Kapitel 27

In schwelendem Zorn erhob sich Thor.
Nur selten sitzt er, wenn er solche Dinge hört.
Und die Eide wurden gebrochen, Wort und Bund,
Die mächtigen Schwüre zwischen ihnen.

LIEDER-EDDA

Als Bécc Thorgrim Nachtwolf die Schlucht zum ersten Mal gezeigt hatte, in der die Nordmänner sich verstecken sollten, da hatte Thorgrim sie sofort als ideal für ihren Zweck erkannt. Von der Straße aus war sie durch einen steilen Hang und eine Gruppe von Bäumen verborgen, die sie zu beiden Seiten begrenzte. Wenn jemand nicht wusste, dass dort Menschen steckten, dann würde er diejenigen auch nicht entdecken. Perfekt.

Ja, das war ein perfekter Ort für einen Hinterhalt. Bécc hatte ihn gut gewählt.

Und es war auch ein perfekter Ort, um dort jemanden hineinzutreiben und abzuschlachten. Krieger, die in der Schlucht versteckt waren, mochten ja zur Straße schauen, doch sie hätten nicht die geringste Ahnung, was sich hinter ihnen befand. Thorgrims Blick wanderte zu dem Land nördlich der Schlucht. Hinter den Bäumen auf der anderen Seite lag ein steiler Hügel, und hinter diesem Hügel könnten sich Hunderte von Männern verbergen und jederzeit auf die Krieger unten stürzen.

Eine andere Heerschar – ähnlich der, die Bécc befehligte, zum Beispiel – könnte dann den Südrand der Schlucht angreifen, sobald der erste Angriff die Männer in der Schlucht ins Chaos gestürzt hatte. Sie säßen in der Falle wie Fische in einer Reuse, und man könnte sie schnell und leicht erschlagen.

Thorgrim hatte nur ein paar Fragen gestellt. Das war aber schon genug, um zu wissen, was Bécc geplant hatte. Und das war nicht das, was Bécc behauptet hatte, sondern seine wahren Absichten.

Thorgrim rief nach Godi. »Ich glaube, dieser Bécc will uns in der Schlucht in die Falle locken und uns alle töten«, sagte er.

Godi hob die Augenbrauen, zeigte ansonsten aber keine Reaktion.

»Diese anderen Iren, Airtres Trupp, die, gegen die wir eigentlich kämpfen sollen … Ich nehme an, die schlagen gerade einen Bogen in Richtung Norden«, fuhr Thorgrim fort. »Lass uns die Männer zusammenholen. Dann marschieren wir in die Schlucht, wie Bécc es will, und dort werden wir ja sehen, ob ich recht habe.«

»Sehr gut, Thorgrim«, erwiderte Godi, drehte sich um und bellte den Männern zu, sich in Bewegung zu setzen. Einen Augenblick später marschierten sie in einer langen, undisziplinierten Reihe in Richtung Schlucht und verschwanden außer Sicht.

Thorgrim erreichte die Schlucht als Erster. Er schob Äste und Zweige beiseite, bis er sich am Rand eines steilen Hangs befand, an dessen Fuß ihn dichtes Gestrüpp erwartete. Er nahm an, dass entweder ein Bach oder eine Springflut die Schlucht vor Jahren ausgewaschen hatte. Thorgrim schaute nach vorne, konnte aber kaum zwanzig Fuß weit sehen. Dann versperrte ihm das Unterholz die Sicht.

»Also los«, sagte Thorgrim zu Godi. Er trat über den Rand und stieg seitwärts den Hang hinunter. Nicht immer fand er Halt und musste manchmal ein Stück rutschen. Failend war direkt hinter ihm, doch Starri war schon vorausgelaufen und bahnte sich mit seiner Axt einen Weg durchs Unterholz.

Thorgrim drehte sich um und wartete, bis der letzte seiner Männer den Grund der Schlucht erreicht hatte. Dann verkündete er lauter, als nötig gewesen wäre: »Hier bleiben wir nicht. Wir werden so weit durch die Schlucht gehen, wie wir können, und sehen, was diese irischen Hurensöhne wirklich vorhaben.«

Er hörte, wie Failend etwas sagte, und er drehte sich zu ihr um, doch sie übersetzte nur für Louis. Louis wiederum nickte zustimmend.

Thorgrim führte seine Männer, so schnell es ging, durch die Schlucht. Der Boden war feucht, und es dauerte nicht lange, da drang die Nässe durch seine Schuhe, und das Gestrüpp zerkratzte Thorgrim Gesicht und Arme.

Genau wie Bécc gesagt hatte, war die Schlucht recht lang, doch ob sie nun gerade verlief oder sich krümmte, das vermochte Thorgrim nicht zu sagen. Nach einiger Zeit sah er jedoch, dass der Grund flacher wurde und schließlich leicht anstieg, bis er auf einer Höhe mit dem Land dahinter war. Dort blieb Thorgrim stehen, und seine Männer taten es ihm nach. Stille senkte sich über die Schlucht.

»Starri!«, rief Thorgrim, und Starri der Unsterbliche, der nur ein paar Schritte hinter ihm war, trat vor.

Sie mussten wissen, was über ihnen passierte, und das wiederum hieß, dass sie einen Kundschafter brauchten, und dafür war niemand besser geeignet als Starri. Seine Sehkraft und sein Gehör waren geradezu übernatürlich, und er konnte sich so schnell und leise bewegen wie das Raubtier, das er war. Aber er war nur dazu geeignet, wenn er bei Verstand war. Sollte jedoch der Berserker von ihm Besitz ergreifen, dann vermochte niemand zu sagen, was er tun würde.

»Ja, Nachtwolf?«, fragte Starri. Da lag Eifer in seiner Stimme, doch Starris Augen verrieten, dass er sich noch in dieser Welt aufhielt und nicht in der der Götter. Auch seine Arme zuckten nicht, wie sie es immer taten, wenn er dem Rausch verfiel. Der lange Marsch weg vom Feind schien seinen Wahnsinn im Zaum zu halten.

»Ich bin ziemlich sicher, dass Bécc uns verraten hat«, erklärte Thorgrim. »Die Iren, gegen dir wir hier kämpfen sollen … Ich glaube, sie haben sich mit Bécc zusammengetan und wollen uns von hinten angreifen, während wir in der anderen Richtung nach ihnen Ausschau halten. Ich will, dass du da rausgehst …«, er deutete nach Norden, »… und nachsiehst, ob Krieger von da kommen, die so aussehen, als würden sie sich anschleichen.«

Starri nickte. »Kein Problem«, sagte er.

»Sie dürfen dich nicht sehen«, fuhr Thorgrim fort. »Sobald du sie entdeckt hast, kommst du sofort wieder zurück. Sofort! Verstanden? Kämpf nicht, und lass sie auch nicht wissen, dass wir hier sind.«

»Natürlich, Thorgrim. Was denkst du denn? Glaubst du etwa, ich bin verrückt?«, erwiderte Starri. Er steckte die Kriegsäxte in den Gürtel, kletterte den Nordhang hinauf und verschwand.

Die restlichen Männer suchten sich trockene Stellen am Hang, setzten sich und genossen die relative Wärme. Sie hatten natürlich keine Ahnung, was Thorgrim im Sinn hatte, und so wussten sie auch nicht, wie lange sie sich ausruhen konnten, doch sie waren fest entschlossen, jede sich bietende Gelegenheit dazu zu nutzen. Und das war gut und klug. Niemand vermochte zu sagen, was an diesem Tag noch alles passieren würde. Würden sie fliehen? Kämpfen? Beides?

Louis lag mitten zwischen ihnen, die Hände hinter dem Kopf und die Augen geschlossen. Er sah wie ein Fürst aus, der sich nach einem Abendessen mit seiner Jagdgruppe ein wenig Ruhe gönnt.

Der Franke hatte recht gehabt, was Bécc betraf; dessen war Thorgrim sicher. Er hatte recht damit gehabt, dass Bécc bereit war, mit Airtre zusammenzuarbeiten, wenn das hieß, dass er Heiden abschlachten konnte. Und tatsächlich wären sie vermutlich allesamt getötet worden, hätte Louis Thorgrim nicht darauf aufmerksam gemacht.

Vielleicht sollte ich mich bei ihm bedanken …, überlegte Thorgrim, schob die Idee jedoch sofort wieder beiseite. Ach, Louis ist auch so schon selbstzufrieden genug. Da muss ich ihn nicht auch noch unterstützen.

Thorgrim war der Einzige, der noch stand. Er dachte darüber nach, sich ebenfalls zu setzen oder wie viele andere sogar hinzulegen, doch seine Gedanken überschlugen sich, und das wiederum regte ihn auf. Also blieb er stehen und lauschte, und dann und wann stieg er den Hang hinauf und schaute aus der Schlucht hinaus, aber da waren nur Felder zu sehen.

Dann hörte er schließlich eine Bewegung im Unterholz, und Starri tauchte wieder auf. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung, die Stirn feucht von Schweiß, und seine langen, dünnen Locken klebten an seiner Haut. Er atmete schwer, aber er lächelte.

»Es ist genau, wie du gesagt hast, Nachtwolf«, berichtete er, als er wieder ein wenig Luft bekam. »Da sind irische Krieger, gut hundert, schätze ich. Sie sind aus Norden gekommen, und sie bereiten sich da hinten vor.« Er deutete vage in Richtung Westen. »Ungefähr eine Meile entfernt.«

»Sie bereiten sich vor? Auf einen Angriff?«, hakte Thorgrim nach.

»Nun, so lange bin ich nicht geblieben. Du hast ja gesagt, das soll ich nicht. Aber als ich gegangen bin, da haben sie so eine Art Formation eingenommen.«

»Das ist gut, Starri. Gut gemacht«, lobte Thorgrim. Er starrte in Richtung Westen und dachte nach. Bécc, Airtres Männer, seine eigenen … Wie bewegten sie sich zueinander?

»Das ist perfekt, Nachtwolf«, sagte Starri. »Diese Iren werden in dem Glauben in die Schlucht stürmen, uns von hinten anzugreifen, doch da werden wir sie schon umgangen haben und stattdessen ihnen in den Rücken fallen! Das wird wunderbar!«

Thorgrim nickte. Ja, das könnte wunderbar werden, doch es würde nicht passieren. »Nein. Wir werden uns verabschieden«, verkündete er. »Wir werden sie nicht angreifen.«

»Was?« Starri sah aus, als wäre solch eine schreckliche Möglichkeit ihm gar nicht in den Sinn gekommen, und vermutlich war dem auch so. »Wenn wir jetzt kämpfen, nutzt uns das nichts«, erklärte Thorgrim. »Wir würden nur sinnlos Männer verlieren. Wir sind mitten in Weideland. Nirgends ist ein Kloster, das wir plündern könnten. Was wir wollen, sind zwei Dinge: Wir wollen Harald wieder zurück, und wir wollen Segeltuch. Airtre ist derjenige, der uns etwas zu Harald sagen kann, und sowohl er als auch das Segeltuch sind in Ferns. Wenn wir also kämpfen, dann dort, nicht hier.«

Starri verzog das Gesicht, erwiderte aber nichts darauf. Thorgrim drehte sich zu den anderen um und hob die Stimme. »Die Iren, gegen die wir kämpfen sollten, glauben, sich von hinten an uns heranschleichen zu können.« Die Männer richteten sich auf und hörten zu. »Sobald wir hören, wie sie angreifen, gehen wir. Da lang.« Thorgrim deutete nach Nordosten, wovon er annahm, dass das der beste Fluchtweg war. »Wir müssen schnell sein, denn wir haben nicht viel Zeit. Sie werden rasch herausfinden, dass wir nicht mehr hier sind.«

»Wir werden nicht gegen sie kämpfen?«, fragte Gudrid neugierig, aber auch ein wenig enttäuscht.

»Oh, doch. Wir werden gegen sie kämpfen«, antwortete Thorgrim, »aber nicht heute. Jetzt macht euch zum Aufbruch bereit.«

Während die Männer und Failend sich grummelnd erhoben, winkte Thorgrim Starri, ihm zu folgen. Gemeinsam stiegen sie die Nordseite hinauf. Oben angekommen stand Thorgrim noch immer in Gestrüpp, und seine Sicht war eingeschränkt; also marschierte er bis zum Rand des kleinen Wäldchens, von wo aus er das Hügelland dahinter sehen konnte.

Thorgrim und Starri verließen die Bäume und schauten nach Westen. Dank der Hügel konnten sie nicht weiter als bis zu den Weiden vor ihnen blicken.

»Wo sind die Krieger?«, fragte Thorgrim.

»Ungefähr eine Meile dort lang«, antwortete Thorgrim und nickte in die Richtung, in die sie schauten. »Vielleicht weniger. Die Schlucht ist lang.«

»Gut«, sagte Thorgrim, und das war es auch. Die Entfernung zwischen seinen und Béccs Männern war groß genug. Das hieß, dass sie verschwinden konnten, ohne direkt verfolgt zu werden.

Thorgrim kehrte zum Rand der Schlucht zurück und rief den anderen zu, zu ihm zu klettern. Kurz darauf standen alle halb versteckt am Rand des Wäldchens, lauschten und warteten.

»Inzwischen müssten sie eigentlich fast bereit sein, um …«, begann Starri und hielt dann inne.

»Was ist?«, fragte Thorgrim.

»Hörst du das nicht?«

Thorgrim drehte das Ohr nach Westen und lauschte. »Nein«, antwortete er.

Starri schüttelte den Kopf. »Blind, taub … Du bist wirklich alt geworden, Nachtwolf. Aber ich höre Männer marschieren. Ich höre Stimmen.«

Ich weiß, dass du Stimmen hörst, dachte Thorgrim, und dann hörte auch er sie. Weit weg und gedämpft, aber unverkennbar: Das war das Geräusch von schreienden Männern, die in die Schlacht stürmten. Das mussten Airtres Männer sein, die in die Schlucht vordrangen und glaubten, die Nordmänner mit ihrem Überraschungsangriff ins Chaos zu stürzen.

»Gehen wir«, sagte Thorgrim. Er setzte sich in Bewegung und fast direkt von dem Lärm weg, aber eben nur fast. Den genauen Weg gab die Landschaft vor, und sie mussten versuchen, sich zwischen den Hügeln zu halten, außer Sicht. Leise marschierten sie durch das kniehohe Gras.

Thorgrim gab ein hohes Tempo vor, doch nicht so hoch, als dass sie es nicht länger durchhalten konnten. Hinter sich hörten sie weiteres Kriegsgeschrei, aber es war noch immer weit entfernt.

»Was schreien die da?«, fragte Godi, der neben Thorgrim ging. Dank seiner langen Beine hatte er keine Probleme mitzuhalten.

»Ich nehme an, inzwischen haben auch Béccs Männer von der anderen Seite angegriffen. Die schreien jetzt auch, um noch mehr Chaos zu verursachen. Mit ein wenig Glück sind sie so verwirrt, dass sie sich gegenseitig umbringen.«

Sie gingen gerade um einen Hügel zu ihrer Linken herum, und Thorgrim sagte zu Godi: »Ich werde mal auf den Hügel steigen und mich umschauen. Führ du die anderen da entlang.«

Thorgrim löste sich aus der Kolonne, trottete den grasbewachsenen Hang hinauf und schaute sich um. Die Wolkendecke brach auf, und hier und da war der blaue Himmel zu erkennen. Thorgrim drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Deutlich sah er die Bäume im Westen, die die Grenze zur Schlucht bildeten, und um sich herum die Hügel.

Thorgrim hörte noch immer gelegentlich einen Schrei, doch er vermochte nicht zu erkennen, ob er von Béccs oder Airtres Männern stammte. Dann wandte er sich nach Norden und Osten. Mehr Hügel, mehr Felder und Weiden, aber auch das, was er zu sehen gehofft hatte: ein Rath, eines der Ringforts, die man in ganz Irland fand.

Dieses hier konnte sowohl das Heim eines wohlhabenden Kleinkönigs sein als auch der heruntergekommene Hof eines armen Bauern. Die Iren bauten schlicht immer solche Erdwälle um ihr Heim, und aus der Ferne war schwer zu erkennen, wie reich oder arm die Gebäude darin waren.

Aber es war ein Rath, und mehr musste Thorgrim im Augenblick nicht wissen. Er lief wieder den Hügel hinunter und führte seine Männer nach Osten.

Bécc wird schon bald erkennen, was los ist, dachte Thorgrim, und dann wird er Kundschafter ausschicken, um uns zu suchen. Bécc hatte berittene Krieger, und die würden das Land durchkämmen. Wenn sie die Nordmänner auf freiem Feld erwischten, könnte es zu einer hässlichen Schlacht kommen. Thorgrim wusste nicht, wie viele Krieger Bécc und Airtre zusammen hatten, aber er wusste, dass die Heerscharen ungefähr gleich groß waren. Außerdem war das hier Béccs Heimatland, und so konnte er es sich leisten, Männer zu verlieren, Thorgrim nicht.

Als sie sich dem Rath näherten, sahen sie Menschen, die auf den Feldern arbeiteten, und sie sahen auch, wann genau die erkannten, was da auf sie zukam. Sie hielten mitten in der Arbeit inne, warfen ihre Werkzeuge beiseite und rannten panisch in die vermeintliche Sicherheit ihres Erdwalls.

Als sie noch eine Viertelmeile entfernt waren, konnte Thorgrim den Ort endlich besser sehen. Der Rath war verhältnismäßig groß, gehörte aber bei Weitem nicht zu den größten, die Thorgrim je gesehen hatte. Er sah die Dächer von drei Gebäuden hinter dem Wall, und der Wall selbst war in gutem Zustand, hoch und gepflegt und verstärkt mit einer Palisade. Das war das Heim eines recht wohlhabenden Mannes, Eigentümer von vielleicht fünfzig Kühen.

Die letzten paar hundert Schritt wurden sie langsamer. Da stand jemand auf dem Wall und beobachtete sie. Ohne Zweifel fragte er sich, ob diese Neuankömmlinge das Ende von allem bedeuteten, was er liebte. Thorgrim gab einen Befehl, und die Nordmänner formierten sich mit erhobenen Schilden zu einer Schlachtreihe. Das war eine unverhohlene Drohung.

Der Mann auf dem Wall rief etwas. Failend, die neben Thorgrim stand, übersetzte: »Er fragt, wer ihr seid und was ihr wollt.«

Thorgrim hatte keine Zeit für Verhandlungen. »Sag ihm, wir sind Nordmänner. Sag ihm, wir werden jetzt in seinen Rath kommen. Sag ihm, wenn er das Tor für uns öffnet, dann schwöre ich, werden wir niemandem etwas tun. Sag ihm, wenn nicht, dann werden wir über den Wall kommen und alle abschlachten.«

Thorgrim beobachtete den Mann, während Failend seine Worte übersetzte. Der Wall eines Raths bot zwar Schutz, aber nicht allzu viel, und Thorgrim wusste, dass dieser Kerl nicht den geringsten Zweifel daran hegte, dass gut hundert Nordmänner in Schlachtreihe durchaus fähig waren, ihre Drohung in die Tat umzusetzen. Also würde er zwischen der Möglichkeit wählen müssen, dass Thorgrim die Wahrheit sagte – dass sie verschont werden würden, sollten sie das Tor öffnen –, oder aber der Gewissheit, dass man sie alle töten würde.

Nur wenige Augenblicke später schwang das schwere Tor auf, und Thorgrim führte seine Männer hinein.

Die müden Nordmänner warfen sich auf den Boden, um sich auszuruhen, und Thorgrim und Failend regelten alles mit dem Besitzer des Rath, einem niederen Fürsten, wie Failend Thorgrim erklärte. In jedem Fall trug er irgendeinen unaussprechlichen Titel aus der komplizierten irischen Hierarchie, die Thorgrim nie verstehen würde.

»Sag ihm, dass meine Männer Essen und Bier brauchen. Es darf jedoch keiner der Leute hier raus, denn wir wollen nicht entdeckt werden. Sag ihm, dass ich ihn für die Verpflegung bezahlen werde.« Während Failend übersetzte, holte Thorgrim sechs Silbermünzen aus seiner Börse und gab sie dem Iren, der überrascht die Augen aufriss.

Der Preis der Treue, dachte Thorgrim, aber das war in Ordnung. Sie hatten schon genug Sorgen, und es war schlicht leichter, die Hilfe des Mannes zu kaufen, denn Thorgrim wusste, dass Bécc sie jagen würde.

Und das tat er auch. Die Iren kamen nicht viel später. Die Nordmänner hatten sich gerade auf Fleisch und Brot gestürzt, das die Diener des Fürsten ihnen gebracht hatten, als Hall, den Thorgrim auf den Wall geschickt hatte, rief: »Da kommen Reiter! Zwei, soweit ich sehen kann!«

Thorgrim stieg die Leiter hinauf und stellte sich neben Hall. Hall deutete zu den Reitern, doch Thorgrim hatte sie bereits entdeckt. Kurz beobachtete er sie. Sie hielten genau auf den Rath zu, und Thorgrim wusste, warum sie kamen.

Thorgrim stieg wieder herunter und rief Failend und den Kleinfürsten zu sich. »Sag dem Kerl, dass da Reiter kommen und dass sie nach uns suchen. Sag ihm, ich will, dass er ihnen Folgendes sagt …«

Kurz darauf waren Pferde draußen zu hören, als die Reiter sich dem Rath näherten. Der Herr des Raths stand genau dort auf dem Wall, wo er auch bei der Ankunft der Nordmänner gestanden hatte. Failend war halb die Leiter hinaufgeklettert, sodass die Reiter sie nicht sehen konnten. Thorgrim stand unter ihr.

Thorgrim hörte zu, wie der Fürst die Reiter begrüßte, und diese erwiderten den Gruß. Dann tauschten sie ein paar Worte aus, und Thorgrim wusste, dass der Fürst genau das sagte, was er ihm aufgetragen hatte. Nämlich, dass er in der Ferne eine Kolonne von Männern gesehen habe und dass er und seine Leute ins Ringfort geflohen seien, während die fremden Krieger weiter gen Osten marschiert seien, ohne sich um sie zu kümmern. Thorgrim wusste das, weil Failend es ihm gesagt hätte, hätte der Mann etwas anderes erzählt.

Die Reiter und der Fürst sprachen weiter. Irgendwann lud er die Reiter dann auf Thorgrims Anweisung ein, hereinzukommen und sich zu vergewissern, dass keine Heiden im Rath waren.

Doch die Kundschafter lehnten ab, genau wie Thorgrim es vorausgesehen hatte. Wahrscheinlich hatten sie es eilig, und sie glaubten dem Zwergfürsten. Falls nicht, und falls die Heiden sich tatsächlich im Rath verstecken sollten, dann – so wussten sie – wären sie im selben Augenblick erschlagen worden, da sie durchs Tor geritten wären. Und sie hatten recht. Thorgrim hatte dort sechs Mann mit Speeren stationiert. Also dankten die Reiter stattdessen dem Herrn des Raths und zogen weiter.

Als Béccs Männer schließlich wieder außer Sicht waren, rief Thorgrim die wenigen Männer zusammen, deren Meinung ihm wichtig war: Gudrid, Godi und auch Louis, von dem Thorgrim widerwillig zugeben musste, dass er sein Handwerk verstand. Mehr noch, Louis hatte mit den Iren gelebt und gekämpft, und so wusste er mehr über dieses Volk als sonst jemand – Failend ausgenommen, die ebenfalls eingeladen war.

Thorgrim rief auch noch den Herrn des Raths hinzu. Tatsächlich bestand er sogar darauf, dass der Mann an der Besprechung teilnahm.

»Béccs Kundschafter sind weitergeritten, aber das heißt nicht, dass sie nicht glauben, dass wir hier sind. Wenn sie Bécc berichten, dass wir uns in dem Ringfort verstecken, dann werden seine Männer noch vor Sonnenuntergang vor dem Wall stehen.«

Die anderen nickten. Louis sprach. Failend, die Thorgrims Worte für den Franken wiederholt hatte, übersetzte: »Louis sagt, sie werden nur kommen, wenn Bécc hier gegen uns kämpfen will, aber das will er vielleicht nicht.«

»Das stimmt«, sagte Thorgrim. »Bécc will vielleicht gar nicht hier gegen uns kämpfen.«

Thorgrim war das Ganze im Kopf schon durchgegangen. Bécc könnte sie in dem Rath einschließen, aber wenn er sie nicht aushungern wollte, würde er seine Männer früher oder später über den Wall schicken müssen. Der Rath mochte ja keine beeindruckende Verteidigungsanlage sein, aber die irischen Krieger würden trotzdem niedergemetzelt werden, wenn sie versuchten, über den Wall und durch die Palisade zu gelangen. Selbst wenn sie gewinnen sollten, würde der Preis dafür unglaublich hoch ausfallen, und Thorgrim bezweifelte, dass Bécc das wollte.

»Tatsächlich«, fuhr Thorgrim fort, »nehme ich an, dass Bécc uns nicht hier angreifen wird, selbst wenn er annimmt, dass wir hier sind. Er wird sich zurückhalten, uns im Auge behalten und warten, bis wir wieder auf freiem Feld sind. Deshalb müssen wir los. Heute Nacht. Im Dunkeln. Wir müssen möglichst weit weg von ihnen.«

Wieder nickten die Männer. »Aber wo sollen wir hin?«, fragte Godi.

»Nach Ferns«, antwortete Thorgrim. »Wir werden nach Ferns ziehen. Dort können wir mehr über Haralds Schicksal erfahren, und dort bekommen wir auch unser Segeltuch … so oder so.« Thorgrim drehte sich zu Failend um. »Frag unseren Gastgeber, wie weit es von hier nach Ferns ist.«

Failend und der Ire unterhielten sich. »Er sagt ungefähr zehn Meilen. Es gibt eine Straße von hier in Richtung Norden.«

Thorgrim dachte darüber nach. Eine Straße ergab Sinn. Auf einer Straße fand man leichter den Weg, aber eine Straße würde Bécc beobachten lassen.

Doch ein Marsch querfeldein war auch keine Option. Sie waren in diesem Land vollkommen fremd. Bécc würde sie ohne Zweifel stellen, wenn sie beschlossen, sich selbst den Weg zu suchen. Und dann hatte Thorgrim eine andere Idee.

»Der Fluss, die Bann … Die fließt doch sicher nicht weit von hier«, sagte er. »Und wir wissen, dass sie direkt an Ferns vorbeifließt. Wenn wir ihr folgen, können wir uns nicht verirren. Failend, frag den Kerl, ob die Bann in der Nähe ist.«

Failend nickte, und einen Augenblick später übersetzte sie: »Er sagt, die Bann fließt knapp sechs Meilen nördlich von uns. Er sagt, sie sei tief genug für Boote, kleine Boote, aber er glaubt nicht, dass wir in der Gegend viele finden werden.«

»Egal«, sagte Thorgrim. »Wir können dem Fluss über Land folgen und uns Boote schnappen, wann immer wir welche sehen.«

Er drehte sich zu den anderen um. »Das machen wir. Während Bécc durchs Land hetzt und nach uns sucht, gehen wir zur Bann und folgen ihr nach Ferns. Wenn die Götter mit uns sind, wird das Kloster nicht verteidigt, und wir können uns einfach nehmen, was wir brauchen, und dann Harald finden.«

»Glaubst du, dass sie unser Segeltuch haben, Nachtwolf?«, fragte Gudrid.

»Vielleicht«, antwortete Thorgrim. »Und ich nehme an, sie haben noch weit mehr. Silber und Gold wie all die anderen großen Christentempel auch. Wir haben eine Abmachung mit dem Abt getroffen, und er hat sie gebrochen. Das heißt, wir schulden ihm nichts, er uns aber schon, und zwar jede Menge.«

Wieder nickten die Männer. »Failend«, sagte Thorgrim. »Sag unserem Gastgeber, dass wir den Rath verlassen werden, sobald der Mond untergegangen ist. Wir werden nach Norden zur Bann ziehen, und er wird uns den Weg zeigen.«