Kapitel 28

Stark sei unsere Hilfe, möge Christus uns beschützen,
sie treten der Gefahr entgegen.

DIE ANNALEN DER VIER MEISTER

Im Laufe des Tages legte sich Béccs Zorn ein wenig, aber nicht ganz. Doch er hielt ihn im Zaum wie ein wildes Tier im Käfig und versteckte ihn. Das war eines der vielen Dinge, die sich verändert hatten, seit er sein Leben Gott geweiht hatte. Bécc der Krieger hatte seinem Zorn stets freien Lauf gelassen, doch das hatte nie zu etwas Gutem geführt.

Zorn, Rache, das ist Gottes, nicht meins, ermahnte er sich selbst und fand Trost in diesen Worten. Bécc glaubte einfach nicht, dass Gott diese Heiden für ihre Sünden ungestraft davonkommen lassen würde.

»Da kommen Reiter, Bruder Bécc«, sagte Tipraite. Bécc grunzte. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, den Blick zu heben.

Es hatte einige Zeit gedauert, bis er und Tipraite sich vergewissert hatten, dass die Heiden tatsächlich verschwunden waren. Eine unverschämt lange Zeit, in der sie das gottverlassene Gestrüpp am Boden der Schlucht durchforstet hatten. Und mit jedem Fleck, den sie sinnlos vom Unterholz befreit hatten, hatte die Wut des Kriegermönchs zugenommen.

Wo sind sie hin? Hat dieser Thorgrim unseren Plan etwa erraten? Oder hat jemand ihm von der Falle erzählt? Béccs Gedanken überschlugen sich, während er durch die Schlucht pflügte. Schließlich blieb er stehen und erkannte, wie sinnlos es war, weiter mit seinen Männern auf die Büsche einzudreschen.

»Alle wieder hoch! Raus hier!«, brüllte er so laut, dass ihn alle hören konnten. Und so kletterten die Männer wieder aus der Schlucht und zu dem Feld darüber.

Alle außer Bécc. Als er nur noch allein in der Schlucht war, setzte er seine Suche fort. Langsam bewegte er sich durchs Unterholz und schaute sich jeden Busch genau an, anstatt einfach nur auf ihn einzuhacken. Und plötzlich sah er es: platt getretene Pflanzen, abgebrochene Zweige und aufgewühlter Schlamm, wo fast einhundert Heiden durch das Gestrüpp marschiert waren.

Bécc folgte der Spur. Die Schlucht war deutlich länger, als er gedacht hatte, und Zweige und Äste schlugen ihm ins Gesicht und brannten auf seiner Haut – zumindest dort, wo er noch Haut hatte.

Schließlich erreichte Bécc das Ende der Schlucht und die Stelle, wo die Heiden gerastet und auf ihre Gelegenheit zur Flucht gewartet hatten. Bécc sah genau, wo sie gelagert hatten.

»Du listiger Bastard«, knurrte er laut vor sich hin, denn es war ja niemand da. Die Tatsache, dass sie sich hier ausgeruht hatten, hieß, dass sie das Ende der Schlucht schon erreicht hatten, lange bevor Tipraite mit seinem Angriff begonnen hatte. Das wiederum bedeutete, dass Thorgrim gewusst hatte, dass er in eine Falle geschickt werden sollte.

Ein paar Schritte weiter sah Bécc, wo die Heiden ihr Versteck verlassen hatten und den Nordhang hinaufgestiegen waren. Bécc folgte der Spur und erreichte schließlich ein offenes Feld. Nur die Hügel behinderten hier noch seine Sicht. Die Spur der Nordmänner führte mitten durchs Gras. Sie waren nach Nordosten marschiert.

»Mögen eure Seelen in der Hölle brennen«, knurrte Bécc vor sich hin. Er hatte keine Ahnung, wann genau sie geflohen waren. Rasch stieg er den nächsten Hügel hinauf, und vor ihm lag das Land. Keine Heiden.

Bécc kehrte wieder zur Schlucht zurück und stapfte eine halbe Meile bis zu der Stelle, wo seine und Airtres Krieger unter dem Befehl von Tipraite warteten.

»Die Heiden sind am anderen Ende aus der Schlucht geflohen«, berichtete Bécc Tipraite und seinem eigenen Hauptmann Trian. »Sie sind nach Nordosten marschiert. Gott allein weiß, wie sie unseren Plan durchschaut haben, aber das haben sie.«

»Weit können sie noch nicht gekommen sein«, erklärte Trian. »Wie lange ist es denn her, dass sie geflohen sind?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bécc. »Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie sind aus der Schlucht raus, als wir reingegangen sind. Diese Heiden wussten, was los war.«

»Diese verdammten, gottlosen Feiglinge, einfach so abzuhauen«, knurrte Tipraite. Trian nickte, doch Bécc sah das anders. Die Heiden waren in eine Falle gelockt worden; sie hatten sie kommen sehen, und sie waren entkommen. Das war klug. Sosehr er die Bastarde auch hasste, so viel musste er zugeben.

»Schickt Kundschafter aus. Sofort«, befahl Bécc. »Je zwei Reiter. Schickt sie in alle Richtungen und lasst sie sechs, sieben Meilen weit reiten. Weiter können die Heiden noch nicht gekommen sein. Wenn sie wieder zurückkommen, werden wir entscheiden, wie es weitergeht.«

Die beiden Männer nickten, drehten sich um und liefen los, um die Kundschafter zu organisieren. Bécc setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und brütete vor sich hin.

Der Abt muss nichts von der Falle wissen, sagte er sich. Wenn ich ihm erzähle, dass die Heiden einfach weggelaufen sind, dann wird er mir das glauben. Wenn ich ihm sage, dass ich Tipraite gebeten habe, sich uns anzuschließen, und dass er es deshalb getan hat, dann wird er mir das ebenfalls glauben. Gleiches gilt, wenn ich ihm sage, dass die Heiden uns verraten haben, nicht umgekehrt.

Bécc wurde schlecht. Er fühlte sich wie ein Versager, und die eigene Hinterlist widerte ihn an. Er zog seinen Dolch und schaute sich um. Niemand war in seiner Nähe; also stach er den Dolch durch den Ärmel, vorbei an seinem Kettenhemd und in den Arm. Der Schmerz war furchtbar, aber auch reinigend. Eine gerechte Strafe für seine Sünden.

Du bist dieser Mann nicht mehr, tadelte Bécc sich selbst, als er die Klinge wieder herauszog und warmes Blut auf seiner Haut spürte. Bécc der Krieger hätte kein Problem damit gehabt zu lügen, um seinen Ruf zu wahren. Und das hatte er auch getan … früher. Doch dieser Mann war er nicht mehr. Trotz des Kettenhemds und der Waffen an seinem Gürtel war er jetzt Bruder Bécc. Er war ein Mann Gottes. Er würde dem Abt die Wahrheit sagen, jede Strafe ertragen, mit der man ihn belegte, und Gott um Vergebung bitten.

Sie warteten den ganzen Morgen über, und einer nach dem anderen kamen die Reiter wieder zurück. Keiner hatte auch nur eine Spur von den Nordmännern gefunden, und sie hatten auch niemanden getroffen, der sie gesehen hatte. Vielleicht hatte Satan die Heiden ja zu sich geholt. Bécc hätte das zumindest nicht überrascht, doch er glaubte nicht, dass es so einfach war.

»Das sind die Letzten«, sagte Tipraite. Béccs Laune hatte sich im Laufe des Tages mehr und mehr verfinstert, und inzwischen fiel es ihm schwer, Interesse auch nur zu heucheln. Also grunzte er einfach und rappelte sich auf.

Tipraites Blick wanderte zu Béccs linker Hand. »Bist du verletzt, Bruder?«, fragte er.

Bécc schaute nach unten. Sein Handrücken war voller getrocknetem Blut aus der Wunde, die er sich selbst zugefügt hatte; Buße für sein sündhaftes Tun. »Ach, das ist nichts«, erwiderte Bécc, und Tipraite war klug genug, es dabei bewenden zu lassen.

Einen Augenblick später hörte Bécc das Hufgetrappel der zurückkehrenden Kundschafter. Sie ritten schnell, und das ließ Bécc hoffen, dass sie vielleicht doch etwas über die Heiden herausgefunden hatten. Dann sah er sie. Sie bogen um die Ecke, galoppierten das letzte Stück und sprangen aus den Sätteln. Die Gesichter der beiden Männer waren knallrot und verschwitzt.

»Bruder Bécc?«, sagte einer der Reiter, als bitte er um die Erlaubnis, sprechen zu dürfen.

»Ja«, sagte Bécc. »Habt ihr die Heiden gefunden?«

»Wir haben sie nicht gesehen, Bruder, aber wir haben einen Mann gefunden, der das hat. In einem Rath, ein paar Meilen von hier. Wir haben ihn gefragt, ob sie bei ihm vorbeigekommen seien, und er hat gesagt, er habe eine Kolonne in Richtung Osten marschieren sehen. Er glaubt, dass sie zur Küste sind. Wir denken, das muss das Heidenheer gewesen sein.«

Der Reiter hielt inne und schaute drein, als warte er auf Lob für seine gute Arbeit, doch Lob hatte Bécc nicht im Sinn. »Und ihr seid nicht nach Osten geritten, um selbst nachzusehen?«, verlangte er zu wissen.

Erschrocken riss der Reiter die Augen auf. »Äh … Nein, Bruder. Wir dachten, es wäre besser, so schnell wie möglich zurückzureiten und dir Bericht zu erstatten.«

Bécc schwieg und starrte dem Mann einfach nur in die Augen. Sollte er sich ruhig winden. Währenddessen dachte Bécc über den Bericht des Kundschafters nach. »Seid ihr denn in dem Rath gewesen und habt euch vergewissert, dass die Heiden nicht drin sind?«, fragte er schließlich.

Bécc sah die Verunsicherung auf dem Gesicht des Kundschafters, der nicht wusste, ob er sich mit einer Lüge aus dieser Situation herauswinden sollte oder nicht. »Äh … Nein, Bruder. Der Mann hat vom Wall aus mit uns gesprochen, und wir hatten keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Wir wollten nicht noch mehr Zeit verschwenden.«

Und ihr wolltet euch nicht einfach abschlachten lassen, falls die Heiden tatsächlich da drin waren, dachte Bécc.

»Gut. Danke«, sagte Bécc schließlich und fügte widerwillig hinzu: »Gut gemacht.« Die Kundschafter lächelten und gingen sichtlich erleichtert weg. Bécc drehte sich zu Tipraite und Trian um.

»Glaubst du, die Heiden sind wirklich in Richtung Osten unterwegs, wie der Mann im Rath gesagt hat?«, fragte Trian.

»Nein. Die marschieren nicht nach Osten«, antwortete Bécc. »Dafür gibt es keinen Grund. Osten liegt in genau der entgegengesetzten Richtung von allem, was ihr Ziel sein könnte. Sie waren in dem Rath und haben dessen Herrn gezwungen, unseren Kundschaftern eine Lüge aufzutischen.«

»Und …?«, hakte Tipraite nach.

»Und wir ziehen jetzt zu dem Rath und treiben sie da in die Enge wie das Ungeziefer, das sie sind. Die Männer sollen sich bereit machen.«

Tipraite und Trian waren erleichtert. Endlich hatten sie was zu tun. Sie drehten sich sofort um und brüllten Befehle. Die Männer standen auf und bildeten eine Kolonne. Auch die Reiter saßen wieder auf.

Bécc beobachtete die Vorbereitungen, doch in Gedanken war er woanders. Er dachte über die Heiden nach. Fast hundert von ihnen verbargen sich hinter dem Wall des Raths. Er schaute nach Westen. Der Tag war fast vergangen. Wenn sie den Rath erreichten, würde die Sonne bereits untergehen, und Bécc glaubte nicht, dass diese erbärmlichen Bauern, die ihm nur zur Verfügung standen, einen Nachtkampf durchstehen würden.

Aber egal. Bécc konnte den Rath immer noch umstellen und die Heiden dann am Morgen rausjagen. Dessen war er sicher. Ein Rath vermittelte einem nur das Gefühl, sich darin verteidigen zu können. In Wahrheit konnte man die irdenen Wälle jedoch rasch erklimmen und die wackeligen Palisaden leicht umstoßen.

Trotzdem würde Bécc viele Männer dabei verlieren. Während sie sich den Wall hinaufkämpfen mussten, würden die Heiden mit Speeren, Äxten und Schwertern auf sie einhacken. Überdies war es eine Sache, ob ein Rath von einem Dutzend verängstigter Iren verteidigt wurde oder von gut einhundert Nordmännern, die um ihr Überleben kämpften.

»Aber es muss getan werden«, sagte Bécc zu sich selbst. Er hatte keine andere Wahl, als die Heiden dort zu bekämpfen, wo er sie fand, und er konnte das sogar zu seinem Vorteil nutzen. Wenn er Airtres Männer als Erste in den Kampf schickte, dann hätten sie die größten Verluste zu tragen, und der Rí Tuath hätte nach der Vernichtung der Heiden keine Möglichkeit mehr, Ferns anzugreifen. Zwei Fliegen auf einen Streich. Solch ein Sieg würde mit Sicherheit auch den Zorn des Abts mildern, weil Airtre sich eigenmächtig gegen die Heiden gewandt hatte.

Aber hast du das wirklich selbst entschieden … oder hat Airtre dich dazu überlistet?, fragte Bécc sich plötzlich, und dieser Gedanke bereitete ihm neue Sorgen.

»Bruder Bécc?« Tipraite näherte sich ihm mit seinem und Béccs Pferd. »Die Männer sind bereit.«

Bécc schaute an seinem Hauptmann vorbei. Die Männer hatten sich zu einer Kolonne formiert. Die Speere ruhten auf ihren Schultern, und die Schilde trugen sie auf den Rücken. Die Handvoll Pferde scharrten nervös mit den Hufen.

Wir müssen schnell sein, dachte Bécc. Niemand wusste, wie lange die Nordmänner noch in dem Rath bleiben würden. Wenn es Gottes Wille war, dann würden sie die Heiden auf freiem Feld stellen, doch sie durften auf keinen Fall zulassen, dass sie im Land verschwanden. Sie durften keine Zeit damit verschwenden, Thorgrim und seinen Haufen durch ganz Laigin zu jagen.

Bécc nahm Tipraite sein Pferd ab, stellte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Dann drehte er sein Tier zu den Männern herum. Er öffnete den Mund, um sie zur Eile zu ermahnen. Er wollte ihnen sagen, dass er das Tempo vorgab, und wenn sie nicht mithalten konnten, dann würde er dafür sorgen, dass sie den Tag ihrer Geburt verfluchten.

Doch das sagte er nicht.

Du Narr, dachte er. Du gottverdammter Narr.

Thorgrim mochte ja im Rath gewesen sein, als die Kundschafter dort gewesen waren, aber jetzt war er dort vermutlich längst nicht mehr. Als Krieger hatte Bécc früh gelernt, dass man einen Feind nie unterschätzen durfte, und er hatte nun schon oft gesehen, dass dieser Thorgrim verdammt clever war. Ohne Zweifel war es auch Thorgrim gewesen, der den Herrn des Raths gezwungen hatte, Béccs Kundschaftern zu erzählen, die Nordmänner seien nach Osten gezogen.

Thorgrim wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Bécc und seine Krieger ziellos durchs Land taperten und nach einem Feind suchten, der nicht da war. Wie die Israeliten würden sie durch die Wüste ziehen, während die Heiden tun und lassen konnten, was sie wollten.

»Männer!«, rief Bécc, und alle drehten sich zu ihm um. »Kehrtmachen! Macht kehrt!« Verwirrung war die Folge und auch Zögern, doch rasch wandte sich die Kolonne von Ost nach West. »Wir werden schnell marschieren, und bei Gott, ihr werdet mithalten!«

»Bruder Bécc?«, fragte Tipraite leise nach, sodass die Männer ihn nicht hören konnten.

»Wir marschieren nach Ferns«, erklärte Bécc, »denn da gehen auch die Heiden hin. Dort werden wir sie in die Falle locken und bis auf den letzten Mann niedermachen.«