vater und Sohn. Camillo hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, er überragte seinen Vater um mehrere Zentimeter.
Bevor Ferdinand reagieren konnte, sauste Camillos Faust auf ihn hinab und traf sein Kinn. Ein hässliches Knacken war zu hören und der Vater taumelte zurück.
„Was zum …“, stöhnte er.
„Das ist für Maman“, brüllte Camillo und packte seinen Vater am Hemdkragen.
„Camillo, lass ihn“, flüsterte Emma. „Er ist es nicht wert.“
Diese Worte schienen ihren Bruder zur Besinnung zu bringen, denn Camillo ließ tatsächlich schwer atmend von seinem Vater ab. Stattdessen wandte er sich Emma zu.
„Ich soll dich sofort ins Krankenhaus fahren. Sieht so aus, als hätte Céline mit ihrer Vermutung Recht gehabt. Kommst du?“
Mit einem letzten wütenden Blick auf Ferdinand wirbelte er herum und stürmte aus dem Zimmer. Emma folgte ihm langsam. Im Türrahmen wandte sie sich noch einmal zu ihrem Vater um, der sich über das schmerzende Kiefer rieb.
„Ach ja, bevor ich es vergesse“, lächelte sie süffisant. „Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast. Wie es aussieht, bin ich und nicht Céline Inés leibliche Tochter. Ekaterina und dir muss da vor zwanzig Jahren ein Fehler unterlaufen sein.“
Mit diesen Worten ließ sie ihn alleine und rasend vor Zorn zurück.
„Was?“, brüllte Ferdinand. „Bleib sofort stehen! Das kann nicht sein! Antworte gefälligst!“
Doch Emma beachtete ihn nicht weiter. Mit ihrem Vater war sie fertig. Ein für alle Mal.
KAPITEL 73
Céline.
W ie geht es dir?“, flüsterte Céline zaghaft. Nervös nestelte sie mit den Fingern an der Decke des Krankenhausbetts.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte Emma sich aufzurichten, doch sie war zu schwach. Ihre Arme verweigerten ihr den Dienst.
„Nicht, bleib liegen!“
„Es geht schon. Die Ärzte kümmern sich gut um mich“, beantwortete Emma ihre Frage mit einem schiefen Lächeln. „Und die Schmerzmittel, die ich bekomme, sind auch nicht von schlechten Eltern. Daran könnte ich mich glatt gewöhnen.“
„Kann ich dir irgendetwas bringen? Etwas zu lesen vielleicht? Rouge? Du siehst furchtbar aus!“
„Danke auch“, grinste Emma.
„So meinte ich es doch nicht.“
„Schon gut. Aber du könntest mir mein Handy holen. Es muss irgendwo in meiner Tasche sein. Und den Briefumschlag bitte. Er ist in der linken Seitentasche.“
Vage deutete sie in Richtung Fenster, wo ihre persönlichen Sachen verstreut lagen. Céline erhob sich und holte die gewünschten Gegenstände.
Dankend nahm Emma das Smartphone entgegen und tippte eine Weile darauf herum, bevor sie es ihr reichte.
„Hier.“
Zögernd griff Céline nach dem Telefon. Am Display war das Bild von ihr und dem Professor erschienen. Das Bild, das Emma der Studienleitung zugespielt hatte. Ihr stockte der Atem. Verwirrt blickte sie auf ihre Halbschwester herab.
„Was soll ich damit?“
„Ich will, dass du es zur Fakultätsleitung bringst. Ich habe einen Brief verfasst, in dem ich genau beschrieben habe, was ich getan habe. Ich würde ja selbst gehen“, erneut verzog sie schmerzhaft den Mund, „aber im Moment ist meine Mobilität etwas eingeschränkt, also …“
Emmas blasses Gesicht zeugte von ehrlicher Reue. „Es tut mir so leid, was ich dir angetan habe. Ich will alles wieder in Ordnung bringen. Bitte nimm das Foto und den Brief. Wenn du dich beeilst, kannst du immer noch den Prüfungstermin im April wahrnehmen. Bitte, Céline, ich meine es ernst!“
Lächelnd legte Céline das Telefon auf den Nachttisch.
„Nein“, erwiderte sie schlicht.
„Was soll das heißen – nein? Du musst weiter studieren. Du hast nichts Falsches getan! Ich bin für dieses ganze Schlamassel verantwortlich, nicht du! Und ich bin bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Bitte, Céline. Du musst das für mich tun. Ich kann mich sonst nie wieder in den Spiegel sehen!“
Eine Weile schwieg Céline. Dann begann sie mit sanfter Stimme zu sprechen. „Ich weiß das Angebot wirklich zu schätzen. Aber ich werde nicht zur Studienleitung gehen, und zwar aus einem simplen Grund: Ich will nicht weiter Jus studieren. Genau genommen wollte ich das ja nie. Dad hat mich dazu überredet, weißt du noch? Aber eigentlich hasse ich dieses trockene Juristenzeug. Es macht mir keinen Spaß. Und ich bin schlecht darin. Diese elenden Paragrafen und ich werden keine Freunde mehr.“
Sie seufzte schwer.
„So wütend ich auch auf dich war, im Grunde hast du mir einen Gefallen getan. Ich werde mich für Psychologie inskribieren, wie ich das von Anfang an hätte tun sollen. Ich gehe nicht aufs Juridicum zurück.“
Emma ließ den Kopf hängen. Zärtlich strich Céline ihrer Halbschwester eine Strähne aus der Stirn. „Ich muss mich außerdem bei dir entschuldigen. Ich habe dir Unrecht getan.“
Erneut versuchte Emma sich im Bett aufzusetzen. „Nein das hast du nicht! Wage es nicht, dich bei mir zu entschuldigen! Es gibt nichts zu entschuldigen. Ich war dir eine schreckliche Freundin. Du hast etwas Besseres verdient. Aber ich werde nicht ruhen, bevor ich es nicht wieder gut gemacht habe. Das schwöre ich dir!“
„Emma, Süße. Du hast gerade nicht nur meinem Vater das Leben gerettet, sondern auch meiner Mutter. Ohne die Organspende in letzter Minute wäre sie bereits tot. Wir sind mehr als quitt. Du schuldest mir gar nichts. Wenn überhaupt, stehe ich in deiner Schuld.“
Emma senkte den Blick. „Wie geht es Inés eigentlich? War die Transplantation erfolgreich?“
„Kann man derzeit noch nicht sagen. Aber es sieht so aus, als würde ihr Körper das fremde Gewebe annehmen. Die Operation kam wirklich im letzten Moment. Und was unsere Freundschaft betrifft – du warst die beste Freundin, die ich jemals hatte. Trotz allem.“
Emma lachte auf. „Das ist traurig, Céline! Im Ernst!“
Diese schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Ja – du hast mir das Studienjahr und meine Beziehung ruiniert. Das war echt eine Scheißaktion von dir!“ Sie grinste schief. „Aber wenn wir uns ehrlich sind, bin ich ohne Marc besser dran. Das mit uns hätte sowieso nie funktioniert. Und abgesehen davon, warst du die erste Person, die sich wirklich für mich interessiert hat. Die das Mädchen hinter der Maske gesehen hat. Du warst für mich da. Und hast mir den Spiegel vorgehalten. Hast mir vor Augen geführt, was für ein naives, verwöhntes Kind ich doch war. Hast mir gezeigt, worauf es im Leben ankommt. Du hast mich zu einem besseren Menschen gemacht.“
„Danke“, flüsterte Emma. „Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Als ich dich kennenlernte, hätte ich nie gedacht, dass ich dich tatsächlich mögen könnte. Ich war eifersüchtig und voller Vorurteile. Ich habe dich völlig unterschätzt. Du bist einer der beeindruckendsten Menschen, die ich kenne. Ich bewundere dich zutiefst.“
„Tja, erinnerst du dich, dass du zu mir gesagt hast, ich würde das Leben führen, das dir zustünde? Wenn ich es recht bedenke, lagst du damit gar nicht so falsch. Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir als Babys wirklich vertauscht worden sein sollen. Absurde Vorstellung.“
Emma blickte zu Boden. „Es tut mir leid, was ich da gesagt habe. Das stand mir nicht zu.“
Doch Céline schüttelte nur den Kopf. „Das ist nicht mehr von Belang. Wir müssen das hinter uns lassen und nach vorne schauen.“
„Und wie geht es Ekaterina?“, fragte Emma leise.
Céline wich ihrem Blick aus. „Sie ist noch nicht aus dem Koma erwacht. Die Ärzte wollen keine Prognose abgeben. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als abzuwarten.“
Emma schwieg betreten.
„Ich möchte übrigens, dass du wieder bei uns einziehst. Und zwar nicht als Übergangslösung, sondern auf Dauer. Das heißt, wenn du das willst. Ich habe mit Maman geredet und sie ist natürlich einverstanden.“
Emma lachte freudlos auf. „Ich denke nicht, dass dein Vater von dieser Idee sonderlich begeistert sein wird.“
„Maman hat sich von Dad getrennt. Camillo und ich haben ihr alles erzählt. Sie weiß jetzt, wer du wirklich bist. Sie war außer sich vor Wut auf meinen Vater und will die Scheidung. Dad wird nicht länger bei uns wohnen.“
„Das tut mir so leid, Céline.“ Betroffen blickte Emma zu ihr hoch. „Das habe ich nicht gewollt.“
„Es hat schon alles so seine Richtigkeit. Niemand von uns kann ihm verzeihen, was er getan hat. Die zahlreichen Affären. Die Lügen. Die vertauschten Medikamente. Auch wenn man ihm Letzteres nicht nachweisen kann und er wohl damit davonkommen wird. Es ist besser so.“
Emma schwieg betreten. „Das Letzte, das ich wollte, war, deine Familie auseinanderzureißen.“
„Meine Familie war auch ohne dein Zutun schon ziemlich kaputt, ich wusste es nur nicht. Und ein Gutes hatte es auf jeden Fall“, lächelte sie, „ich habe endlich meine Schwester gefunden. Du bist jetzt Teil dieser Familie, ob du es nun willst oder nicht.“
„So viel sentimentales Geschwätz“, tönte es auf einmal von der Zimmertür.
Emma und Céline wandten den Kopf und entdeckten Camillo, der im Türrahmen lehnte.
„Wie lange stehst du denn schon da?“, wollte Céline peinlich berührt wissen.
„Lange genug“, grinste er. „Aber ich muss mich dir anschließen, Céline. Emma ist ein Hauptgewinn. Unsere Retterin.“
Emma errötete sichtlich. Man konnte sehen, wie sehr sie sich über die versöhnlichen Worte freute.
„Und ich bin ja so froh, dass ich nichts mit dir angefangen habe. Das wäre wirklich eklig gewesen!“
Emma und Céline prusteten los.
„Ja, das wäre es wohl.“
Céline erhob sich. „Ich muss jetzt los. Ich habe einen Termin mit der Fakultätsvertretung für Psychologie. Ich will mich über die Aufnahmetests informieren.“
Mit diesen Worten drückte sie Emma einen liebevollen Kuss auf die Stirn und ließ ihre Geschwister alleine zurück.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Ihre Familie war weiß Gott nicht perfekt und sie machte sich immer noch schreckliche Sorgen um Ekaterina. Aber was sie betraf – ein neuer Lebensabschnitt wartete auf sie. Und sie konnte es kaum erwarten, eine neue Seite in ihrem Leben aufzuschlagen. Gemeinsam mit ihrer Schwester.
KAPITEL 74
Fünf Wochen später. Emma.
L autlos rollte der neue Rimowa hinter Emma über den Boden. Immer wieder vergewisserte sie sich, dass ihr der Koffer nicht abhandengekommen war, so mühelos ließ er sich ziehen.
Vor dem Check-in-Bereich blieb sie stehen und wandte sich zu ihrer Schwester um.
„Also dann …“
„Du wirst mir schrecklich fehlen!“, schluchzte Céline.
„Es sind doch nur zwei Wochen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es in Portugal auch WLAN gibt. Wir schreiben uns.“
„Mag sein. Trotzdem. Und lass mich bitte unbedingt wissen, wenn du gut angekommen bist!“
„Ja, Mama“, feixte Emma, was ihr einen harten Stoß in die Rippen einbrachte.
Nach einer letzten innigen Umarmung ließ sie Céline hinter der Absperrung zurück und passierte die Bordkartenkontrolle. Vom Schaufenster einer der Duty-Free-Läden lächelte Emma ihr Spiegelbild entgegen. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass diese schicke Person in der Reflexion der Scheibe sie selbst sein sollte. Ihre Beine steckten in Designerjeans und an ihrer Hand baumelte eine nagelneue Pradatasche – das absolute Lieblingsstück ihrer neuen Garderobe. Geschenke von Inés, die sie mit offenen Armen in der Familie willkommen geheißen hatte. Sie war jetzt offiziell eine Lauderthal.
Emma schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte ihr Glück immer noch kaum fassen. Vor nicht einmal neun Monaten war sie vor den Trümmern ihres Lebens gestanden. Verstoßen von den Eltern, alleingelassen von den Freunden, missbraucht von den Feinden. Mittellos, planlos, obdachlos. Wie sehr sich alles doch im letzten Jahr verändert hatte!
Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte Emma das Gate. Bis zum Boarding hatte sie noch jede Menge Zeit. Freudige Erregung wallte in ihr hoch. Sie war noch nie geflogen! Außerdem konnte sie es nicht erwarten, Fiona wiederzusehen. Inés hatte ihr großzügigerweise für die Osterferien einen zweiwöchigen Aufenthalt in einem der Hotels von Fionas Tante spendiert und sie sehnte sich danach, ihre Freundin endlich wieder in die Arme zu schließen.
Emma blieb an der Glasfront des Wiener Flughafens stehen und bewunderte gedankenverloren die vielen Maschinen. Die Sonne versank am Horizont und tauchte das Rollfeld in warme Rottöne.
Inés hatte sich von dem Eingriff zum Glück gut erholt und auch bei ihr waren keine Komplikationen aufgetreten. Nach Angaben der Ärzte sollte ihre Leber bereits zwei Monate nach der Operation wieder ihre ursprüngliche Größe erreicht haben. Faszinierend, was die moderne Medizin alles möglich machte!
Ferdinand hatte sie seit ihrer letzten Auseinandersetzung nicht mehr gesehen. Er war noch vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus ausgezogen. Von Céline wusste sie, dass das Scheidungsverfahren bereits in vollem Gange war. Inés hatte ihn seiner Funktion als Geschäftsführer von Lauderthal Immobilien enthoben und das Unternehmen mit einer kräftigen Finanzspritze aus den roten Zahlen geholt. Sie selbst hatte die Leitung der Firma übernommen und ging in ihrer neuen Rolle regelrecht auf. Ekaterina war endlich aus dem Koma erwacht. Sie, Céline und Inés hatten einiges aufzuarbeiten, aber Emma war überzeugt davon, dass sich alles zum Guten wenden würde.
Einziger Wermutstropfen war, dass sie immer noch ständig an Alex denken musste. Sie vermisste ihn schrecklich. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie mehrmals versucht, ihn zu kontaktieren, doch er hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte. Emma seufzte. Sie wusste, dass sie sich das selbst zuzuschreiben hatte.
Sie hatte den Preis für ihre Rache bezahlt.
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ÜBER SOPHIE EDENBERG
Sophie Edenberg, Jahrgang 1989, ist gebürtige Wienerin und entwickelte bereits in jungen Jahren ihre Leidenschaft für das Schreiben.
Dem Familienmodell des 21. Jahrhunderts entstammend – einer bunt zusammengewürfelten Patchwork-Familie – gilt ihr schriftstellerisches Interesse vor allem dem Abenteuer Familie und der Beleuchtung komplexer zwischenmenschlicher Strukturen. Erholung von ihrem turbulenten Alltag sucht Sophie Edenberg als begeisterte Läuferin in der freien Natur oder auf dem Golfplatz und stößt dort mitunter auf ein weiteres Reservoire an Ideen – denn nichts ist, wie es scheint.
Weitere Informationen unter:
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Covergestaltung: ©Cover Up Buchcoverdesign, Hamburg
1. Auflage
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Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
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