Kapitel 21

Dass wir bekannt sind als mächt’ge Krieger;
Die Wunden schlagen mit scharfem Speer.
Lasst Blut aus diesen Wunden fließen und
rot die Erde färben.

SNORRI-EDDA

Harald marschierte nach Norden in die Hügel, oder zumindest nahm er das an. Zunächst war er gelaufen und dann schnell marschiert, um so weit wie möglich von Airtres Lager wegzukommen. Mittlerweile hatte er bestimmt schon Meilen hinter sich gebracht. Als er zuerst in die Dunkelheit gerannt war, war er recht sicher gewesen, nach Osten zu laufen. Doch kurz darauf hatte er sich in eine andere Richtung gewandt, von der er angenommen hatte, dass es Norden war.

Als er nicht mehr hatte weitergehen können, hatte er sich ein Dickicht gesucht, in dem er sich verstecken konnte. Dann hatte er die Erde ein wenig flach geklopft und war eingeschlafen. Als er wieder aufwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Die Wolkendecke war aufgebrochen, nachdem sie gerade noch mit Regen gedroht, ihn seit vier Tagen aber nicht gebracht hatte. Harald war steif; seine Knochen schmerzten, und er litt Hunger und Durst. Aber er lebte noch, und er war in Sicherheit – im Augenblick jedenfalls.

Harald setzte sich auf und lugte aus dem Dickicht. Er sah nichts als Gras. Er lauschte. Da waren Vögel und Insekten, mehr aber nicht. Harald blieb noch länger, wo er war, und lauschte weiter, ob er Pferde, Menschen oder das Klirren von Kettenpanzern hören konnte; die Geräusche von Verfolgern. Doch da war nichts.

Langsam und mit einem Stöhnen angesichts seiner steifen Glieder stand er wieder auf und schaute sich erneut um; doch auch bei voller Größe sah es so aus, als seien tatsächlich keine Verfolger in der Nähe. Harald verließ das Dickicht und ging ein kleines Stück, bis er so gut wie möglich sehen konnte. Da die Sonne weiter stieg, konnte er endlich die Himmelsrichtungen erkennen, und auch wenn er nicht wusste, von wo genau er gestern Nacht gekommen war, hatte er doch weiterhin das Gefühl, dass er jetzt nordwärts lief.

Norden …, dachte er. Nun gut. Es machte keinen großen Unterschied, da er ohnehin nicht wusste, wo genau er war oder wo er hinmusste.

Auf See passiert mir das nicht, sinnierte er. Auf See ist das besser. Unter Segeln, bei einer Fahrt die Küste entlang, hatte er nie das Problem, nicht zu wissen, wo er war. Solange die Küste in Sicht war, hatte ein Seemann eine Straße, der er folgen konnte. Doch jetzt fühlte Harald sich an die wenigen Male erinnert, da er über das offene Meer gefahren war, an tagelange Reisen, ohne Land zu sehen. Sein Vater hatte stets gewusst, wo das Schiff sich befand, doch Harald nicht, und das hatte ihn nervös gemacht.

Und genau so fühlte Harald sich auch jetzt.

So … Ich habe an der Küste begonnen, bin bei Airtre gelandet, und von da sind wir nach Nordwesten gereist … glaube ich. Nein, größtenteils nach Westen … Harald versuchte, im Geiste eine Karte zu zeichnen, doch abgesehen von der Küstenlinie, die er ein wenig kannte, hatte er keine Ahnung von diesem Land.

Vater und die anderen müssten eigentlich westlich von hier sein …, überlegte Harald als Nächstes, aber er wusste, dass auch das nur geraten war, und mit jeder derartigen Überlegung wurde er unsicherer. Wo auch immer sein Vater sein mochte, vermutlich war er irgendwo in der Nähe dieses Ortes mit Namen Ferns. Und selbst wenn nicht, von Ferns würde Harald wieder nach Loch Garman zurückfinden. Sein Vater hatte ihm sowohl den kleinen als auch den größeren Fluss beschrieben.

Also brauchte er nun nur jemanden, der ihm den Weg nach Ferns weisen konnte.

Harald knurrte der Magen. Ihm war schon schlecht vor Hunger. An einem normalen Tag aß er geradezu Unmengen von allem Möglichen. Doch jetzt hatte er schon fast vierundzwanzig Stunden keine normale Mahlzeit mehr gehabt, und dabei hatte er gekämpft und war meilenweit gerannt.

Nun gut, dachte er und änderte seine Pläne wieder. Ich brauche also jemanden, der mir Essen geben und sagen kann, wie ich nach Ferns komme.

Harald stieg einen kleinen Hügel hinauf, blieb auf dem Gipfel stehen und ließ seinen Blick über das Land schweifen. Er sah noch immer nur Felder, Weiden und hier und da ein paar Bäume. Doch dann fiel sein Blick auf etwas anderes. Zuerst glaubte er, es sei ein Bach, aber dann erkannte er, dass es etwas anderes war.

Eine Straße! Er sah nur ein Stück davon, doch er war sicher, dass es sich bei der braunen Narbe im Land um eine Straße handelte, und eine Straße musste ja irgendwo hinführen. Sofort besserte sich Haralds Laune, und er machte sich auf den Weg den Hügel hinunter und zu seiner Entdeckung.

Als er schließlich den Rand der Straße erreichte, waren seine Muskeln wieder aufgewärmt, und die Steifheit war aus seinen Gliedern verschwunden. Doch sein Magen war unglücklicher denn je. Am Rand der Straße blieb Harald erst einmal stehen und musterte den Untergrund. Für so eine abgelegene Gegend schien dieser Weg verdammt stark benutzt zu werden. Da waren Huf- und Fußabdrücke sowie Spurrillen von Wagenrädern. Einige waren schon recht alt, doch andere waren offenbar erst nach dem letzten Regen entstanden.

Harald schaute die Straße hinauf und hinunter. Er konnte ein paar Meilen in jede Richtung sehen. Links führte die Straße grob nach Südwesten. Rechts bog sie nach Norden in die Hügel ab.

Wo wollen all die Leute hin, die diese Spuren hinterlassen haben?, fragte er sich. Und in welche Richtung soll ich gehen?

Erneut schaute Harald die Straße hinauf und hinunter, und diesmal sah er im Süden etwas, das er beim letzten Mal nicht gesehen hatte: Bewegung. Irgendjemand … Nein, das waren mehrere Leute, und sie kamen auf ihn zu. Dazu ein Pferd und ein Wagen.

Reisende … Reisende haben mit Sicherheit etwas zu essen dabei, dachte Harald. Er überlegte, hier auf sie zu warten, doch inzwischen hatte sein Magen das Kommando übernommen, und der befahl ihm, er solle ihnen gefälligst entgegengehen. Also setzte Harald sich in Bewegung.

Es waren insgesamt vier Mann zu Fuß und einer auf dem Wagen, der das müde Pferd lenkte. Harald sah das alles schon lange, bevor sie in Rufreichweite waren. Die Leute schienen nicht allzu beunruhigt davon zu sein, dass sich ihnen ein Fremder näherte, doch das war nicht verwunderlich, denn schließlich waren sie fünf zu eins in der Überzahl.

Je näher er kam, desto mehr Einzelheiten bemerkte Harald, und nichts davon überraschte ihn. Die Männer trugen weite Kapuzenhemden und Wanderstäbe. Zwei liefen offenbar barfuß, und die anderen besaßen Lederschuhe. Ihresgleichen hatte Harald schon tausendmal in Irland gesehen. Das waren Bothach, wie die Iren die armen Pachtbauern nannten. Seltsam war nur, sie hier auf der Straße zu sehen, während sie doch eigentlich auf ihren Feldern sein sollten.

Die Iren hatten ihn ebenfalls entdeckt. Harald sah sie in seine Richtung deuten, und sie verteilten sich etwas, als er näher kam. Harald versuchte, so wenig bedrohlich wie möglich auszusehen. Er brauchte Nahrung, und er benötigte Hilfe, und dafür war er auf den guten Willen dieser Männer angewiesen.

Als er nur noch ein paar hundert Fuß von ihnen entfernt war, bemerkte Harald plötzlich eine Veränderung bei den Iren. Sie hielten unvermittelt an und schienen sich zusammenzudrängen. Harald sah, dass einer seinen Wanderstab wie ein Krieger vor sich hielt, und zwei andere zogen etwas aus ihren Gürteln, das nach Knüppeln aussah. Vermutlich bestanden die aus Schwarzdorn, der bei den Iren so beliebt war.

Was haben die denn vor?, fragte sich Harald, doch er verlangsamte weder seinen Schritt, noch änderte er die Haltung. Haben sie plötzlich Angst vor mir? Vor einem einzelnen Mann?

Und dann wurde ihm klar, was die Iren wirklich sahen: einen Nordmann mit einem Schwert am Gürtel. Inzwischen waren sie nah genug, dass seine Kleidung und seine Waffe ihnen verrieten, was er war: einer dieser verachtenswerten Heiden, vor denen alle Angst hatten. Und wo ein Heide war, da waren oft noch weitere.

Harald verfluchte sich selbst für seine Dummheit, weil er bis jetzt nicht daran gedacht hatte, doch nun war es zu spät. Egal, was er tat, außer einfach weiterzugehen, es würde ihn nur noch bedrohlicher erscheinen lassen. Harald hatte sich eigentlich schon zurechtgelegt, was er zu diesen Leuten sagen wollte, doch da war ihm noch nicht klar gewesen, wie er für sie aussehen musste. Jetzt hatte er keine Ahnung mehr, was er sagen sollte.

Harald schlenderte weiter auf sie zu und tat so, als hätte er die Sorge der Iren gar nicht bemerkt, aber ihm fiel auf, dass sie vorsichtig zurückwichen.

Harald hob den Arm und winkte freundlich. »Ich wünsche euch einen guten Morgen!«, rief er und lächelte. Er sah, dass die Männer sich entspannten, aber nur leicht.

»Heute Morgen sind nicht viele Reisende unterwegs«, fuhr Harald in freundlichem Ton fort und blieb knapp zwanzig Fuß vor den Männern entfernt stehen. »Aber ich freue mich wirklich, euch zu sehen.«

Der Mann, der Harald am nächsten stand, legte leicht den Kopf auf die Seite. »Wer bist du?«, fragte er.

Harald hatte sich die Antwort darauf schon überlegt, und er sah keinen Grund dafür, warum er die Geschichte jetzt noch mal ändern sollte. »Mein Name ist Cónán«, antwortete er. »Und solltet ihr ein wenig Proviant dabeihaben, den ihr mit einem müden Wanderer teilen könnt, dann wäre ich euch sehr zu Dank verpflichtet.«

»Cónán?«, erwiderte der Mann. »Du bist Ire?«

»Ja, natürlich. Ich bin Ire«, antwortete Harald. »Ich spreche doch eure Sprache, oder etwa nicht?«

Jetzt war der Mann völlig verwirrt. »Ja, du sprichst unsere Sprache, aber mit einem fremden Akzent. Und du bist wie ein Nordmann gekleidet«, sagte er.

Harald nickte. Jetzt hatte er seine Pfeile verschossen und wusste nicht mehr, was er als Nächstes sagen sollte. Also öffnete er einfach den Mund und bat die Götter, ihm die Worte auf die Zunge zu legen.

»Ja, ich sehe wie ein Nordmann aus, aber ich bin Ire. Habt ihr je von einem Nordmann gehört, der eure Sprache spricht?« Harald wartete nicht auf die Antwort, denn er fürchtete, es könnte nicht die sein, die er hören wollte. »Als ich noch ein Junge war, haben die Nordmänner mich entführt. Damals war ich so neun, zehn Jahre alt. Ich weiß es nicht mehr. Ich war ein Sklave. In Dubh-Linn. Aber der Mann, dem ich gehört habe, hatte keine Söhne, und so hat er mich irgendwann als solchen betrachtet. Er hat mir ordentliche Kleidung gegeben und mir erlaubt, an seinem Tisch zu essen.«

Die Iren hörten sich die Geschichte an, wirkten aber nach wie vor skeptisch. Dennoch senkten sie ihre Waffen, und es sah so aus, als würde ihnen gar nicht so schlecht gefallen, was sie da hörten.

Harald fuhr fort: »Und ja, ein Nordmann hat mich wie seinen Sohn behandelt, doch ich habe nie vergessen, dass ich Ire bin. Kein Heide. Man hat mich zwar gezwungen, die falschen Götter der Nordmänner anzubeten, aber ich habe immer nur an den einen, wahren Gott geglaubt.«

Harald glaubte, dass das so richtig war. So hatte er es die Christus-Anbeter zumindest oft sagen hören – der eine, wahre Gott –, auch wenn er manchmal den Eindruck hatte, dass sie eigentlich drei Götter anbeteten. Wie ihr Glaube tatsächlich funktionierte, hatte er nie verstanden.

Harald schaute zu dem Iren, der ihm am nächsten stand. Der Gesichtsausdruck des Mannes hatte sich nicht groß verändert; also nahm Harald an, dass er keinen schlimmen Fehler gemacht hatte. Er hoffte nur, dass die Götter nicht wütend auf ihn wurden, weil er sie als »falsch« bezeichnet hatte. Doch als er wieder den Mund öffnete, sprudelten die Worte geradezu aus ihm hervor, was wohl hieß, dass die Götter ihm verziehen hatten. Tatsächlich fand er inzwischen sogar Vergnügen an diesem Spiel und der Geschichte, die er sich ausgedacht hatte.

»Ich wollte immer aus Dubh-Linn fliehen, aber ich wusste nicht, wohin«, fuhr Harald fort. »Ich konnte mich noch nicht einmal mehr daran erinnern, wo ich vor meiner Gefangenschaft gelebt hatte.«

»Und wie bist du dann hierhergekommen?«, verlangte der Ire zu wissen. »Wir sind weit weg von Dubh-Linn. Zumindest glaube ich das.«

»Habt ihr von den Nordmännern gehört, die in der Nähe gelandet sind? An einem Ort mit Namen Loch Garman?«, fragte Harald. Bei diesen Worten schauten die Männer einander an, und er wusste, dass ihnen das tatsächlich nicht unbekannt war. Der Mann, der ihm am nächsten stand, nickte.

»Nun, der Mann, der diese Schiffe führt, ist mein Herr. Aber seine Schiffe sind im letzten Sturm schwer beschädigt worden. Also sind sie an Land gegangen. Und das war meine erste Chance zur Flucht.«

»Warum die erste?«, hakte der Ire nach. »Warum konntest du nicht schon früher fliehen?«

»Das hätte ich wohl gekonnt«, antwortete Harald, »aber ich wäre nicht weit gekommen. Mein Herr kennt das Land um Dubh-Linn, ich aber nicht. Und er hat Pferde und Hunde. Aber hier ist er genauso fremd wie ich. Keine Pferde und keine Hunde. Also habe ich sein Schwert gestohlen, als er geschlafen hat …« Harald zog Eichenspalter halb heraus, um die feine Klinge zu präsentieren, »… und bin in die Nacht davongerannt. Aber jetzt bin ich schon Tage unterwegs und weiß nicht mehr, wo ich bin.«

Die Iren hatten ihre Knüppel gesenkt, und der Mann mit dem Stab lehnte nun auf seinen, anstatt sich weiter darauf vorzubereiten, sich damit zu verteidigen. Selbst wenn die Männer Harald noch nicht wirklich glauben sollten, ihre Vorsicht war dahin.

»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte der Mann.

»Ich habe von einem Kloster gehört, einem schönen Kloster. An einem Ort mit Namen Ferns«, antwortete Harald. »Ich hoffe, dort Zuflucht zu finden. Wisst ihr, wo Ferns liegt?«

Wieder schauten die Männer einander an und drehten sich dann erneut zu Harald um. »Aye, wir wissen, wo Ferns ist«, sagte der Mann. »In ein, zwei Tagen kehren wir wieder dorthin zurück. Jetzt haben wir erst einmal in den Hügeln zu tun.« Er nickte in Richtung Norden.

»Ihr wollt nach Ferns?« Harald lächelte. »Der eine, wahre Gott ist mir wahrlich gnädig gesonnen. Darf ich euch begleiten?«

Schon wieder schauten die Männer einander an, und Harald fühlte, dass sie zögerten. Um diesem Ansinnen zuzustimmen, brauchten sie einen guten Grund.

»Seht mal«, fuhr Harald rasch fort. »Wie gesagt, hat mich dieser Mann – sein Name lautet übrigens Thorgrim – wie seinen Sohn behandelt, und er hat mich auch das Kämpfen gelehrt. Ich mag ja Ire sein, aber ich kann kämpfen wie ein Krieger aus dem Norden, und ich kenne die Heiden. Ich könnte euch beschützen. Auch wenn die Heiden nicht bis hierherkommen, Banditen gibt es überall.«

Harald hatte genau das Richtige gesagt. Das sah er in den Gesichtern der Iren. Dieser starke, gut bewaffnete junge Mann – egal ob Nordmann oder Ire – könnte ihnen in der Tat eine große Hilfe sein. Zumindest könnte er Banditen lange genug aufhalten, sodass sie entkommen konnten.

»Nun, ich sehe, dass du viel durchgemacht und mehr erlitten hast, als ein Christ durch diese Heiden erleiden sollte«, meinte der Anführer der Iren schließlich. »Na gut. Wenn du uns in die Hügel begleitest, dann werden wir dich in ein, zwei Tagen mit zurück nach Ferns nehmen.«

»Seid bedankt. Der eine, wahre Gott segne euch«, sagte Harald und dankte im Herzen Thor und Odin. »Habt ihr zufällig auch etwas zu essen?«