Sie (die Heiden) brachten große Sorge über das Land,
und immer wieder zeigten sie ihre Grausamkeit …
DIE ANNALEN VON CONMACNOISE
Airtre. Das war der Name des Iren. Zumindest hatte Failend ihm das gesagt. Airtre. Thorgrim hatte Mühe mit dem Namen. Es war, als würde er ein Stück Fleisch voller Knorpel kauen.
Thorgrim dachte darüber nach, diesen Airtre zu schlagen, diesen irischen Jarl, den sie entführt hatten, und zwar härter, als Louis es getan hatte. Er dachte darüber nach, seinen Dolch zu ziehen und dem Iren mit weit schlimmeren Wunden zu drohen als der an seinem Arm. Und das war eine Drohung, die er nur zu gerne erfüllen würde, sollte Airtre ihm nicht die Antworten geben, die er haben wollte.
Er sagt, er weiß es nicht … Das waren Failends Worte gewesen, die Antwort auf Thorgrims Frage nach Haralds Verbleib.
Thorgrim wollte gerade sein Messer ziehen, um seine Absichten deutlich zu machen, doch sein Gesichtsausdruck reichte offenbar dafür. Failend befragte den Iren erneut, diesmal nachdrücklicher, und kam Thorgrim damit zuvor.
Daraufhin ging es in diesem irischen Kauderwelsch eine Weile hin und her, und es gelang auch Louis, ein paar Fragen einzuwerfen. Der irische Jarl spie die Antworten förmlich. Er klang noch immer trotzig, aber er redete, und er schien auch nichts zurückzuhalten.
Schließlich drehte Failend sich wieder zu Thorgrim um. »Er sagt, Harald habe ihm gesagt, der Anführer der Nordmänner sei ein Mann mit Namen Thorgrim. Er sagt, Harald habe auch gesagt, dieser Thorgrim würde ihm helfen, Ferns zu plündern. Um das sicherzustellen, hätten sie Geiseln ausgetauscht. Als er sah, dass die Nordmänner bei Bécc waren, da habe er geglaubt, verraten worden zu sein. Daraufhin hat er Harald befragt. Später in jener Nacht sei Harald dann entkommen. Er sagt, Harald habe ihm die Wunde an seinem Arm verpasst. Er sagt, er habe auch Verbrennungen am Bauch, was ebenfalls Haralds Schuld sei.«
Thorgrim runzelte die Stirn, obwohl ein Teil von ihm am liebsten gelächelt hätte, so stolz war er auf seinen Jungen. Sofort kamen ihm ein paar Gedanken. Es gab mehrere Arten, einen Mann zu »befragen«, und Thorgrim nahm an, wenn Harald sich zur Flucht gezwungen gesehen hatte, dann war Airtre nicht gerade freundlich gewesen. Und wenn bei dieser Flucht genug Gewalt im Spiel gewesen war, um so eine Wunde wie an Airtres Arm zu hinterlassen, von den Verbrennungen ganz zu schweigen, dann war das Ganze wohl nicht so harmlos abgelaufen, wie dieser Ire nun tat.
Es gab zwei Möglichkeiten, beide wahrscheinlich. Wenn Harald wirklich auf die Art entkommen war, die Airtre beschrieben hatte, dann konnte er nicht allzu schwer verwundet sein. Die andere Möglichkeit war, dass Airtre Harald in Wirklichkeit getötet hatte und dass die Geschichte mit der Flucht erstunken und erlogen war. Sollte Letzteres stimmen, dann würde Thorgrim das schon bald herausfinden, und Airtre wäre tot.
»Sag diesem Hurensohn, wir werden die Wahrheit schnell genug erfahren«, sagte Thorgrim. »Sag ihm, wir haben noch immer seinen Sohn als Geisel, und wenn wir Harald nicht zurückbekommen, dann werden wir ihn töten, und zwar langsam, und er wird zuschauen.«
Failend übersetzte. Airtre schüttelte den Kopf und sprach. »Er fleht dich an, das nicht zu tun«, sagte Failend, doch Thorgrim hatte das Gesicht des Mannes beobachtet. Die Worte mochten ja die eines Vaters sein, der Angst um seinen Sohn hatte, doch die Reaktion des Iren beziehungsweise der Mangel daran verriet Thorgrim, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte: Der Narr, den Airtre als Geisel geschickt hatte, war niemand, der ihn auch nur im Mindesten kümmerte.
Thorgrim stand auf, und die anderen folgten seinem Beispiel. Es war Zeit weiterzuziehen.
Erneut durchquerten sie das Land, durch das sie auch in der Nacht zuvor gekommen waren. Hier und da sahen sie einen Rath in der Ferne; armselige Bauernhütten mit einer Handvoll Vieh und Feldern, auf denen nicht wirklich etwas zu wachsen schien. Rauch stieg hinter den Ringwällen auf. Die Nordmänner ignorierten sie. Zwar sahen sie Kühe, aber keinen einzigen Menschen.
Die Sonne hatte fast ihren höchsten Stand erreicht, als sie schließlich wieder in das Lager zurückkehrten, das Thorgrims Männer sich mit denen Béccs teilten. Das Mittagessen kochte auf den Feuern, und das rief unterschiedliche Kommentare von Thorgrims halb verhungertem Haufen hervor. Außer ein wenig Brot und kaltem Fleisch hatten sie seit gestern nichts mehr gehabt.
»Geht und esst«, sagte Thorgrim. »Du nicht, Failend«, fügte er hinzu und drehte sich zu der Frau an seiner Seite um. Sie sah müde aus. Sie war genauso erschöpft wie alle anderen auch, aber Thorgrim brauchte sie noch ein wenig länger. »Du musst mir helfen, mit Bécc zu sprechen, und während wir diesen Drecksack Airtre verhören.«
Sie gingen über das zertrampelte Gras zu Béccs großem Zelt. Thorgrim zerrte Airtre einfach hinter sich her. Am Eingang stand eine Wache, und ihr Blick zuckte sofort zu Airtre, als sie näher kamen. Deutlich sah Thorgrim Überraschung auf dem Gesicht des Iren. Failend sprach mit ihm.
»Die Wache sagt, Bécc sei beim Mittagsgebet«, übersetzte sie.
»So viel, wie der betet, ist es schon ein Wunder, wenn er zum Essen kommt«, knurrte Thorgrim; aber er wusste, dass er nichts dagegen tun konnte. Bécc würde sich schlicht nicht stören lassen, und so blieben sie vor dem Zelt und warteten.
Es dauerte auch nicht allzu lange, dann wurde die Zeltklappe zurückgeschlagen, und Bécc kam heraus. Er trug seine lange braune Robe. Der Blick seines gesunden Auges wanderte von Thorgrim zu Airtre und zurück, und er verriet keinerlei Überraschung, seinen Landsmann hier zu sehen. Allerdings nahm Thorgrim an, dass dem durchaus so war. Bécc nickte in Richtung Zelt, drehte sich wieder um und ging hinein.
Im Zelt gab es nur wenig Licht. Bécc hatte sich eine Art Altar an der Hinterwand gebaut. Darauf brannten zwei Kerzen neben verschiedenen religiösen Gegenständen: einem silbernen Kreuz mit dem gekreuzigten Christengott und einem weiteren silbernen Gegenstand wie ein Kerzenständer, aber mit einer Art Sonne an der Spitze. Thorgrim erkannte diese Dinge, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wofür man sie brauchte. Das Kreuz mit dem gekreuzigten Christus, nahm er an, war so etwas wie die kleine Thor-Statue, die er immer mit sich führte, eine sichtbare Erinnerung an den Gott, den er anbetete.
Bécc deutete auf die Stühle am Tisch. Er sprach, und Failend übersetzte: »Bruder Bécc fragt, ob du einverstanden bist, Airtre die Fesseln abzunehmen.«
Thorgrim nickte. Bevor er sich setzte, zog er das Messer und schnitt den Stoffstreifen durch, mit dem der Ire seit der Entführung gebunden gewesen war. Airtre rieb sich die rotgescheuerten Handgelenke und ballte mehrmals die Fäuste, um die Durchblutung anzuregen.
So saßen sie beisammen: Bécc und Thorgrim, Failend und Airtre. Bécc sah nicht erfreut aus. Er sprach erneut.
»Bruder Bécc bittet dich, ihm zu erzählen, wie Airtre mac Domhnall zu dir gekommen ist«, sagte Failend.
Warum nennt sie ihn eigentlich ständig »Bruder«?, fragte Thorgrim sich. Sie waren doch nicht verwandt. Wenn dem so wäre, dann hätte sie das doch erwähnt. Vielleicht ist das wieder so eine Christensache. Er würde sie fragen müssen.
»Sag Bécc, dass dieser Mann der Anführer der Feinde ist, gegen die wir gemeinsam kämpfen wollen. Er hatte Harald, meinen Sohn, als Geisel genommen. Ich wollte meinen Sohn zurückholen. Er war nicht da; also habe ich stattdessen ihn hier mitgenommen.«
Failend übersetzte, doch bevor Bécc etwas darauf erwidern konnte, sprach Airtre. Thorgrim schaute zu ihm. Die Überraschung auf seinem Gesicht war nicht zu übersehen.
»Airtre sagt: Du bist Thorgrim Nachtwolf? Und Harald ist dein Sohn?«, übersetzte Failend. Thorgrim funkelte Airtre an, antwortete aber nicht. Stattdessen drehte er sich wieder zu Bécc um und wartete darauf, was der zu sagen hatte.
Bécc sprach. »Bruder Bécc fragt, warum Airtre deinen Sohn als Geisel festgehalten hat.«
»Weil mein Sohn mit Airtre vereinbart hat, dass wir Nordmänner ihm bei der Plünderung von Ferns helfen. Mein Sohn hat sich als Geisel zur Verfügung gestellt, um den Handel zu besiegeln. Er hat nichts von der Abmachung zwischen dir und mir gewusst.«
Bécc nickte und schien kurz darüber nachzudenken. Dann sprach er wieder. »Er fragt: ›Und du hast beschlossen, deinen Sohn zu holen, ohne dich vorher mit mir zu besprechen?‹«, übersetzte Failend.
»Ich habe mit dir gesprochen«, erwiderte Thorgrim. »Du hast gesagt, du würdest nicht kämpfen, weil es ein heiliger Tag sei. Also habe ich gehandelt.« Allmählich ärgerte ihn dieses Verhör. »Ich habe unseren gemeinsamen Feind gefangen genommen. Die meisten Menschen würden das als gut erachten.«
»Bruder Bécc fragt, warum du ihm nicht gesagt hast, dass Airtre deinen Sohn als Geisel festhält.«
»Weil ihn das nichts angeht. Ich habe lediglich vereinbart, gemeinsam mit ihm das Kloster zu beschützen, und zwar gegen diesen Feind hier«, sagte Thorgrim und deutete auf Airtre. »Das habe ich getan. Ich und meine Männer. Mein Sohn geht nur mich etwas an, und darum werde ich mich kümmern, wie ich will. Und ich werde mich an die Abmachung halten, die wir getroffen haben.«
Thorgrim ließ Failend erst einmal übersetzen, bevor er weitermachte. Ob Bécc wohl fragen würde, woher er gewusst hatte, dass Harald in Airtres Gewalt war? Thorgrim war nicht sicher, wie er darauf antworten würde.
Nachdem Failend übersetzt hatte, fuhr Thorgrim fort: »Und jetzt sag Bécc, dass die Männer dieses Kerls ihren Anführer verloren haben. Sie lagern einen halben Tagesmarsch von hier entfernt. Wenn wir sie angreifen wollen, dann jetzt. Je schneller, desto besser.«
Bécc nickte erneut, und sein Blick wanderte von Thorgrim zu Airtre und wieder zurück. Er sprach.
»Bruder Bécc sagt, dass Airtres Entführung die Lage vermutlich noch komplizierter gemacht hat«, sagte Failend. »Er sagt, er werde den Gefangenen jetzt übernehmen und entscheiden, wie wir weitermachen.« Failend übersetzte nur zögerlich. Sie wusste, dass Thorgrim über diese Worte nicht gerade glücklich sein würde.
Und das war er auch nicht, nicht im Mindesten. Allmählich hatte er die Nase voll von diesem »Bruder« Bécc. »Wieso macht das alles nur noch komplizierter?«, verlangte Thorgrim zu wissen. Die Frage war an Failend gerichtet, nicht an Bécc.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Failend. »Aber ich nehme an, das Kloster will nicht als Angreifer dastehen. Sie wollen sich verteidigen, nicht angreifen. Nun, da Airtre ein Gefangener ist, sieht es so aus, als wären sie in den Krieg gezogen. Und dann haben sie auch noch Heiden als Hilfe angeheuert. Airtres Männer sind ohne ihren Anführer vermutlich nicht mehr zum Angriff bereit, also will Bruder Bécc sie auch nicht provozieren.«
Das ergab durchaus Sinn für Thorgrim. Er verstand das Problem, doch derartige Feinheiten kümmerten ihn nicht. »Sag Bécc, dass dieser Ire mein Gefangener ist, nicht seiner«, forderte er Failend auf.
Bécc straffte die Schultern, als er Failends Übersetzung hörte. Das war bis jetzt die heftigste Reaktion, die dieser Mann gezeigt hatte. Er sprach: »Er sagt, Airtre sei der Rí Tuath hier … sowas wie ein Jarl. Deshalb sei es nur angemessen, wenn er, Bécc, über ihn wacht. Er sagt, du hättest natürlich recht, dass ihr nur eingewilligt habt, das Kloster zu beschützen. Die Angelegenheiten dieses Landes gehen euch nichts an.«
Thorgrim schaute Bécc in die Augen, und Bécc erwiderte seinen Blick. Keiner der beiden Männer gab sich eine Blöße.
Er hat recht, dachte Thorgrim schließlich. Das ist nicht meine Angelegenheit. Das durfte er nicht vergessen. Er wollte nur Harald in Sicherheit sehen. Was die Iren einander antaten oder nicht, ging ihn nichts an. Er stand auf.
»Sag Bécc Folgendes«, wandte er sich noch einmal an Failend, die sich ebenfalls erhob. »Sag ihm, dass er den Gefangenen haben kann. Sag ihm, dass ich mein Versprechen halten und das Kloster verteidigen werde. Und dann werde ich mir mein Segeltuch holen und für immer von hier verschwinden.«
Failend übersetzte. Bécc nickte. Airtre sah erleichtert aus, auch wenn er sich bemühte, das zu verbergen.
»Aber sag Bécc auch das«, fuhr Thorgrim fort. »Wenn mein Sohn wirklich entkommen ist, wie Airtre gesagt hat, dann erwarte ich ihn spätestens in ein paar Tagen. Sollte er dann nicht auftauchen, ist das hier sehr wohl meine Angelegenheit, und ich werde Airtre noch ein paar Fragen stellen … und zwar auf eine Art und Weise, wie ich sie für angebracht halte. Und in fünf Tagesmärschen Umkreis gibt es niemanden, der mich davon abhalten könnte.«
Mit diesen Worten drehte Thorgrim sich um und verließ das Zelt. Failend folgte ihm dichtauf. Thorgrim stapfte zu den Fellen, aus denen sein Lager bestand. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er zum letzten Mal so erschöpft gewesen war.
*
Während die Nordmänner rasteten, ritt Bruder Bécc mit einer Handvoll Männer als Eskorte nach Ferns zurück, wo er sich mit Abt Columb beraten wollte. In den Privatgemächern des Abts erzählte Bécc dann auch die Geschichte von Airtres Entführung, der Thorgrims Sohn als Geisel genommen hatte. Der alte Abt seufzte angesichts dieser Neuigkeiten, genau wie Bécc erwartet hatte.
»Bruder Bécc, glaubst du, dass Airtre deine Männer angegriffen hätte, wenn diese Heiden ihn nicht geschnappt hätten?«
»Ich weiß es nicht, mein Herr«, antwortete Bécc offener, als er sich je vor seinen Kriegern gezeigt hätte. Ihnen gegenüber, das wusste er, musste er Sicherheit ausstrahlen. Er konnte es sich schlicht nicht leisten, Schwäche zu zeigen oder auf eine Frage keine Antwort zu wissen. Doch bei Abt Columb war das anders. Der Abt war ein heiliger Mann, ein guter Mann, ein listiger Mann. Der Abt war Béccs Beichtvater. Es gab nichts, was der Abt nicht von Bécc wusste.
»In jedem Fall hätte er angegriffen, wenn die Heiden nicht bei uns wären«, fuhr Bécc fort. »Aber wie ich dir ja schon gesagt habe, hat Airtre sich auch mit den Heiden verschworen, um Ferns zu plündern. Er hat Thorgrims Sohn als Geisel genommen. Als Airtre und seine Männer an der Mündung der Bann erschienen, da wollte er sich wohl mit den Nordmännern treffen. Davon bin ich überzeugt. Airtre leugnet das zwar, aber ich glaube ihm nicht. Ich nehme an, im Hintergrund ist Teufelswerk im Gange.«
»Da hast du vermutlich recht«, sagte der Abt. »Wo Heiden sind, da ist der Teufel nicht weit.«
Bécc nickte. Er empfand genauso. Das war auch der Hauptgrund dafür, dass er mit der gegenwärtigen Vereinbarung nicht wirklich im Reinen war. Allerdings wäre es wohl Heuchelei gewesen, Airtre vorzuwerfen, mit den Heiden zu paktieren, wenn sie selbst das Gleiche taten. Doch er und der Abt hatten sich verschworen, um einen heiligen Ort zu schützen, während Airtre ebendiesen heiligen Ort plündern wollte. Trotzdem … Bécc war die ganze Sache unangenehm.
»Airtres Männer … Sie lagern im Osten?«, fragte Abt Columb.
»Im Südosten. Einen halben Tagesmarsch entfernt. Nahe Rath Cloon.«
Der Abt dachte darüber nach. »Du hältst sie doch von den Hügeln im Norden fern, oder?« Er schaute Bécc tief in die Augen, um ihm klarzumachen, wie wichtig das war.
»Ja, ich werde sie von den Hügeln fernhalten«, versicherte ihm Bécc, denn er wusste durchaus, wie ernst die Lage war. Und er wusste auch, dass es das war, worum es hier eigentlich ging, auch wenn Airtre, Thorgrim und selbst Faílbe mac Dúnlaing und Tuathal mac Máele-Brigte, der sabbernde Hochkönig von Laigin, das nicht wussten.
»Gut«, sagte Abt Columb sichtlich erleichtert. »Tu das, und mehr musst du auch nicht tun, es sei denn, Airtres Männer greifen als Erste an. Deine Aufgabe ist einfach, Bruder Bécc, fast schon eine Verschwendung deines großen Talents und deiner Erfahrung. Verhindere, dass irgendwer das Kloster plündert, und halte alle von den Hügeln im Norden fern.«
Mit diesen Befehlen verließ Bécc den alten Abt wieder und kehrte ins Lager zurück. Columb hatte nicht wirklich klar gesagt, was er von Bécc erwartete, nur dass er andere davon abhalten sollte, irgendwas zu tun. Bécc war jedoch kein einfacher Krieger. Ihm musste man nicht alles haarklein erklären.
Als er schließlich wieder ins Lager zurückritt, war es bereits dunkel. Bécc fühlte die Rastlosigkeit seiner Männer. Sie hatten damit gerechnet, an diesem Tag zu marschieren, doch stattdessen waren sie einfach geblieben, wo sie waren, ohne dass ihnen jemand erklärt hätte, warum; doch Bécc neigte auch nicht dazu, irgendwas zu erklären.
Die Nordmänner und die Iren zusammen auf einem Fleck waren wie Zunder und Stroh. Die Männer wussten, dass Airtre als Gefangener hier war, aber sie wussten nicht, warum oder wie er in Gefangenschaft geraten war. All das schürte das Feuer noch, und die Flammen züngelten immer höher.
Doch Bécc dachte nur an sein Abendgebet, als er sein Zelt betrat. Hätte er einen Diener gehabt, er hätte ihn geschickt, Feuer für die Kerzen zu holen, doch Bécc empfand es als nicht richtig, solche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er war jetzt ein Mönch und noch dazu einer, der ein Armutsgelübde abgelegt hatte. Er war nicht länger ein Führer von Kriegern, ungeachtet der Aufgabe, mit der Columb ihn betraut hatte.
Bécc nahm eine seiner Kerzen und suchte nach Feuer. Als er wieder zurückkam, tanzte eine Flamme am Docht, und damit entzündete er die zweite Kerze. Schließlich kniete er sich hin und betete.
Die Wache am Eingang wartete, bis er fertig war, dann rief sie: »Bruder Bécc?«
»Ja?«
Die Wache schlug die Zeltklappe zurück und schaute hinein. »Ich habe eine Nachricht von Airtre, Bruder. Er bittet dich um ein Gespräch.«
Bécc schaute den Mann an und dachte darüber nach. Das war keine Überraschung. Bécc hatte schon damit gerechnet, dass Airtre versuchen würde, sich aus allem rauszureden.
»Nun gut«, sagte Bécc schließlich. »Bring ihn zu mir.«
Ein paar Momente später hörte Bécc Schritte draußen, und wieder wurde die Zeltklappe zurückgeschlagen. Airtre kam herein. Seine Haltung war aufrecht, eher trotzig denn gebrochen, aber er sah nicht gerade gut aus. Das Blut, das in seinen rechten Ärmel gesickert war, war inzwischen getrocknet und verkrustet. Er hatte mehrere blaue Flecken im Gesicht, und die Schwellungen an seinen Handgelenken, die er den Fesseln zu verdanken hatte, waren noch immer deutlich zu sehen.
»Setz dich«, sagte Bécc und deutete auf einen Stuhl. Airtre nickte und nahm Platz. Bécc setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn eine Sekunde lang. Er hasste Airtre nicht. Er bemitleidete ihn eher.
»Bier?«, bot Bécc an, und Airtre nickte wieder. Er sah dankbar aus. Bécc goss ihm einen Becher ein, reichte ihn herüber, und Airtre trank einen kräftigen Schluck. Bécc fragte sich, ob man ihm wohl Wasser gegeben hatte. Vielleicht hätte er seinen Männern ausdrücklich befehlen sollen, den Rí Tuath höflich zu behandeln, doch das hatte er nicht für nötig erachtet.
»Ich hatte nie die Absicht, Ferns anzugreifen«, sagte Airtre, nachdem er den Becher abgestellt hatte. Bécc nickte. Mit dieser Lüge hatte er schon gerechnet, doch er hätte gedacht, dass Airtre erst einmal um den heißen Brei herumreden würde.
»Nicht?«, erwiderte Bécc. »Aber du hast deine Männer bewaffnet.«
»Natürlich habe ich das«, protestierte Airtre. »Ihr doch auch! Ebenso Faílbe. Die Heiden sind an unseren Ufern gelandet, und sie sitzen in einem ihrer … Wie nennen sie die noch mal? Schiffsforts? Genau an der Mündung der Slaney. Natürlich habe ich meine Männer da zu den Waffen gerufen.«
Bécc schaute ihn an. Airtre redete viel und gern, so viel war sicher. Und er war aalglatt. »Dieser Thorgrim sagt, du hättest seinen Sohn als Geisel genommen. Nicht als Gefangenen, als Geisel, verstehst du? Das war ein fairer Tausch. Er sagt, du hättest dich mit den Heiden verschworen, Ferns zu plündern.«
»Nicht, um Ferns zu plündern«, entgegnete Airtre. »Ich wollte meine Männer retten. Die Heiden sind nach Norden gekommen, um nach Schiffen zu suchen, die sie dort zurückgelassen haben. Nicht weit weg von Rath Knock. Sie haben uns überrascht und waren uns zahlenmäßig überlegen. Ich habe eine Abmachung mit ihnen getroffen, um sie glauben zu machen, dass ich mich mit ihnen zusammenschließen will. Aber nur, weil sie meine Männer sonst abgeschlachtet hätten. Dafür schäme ich mich nicht. Ich würde alles tun, um mein Volk zu beschützen.«
Bécc dachte darüber nach. Die Geschichte war nicht unglaubhaft. Trotzdem glaubte Bécc rein gar nichts davon.
»Ich hatte nie die Absicht, Thorgrim gegenüber mein Wort zu halten«, fügte Airtre hinzu. »Es ist nicht unehrenhaft, diese mörderischen Heiden anzulügen, denn sie wissen ja selbst nicht einmal, was Wahrheit ist.«
Noch immer erwiderte Bécc nichts darauf. Sein Schweigen machte Airtre nervös, und er sah sich gezwungen, einfach weiterzureden. Auf diese Art hoffte Bécc, den Mann dazu zu verleiten, irgendwann mehr zu sagen, als er sagen wollte.
Doch dafür war Airtre viel zu klug, musste Bécc erkennen. Offenbar war er dieses Gespräch im Kopf vorher durchgegangen.
Jetzt beugte Airtre sich näher zu Bécc, eine Geste, die etwas Verschwörerisches an sich hatte. »Meiner Meinung nach«, flüsterte Airtre, »ist es einfach nur töricht, diesen Heiden zu vertrauen. Mit ihnen zusammenzuarbeiten ist sogar eine Sünde. Ich denke, da stimmst du mit mir überein, Bruder Bécc. Und doch sitzt du hier und heißt die Heiden in deinem Lager willkommen. Du fütterst sie sogar. Da könntest du genauso gut den Teufel persönlich an dein Feuer bitten.«
Bécc schaute Airtre in die Augen und dachte über diese Worte nach. Airtre versuchte, clever zu sein und ihn an seinem Schwachpunkt zu treffen. Und tatsächlich war er sogar cleverer, als ihm klar war, denn Bécc stimmte in diesem Punkt mit Airtre überein. Eindeutig sogar.
Bécc war schon von dem Moment an hin- und hergerissen gewesen, da Abt Columb mit Thorgrim einen Pakt zum Schutz von Ferns geschlossen hatte. Heiden einsetzen, um gegen Christen zu kämpfen? Auch wenn es der Verteidigung eines heiligen Ortes wie Ferns diente, glaubte Bécc nicht, dass Gott Gefallen daran fand. Zuerst war es ihm gelungen, sich einzureden, dass es einer gerechten Sache diente, doch nach und nach waren ihm immer mehr Zweifel gekommen. Und sein letztes Gespräch mit dem Abt hatte diese Zweifel nicht zerstreut.
Natürlich war es die Idee von Abt Columb gewesen, nicht seine, und der Abt war ein heiliger Mann. Aber manchmal hatte Bécc das Gefühl, seine Sorge um das Kloster mache Columb blind, sodass er den rechten Pfad schlicht nicht mehr sehen konnte.
»Wenn alle Christen in diesem Land bereit wären, heilige Orte wie Ferns zu verteidigen«, erwiderte Bécc schließlich, »und sie nicht zu plündern wie die Heiden, dann müsste man auch keinen Pakt mit dem Teufel schließen.«
Airtre lehnte sich zurück. Das hatte gesessen, doch es brachte ihn nicht von seinem Weg ab. »Man kann die meisten Dinge rechtfertigen«, sagte er, »zumindest sich selbst gegenüber. Das Urteil des Herrn ist jedoch etwas vollkommen anderes.«
Bécc schwieg.
»Schau mal«, sagte Airtre und beugte sich wieder vor. »Ich will nicht so tun, als hätte ich nichts für Ferns geplant, aber offen gesagt glaube ich, dass meine Forderungen berechtigt sind.« Er hob die Hände, um Béccs Protest zuvorzukommen, doch der schwieg ohnehin weiter. »Aber im Augenblick stellen die Heiden die größte Bedrohung dar, und zwar für uns alle. Ich weiß nicht, was für einen Handel Abt Columb abgeschlossen hat – und ich nehme an, er war es, nicht du –, aber mit diesen Männern kann man nicht verhandeln. Das weißt du. Das sind Monster. Sie können sich jederzeit gegen dich wenden.«
»Und was schlägst du vor?«, fragte Bécc. Airtre sang das richtige Lied, und Bécc wusste es, doch er konnte ihm nicht widerstehen, denn bis jetzt hatte der Rí Tuath nichts gesagt, dem er nicht hätte zustimmen können.
»Lass nicht zu, dass sie sich gegen dich wenden«, antwortete Airtre. »Komm ihnen zuvor. Du hast deine Krieger hier, und ich habe meine. Wenn wir marschieren, als würden wir gegeneinander in die Schlacht ziehen, uns dann im letzten Moment aber vereinen, können wir die Heiden zerschmettern. Nicht einfach besiegen, sondern ausrotten wie das Ungeziefer, das sie sind.«
»Und dann marschierst du gegen Ferns? Um dein Werk dort zu vollenden?«, fragte Bécc.
»Nein«, antwortete Airtre. »Nein, das werde ich nicht tun. Ich gebe dir mein Wort. Als Christ.«
Airtre ließ diese Worte in der Luft hängen. Was das implizierte, war klar wie Glockenklang. Thorgrim konnte Bécc ein solches Versprechen nicht geben. Ein Versprechen als Christ. Sein Wort war nur das Wort eines Heiden, und er hatte bereits bewiesen, dass er nicht willens war, sich Bécc unterzuordnen, indem er allein losgezogen war und Airtre entführt hatte.
Doch der Abt hatte Bécc eindeutige Befehle erteilt. Streng und einfach: Sorge dafür, dass Ferns sicher ist, und verhindere, dass irgendjemand in die Hügel im Norden zieht. Das Wie hatte er jedoch ganz und gar Bécc überlassen.
»Dann sag mir«, forderte Bécc sein Gegenüber auf: »Wenn wir uns gegen diese Heiden wenden, um sie zu zerschmettern, wie genau sollen wir das tun?«