Kapitel 19

In listiger Verkleidung setz’ ich meinen Willen durch.
Dem Weisen mangelt es nur an wenig …

HÁVAMÁL

Airtre war nicht der Einzige, der nicht wusste, wo Harald war. Der junge Nordmann selbst wusste das auch nicht.

Klar war nur, dass er sich nicht mehr in Airtres Lager befand, sondern mehrere Meilen davon entfernt. Harald war geflohen und hatte sich in der bewölkten Nacht verirrt.

Er war so lange und schnell gerannt, wie er konnte, doch jetzt ging er nur noch und lauschte. Er hörte lediglich, was in diesem Land zu erwarten war: Insekten, den Wind in den Bäumen und gelegentlich den Ruf eines Tiers. Nichts deutete darauf hin, dass er verfolgt wurde, und er hatte guten Grund anzunehmen, dass dem auch nicht so war.

Nicht mehr jedenfalls. Harald war verfolgt worden, sogar schon, als er noch gar nicht aus Airtres Lager heraus war. Doch die Verfolger hatten nur leeres Land gefunden.

Während er weiter vorwärtsstapfte, dachte Harald an die bizarren Ereignisse dieses überraschenden Tages und des Tags davor zurück. An die Behandlung durch Airtre. Es war seltsam gewesen und nur schwer zu verstehen.

Harald hatte eine gute Vorstellung davon, wie man Geiseln behandeln sollte. Ein Geiselaustausch war normal, wenn man einen Konflikt durch Verhandlungen beilegen wollte. Er hatte schon gesehen, wie sein Großvater, Jarl Ornolf, Geiseln ausgetauscht hatte, und auch sein Vater hatte bereits zu diesem Mittel gegriffen, wenn auch nur selten. Und in jedem einzelnen Fall hatte man sie nicht mit Holztellern verprügelt.

Vielleicht haben die Iren ja eine andere Vorstellung davon, was Geiseln sind, sinnierte Harald. Er hatte das schon gedacht, als man ihm bewaffnete Wachen vor das Zelt gestellt hatte, die ihn sogar begleitet hatten, wenn er sich hatte erleichtern müssen. Und dann hatte sich die Art, wie man ihn behandelt hatte, stark verbessert. Airtre hatte ihn in sein Zelt eingeladen und ihm etwas Ordentliches zu essen gegeben. Doch anschließend war es wieder den Bach runtergegangen.

Das war alles so verwirrend, doch die Schläge waren eine echte Überraschung gewesen. Harald hatte in seinem Zelt geschlafen – etwas Besseres hatte er ja nicht zu tun –, als ihn die Wachen plötzlich geholt hatten.

»Du da«, rief der Mann und stieß Harald mit dem Fuß an. »Komm mit.«

Harald setzte sich verschlafen auf. Er wusste nicht, was los war. Er warf seine Decke beiseite, stand auf und folgte der Wache aus dem Zelt ins trübe Licht des Nachmittags.

»Komm.« Der Mann, der ihn geweckt hatte, deutete mit dem Kopf in Richtung von Airtres Zelt und ging los. Harald folgte ihm, und zu seiner großen Verärgerung folgten ihm auch die Wachen, die man vor seinem Zelt postiert hatte. In Haralds Augen bedeutete dies, dass Airtre Angst hatte, er könne fliehen, doch allein die Vorstellung war eine Beleidigung von Haralds Ehre. Dass die Bewaffneten ihn auch jetzt eskortierten, tat sein Übriges dazu.

Das Verhör durch Airtre gefiel ihm sogar noch weniger. Harald versuchte, den Verdächtigungen des Rí Tuath und dessen wachsender Wut einen Sinn zu entnehmen. Airtre und die anderen waren losgezogen, um sich wie vereinbart mit Thorgrim zu treffen, doch irgendetwas war passiert. Irgendwas war schiefgelaufen. Aber was? Harald hatte nicht die geringste Ahnung.

Airtre schien jedenfalls zu glauben, dass seine Geisel irgendetwas damit zu tun hatte, dass das alles geplant gewesen war. Doch er hatte Harald weder zu Wort kommen lassen noch ihm genügend Informationen gegeben, sodass er selbst hätte herausfinden können, was geschehen war.

In gewisser Hinsicht war der erste Schlag eine Erleichterung. Bis zu diesem Moment war Haralds Geist voller Unsicherheit und Vermutungen gewesen, denn er wusste schlicht nicht mehr, welche Rolle er hier spielte. Doch als Airtre zu ihm getreten war und ihn geschlagen hatte, da waren alle Zweifel wie weggeflogen. In diesem Augenblick wusste Harald ganz genau, wer sein Feind war und was er tun musste.

Die Schläge prasselten noch ein wenig länger auf ihn ein, doch Airtre und seine Männer meinten es offenbar nicht wirklich ernst. Harald trug keine permanenten Schäden davon, und sie taten ihm auch nicht richtig weh. Seine Arme und Beine waren jedoch gefesselt und das viel zu straff, als dass er sich hätte herauswinden können. Während er also Schläge gegen seinen Kopf und das Gesicht erduldete, dachte er darüber nach, was er tun würde, sollten sie es irgendwann doch ernst meinen. Was würde er tun, wenn er nicht mehr nützlich für sie war, wenn sein Leben keinen Wert mehr für sie hatte?

Und Airtre kam offenbar tatsächlich zu diesem Schluss, denn plötzlich hatte er den Dolch in der Hand und hielt ihn dicht vor Haralds Auge. Harald schaute den Iren unverwandt an und arbeitete an seinen Fesseln, doch sie wollten noch immer nicht nachgeben, und er wusste, dass ihn der Tod womöglich jetzt ereilen würde. Ob die Walküren ihm vergaben, wenn er gefesselt und im Sitzen starb? Sie waren schließlich nicht für ihre Güte bekannt.

Doch der Tod war nicht gekommen. Airtres rechte Hand hielt ihn auf. Wenigstens Tipraite schien zu verstehen, dass Harald eine Geisel war und kein Gefangener. Der Mann wusste, dass er nicht getötet werden sollte, denn das wäre ehrlos gewesen, auch und gerade, wenn er nicht mehr von Nutzen war.

Stattdessen hoben die Wachen Harald hoch und trugen ihn gefesselt aus dem Zelt wie ein Lamm zur Schlachtbank. Am Zelt angekommen warfen sie ihn noch immer gebunden auf seine Bettstatt, und dort lag er dann im Dunkeln und ging in Gedanken noch einmal durch, was er wusste.

Zwei Dinge zumindest waren klar.

Louis der Franke hatte recht gehabt. Wer auch immer das Mondkalb war, gegen das Airtre ihn ausgetauscht hatte, es war nicht sein Sohn. Oder falls doch, dann war er der Sohn, an dem Airtre am wenigsten hing. Wenn ein Mann bereit war, Gewalt gegen eine Geisel in seinem Gewahrsam auszuüben, dann musste er schließlich damit rechnen, dass es der Geisel, die er gegeben hatte, genauso erging.

Das Zweite war, dass sein Leben für die Iren nicht länger von Wert war. Airtre schien zu glauben, dass Thorgrim ihn irgendwie verraten hatte. Sicher schien er sich zwar nicht zu sein, aber seine Handlungen gingen offensichtlich davon aus. Und falls dem wirklich so sein sollte, dann war Harald in der Tat nicht mehr von Nutzen. Und ihn zu töten wäre noch nicht einmal mehr unehrenhaft.

Erneut empfand Harald trotz der Schmerzen und dem drohenden Tod ein Gefühl von Erleichterung. Jetzt hatte er wenigstens eine Wahl. Harald hasste nichts mehr als Unsicherheit und Verwirrung, und gerade eben hatte er weit mehr davon durchlebt, als ihm recht war. Aber allmählich verstand er auch, dass die Welt nicht immer so klar und eindeutig war, wie er gerne hätte.

Also versuchte Harald, stets sicherzustellen, dass er zumindest eine Wahl hatte. Im Augenblick blieb er jedoch erst einmal liegen und wartete darauf, dass der Schmerz abklang und er wieder zu Kräften kam. Sollte sich doch erst die Nacht über das Lager legen und die Wachen in ihrer Wachsamkeit nachlassen.

Harald döste ein wenig, und als er aufwachte, hatte er keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war. In jedem Fall war es inzwischen dunkel geworden, sehr dunkel sogar, und die Wachen vor seinem Zelt waren vermutlich eingeschlafen. Eine Weile lag er noch still da und lauschte. Nichts. Zeit, sich in Bewegung zu setzen.

Mit einiger Mühe und zusammengepressten Lippen, um nicht versehentlich vor Schmerz zu schreien, rollte er sich auf die Seite und grub mit den Händen unter seiner Bettstatt. Er hatte sein Schwert getragen, Eichenspalter, denn das trug er immer. Doch das hatte man ihm abgenommen. Allerdings hatte er sein Messer früher am Tag unter der Bettstatt versteckt, denn er war durchaus lernfähig.

Haralds Finger waren von den engen Fesseln taub; trotzdem fand er rasch die Klinge und zog sie heraus. Unbeholfen drehte er sie um, drückte die Schneide auf die Fessel und sägte, so gut er konnte. Das Messer war so scharf wie eine Rasierklinge – und als solche benutzte er es auch –, und so dauerte es nicht lange, und die Fesseln waren durch.

Bevor er auch seine Beine befreite, rieb er erst einmal das Blut in die steifen Arme und Hände. Deutlich spürte er, wo die Fesseln in sein Fleisch geschnitten hatten. Dann griff er erneut nach dem Messer, setzte sich auf, befreite seine Beine und rieb auch sie erstmal.

Anschließend saß er wieder still da, lauschte und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Er musste fliehen, so viel war klar. Aber Eichenspalter war noch in Airtres Zelt, und sein Schwert würde Harald ebenso wenig zurücklassen wie seinen Vater oder eines seiner Geschwister.

Eichenspalter war ein Schwert von Ulfberht, eine der besten Waffen aus dem Frankenland und das Einzige, was Harald von seinem Großvater geblieben war. Also musste er erst einmal das Schwert holen. Airtre zu töten war seine zweite und weniger wichtige Aufgabe, und wenn ihm das nicht gelang, dann war das eben so. Harald zweifelte nicht daran, dass er noch genügend Gelegenheiten bekommen würde, den Iren zu erschlagen.

Auch wenn er sie nicht sehen konnte, er war sicher, dass da zwei Wachen vor seiner Zeltklappe standen. Seine Wahl war simpel: Entweder ging er ihnen aus dem Weg, oder er musste sie töten. Er dachte nach. Harald nahm an, dass er die beiden problemlos ausschalten könnte, und zwar auch lautlos, was viel wichtiger war. Doch sollte zufällig jemand in Richtung seines Zeltes blicken, dann könnte er Alarm schlagen, und je länger Harald unbemerkt blieb, desto besser.

Also musste er den Männern aus dem Weg gehen. Vorsichtig schlich Harald zur Hinterwand. Sie war rechteckig und recht groß, wenn auch nicht so groß wie Airtres. Zehn Fuß maß sie aber schon. Nach jedem Schritt hielt Harald kurz inne und lauschte erneut. Noch immer nichts. Die Wachen reagierten nicht.

Noch zwei Schritte, dann war er an der Wand. Harald griff unter die Zeltkante und tastete sie ab. Seine Finger fanden einen Holzpflock, und an dem rüttelte er so lange, bis er sich aus der Erde löste. Dann tastete er sich weiter vor, bis er den nächsten Pflock fand, und rüttelte auch den heraus.

Schließlich hob Harald vorsichtig die Zeltkante an und sah, dass er genügend Platz hatte, um hinauszukriechen. Erneut hielt er kurz inne und lauschte. Dann schob er sich mit dem Kopf voran in die kühle Nachtluft.

Harald schaute sich um. Im Freien war es deutlich heller als im Zelt. Harald sah die Glut in den Feuergruben und das schwache Licht des Mondes hinter den dichten Wolken. Das reichte.

Die Zelte der Krieger lagen anscheinend willkürlich um ihn herum verstreut und erstreckten sich gut hundert Fuß in jede Richtung. Und dahinter kam das freie Land in der Dunkelheit, wo er sich leicht verirren konnte. Tatsächlich hätte er sich jetzt einfach hinausschleichen und mehrere Meilen zwischen sich und Airtres Männer bringen können, bevor sie überhaupt merkten, dass er sich davongemacht hatte.

Aber nicht ohne Eichenspalter.

Harald schlich nach rechts und schaute dabei zu dem Zelt zurück, in dem er noch bis gerade eben gelegen hatte. Als er weiterging, sah er die erste Wache vor der Zeltklappe. Der Mann lehnte auf seinem Speer und sah so aus, als sei er im Stehen eingeschlafen. In jedem Fall war er nicht sonderlich wachsam.

Harald schlich weiter. Dabei behielt er die Wache stets im Auge, doch der Kerl schien nicht die geringste Ahnung zu haben, dass er inzwischen ein leeres Zelt bewachte.

Schließlich kam auch die zweite Wache in Sicht, und die sah genauso unachtsam aus wie die erste. Harald schaute nach rechts. Er näherte sich einem weiteren Zelt, und mit ein paar vorsichtigen langen Schritten brachte er es zwischen sich und die beiden Männer, die ihn eigentlich hätten bewachen sollen.

Erneut hielt er inne, lauschte und schaute sich um, und soweit er sehen konnte, hatte ihn noch niemand bemerkt. Nicht weit entfernt, vielleicht hundert Fuß, sah er Airtres Zelt. Es glühte sanft, was hieß, dass dort drin noch immer eine Lampe brannte, und das wiederum ließ Harald grübeln, ob der Mann wohl noch wach war. Falls ja, dann machte das seine Aufgabe deutlich schwerer.

Harald schlich um das Zelt herum, das ihn vor den Blicken der Wachen schützte, und ging in weitem Bogen durchs Lager und zu Airtres Pavillon. Dabei blieb er bei jedem Zelt kurz stehen, lauschte und beobachtete. Er hörte Schnarchen und das Summen von Insekten sowie das leise Schnauben der Pferde, die hinter dem Lager angebunden waren, mehr nicht.

Schließlich erreichte Harald das letzte Zelt vor der freien Fläche, auf der Airtres Pavillon stand. Wie beabsichtigt war er hinter Airtres Zelt, und das große Gebilde schützte ihn vor den Blicken der Wachen an der Zeltklappe. Wieder hatte er die Wahl: Schleichen oder Gewalt?

Harald hätte sich den Wachen problemlos von hinten nähern und sie beide töten können. Vielleicht konnte er sie sogar leise genug erledigen, ohne dass jemand etwas bemerkte, und sich ins Zelt ducken und Eichenspalter holen. Und dann? Sollte er auch Airtre noch töten? Vielleicht. Das hing von den Umständen ab. Wenn der Ire aufwachen und versuchen sollte, ihn aufzuhalten, dann mit Sicherheit, aber er würde ihn nicht im Schlaf erschlagen. Darin lag keine Ehre.

Aber es war ohnehin eher unwahrscheinlich, dass er das alles schaffte, ohne Alarm auszulösen. Es war so gut wie unmöglich, bei so einer Aktion keinen Lärm zu verursachen. Und dann wäre das ganze Lager wach, und Männer würden in Richtung des Lärms rennen. Er konnte sich zwar in Airtres Pavillon hineinkämpfen, aber nicht wieder heraus. Harald war mindestens hundert zu eins in der Unterzahl. Selbst ihn schüchterten solche Zahlen ein.

Dann also Schleichen, dachte er, und das hieß, dass er nicht durch die Zeltklappe konnte, sondern einen anderen Weg hineinfinden musste.

Harald schaute sich ein letztes Mal um; dann huschte er über die letzten zwanzig Fuß zur Hinterwand von Airtres Pavillon. Erneut duckte er sich, lauschte und hörte nichts. Er zog sein Messer und stach es langsam ins Tuch, ungefähr in Brusthöhe. Wieder hielt er kurz inne. Kein Laut. Langsam zog er die Klinge nach unten, und das Tuch teilte sich.

Kaum hatte er es gut einen Fuß aufgeschnitten, da zog er den Stoff auseinander und spähte hinein. Harald erkannte den Stuhl, auf den man ihn gefesselt hatte, und sah den Tisch mit dem Teller und am anderen Ende das Feldbett und darauf Airtres Füße.

Ich werde ihm mit diesem Teller das Gesicht zerschlagen, beschloss Harald. Auch wenn ich ihn nicht töte, eine Tracht Prügel hat er verdient.

Harald schnitt das Zelt weiter auf, als würde er einen Fisch ausnehmen. Dann schob er sein Bein durch das Loch, duckte sich und zwängte sich langsam und leise hinein. Wieder hielt er inne. Außer Airtres leisem Atmen war nichts zu hören. Vorsichtig machte Harald einen Schritt nach vorne.

Eine einzelne Öllampe brannte auf dem Tisch. Airtre mag die Dunkelheit wohl nicht, sinnierte Harald. Er schaute auf den Mann hinunter, der friedlich auf seinem Feldbett lag. Er hatte das Hemd ausgezogen und trug ein Gewand nach irischer Mode. Ein Laken bedeckte ihn halb. Obwohl er schlief, waren seine Augenbrauen leicht zusammen- und die Lippen zwischen dem sorgfältig gestutzten hellbraunen Bart und dem Schnäuzer nach unten gezogen.

Vielleicht sollte ich dich ja doch von deinen irdischen Problemen befreien, dachte Harald. Er hatte das Messer noch immer in der Hand.

Nein, beschloss er. Ein andermal.

Harald schaute sich um, und zuerst konnte er Eichenspalter nicht sehen. Panik überkam ihn, dass Airtre das Schwert vielleicht einem seiner Hauptleute als Geschenk gegeben hatte. Doch dann fiel sein Blick auf das vertraute Heft, die Lederscheide und den wie eine Schlange zusammengerollten Gürtel. Es lehnte an der Truhe an der Hinterwand. Zwei Schritte, und er war da. Harald streckte die Hand aus.

»Bastard!«

Der Ruf unmittelbar hinter ihm traf Harald wie ein Schlag. Er wirbelte im selben Augenblick herum, da Airtre sich von seinem Feldbett kämpfte.

Airtre hatte ein Sax in der Hand – offenbar hatte er damit geschlafen –, und das schwang er nun wild und verzweifelt nach Haralds Kopf. Der dachte noch nicht einmal darüber nach, Eichenspalter zu ziehen. Er hielt die Waffe in der linken Hand und packte die Scheide in der Mitte. In der anderen hatte er noch immer das Messer.

Harald hatte zwar keine Zeit, das Schwert zu ziehen, es war aber trotzdem noch von Nutzen. Harald hob es fast vertikal, und Airtres Sax traf die Scheide, als hätte er gegen eine Mauer geschlagen. Harald warf Airtres Klinge beiseite. Dann stieß er mit dem Messer zu. Er zielte auf Airtres Herz, doch Airtre wand sich von ihm weg.

Die Spitze traf nur Airtres Ärmel und drang hindurch. Harald spürte, dass sie auch die Haut ritzte. Er spürte den Widerstand, und dann ging eine rote Blüte auf Airtres Leinen auf. Der Ire schrie erneut und taumelte zurück, außerhalb von Haralds Reichweite. Und so gerne Harald ihn auch abgestochen hätte, er wusste, dass seine Zeit abgelaufen war.

Und tatsächlich: Just in diesem Augenblick flog die Zeltklappe auf, und die erste Wache stürmte herein. Allerdings konnte der Mann in der Enge seinen Speer nicht richtig einsetzen. Glücklich, endlich wieder von Harald wegzukommen, war Airtre bis fast zum Ausgang des Zelts zurückgewichen und richtete den Blick auf Harald. Deshalb musste die Wache nun aber erst einmal um ihn herumkommen.

Mehr Zeit brauchte Harald nicht. Er wirbelte um die eigene Achse, und mit drei Schritten war er wieder durch das Loch in der Zeltwand und draußen in der Nacht. Jetzt hörte er Stimmen, als immer mehr Krieger aufwachten. Vor ihm lag die freie Fläche um Airtres Pavillon, und dahinter lagen die anderen Zelte.

Der Weg war frei, doch Harald rannte nicht. Stattdessen trat er zur Seite, drückte sich an die Zeltwand und fragte sich, ob die Wachen ihm wohl durch das Loch folgen oder um das Zelt herumlaufen würden.

Wie sich herausstellte, taten sie beides. Der Mann, der in Airtres Pavillon gestürmt war, bahnte sich den Weg durch das Loch, das Harald hineingeschnitten hatte, während der andere, der draußen geblieben war, um das Zelt rannte. Harald schmiegte sich eng an die Zeltwand, als der Mann mit dem Speer voran durch das Loch kam. Aufgeregt starrte er in die Dunkelheit, doch über seine Schulter schaute er nicht.

Harald dachte darüber nach, ihn zu töten. Es wäre leicht genug gewesen, doch wieder entschied er sich für Heimlichkeit statt für Gewalt. Dann erschien die zweite Wache und rief: »Wo ist er? Wo ist er hin?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der andere, den Rücken noch immer Harald zugekehrt, keine vier Fuß von ihm weg. Er nickte in Richtung der weiter entfernten Zelte, und die beiden Männer rannten los, um den entflohenen Nordmann zu suchen. Dabei liefen sie tatsächlich von ihm weg.

»Zu den Waffen! Wacht auf! Zu den Waffen!«, hörte Harald Airtre von der anderen Seite des Pavillons rufen. Der Rí Tuath war offensichtlich ebenfalls ins Freie gelaufen und weckte nun das Lager. Er war verraten und angegriffen worden, und jetzt wollte er genauso Rache wie Harald.

Harald schaute sich rasch um; dann duckte er sich wieder durch das Loch in Airtres Zelt. Rasch lief er hindurch und schnallte sich dabei Eichenspalter um. Es war ein Gefühl der Erleichterung, die geliebte Waffe wieder um die Hüfte zu tragen und das vertraute Gewicht zu spüren.

Für einen Moment stand Harald einfach nur neben der Klappe und betete, dass die Götter Airtre wieder zu ihm schickten; doch so viel Glück hatte er nicht. Tatsächlich entfernte sich die Stimme des Rí Tuath immer mehr, während er durchs Lager rannte und seine Männer zusammenrief, um die entflohene Geisel zu jagen.

Wieder war es Zeit, zu gehen.

Das Lager war inzwischen hellwach, auch wenn viele noch nicht wussten, warum man sie überhaupt geweckt hatte. Harald schlüpfte aus Airtres Pavillon und schaute sich um. Er sah Männer in unterschiedliche Richtungen rennen. Einige trugen Speere, andere Schwerter. Besorgniserregender war jedoch, dass manche auch Fackeln dabeihatten, und Harald sah, wie weitere entzündet wurden.

Rasch löste er sich vom Pavillon und lief über die freie Fläche. Er hielt auf eine Gruppe von Zelten in der Nähe zu und hoffte, zwischen ihnen verschwinden zu können. Tatsächlich hatte er es schon halb bis zu den Zelten geschafft, als er hinter sich eine überraschte, aber nicht verängstigte Stimme hörte.

»Hey! Du! Bleib stehen!«

Harald drehte sich um. Es war einer der Krieger, der echten Krieger, nicht einer der erbärmlichen Bauern, mit denen Airtre seine Reihen aufgefüllt hatte. Ein großer Mann mit Helm, Speer und Sax am Gürtel. Der Mann trug ein gepolstertes Hemd, wie man es für gewöhnlich unter einem Kettenhemd anlegte, doch keine Rüstung.

Ein paar Herzschläge lang starrten die beiden Männer einander einfach an. Dann wirbelte Harald herum und rannte los. Er lief zu den Zelten und in die Dunkelheit dazwischen, und er hörte die Schritte des ihn verfolgenden Iren.

Harald wich dem ersten Zelt aus, gelangte zum zweiten, drehte sich um und duckte sich. Der Krieger war zwanzig Schritte hinter ihm, mehr nicht, doch das war weit genug, um Harald im Dunkeln zu verlieren. Der Mann stürmte dorthin, wo er die Geisel hatte verschwinden sehen, und Harald sprang auf und legte all seine Kraft in seine rechte Faust.

Harald traf den Iren mitten im Gesicht. Den Helm hatte er sorgfältig vermieden. Harald spürte, wie etwas unter seiner Faust nachgab, und der Mann grunzte, flog zurück und landete auf dem Rücken. Dann rührte er sich nicht mehr.

Der Helm, dachte Harald. Wenn er einen Helm und einen Speer trug, dann würde ihm das vielleicht helfen, nicht so aufzufallen. Er bückte sich und zog dem Mann den Helm ab. Das Gesicht des Iren war unter einem Strom von Blut aus Nase und Mund verschwunden. Harald setzte den Kopfschutz auf, schnappte sich den Speer und stand wieder auf.

Er schaute zum Rand des Lagers und suchte den kürzesten Weg zum Land dahinter, doch genau dort hielten die Iren nach ihm Ausschau. Keine fünfzig Fuß von ihm entfernt bewegten sie sich von Zelt zu Zelt, und einer trug eine Fackel. Harald wusste, dass man ihn im Dunkeln vielleicht nicht erkennen würde, aber im Licht einer Fackel? Rasch huschte er in die Schatten zwischen den Zelten.

Die Jäger zogen weiter, und Harald sah, dass sie schlechte Arbeit erledigten. Anstatt in jedes Zelt zu schauen, leuchteten sie nur den Raum dazwischen aus. Harald rührte sich nicht, als sie an ihm vorbeikamen. Dann machte er einen Schritt zum Lagerrand und noch einen …

Der größte Aufruhr herrschte am anderen Ende des Lagers, genau, wie Harald gehofft hatte. Die Jäger gingen mit Sicherheit davon aus, dass er auf direktem Weg von Airtres Pavillon weggerannt war, und genau deshalb hatte Harald das nicht getan. Aber er wusste auch, dass irgendjemand schon bald eine Idee haben würde, wohin er sich tatsächlich gewandt haben könnte. Wieder ging er ein paar Schritte … und dann wurde er entdeckt.

Erneut ertönten Stimmen hinter ihm. Sie waren nicht weit entfernt, und Harald fragte sich, warum er die Männer nicht hatte kommen sehen. Du hast in die falsche Richtung geschaut, du Narr, verfluchte er sich selbst. Er hatte nur nach vorne geblickt, nicht nach hinten.

Jetzt drehte er sich um. Vier Männer rannten auf ihn zu. Einer hielt eine Fackel in der Hand, und zwei hatten Schwerter. Der vierte war Airtre.

»Schnappt den Bastard! Schnappt ihn euch!«, brüllte Airtre.

Harald zögerte nicht. Er packte den Speer mit festem Griff und schleuderte ihn. Der Speer traf den vordersten Krieger mitten in die Brust. Die Waffe war mit solcher Wucht geworfen und der Mann so schnell gelaufen, dass der Aufprall den armen Kerl nach hinten warf.

Harald zog Eichenspalter, und er lächelte, als er das vertraute Gewicht in seiner Hand spürte. Der andere Schwertträger schlug nach Harald, und Harald fing den Schlag mit seiner Klinge ab, drückte die des Gegners weg und rammte dem Mann die Schulter in den Leib. Doch Airtre hatte auch ein Schwert, und Harald sah, wie er es über die Schulter hob, bereit, ihm den Schädel zu spalten.

Harald sprang vor, packte Airtre mit der linken Hand an seinem Gewand, riss den Iren zu sich heran und schlug ihm mit dem behelmten Kopf auf die Stirn. Airtre heulte und taumelte zurück, und Harald hob Eichenspalter, um einen weiteren Schlag des Schwertträgers abzublocken, der sich wieder auf ihn stürzte. Erneut parierte Harald den Hieb; dann hob er den Fuß und trat dem Kerl in den Bauch. Der Mann brach zusammen.

Jetzt stand nur noch der Krieger mit der Fackel. Er schwang die Flamme nach Haralds Kopf, und Harald gelang es nur mit Mühe, ihr auszuweichen. Er spürte die Hitze in seinem Gesicht. Dann schoss seine linke Hand vor, und er packte die Fackel und riss sie dem überraschten Kerl aus der Hand.

Der nun unbewaffnete Fackelmann wich zurück, doch Harald war nicht an ihm interessiert. Er drehte sich um und schaute auf Airtre hinab, der sich inzwischen wieder auf die Ellbogen aufgerichtet hatte und den Nordmann verzweifelt anstarrte. Weitere Rufe ertönten, und sie waren nah. Harald hörte Männer rennen.

Harald warf Airtre die Fackel zu, und der Ire war so überrascht, dass er noch nicht einmal versuchte, sie zu fangen. Die Fackel landete auf der Brust des Rí Tuath, und sein Leinengewand fing sofort Feuer. Harald hörte ihn schreien und sah, wie er sich auf dem Boden wälzte, um die Flammen zu löschen, doch das war alles, was er sah.

Er wirbelte herum und rannte los. Er lief zwischen den Zelten hindurch und in die Dunkelheit jenseits davon. Deutlich hörte er das Chaos hinter sich, doch die Iren bei Airtre waren mehr daran interessiert, die Flammen zu löschen, die ihren Rí Tuath bedrohten, als an Harald. Der Einzige, den Harald wirklich kümmerte, war Airtre selbst, und der wälzte sich noch immer auf dem Boden.

Harald erreichte den Rand des Lagers und lief weiter. Er zog den Helm ab und warf ihn weg. Dann rannte er den Hang hinauf, den er im Süden des Lagers gesehen hatte, und als er oben war, da lief er auf der anderen Seite wieder herunter, wandte sich nach links und rannte weiter.

Das war zwar nicht der direkte Weg weg vom Lager, doch Harald wusste, dass die Iren einen Suchtrupp zusammenstellen und ihm hinterherjagen würden. Also ergab es durchaus Sinn, außer Sicht die Richtung zu wechseln. Das tat er auch immer wieder, und zwar so lange er konnte. Und das war lange. Doch irgendwann wurde er langsamer, und schließlich blieb er stehen, beugte sich vor, die Hände auf den Knien, und schnappte nach Luft.

Er hatte Lärm gehört, als er das Lager verlassen hatte, Rufe. Vielleicht waren das die Männer, die einen Suchtrupp organisierten. Doch inzwischen hallte sein eigener Atem so laut in seinen Ohren, dass er nicht sicher sein konnte. Später glaubte er, auch Pferde zu hören, doch wieder war er nicht sicher, und wenn das wirklich Reiter waren, dann waren sie nicht nah. Harald ging weiter durch die Nacht, die ihn besser schützte als der stärkste Schildwall.

Und er dachte bei sich selbst: Und was jetzt?