Kapitel 12

Ich sehe Feuer östlich der Burg
Es kündet von Krieg und warnt:
Ein Heer eilt dort herbei.

SNORRI-EDDA

Die Sonne war vollkommen hinter dichten Wolken verborgen, doch Thorgrim schätzte, dass sie noch nicht ganz Mittag hatten, als sie sich im strömenden Regen auf die lange Fahrt flussaufwärts machten. Die Ankunft der beiden Langschiffe hatte die Vorbereitungen stark vereinfacht. Am Morgen hatte Thorgrim sich noch den Kopf darüber zerbrochen, wie er mehr als neunzig Mann mitsamt Waffen und Proviant ans Nordufer des Flusses bringen sollte mit nur einem Curragh. Jetzt war das kein Problem mehr, und Thorgrim würde sich auch nicht das Knurren von Männern anhören müssen, die meilenweit durch den Regen laufen mussten.

Sämtliche Ausrüstung und Vorräte, die Thorgrims kleine Heerschar für das benötigte, was vor ihnen lag, wurden an Bord der beiden Langschiffe gebracht. Dann wurden die Schiffe ins Wasser geschoben, und die Männer kletterten an Bord und nahmen ihre Plätze an den Rudern ein. Thorgrim stand auf dem Achterdeck der Drache, nahm die Ruderpinne und drehte den Bug nach Nordwesten, dorthin, wo das Delta in den Fluss überging. Das Schiff war deutlich kleiner als die Meereshammer. Es kam Thorgrim irgendwie verkrüppelt vor, dabei wusste er, dass es gut gebaut und leicht zu rudern war.

Das Ufer kam immer näher, als die breite Bucht in den Fluss überging, der sich ins Meer ergoss. Thorgrim steuerte auf die Flussmündung zu. Die Fuchs folgte ihm im Kielwasser. Thorgrim war froh, nicht in dem Curragh flussaufwärts fahren zu müssen. Allerdings würden sie auf dem Wasserweg sicher auch ein paar Überraschungen erwarten.

Thorgrim ließ den Blick über das Land vor ihnen wandern, während das Langschiff immer weiter gen Westen fuhr. Das Land war flach und unscheinbar, und in diesem Licht war es nicht mehr als eine dunkelgraue Wand, die sich von Nord nach Süd erstreckte. Ein vom Winde verwehtes Wollknäuel, das sich an einem unsichtbaren Zweig verfangen hatte.

Starri der Unsterbliche stand neben ihm und lächelte trotz des Regens. »Das wird gut, Nachtwolf, richtig gut«, sagte der Berserker und spie Regenwasser aus, das ihm in den Mund gelaufen war. »Das habe ich im Gefühl.«

Thorgrim grunzte. Das war überhaupt nicht gut, das war lächerlich: Bécc und dieser Ire, der Harald gefangen hielt, hatten sich genau denselben Treffpunkt ausgesucht. Was würde wohl passieren, wenn sie alle gleichzeitig dort ankamen? Thorgrim hatte dem Anführer von Ferns sein Wort gegeben und Harald das seine dem anderen. Auf wessen Seite würden Thorgrim und seine Männer schlussendlich kämpfen? Das sah langsam aus wie der größte Scherz, den die Götter sich je ausgedacht hatten.

»Du machst dir Sorgen um Harald«, bemerkte Starri.

»Natürlich mache ich mir Sorgen. Er ist als Geisel bei einem Mann, gegen den ich in den Kampf ziehen soll.«

»Du weißt doch gar nicht, ob das wirklich der ist, gegen den die Christenmänner dich schicken wollen«, erwiderte Starri.

»Das ist doch auch egal, oder?«, entgegnete Thorgrim und zog leicht an der Pinne. »Ich habe versprochen, das Kloster von Ferns zu beschützen. Und das müssen wir auch tun, denn nur so bekommen wir unser Segeltuch. Wenn also irgendjemand den Ort angreift, dann werden wir kämpfen.«

»Mir ist gerade etwas klargeworden«, sagte Starri.

»Und was?«

»Eigentlich ist es doch ganz komisch. Wir – ausgerechnet wir – beschützen ein Kloster! Wir halten irgendjemanden davon ab, es zu plündern. Das ist wahrlich eine seltsame Wendung des Schicksals.«

»Und das ist dir erst jetzt klargeworden?«, fragte Thorgrim.

»Ja! Aber ich bin ja auch klug. Ich sehe solche Dinge, auch wenn andere sie noch nicht erkennen.«

Thorgrim schüttelte leicht den Kopf. Er musste unwillkürlich lächeln.

»Aber schau mal …«, fuhr Starri fort. »Du solltest dir nicht solche Sorgen um Harald machen.«

»Warum?«

»Weil Harald kein kleiner Junge mehr ist«, antwortete Starri. »Ich weiß das. Das weiß jeder hier. Nur du nicht. Er ist stark wie ein Bulle und richtig klug. Wie du weißt, habe ich seine Mutter ja nie kennengelernt, aber ich nehme an, die Klugheit hat er von ihr. Von dir hat er sie jedenfalls nicht und mit Sicherheit auch nicht von Ornolf. Die Stärke vielleicht, aber die Klugheit kommt woanders her. Außerdem meinen die Götter es gut mit ihm … und mit dir.«

»Wenn das ›gut meinen‹ ist, dann sollte ich die Götter wohl bitten, mal verärgert die Stirn zu runzeln, und sehen, was dann passiert.«

»Ah, Thorgrim!«, entgegnete Starri. »Du bist ja so ein Narr. Aber zu deinem Glück bin ich ja hier. Du weißt doch, wie gut ich sehen kann, weiter als jeder andere?«

Thorgrim nickte.

»Nun, dabei sehe ich nicht nur Dinge von dieser Welt. Ich sehe in vielerlei Hinsicht weit.«

Thorgrim löste den Blick vom Ufer und schaute Starri an. Der Berserker starrte über den Bug hinweg. Für gewöhnlich tat er Starris Geplapper als verrückt ab, obwohl er seine Gesellschaft sehr genoss. Doch jetzt fragte er sich, ob er dem Mann damit wirklich gerecht wurde.

Die Drache fuhr in den Fluss hinein. Die Slaney war hier gut fünfhundert Fuß breit, eine große, wässrige Wunde im nassen grünen Land. Sie fuhren ein paar Meilen weiter und ruderten gegen die Strömung, die dank der Flut nicht allzu stark war. Schließlich schob Thorgrim die Ruderpinne leicht von sich und den Bug der Drache weiter nach Norden, um eine Flussbiegung zu durchfahren.

Den Rest des Tages ruderten sie durch das von Regen bestimmte Zwielicht. Dank der dichten Wolkendecke wurde es schon früh dunkel. Schließlich, nachdem die Drache zweimal unsichtbare Sandbänke umschifft hatte, musste selbst Thorgrim zugeben, dass es zu dunkel war, um weiterzufahren, zumal inzwischen selbst die Ufer kaum noch zu erkennen waren.

Kurz darauf fanden sie eine Sandbank mitten im Schilf, ließen die Schiffe mit dem Bug dort auflaufen, warfen die Anker aus und vertäuten die Drachenboote am Ufer. Der stete Regen war einem feuchten, dichten Nebel gewichen, und es dauerte nicht lange, da löste sich auch der Nebel auf, und die Situation der Nordmänner war nicht mehr ganz so elend. Die Männer hoben die Deckplanken an, holten das Feuerholz heraus, das sie mitgenommen hatten, und bauten ein großes Feuer auf dem Sand. Sie aßen Rindfleisch und Haferkuchen und tranken Bier, und ihre Laune besserte sich zusehends.

Die meisten Männer hatten Felle als Decken, die sie vor dem Regen geschützt verstaut hielten. Jetzt holten sie sie heraus, und jeder suchte sich einen Platz auf dem Sand, wo es weitaus bequemer war als an Bord eines Schiffes. Thorgrim breitete sein vertrautes Bärenfell auf dem Boden aus und legte sich darauf. Failend legte sich neben ihn, und sie zogen das Fell über sich. Dann schmiegten sie sich eng aneinander, obwohl ihre Kleider noch immer nass waren. Doch sie trockneten rasch, und so schliefen sie bald ein.

Thorgrim wachte noch vor Sonnenaufgang wieder auf. Seine Kleidung war vollkommen trocken. Unter dem Bärenfell war es richtig gemütlich. Das heißt, dass es bald wieder regnen wird, dachte er säuerlich, und dann: Bei den Göttern, was für ein bequemer, sauertöpfischer Hurensohn du doch geworden bist.

Failend bewegte sich leicht in seinen Armen und gab ein leises Geräusch von sich, doch sie wachte nicht auf.

Thorgrim war natürlich klar, dass er diese Gemütlichkeit nicht mehr lange würde genießen können. Also kroch er aus dem Fell, stand mit einem Stöhnen auf und reckte sich. Dann schaute er sich um. Dunkle Buckel auf dem Sand verrieten ihm, wo die anderen sich für die Nacht gebettet hatten. Der Himmel hellte langsam auf, und schließlich konnte Thorgrim auch erkennen, dass die Wolken sich zwar nicht verzogen hatten, aber wenigstens regnete es nicht … noch nicht.

Thorgrim ging von Mann zu Mann, stieß sie mit dem Fuß an, und kurz darauf herrschte reges Treiben auf der Sandbank, als die Männer müde und knurrend aus ihren Lagern krochen. Die Nordmänner erleichterten sich im Fluss, bereiteten sich ein Frühstück aus kaltem Fleisch und Brot, und als die Sonne vollständig aufgegangen war, schoben sie die Langschiffe wieder ins Wasser. Es dauerte nicht lange, und sie ruderten im Takt davon.

Je weiter sie flussaufwärts kamen, desto schmaler wurde die Slaney. Gleichzeitig wurde die Strömung immer stärker, und sie kamen dementsprechend langsamer voran. Doch die Sicht war gut, und Thorgrim erkannte Landmarken, die er sich bei seiner letzten Fahrt gemerkt hatte: hier ein umgefallener Baum, da ein Ringfort in der Ferne und schließlich die Insel, die Failend fälschlicherweise für den Zusammenfluss der beiden Flüsse gehalten hatte.

»Es ist nicht mehr weit!«, rief Thorgrim von der Ruderpinne nach vorne, und die Männer nickten glücklich. Hätte Thorgrim seine Krieger marschieren lassen, hätte das viele böse Worte zur Folge gehabt, doch auch Rudern wurden die Männer irgendwann leid.

Dann fügte Thorgrim hinzu und versuchte dabei, nicht allzu besorgt zu klingen: »Schon bald werdet ihr in einem Schildwall stehen, und dann werdet ihr euch noch wünschen, ihr hättet es so leicht wie jetzt.«

Der Fluss, dessen Mündung fast eine halbe Meile breit war, war mittlerweile nur noch knapp hundert Fuß schmal. Die Bäume und Felder an den Ufern waren gerade mal einen Pfeilschuss entfernt. Das hatte etwas Beunruhigendes an sich. Es war, als würden die Ufer klammheimlich auf sie zuschleichen, als wäre das eine Falle. Und genau deshalb überraschte es auch niemanden, als Starri der Unsterbliche sich plötzlich vom Bug umdrehte und mit besorgtem Gesicht nach achtern lief.

»Nachtwolf! Nachtwolf!«, zischte er in hartem Ton, als er auf das Achterdeck sprang. »Hörst du das?« Er nickte in Richtung Bug.

Thorgrim runzelte die Stirn und lauschte. Wasser plätscherte am Rumpf, und die Ruder knarrten in ihren Halterungen. Er hörte auch Vögel am Ufer und Wind in den Wipfeln.

»Was denn?«, fragte er schließlich.

»Ein Kampf!«, antwortete Starri. »Hörst du das nicht? Bist du taub?«

Das war eine gute Frage. Tatsächlich hatte Thorgrim sich diese Frage mit zunehmendem Alter auch schon öfter gestellt. Doch jetzt schaute er nach vorne und sah, dass die Männer an den Rudern mit ihrer Arbeit aufgehört hatten und ebenfalls lauschten, doch offensichtlich hörten sie genauso wenig wie er.

»Da!«, sagte Starri in einem Tonfall, als müssten das alle hören. »Hast du das nicht gehört?«

Thorgrim wollte gerade etwas darauf erwidern, als Ulf, der am zweiten Ruder an Steuerbord saß, rief: »Ich hab’s gehört! Das klingt wie Stahl auf Stahl.«

Starri nickte. Die anderen drehten die Köpfe in der Hoffnung, auch etwas zu hören. Dann rief ein anderer: »Ja! Da ist was!« Nicken.

Thorgrim sorgte sich immer mehr um sein Gehör, als schließlich auch er das Klirren von Stahl auf Stahl hörte, genau wie Ulf gesagt hatte. Und dann war da ein Geräusch wie rauschendes Wasser oder Wind in den Bäumen, doch Thorgrim erkannte es aus langer Erfahrung als das ferne Brüllen und Schreien von Männern. Kampflärm. Er kam von Norden, genauer gesagt genau von der Mündung der Bann in die Slaney.

Offenbar sind meine Freunde aufeinandergetroffen, sinnierte Thorgrim. Er schob die Ruderpinne von sich und drehte die Drache in Richtung Ostufer. Dann schaute er über die Schulter und sah, dass Godi mit der Fuchs seinem Beispiel folgte.

»Wir werden die Schiffe aufs Ufer setzen, sie festmachen, und dann: Zu den Waffen!«, rief Thorgrim mit lauter Stimme. Flüstern war offensichtlich nicht mehr nötig. Die Männer zogen leidenschaftlich an den Riemen, und Thorgrim rief: »Ruder, holt ein!« Sechzehn Riemen wurden an Bord gezogen und auf die Galgen gelegt, wo sie für gewöhnlich verstaut wurden.

Thorgrim zog am Ruder und brachte die Drache nahezu parallel zum Ufer. Wäre Harald hier gewesen, er hätte mit einem Tau in der Hand schon auf der Reling gestanden, bereit zu springen. Doch jetzt war es Starri, der aufs Ufer flog, sich im Gras abrollte und wieder aufsprang.

Aber natürlich hatte Starri die Taue vergessen, doch die anderen hatten sie sich geschnappt und warfen nun Rollen ans Ufer, während weitere Männer Starri folgten. Es herrschte reges Treiben, als die Taue gespannt und an den Bäumen festgebunden wurden. Gleichzeitig wurden Waffen weitergereicht, Schilde aus ihren Halterungen genommen, und kurz darauf standen mehr als neunzig Bewaffnete im feuchten Gras, bereit, gegen den Feind vorzurücken … wer auch immer das sein mochte.

»Wir werden uns an die Bäume halten«, rief Thorgrim, »und uns so leise wie möglich bewegen. Wir wissen nicht, was da vor sich geht.« Er warf sich den Schild auf den Rücken und schaute zu Starri. Der Mann hatte sich bis zur Hüfte ausgezogen, wie so oft vor einem Kampf; aber seine Äxte steckten noch im Gürtel, und er wirbelte auch nicht so seltsam herum, wie er es stets tat, wenn der Wahnsinn von ihm Besitz ergriff. Deshalb wusste Thorgrim auch, dass Starris Geist noch immer in Midgard war, der Welt der Menschen.

»Starri!«, rief er, und Starri lief zu ihm. Der Berserker bewegte sich mehr wie ein Hirsch denn wie ein Mann. »Geh voraus, so schnell und leise, wie du kannst, und schau nach, ob wir in eine Falle laufen.«

Starri nickte und war verschwunden. Thorgrim drehte sich zu den anderen um, winkte sie vorwärts und marschierte schnellen Schrittes in Richtung Norden. Dabei hielt er sich dicht am Ufer und blieb, wann immer es ging, im Schatten der Bäume.

Der Kampflärm wurde lauter, je weiter sie vorrückten. Ja, das war ein Kampf, wenn auch keine große Schlacht. Da waren keine Heere aufeinandergeprallt. Das war etwas anderes. Thorgrim hörte Schwert auf Schwert und Schwert auf Schild prallen, das Brüllen von Männern und das Schreien der Pferde.

Pferde?, dachte er. Pferde bedeuteten Männer von Rang. Ob es der Christenpriester aus Ferns war, bei dem es sich ganz eindeutig nicht um einen Priester handelte? Oder zumindest früher nicht, der Mann war ein Krieger. Für jemanden wie Thorgrim war das unverkennbar.

Thorgrim drehte sich zu Failend um. Sie marschierte neben ihm, in der Hand den Bogen und den Köcher auf dem Rücken. In ihrem Gürtel steckte das Sax. »Wie hieß noch mal der Christenpriester, den wir in Ferns getroffen haben?«

»In Ferns gibt es nur ›Christenpriester‹«, antwortete Failend.

»Ich meine den Krieger, den mit dem halben Gesicht.«

»Bruder Bécc.«

»Bruder Bécc«, sagte Thorgrim und versuchte, den merkwürdigen irischen Namen so gut es ging auszusprechen. »Ich wette, den werden wir gleich sehen.«

Sie durchquerten einen kleinen Hain. Wasser tropfte von den Blättern und drang in ihre Kleider. Dahinter erwartete die Nordmänner ein offenes Feld, das bis zur Kuppe eines Hügels reichte, und dort stand Starri der Unsterbliche vor dem grauen Himmel und winkte ihnen, zu ihm zu eilen.

Thorgrim lief los. Sein Kettenhemd, der Schild und Eisenzahn schlugen gegen ihn, als er den Hügel hinaufstapfte, hinter sich der Lärm von neunzig Kriegern. Schließlich erreichte er Starri und blieb stehen. Er schaute über das Feld jenseits des Hügels, während der Rest links und rechts von ihm eine Linie bildete.

Es war eine Schlacht, allerdings nur eine kleine, genau wie Thorgrim vermutet hatte. Ein paar Dutzend Männer zu Fuß und noch einmal halb so viele zu Pferd wirbelten über den Kampfplatz. Ihre Schwerter glänzten matt. Klingen schlugen auf hölzerne Schilde, und Fußkämpfer stießen mit Speeren zu und blockten mit ihren Schilden. Ein paar von ihnen lagen regungslos im Gras.

»Iren«, stellte Godi fest, der neben Thorgrim stand. »Iren kämpfen gegen Iren. Ich frage mich, wer das ist.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Thorgrim, »aber ich habe da so eine Ahnung.«

»Und?«, fragte Starri. »Warum stehen wir hier nur rum?« Seine Arme begannen zu zucken. »Auf in den Kampf, Nachtwolf!«

Thorgrim schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich weiß, wer das ist«, sagte er, »aber ich weiß nicht, auf wessen Seite wir kämpfen sollen.«