Kapitel 6

Der Sohn eines Königs soll schweigsam sein und weise
und auch kühn in der Schlacht:
Tapfer und frohen Mutes soll ein Mann durchs
Leben gehen,
bis zu dem Tag, da der Tod ihn erwartet.

LIEDER-EDDA

Harald Starkarm neigte nicht dazu, sich zu beschweren, und das tat er auch diesmal nicht, obwohl ihm danach war. Es war jedoch eher eine sinnlose Art von Beschwerde, die ihm im Kopf herumgeisterte. Die Art von Protest, der weder etwas löste noch veränderte, der einfach nur reinigend war, mehr nicht.

Aber er hielt ohnehin den Mund, denn er wusste, dass Männer sich nicht beschwerten und Anführer erst recht nicht. Seine Situation war nicht schlimmer als die der vierzig Nordmänner, der fünfunddreißig Iren und des Franken unter seinem Befehl. Außerdem – und das war vielleicht das Wichtigste – beschwerte sich auch Conandil nicht. Tatsächlich schien sie das alles besser zu verkraften als der Rest.

Aber wie auch immer … Starri der Unsterbliche jammerte genug für alle.

»Wie weit noch, Starkarm?«, verlangte er zu wissen, und er sprach laut genug, dass man ihn bis zur Nachhut hören konnte. Die gleiche Frage hatte er schon vor einer Stunde gestellt. Harald wusste nicht, ob Starri das einfach nur vergessen hatte oder ob er tatsächlich glaubte, die Antwort hätte sich in der letzten Stunde verändert.

Louis sagte etwas auf Fränkisch. Auch er sprach laut, und Harald war froh, dass niemand ihn verstand, ansonsten hätte es mit Sicherheit Streit gegeben – dessen war er sicher.

»Ich weiß es nicht, Starri«, erklärte Harald wahrheitsgemäß. »Wir gehen einfach weiter, bis wir da sind.«

So etwas waren die Nordmänner eigentlich nicht gewohnt. In ihrer Heimat gingen sie natürlich auch zu Fuß: von einem Dorf zum anderen und einmal im Jahr auch weite Wege zum Thing. Aber größtenteils bewegten sie sich per Boot oder Schiff fort, denn das war leichter und schneller, als durch das bergige Waldland zu wandern.

Und in Irland war es sogar noch schlimmer. Allerdings nicht, weil das Terrain so schwierig war, nicht im Mindesten. Harald, der vor seiner Fahrt in dieses Land nur Norwegen gekannt hatte, hatte sehr über die sanften Hügel, langen Sandstrände und grünen Felder gestaunt. Für ihn war Irland einfach nur wunderbar … abgesehen von dem ständigen Regen natürlich.

Aber sie waren Fremde hier, Fin Gall, und sie waren nicht willkommen. Nordmänner wanderten aber auch nicht einfach so durch die Landschaft. Sie kamen zum Plündern, und sie bewegten sich auf Schiffen. Wenn sie weiter landeinwärts plünderten, dann fuhren sie mit ihren flachen Langschiffen die Flüsse hinauf oder stahlen Pferde, um darauf zu reiten. Meilenweit wandern, das taten sie nur selten und waren schlicht nicht daran gewöhnt.

Dennoch waren Harald und sein Trupp den ganzen letzten Tag marschiert. Auch jetzt hatten sie schon Mittag, und sie waren seit dem Dágmal gelaufen, dem Morgenmahl.

Es könnte wieder regnen, rief Harald sich ins Gedächtnis.

»Wenn wir weiter landeinwärts gehen, werden wir dort mit Sicherheit Pferde finden«, bemerkte Starri. »Die könnten wir uns dann einfach nehmen. Wer sollte uns auch aufhalten?«

»Wir werden unsere Zeit nicht mit der Suche nach Pferden verschwenden«, erklärte Harald. »Das würde länger dauern, als zu Fuß zu gehen.«

Hätte irgendjemand außer Starri sich beschwert, Harald hätte demjenigen einfach befohlen, das Maul zu halten; doch Starri gab er eine Erklärung, denn Harald wusste, dass Starris Verstand nicht so funktionierte wie der der meisten Menschen.

Broccáin, Conandils Mann, sprach als Nächster, doch außer Harald konnte keiner der Nordmänner sein Irisch verstehen. »Ich glaube nicht, dass es noch weit ist«, meinte er und nickte in Richtung Norden die Küste entlang, der sie folgten.

Nachdem die Meereshammer und die anderen Schiffe sicher an den Ort gebracht worden waren, den die Iren Loch Garman nannten, hatten sie festgelegt, wer sich um die unterschiedlichen Dinge kümmern sollte, die erledigt werden mussten. Worum es dabei ging, machte Thorgrim klar: die im Norden liegenden Langschiffe holen, die Reparatur der anderen Schiffe und die Suche nach einem Ort, wo sie Segeltuch kaufen konnten.

Thorgrim hatte dabei genauso entschieden, wie er immer entschied. Er hatte seine Kapitäne um Rat gefragt und dann getan, was er schon längst beschlossen hatte. Allerdings besaß er die Fähigkeit, es stets so aussehen zu lassen, als würde er auf den Rat der anderen hören.

In diesem Fall hatte Thorgrim beschlossen, dass sein Sohn gut die Hälfte der Männer an der Küste entlang nach Norden führen würde. Sie sollten nachsehen, ob die Schiffe noch da waren, und falls dem so war, sollten sie sie nach Loch Garman bringen. Diese Entscheidung ergab aus mehreren Gründen Sinn. Harald hatte schließlich den Befehl gegeben, die Schiffe auf den Strand zu setzen; also war er auch derjenige, der am ehesten wusste, wo sie waren. Außerdem sprach Harald Irisch, was durchaus hilfreich sein konnte, sollten sie tiefer landeinwärts gehen müssen. Und, so nahm Harald an, sein Vater wollte auch, dass er als Anführer Erfahrung sammelte.

Die Iren sollten sie begleiten. Elf Iren waren bei Harald geblieben, um ihm dabei zu helfen, ihre Landsleute von Brunhard zu befreien, und vierundzwanzig weitere hatten die Kämpfe und die Havarie der Schiffe überlebt. Insgesamt waren es fünfunddreißig Iren, einschließlich Conandil, der Frau von Broccáin mac Bressal, dem Sohn eines Rí Túaithe, bevor die Nordmänner sie überrannt, gefangen und in die Sklaverei verkauft hatten. Und jetzt waren sie begierig darauf, nach Hause zurückzukehren und nach dem Rath zu sehen, den sie einst besessen hatten. Und sie wollten ihn wieder zurück.

Louis der Franke würde sie ebenfalls begleiten. Thorgrim sagte, Louis sei ein Krieger und könnte sich vielleicht als nützlich erweisen; doch Harald wusste, dass sein Vater Louis einfach nur aus dem Lager haben wollte, denn er konnte den Kerl nicht ertragen. Starri wurde ebenfalls mitgeschickt, denn bei den Reparaturen nutzte er ohnehin nichts, aber sollte es zu einem Kampf kommen, würde er in der Tat sehr hilfreich sein.

So packten sie Proviant ein und schnallten sich die Waffen um. Die Männer, die Kettenhemden besaßen, ließen sie zurück, um leichter marschieren zu können. Der Kauffahrer, den sie Brunhard abgenommen hatten, war seetüchtig genug, um sie zumindest über die Mündung der Slaney zu bringen, und so überquerten sie das Wasser und machten sich dann auf den Weg. Harald und seine Männer hielten sich dicht am Ufer und schauten sich jeden Strand genau an. Harald hatte nämlich nur eine vage Vorstellung davon, wie weit nach Norden die Schiffe lagen, und sie wollten sie nicht verpassen und nicht weiter marschieren als unbedingt nötig.

Wir werden sie sicher noch heute erreichen, dachte Harald, während sie stupide vorwärtstrotteten.

Harald glaubte, dass die Schiffe ungefähr zehn, fünfzehn Meilen nördlich der Meereshammer und der Blutfalke auf den Strand gesetzt worden waren. Am Tag zuvor waren sie jedoch nicht gut vorangekommen. Immer wieder mussten sie durch dichte Wälder, die den Weg zum Ufer versperrten, sodass es einige Zeit dauerte, bis einer von ihnen einen Weg zum Strand gefunden hatte, um nachzusehen, ob dort die Schiffe lagen oder nicht. Dennoch hatten sie Haralds Schätzung nach bereits zehn Meilen hinter sich gebracht.

Harald überlegte gerade, ob er das den anderen sagen sollte oder nicht, als Starri der Unsterbliche von hinten rief. Doch diesmal jammerte er nicht; seine Worte klangen scharf und drängend.

»Starkarm! Reiter! Und ich glaube, da sind auch Krieger zu Fuß.«

Harald blieb stehen, hob die Hand und hörte, wie die anderen hinter ihm ebenfalls anhielten. Dann war Starri an seiner Seite und deutete nach vorne. Harald schaute in die entsprechende Richtung. In weiter Ferne, mehr als eine Meile, vielleicht anderthalb, da sah er sie: winzige dunkle Gestalten, die sich vom grünen Gras abhoben. Hätte die Sonne nicht so hell geschienen, Harald hätte sie nie gesehen. Doch Starri hatte sie nicht nur bemerkt, sondern mit seinen scharfen Augen auch erkannt, was sie waren.

»Bist du sicher, dass das keine Kühe sind?«, fragte Harald.

»Das sind sie mit Sicherheit nicht, Harald. Das sind Reiter.«

Harald nickte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Starri sich in so einem Fall schon mal geirrt hatte. Er drehte sich um. »Runter! Runter auf ein Knie!«, befahl er zuerst auf Nordisch, dann auf Irisch. Wenn sie die Reiter sehen konnten, dann war es durchaus möglich, dass die auch sie sahen, und Harald wollte nicht gesehen werden.

Langsam bewegten sich die Männer und Pferde von West nach Ost. Offenbar hielten sie auf die Küste zu. Reiter und Männer zu Fuß …, sinnierte Harald. So eine Gruppe konnte vieles sein, aber am wahrscheinlichsten waren es tatsächlich Krieger, wie Starri behauptete.

Louis der Franke kniete rechts neben Harald. Kurz schwieg er und schaute in die Ferne. Rechts trennte sie eine Düne vom Strand, der vielleicht hundert Schritt entfernt war.

»Offenbar sind das Krieger«, bemerkte Louis schließlich. Er sprach Irisch mit starkem fränkischen Akzent. Er schaute zu Harald. »Vielleicht sollten wir Conandil fragen, ob sie weiß, wo die hinwollen.«

Harald nickte. Das ergab Sinn. Von ihnen allen, egal ob Iren oder Nordmänner, war Conandil die Einzige, die je durch diesen Teil des Landes gereist war. Ihr Vater war ein Kaufmann gewesen, der in nahezu ganz Irland Handel getrieben hatte, und Conandil war jahrelang mit ihm gereist. Harald drehte sich um und winkte sie zu sich heran.

»Was ist? Warum sollten wir uns hinknien?«, fragte sie, als sie sich zu den drei Männern gesellte.

»Siehst du das da? Da drüben?«, antwortete Harald und deutete zu den weit entfernten Männern. »Das sind vermutlich Krieger. Wo könnten die hier hinwollen?«

Conandil runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nirgends«, antwortete sie. »Ich weiß auch nicht, was die hier wollen. Wir sind direkt am Meer. Da gibt es nichts außer Strand.«

Harald legte ebenfalls die Stirn in Falten. Warum sollte ein Trupp Krieger zum Strand wollen?

»Warum reiten Bewaffnete an den Strand?«, überlegte auch Louis laut. »Was könnte da von Interesse für sie sein?«

Harald schüttelte den Kopf. Dann kam ihm ein Gedanke. »Die Schiffe!« Er drehte sich zu Louis um. »Die Schiffe könnten dort sein! Sie wollen sich die Schiffe schnappen!«

»Da könntest du recht haben«, bestätigte Louis. »Das ist durchaus möglich.«

»Was hat er gesagt?«, verlangte Starri zu wissen. »Und was du?«

»Wir haben überlegt, dass diese Krieger vielleicht die Schiffe gefunden haben, und jetzt wollen sie da hin«, übersetzte ihm Harald.

Bei diesen Worten stand Starri auf und hielt plötzlich in jeder Hand eine Kriegsaxt, als hätte er sie herbeigezaubert. »Dann los!«, rief er mit lauter Stimme, und obwohl Harald wusste, dass die fremden Krieger viel zu weit weg waren, wünschte er, Starri wäre leiser.

Harald erhob sich ebenfalls, bereit, Starri falls nötig zurückzuhalten, und Louis tat es ihm nach. Wenn Harald eines von seinem Vater gelernt hatte, dann, dass man nie dem Verlangen nachgeben durfte, sich kopflos in einen Kampf zu stürzen. Nachdenken war stets mächtiger als selbst der stärkste Schildwall, hatte Thorgrim ihn gelehrt.

Louis setzte wieder an, etwas zu sagen, doch Harald kam ihm zuvor. »Wir werden sie zum Strand ziehen lassen«, erklärte er. »Dann kommen wir im Schutz der Dünen näher an sie ran. Selbst wenn sie die Schiffe finden, werden sie nicht sofort damit in See stechen. Das sind Iren … Vermutlich wissen die noch nicht einmal, was sie mit so großen Schiffen anfangen sollen.«

Starri sah verärgert aus, schwieg aber. Auch Louis sagte nichts, aber er nickte, während Harald die Worte für Starri übersetzte. Ein paar Augenblicke lang blieben sie, wo sie waren, und beobachteten die fremden Männer auf ihrem Weg zum Ufer, bis sie schließlich hinter den Dünen verschwunden waren. Aus dieser Entfernung konnte man nur schwer einschätzen, wie viele es waren. Vielleicht so viele, wie Harald unter seinem Befehl hatte, unter Umständen aber auch weniger.

Aber die Pferde verrieten einiges. Pferde bedeuteten, dass da Edelleute oder gut ausgebildete Kämpfer dabei waren, vielleicht auch beides. In jedem Fall war dies keine Räuberbande oder ein ähnlich disziplinloser Haufen. Das hier waren Krieger und zumindest ein paar von ihnen mit Sicherheit auch gut gerüstet und bewaffnet. Solche Männer griff man nicht einfach kopflos an.

Schließlich verschwanden die letzten Iren hinter den Dünen, und Harald drehte sich zu seinen Männern um. »Gudrid«, sagte er, und Gudrid lief zu ihm. Harald kannte Gudrid zwar nicht allzu gut, aber sie hatten gemeinsam gegen Brunhards Männer gekämpft, und Harald vertraute ihm. »Geh mit Starri auf die Dünen. Schnell. Aber bleibt außer Sicht. Sollte einer der Männer am Strand euch bemerken, bringt ihn zum Schweigen, bevor er die anderen warnen kann. Dann wartet auf den Rest von uns.«

Gudrid nickte, und Starri tat es ihm nach. Harald kannte den Berserker gut genug, um zu wissen, dass er ihm in diesem Fall vertrauen konnte. Solange der Blutrausch nicht von ihm Besitz ergriff, würde er jeden Befehl befolgen, und niemand konnte einen Mann so schnell und still erledigen wie Starri der Unsterbliche.

Starri und Gudrid rannten geduckt die Dünen hinauf. Kurz darauf waren sie außer Sicht, denn die anderen konnten ihnen nicht so schnell folgen.

Harald führte seine Männer mehr als eine halbe Meile vorwärts und fragte sich, was Starri und Gudrid wohl gefunden hatten. Fast glaubte er schon, dass etwas schiefgelaufen war, als Gudrid plötzlich aus seinem Versteck auftauchte und den anderen winkte, sich zu verteilen und in dem hohen Gras Schutz zu suchen, das auf den Dünen wuchs und den Strand vom Grasland trennte.

Harald kniete sich neben Gudrid, spähte durchs Gras und sog zischend die Luft ein. Da waren sie, nur einige hundert Fuß entfernt. Sie lagen auf dem Strand, als seien sie erst an diesem Morgen angelandet worden: Drache und Fuchs.

Die Drache und die Fuchs waren die kleinsten der vier Schiffe seines Vaters. Sie waren gekapert worden, und Harald hatte sie zurückerobert und mit ihnen Dutzende von irischen Sklaven, eine Last, die er nicht hatte tragen können. Also hatte er die Sklaven freigelassen und sie mit den beiden Schiffen ans Ufer fahren lassen unter der Bedingung, dass sie sie dort sicherten. Und offensichtlich hatten sie das auch getan.

Drache und Fuchs waren zwar sicher vor den Elementen, aber nicht vor den Iren, die sie nun umschwärmten. Harald schaute schweigend zu, wie die Männer über die Reling spähten, an Bord kletterten und die Masten hinaufschauten, als wären sie große Wunder. Die Reiter blieben auf ihren Pferden und schienen sich zu besprechen, während der Rest schlicht seine Neugier befriedigte, mehr nicht – jedenfalls soweit Harald das beurteilen konnte.

»Was machen die da, Starkarm?«, zischte Starri.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Harald. »Aber es ist ziemlich offensichtlich, dass sie nicht glauben, dass ihnen hier Gefahr droht.«

Starri nickte. Die Iren hatten keine Wachen aufgestellt, und die Männer hatten auch keine Verteidigungsposition eingenommen. Ihre Speere steckten im Sand, und die Schilde lagen daneben.

Harald wusste jedoch, dass der kommende Kampf alles andere als leicht sein würde, auch wenn die Versuchung groß war.

»Gudrid«, wandte Harald sich an den Mann neben ihm. »Geh, und sag den Männern, dass wir auf meinen Befehl angreifen. Und sag ihnen auch, dass sie wie die Irren schreien sollen, wenn es so weit ist.«

Gudrid nickte und lief geduckt los, um die Befehle zu verbreiten. Harald wandte sich an Louis. »Gudrid sagt den Nordmännern, dass wir auf meinen Befehl angreifen werden, und sie sollen dabei schreien. Kannst du den Iren das Gleiche sagen?«

Louis nickte und machte sich ebenfalls auf den Weg. Einen Augenblick später kam Gudrid wieder zurück.

»Also gut … Macht euch bereit …«, sagte Harald. Er schaute zu Starri. Der Berserker hatte seine Äxte gezogen und rollte mit den Armen, wie er es immer tat, kurz bevor er in den Kampf zog.

Harald schaute wieder zum Strand. Bis jetzt hatte sich dort nichts getan, doch das hieß nicht, dass die Iren die Schiffe nicht jeden Moment ins Wasser schoben, wo die Nordmänner sie nicht mehr erreichen könnten.

Harald stand auf und zog Eichenspalter. Er fühlte ja vielleicht nicht Starris Wahnsinn, aber er empfand etwas Ähnliches, nun da das Warten vorüber war. Während er durchs Gras gespäht hatte, hatte Harald sich eine Axt vorgestellt, die auf seinen Hals herabraste, ein Bild, das er immer sah, kurz bevor der Kampf begann. Doch jetzt, nachdem er schlicht die Waffe gezogen hatte, war diese Angst vergessen.

»Auf sie! Auf sie!«, brüllte er, hielt sein Schwert hoch, und die vierzig Nordmänner und fünfunddreißig Iren sprangen wie ein Mann auf und stürmten schreiend über die Düne.

Sie hatten den Angriff weder vorbereitet noch Formation eingenommen, doch das war nicht weiter schlimm, denn der Feind war noch weit weniger vorbereitet. Tatsächlich wurden die Iren vollkommen überrascht, wie ihrer Reaktion deutlich anzusehen war. Selbst im Rennen konnte Harald erkennen, dass die Iren wie erstarrt dastanden, während ihre Köpfe fast komisch hin und her zuckten. Er sah, wie sie Münder öffneten, und auch ein paar Finger, die in Richtung der heranstürmenden Nordmänner deuteten. Und Harald sah auch, dass die Reiter ihre Tiere überrascht herumrissen.

Soweit er sehen konnte, hatte Harald sich nur in einem Punkt verrechnet, und das war der Sand. Ihm war noch nicht einmal der Gedanke gekommen, dass der weiche Sand das Rennen erschweren könnte. Tatsächlich atmete er schon schwer, und es dauerte deutlich länger, den Feind zu erreichen, als er sich vorgestellt hatte.

Selbst Starri wurde von dem Sand verlangsamt, wenn auch weit weniger als die anderen. Er lief wie ein Hirsch, nahezu mühelos. Die Äxte hielt er dabei hoch über den Kopf, und ein langgezogener Schrei drang aus seiner Kehle. Harald sah, wie die Iren zurückwichen. Aber nicht alle. Einer der Reiter stürmte vor, riss im vollen Galopp einen Speer aus dem Sand und hielt direkt auf Starri zu.

Starri und der Reiter kamen einander rasch näher. Der Reiter senkte den Speer, um ihn Starri in die Brust zu rammen, doch Starri schien gar nicht darauf zu achten. Er lief einfach weiter. Harald öffnete den Mund, um eine Warnung zu rufen, auch wenn das sinnlos gewesen wäre, denn just in diesem Moment trafen Starri und der Reiter aufeinander.

Es sah so aus, als würde die Speerspitze Starri sauber durchstoßen, doch das tat sie nicht. Stattdessen blieb Starri unvermittelt stehen, wand sich zur Seite und duckte sich, sodass der Speer ihn um wenige Zoll verfehlte. Dann sprang er lachend wieder auf, schwang sich hinter dem Reiter auf das Pferd und schlang dem Mann den Arm um den Hals. Gemeinsam fielen die beiden vom Pferd und in den Sand, doch Harald hatte keine Zeit, sich weiter um sie zu kümmern, denn nun war auch er im Kampf.

Die Iren hatten sich bemerkenswert schnell erholt, zumal die Nordmänner durch den Sand eben nicht so schnell vorangekommen waren wie beabsichtigt. Harald stellten sich drei Männer entgegen. Alle drei hatten sich ihre Speere geschnappt und richteten sie nun auf ihn. Doch Harald sah ihre Unsicherheit, erkannte die Angst in ihren Augen und das Zögern in ihrer Haltung.

Das sind keine Krieger, dachte er. Die sind nicht ausgebildet. So war das oft bei den Iren. Das hatte er inzwischen gelernt. Eine Handvoll guter, ausgebildeter Krieger bildete den Kern ihrer Heere, doch der Rest konnte gerade so einen Speer halten.

Die Nordmänner, die nicht mit einem Kampf gerechnet hatten und nicht zu viel Gepäck hatten mitnehmen wollen, waren ohne Schilde unterwegs. Die Iren besaßen zwar welche, doch die meisten hatten keine Zeit, sie sich zu schnappen. Sie hielten ihre Speere in Hüfthöhe und standen breitbeinig da, als wollten sie Wildschweine jagen. Doch Harald Starkarm war wesentlich gefährlicher als selbst der größte Keiler.

Er hob Eichenspalter hoch über den Kopf und sah aus, als würde er mit Freuden in die Speere der Iren rennen. Doch als er noch drei Fuß von ihnen entfernt war, schwang er die Klinge in weitem Bogen und schlug die Spitzen so beiseite, dass die Speere und ihre Träger gegeneinandergeworfen wurden. Dabei hielt er nicht einen Augenblick in seinem Ansturm inne. Sein Angriff verlor nichts an Wucht.

Harald Starkarm, der nahezu sechzehn Stein wog und fast ausschließlich aus Muskeln bestand, stürmte an den Speerspitzen vorbei und rammte dem nächstbesten Speerträger die Schulter in den Leib. Der Mann flog nach hinten, und Harald schlitzte gleichzeitig einem zweiten das Bein auf. Schreiend sackte der Mann zu Boden. Den dritten Speerträger hatte Harald einfach stehen gelassen, doch er wusste, dass er keinen Bewaffneten in seinem Rücken behalten durfte. So wirbelte er herum und hob Eichenspalter, um den Speerstoß zu parieren, von dem er wusste, dass er kommen würde.

Und Harald hatte richtig vermutet. Der Ire hatte sich umgedreht, nachdem Harald an ihm vorbeigestürmt war, und stieß in einer fließenden Bewegung zu. Eichenspalter traf den Speerschaft unmittelbar hinter der Spitze, die ohne Zweifel Haralds Brust durchbohrt hätte; doch anstatt den Speer beiseitezuschlagen, schnitt die fränkische Klinge den Schaft entzwei, und die Spitze flog durch die Luft. Der Ire starrte noch immer sprachlos auf den zerschlagenen Speer, als Harald ihm Eichenspalter in die Eingeweide rammte.

Harald riss die Klinge wieder heraus und schaute sich um. Die Reiter drehten sich und schlugen mit den Schwertern. Ihre Kettenhemden funkelten im Sonnenlicht. Das waren echte Krieger – das sah Harald –, denn nur echte Krieger trugen Kettenpanzer.

Der Rest, die irischen Speerträger, hatten ihre Speere inzwischen fast alle verloren und waren weit zurückgedrängt worden. Sie besaßen nur noch wenige Waffen, mit denen sie sich verteidigen konnten. Ein Mann kletterte sogar den Mast der Drache hinauf, als könnte er sich auf diese Weise retten. Der Rest hatte die Schiffe jedoch aufgegeben und formierte sich, so gut es ging, um die wenigen Männer, die noch über Waffen verfügten. Doch jetzt waren die Nordmänner über ihnen, eine schwert- und axtschwingende, heulende Horde, furchterregend und überwältigend.

»Auf sie!«, brüllte Harald erneut und stürmte vor, um diejenigen seiner Männer einzuholen, die bereits an ihm vorbei waren. Schwerter hackten auf irische Schilde; Äxte schlugen Speere beiseite und trafen die ungepanzerten Männer, die sie hielten. Männer schrien und fielen, und Pferde wieherten, während sie panisch um sich traten und bissen.

Und dann, wie es bei solchen Gefechten häufig der Fall war, war es vorbei. Die Fußkämpfer brachen als Erste weg, was wenig überraschend war. Die Hinteren drehten sich einfach um und liefen los. Sie warfen ihre Waffen weg und rannten zu den Dünen. Immer mehr der im Chaos versunkenen Iren lösten sich aus dem Kampf, bis nur noch die Reiter und die panischen Speerträger in der ersten Reihe übrig waren, die nicht einfach so fliehen konnten.

Doch sie konnten sich zurückziehen, und das taten sie nun auch immer schneller und schneller, während sie gleichzeitig versuchten, die wilden Hiebe der Nordmänner abzuwehren, die ihnen nun zahlenmäßig deutlich überlegen waren. Harald hörte einen der Reiter Befehle brüllen, doch im Chaos des Gefechts verstand er die Worte nicht. Er nahm jedoch an, der Ire ermahnte seine Männer, nicht zu fliehen. Reine Luftverschwendung.

Die Iren wichen einen weiteren Schritt zurück, um ein wenig Abstand zwischen sich und diese Mordbestien zu bekommen, die förmlich dem Sand entsprungen waren. Dann wirbelten sie herum und rannten los. Einige der Nordmänner liefen ihnen hinterher, doch Harald rief ihnen zu, stehen zu bleiben, und das taten sie dann auch. Ihr Ziel war es schließlich nicht, den Feind zu vernichten, sondern die Schiffe wieder in Besitz zu nehmen, und dafür mussten sie die Iren nur vertreiben.

Hinter sich hörte Harald das Geräusch von Hufen im Sand. In Erwartung eines Angriffs der berittenen Krieger wirbelte er herum, doch die Reiter hatten anderes im Sinn. Auch sie hielten auf die Dünen zu, denn ob sie wollten oder nicht, der Kampf war vorbei.

Und hinter ihnen, im aufgewirbelten Sand, stand Starri der Unsterbliche, blutverschmiert und mit vor Blut schimmernden Äxten. Drei Reiter lagen tot oder sterbend im Sand, und ihre gut ausgebildeten Pferde standen knapp dreißig Fuß entfernt. Harald erkannte, dass Starri die berittenen Krieger ganz allein davon abgehalten hatte, den angreifenden Nordmännern in die Flanke zu fallen, und damit hatte er vermutlich den Ausgang des Kampfes entscheidend beeinflusst.

Harald fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Starri so etwas eigentlich plante oder ob er schlicht Glück hatte. Der Berserker selbst sagte immer nur, dass die Götter ihn im Kampf leiteten, und eine bessere Erklärung gab es wohl nicht.

Harald straffte die Schultern und atmete tief durch. Schweiß lief ihm über Gesicht und Nacken und sickerte in sein Hemd. Er ging von den toten Iren weg, wischte seine Klinge an der Hose ab und steckte sie wieder in die Scheide. Dann schaute er sich um.

Seine Männer rangen genauso wie er nach Luft, säuberten ihre Waffen und sahen sich vorsichtig um in Erwartung eines Gegenangriffs; doch die Iren waren weg. Sie waren hinter den Dünen verschwunden, und ob sie nun weiter wegliefen oder sich neu formierten, vermochte Harald nicht zu sagen.

»Vali!«, rief Harald nach einem seiner Männer. »Steig die Dünen hinauf, und schau nach den Iren. Aber sei vorsichtig. Pass auf, dass du nicht plötzlich einen Speer im Leib hast.« Vali nickte und trottete über den Strand.

Conandil war nicht weit entfernt, und Harald ging zu ihr. Ihr Plan war gewesen, dass Conandil und die anderen Iren ihn bis hierher begleiten sollten. Dann würden die Nordmänner wieder in See stechen und die Iren über Land weiterziehen. Jetzt war Harald allerdings nicht mehr so sicher, dass das so auch funktionieren würde.

Conandil drehte sich zu Harald um, als er näher kam, doch bevor er etwas sagen konnte, rief Vali von der grasbewachsenen Düne: »Harald! Die Iren sind geflohen! Sie sind schon eine Viertelmeile entfernt und laufen immer noch!«

Harald nickte. Das war gut; es verschaffte ihnen Zeit, die Schiffe ins Wasser zu bringen.

»Conandil«, sagte er. »Diese Männer, gegen die wir gekämpft haben … Sie werden vermutlich wieder zurückkehren. Wenn sie euch schnappen, wird es euch schlecht ergehen. Deshalb halte ich es für besser, wenn wir alle auf die Schiffe gehen. Wir können euch ein paar Meilen nach Norden rudern und da wieder an Land setzen. Dort ist es dann nicht mehr ganz so wahrscheinlich, dass irgendwelche Krieger über euch herfallen.«

Conandil nickte, und Harald nahm an, dass sie sich das auch schon überlegt hatte.

»Dann sollten wir die Schiffe jetzt wohl so schnell wie möglich ins Wasser schieben«, sagte Harald. »Schließlich wissen wir nicht, wann die Iren wieder zurückkehren.«

Plötzlich ertönte ein lauter Fluch. Harald drehte sich um. Gudrid stand auf dem Vordeck der Drache und starrte in den Rumpf.

»Was ist, Gudrid?«, rief Harald ihm zu.

»Die Iren!«, antwortete der. »Diese verdammten Bastarde! Sie haben die Ruder mitgenommen!«