Kapitel 30

Die erste Beute nahmen sich die Heiden
im Süden von Brega …

Sie machten viele Gefangene und töteten auch viele
Und führten viele Gefangene weg.

DIE ANNALEN VON ULSTER

Also entweder sind die auf Grund gelaufen, oder sie wollen lieber nicht weiter flussabwärts, wo sie uns treffen würden«, sagte Starri.

Thorgrim grunzte. Sie standen am Südufer der Bann, einem sich sanft windenden Fluss, der an diesem Punkt zwischen zwanzig und dreißig Schritt breit war. Starri hatte es als Erster gesehen: ein Boot, das mit der Strömung offensichtlich auf sie zu fuhr. Starri hatte gesagt, da seien eine Handvoll Männer an Bord, doch Thorgrims Augen waren nicht gut genug, als dass er hätte sagen können, ob das wirklich so war oder nicht. Vermutlich stimmte es. Starri hatte für gewöhnlich recht mit solchen Dingen.

»Ich werd mir mal ein paar Männer nehmen und dieses Boot holen«, sagte Starri eifrig, doch Thorgrim schüttelte den Kopf.

»Dafür haben wir keine Zeit, und ein einzelnes Boot würde uns auch nichts nutzen«, sagte er.

»Aber was, wenn sie Bescheid geben, dass wir hier sind?«, argumentierte Starri. »Was, wenn sie Alarm schlagen?«

»Der einzige Ort, wo uns das kümmern würde, ist Ferns«, erwiderte Thorgrim. »Und um da hinzugelangen, müssen sie an uns vorbei. Wenn sie das tun, halten wir sie auf. Jetzt müssen wir weiter.«

Sie hatten das Ufer der Bann erst vor Kurzem erreicht. Widerwillig hatte der Herr des Raths, in dem sie sich vor Béccs Männern versteckt hatten, sie hierhergeführt. Sie waren die Nacht durchmarschiert, hatten bei Sonnenaufgang kurz gerastet und waren dann im Sonnenschein weitergezogen. Als sie den Fluss erreicht hatten, hatte Thorgrim seinen Männern erneut befohlen, kurz auszuruhen und ein wenig von dem zu essen, was sie beim Herrn des Raths für Silber gekauft hatten.

Failend trat zu Thorgrim und hockte sich neben ihn. »Der Mann, der uns hierhergeführt hat, will wissen, ob er jetzt gehen kann«, sagte sie.

Thorgrim schaute an ihr vorbei zum Herrn des Raths. Der Mann wirkte müde und ungeduldig. Offenbar hatte er inzwischen verstanden, dass die Heiden ihm nicht zu ihrer Belustigung den Hals durchschneiden würden, doch das hieß nicht, dass er auch bei ihnen bleiben wollte.

»Nein«, erklärte Thorgrim schließlich. »Sag ihm, dass ich ihn jetzt noch nicht gehen lassen kann. Sag ihm, er kann gehen, sobald wir Ferns erreicht haben.«

Thorgrim beobachtete das Spiel der Emotionen auf Failends Gesicht, die Sicherheit, dass ihr Landsmann vehement protestieren würde, und die Erkenntnis, dass das Thorgrim nicht im Geringsten interessierte. Sie nickte und stand auf.

»Und sag ihm auch«, fügte Thorgrim hinzu, »dass es besser für ihn wäre, wenn dieser Fluss wirklich nach Ferns führt, wie er sagt. Sollte er das jedoch nicht länger glauben, dann sollte er es mir lieber jetzt sagen, bevor ich es selbst herausfinde.«

Failend nickte wieder, drehte sich um und ging zu dem Iren, um ihm Thorgrims Worte zu übersetzen, die ihn ohne Zweifel enttäuschen und ängstigen würden.

Kurz darauf hatten sie das Boot entdeckt. Sie beobachteten, wie es näher kam, und sahen, wie es eine halbe Meile entfernt anhielt. Doch da war Thorgrim schon begierig darauf aufzubrechen. Er wollte keine Zeit verschwenden.

»Gehen wir«, sagte er zu Starri und Godi, und Godi übersetzte die leise gesprochenen Worte in laute Befehle. Mürrisch rappelten die Männer sich wieder auf, schnappten sich ihre Waffen und warfen sich erneut die Schilde über den Rücken. Thorgrim drehte sich nach Südwesten und machte sich auf den Weg die Bann entlang. Rechts rauschte das Wasser, und fast hundert Krieger folgten dem Fluss.

Und Thorgrim war sich so gut wie sicher, dass das Kloster von Ferns direkt vor ihm lag. Der Herr des Raths hatte seine Geschichte nicht geändert, und das wiederum hatte Thorgrim davon überzeugt, dass das hier die Bann war und dass sie nach Ferns führte. Der Ire wusste schließlich, dass eine Lüge seinen Tod bedeutete.

Sie setzten ihren langen Marsch am Ufer fort. Die Reihe der Krieger zog sich undiszipliniert in die Länge, doch das war Thorgrim egal. Er kannte seine Männer gut genug, um zu wissen, dass er sich auf sie verlassen konnte. Es mochte ihnen ja an Disziplin mangeln, solange sie an einem irischen Fluss entlangwanderten, doch in einem Schildwall würden sie wie Eichen stehen und bis zum Tod kämpfen.

Die Sonne hatte den Zenit schon lange überschritten, als Thorgrim seinen Männern wieder erlaubte, sich ein wenig auszuruhen. Dann winkte er Starri zu sich. »Ich will nicht plötzlich hinter einer Biegung vor Ferns stehen«, sagte er. »Ich will mich dem Kloster im Dunkeln nähern und es bei Tagesanbruch angreifen. Deshalb musst du es finden, und dann gibst du uns Bescheid. Verstanden?«

Starri nickte. Thorgrim wusste, dass der langsame Marsch in einer Kolonne Starri in den Wahnsinn trieb. Diese Mission war eine große Erleichterung für ihn.

»Wenn du willst, kannst du auch ein paar Männer mitnehmen«, sagte Thorgrim. »Such sie dir aus.«

»Gut«, meinte Starri und ließ seinen Blick über die Krieger schweifen. Thorgrim hoffte nur, dass Starri gut wählen würde, denn wenn nicht, dann würde er, Thorgrim, doch die Entscheidung für ihn treffen müssen. Es gab niemanden, der besser für so eine Aufgabe geeignet war als Starri. Niemand war so schnell und ausdauernd, doch Thorgrim fürchtete immer, dass der Berserker nur Chaos verursachte. Manchmal war Starri dann doch ein wenig zu eifrig.

»Ich nehme Vestar. Der kann laufen«, sagte Starri. »Und dazu den Franken, Louis.«

Das überraschte Thorgrim. »Louis? Wirklich?«

»Sicher«, antwortete Starri. »Er ist auch schnell, und er ist klug. Außerdem spricht er die Sprache dieser Iren. Das könnte uns nutzen.«

»Ja, aber er spricht unsere Sprache nicht«, erwiderte Thorgrim. »Du kannst nicht mit ihm reden.«

»Ach, Nachtwolf, das ist das Problem, wenn man ein Jarl ist wie du. Du redest nicht mehr mit dem einfachen Volk. Der Franke lernt. Sicher, er spricht unsere Sprache wie ein kleines Kind, aber er kann sich verständlich machen … meistens jedenfalls.«

Thorgrim nickte. Das war noch eine Überraschung. Er dachte an die letzten Male zurück, da er mit Louis gesprochen hatte. Ein-, zweimal hatte der Mann tatsächlich angedeutet, dass er bereits ein wenig Nordisch aufgeschnappt hatte.

Will der Bastard mich hinters Licht führen, indem er mir vorgaukelt, dass er mich nicht versteht?, fragte sich Thorgrim. Vielleicht. In jedem Fall würde er in Zukunft darauf achten, was er in Gegenwart des Franken von sich gab.

»Einverstanden«, sagte Thorgrim. »Vestar und Louis. Los jetzt.«

Starri nickte. Er lächelte. Dann lief er los, um seine winzige persönliche Heerschar zu sammeln. Thorgrim setzte sich und nahm den Wasserschlauch an, den Failend ihm zusammen mit einem Stück Weizenbrot reichte. Während er aß, wurde ihm bewusst, wie müde seine Beine waren, ja eigentlich alles an ihm.

Thorgrim beobachtete, wie Starri, Louis und Vestar den Fluss hinunterliefen. Thorgrim gab seinen Männern noch ein wenig Zeit, sich auszuruhen, dann rief er sie wieder zusammen. Failend bat er, den Herrn des Raths zu holen, der meist bei der Nachhut lief, denn er hatte große Schwierigkeiten mitzuhalten. Aber natürlich war er auch am wenigsten motiviert.

»Frag ihn, wie weit es noch bis Ferns ist«, sagte Thorgrim. Failend übersetzte, hörte zu und übersetzte dann wieder.

»Er sagt, er glaubt fünf Meilen oder so, aber er hat mich gebeten, dir zu sagen, dass er sich nicht sicher ist und dass du ihm keinen Vorwurf daraus machen kannst, wenn er sich irrt.«

Thorgrim grunzte. »Na gut. Sag ihm, dass ihm nichts passieren wird – zumindest nicht, solange das hier die Bann ist und sie uns wirklich nach Ferns führt.«

Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung, zuerst als Truppe, dann, immer weiter auseinandergezogen, folgten die Männer dem Fluss. Manchmal konnten sie sich dicht am Ufer halten, und manchmal mussten sie nach Süden abbiegen, um einem Wäldchen oder einem kleinen Sumpf auszuweichen, doch immer war der breiter werdende Fluss zu ihrer Rechten zu sehen.

Auf ihrem Marsch kamen die Nordmänner an ein paar Ringforts vorbei, in denen Rauch von unsichtbaren Feuern hinter den Wällen aufstieg, doch Menschen waren nicht zu sehen. Es war unmöglich, hundert Männer bei Tageslicht in diesem Land zu verbergen. Die Nordmänner waren aus großer Entfernung zu erkennen, und alle, die sie sahen, flohen mit Sicherheit sofort in den Schutz der Erdwälle. Die Fliehenden wussten zwar vielleicht nicht, ob das Heer irisch oder heidnisch war – in dieser Gegend eigentlich eher irisch –, aber das war egal. Bewaffnete brachten nur Ärger, egal, für wen sie kämpften.

Der Tag war schon weit fortgeschritten, als Vestar wieder zurückkehrte. Er kam im selben Augenblick um ein kleines Wäldchen herum, als Thorgrim, Failend und Godi es an der Spitze der anderen erreichten. Das Gesicht des Kriegers war knallrot. Er atmete schwer, und sein Haar und die Haut klebten von Schweiß.

»Gut zwei Meilen von hier«, begann er, nachdem sein Atem sich wieder beruhigt hatte, »konnten wir das Kloster in der Ferne sehen, auf der anderen Seite des Flusses. Ich glaube, dort gibt es auch eine Furt. Noch einmal zwei Meilen dahinter.«

»Gut«, sagte Thorgrim. »Gut. Habt ihr auch Béccs Krieger gesehen? Wie sieht’s da aus?«

Vestar schüttelte den Kopf. »Louis und ich konnten ohnehin nicht viel jenseits der Gebäude sehen. Starri hat gesagt, da arbeiten Menschen auf den Feldern, aber keine Spur von Kriegern oder Pferden. Nichts.«

»Gut«, sagte Thorgrim noch einmal. Er nahm an, dass die Bewohner der Ringforts, an denen sie vorbeigekommen waren, viel zu sehr mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt gewesen waren, als dass sie sich um das Kloster gekümmert hätten. Er dachte an Bécc, der mit seinen Kriegern irgendwo östlich von ihnen auf der Suche nach den bösen Heiden ziellos durchs Land zog. Wenigstens hoffte er, dass Bécc das tat.

»Lasst uns weitergehen«, sagte Thorgrim.

Vestar hatte recht. Zwei Meilen von der Stelle entfernt, an der er sich mit Thorgrim getroffen hatte, erblickten sie am Nordufer der Bann eine Kirchturmspitze oberhalb eines Walls. Thorgrim hatte Ferns von dieser Seite zwar noch nie gesehen, aber er erkannte es sofort.

Starri der Unsterbliche und Louis der Franke saßen auf einem verrottenden Baumstamm und standen auf, als Thorgrim in Sicht kam. »Da, Nachtwolf!«, sagte Starri eifrig. Da war dieser Blick in seinen Augen, und er spie die Worte förmlich aus, wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war. »Das Kloster! Wie eine reife Frucht, die nur darauf wartet, gepflückt zu werden.«

Thorgrim schaute zu seinen Männern zurück, die sich an Ort und Stelle einfach zu Boden fallen ließen. Dann drehte er sich wieder zu Starri um. »Ja, und morgen früh ist es auch noch da«, erklärte er.

Starri runzelte die Stirn. »Wir greifen nicht sofort an?«

»Nein«, antwortete Thorgrim. »Erst am Morgen. Wir werden in der Nacht näher rücken und bei Tagesanbruch über den Wall stürmen, wenn sie es am wenigsten erwarten.«

Die Falten auf Starris Stirn vertieften sich. Er schaute sich um, erst rechts, dann links, als suche er Streit, doch er fand niemanden.

»Was immer du sagst, Nachtwolf«, sagte Starri endlich. »Du bist schließlich derjenige, der von den Göttern gesegnet ist.«

Starri klang nicht überzeugt, doch Thorgrim wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Männer waren müde. Sie waren weit marschiert und hatten nur wenig gerastet oder gegessen. Außerdem hatten sie so die Nacht über Zeit sicherzustellen, dass Ferns in der Tat nicht verteidigt wurde. Starri mochte das zwar enttäuschen, die anderen aber nicht.

Immerhin sind wir nicht alle Berserker, dachte Thorgrim.

*

Louis de Roumois spürte, wie ihn jemand schüttelte, um ihn zu wecken, aber er schlief gar nicht. Er hatte zwar die Augen geschlossen und lag auf der Seite, doch in Wahrheit war er hellwach.

Es war die Nacht vor dem Kampf, die Stunden vor der Schlacht. Allerdings wusste Louis nicht, ob man das wirklich eine Schlacht würde nennen können. Bis jetzt hatten sie keine Krieger gesehen, keine Zelte, keine Pferde und auch keine Rauchsäulen von Kochfeuern. Thorgrim und die Heiden könnten durchaus den Wall überwinden, ohne auch nur auf den geringsten Widerstand zu treffen. Genau darauf hoffte Thorgrim auch, wie Louis wusste, und der Mann hatte guten Grund dazu.

Und das war das Problem für Louis. Morgen würde er etwas tun, was er noch nie zuvor getan hatte. Er würde freiwillig an der Plünderung eines irischen Klosters teilnehmen. Er würde auf der Seite von Heiden zu den Waffen greifen und mit ihnen zusammen eine christliche Kirche brandschatzen. Sein ganzes Erwachsenenleben über hatte er gegen die Nordmänner gekämpft, und jetzt würde er Schulter an Schulter mit ihnen stehen.

Louis hatte das Failend erklärt. Er hatte ihr erklärt, dass er sich niemandem gegenüber zur Treue verpflichtet fühlte, nicht den Iren, nicht den Heiden und noch nicht einmal den Franken. Er hatte ihr gesagt, dass er sich nur wünschte, nach Roumois zurückzukehren, um sich an seinem Bruder zu rächen. Und das meinte er auch so. So fühlte er. Doch so zu fühlen, während man mit einer Frau am Lagerfeuer sprach, war eine Sache; auch daran zu glauben, wenn man das Schwert gegen seine Mitchristen erhob, war etwas vollkommen anderes.

Deshalb schlief Louis jetzt auch nicht, als ihn jemand an der Schulter schüttelte.

Er öffnete die Augen. Es war noch immer dunkel, und Louis fragte sich, ob es schon Zeit war, gegen Ferns zu ziehen. Sicher war er nicht. In jedem Fall hatte er das Gefühl, dafür noch nicht lange genug gelegen zu haben.

Louis rollte sich herum und sah im schwachen Licht die schmale, drahtige Gestalt von Starri dem Unsterblichen. Der Nordmann stand über ihm und stieß ihn mit dem Fuß an. Starri war ein wahrlich seltsamer Kerl. Die anderen hatten nach wie vor Vorbehalte gegen Louis gehabt, weil er bei Glendalough aus ihrer Gefangenschaft geflohen war. Es hatte lange gedauert, bis sie ihn einigermaßen akzeptiert hatten. Thorgrim war in diesem Punkt noch immer hin- und hergerissen. Für Godi galt das Gleiche. Nur Harald schien seine Vorurteile langsam abzulegen.

Aber nicht Starri. Starri schien das alles nicht zu kümmern. Louis war noch nicht einmal sicher, ob Starri überhaupt verstand, warum die anderen ihm gegenüber so misstrauisch waren.

»Louis«, sagte Starri im Flüsterton. Er deutete in die Dunkelheit, doch nicht in Richtung Ferns, sondern in die, aus der sie gekommen waren. »Wir … gucken … Männer«, sagte er.

So sprach Starri mit Louis, wie mit einem Kind oder als wäre Louis geistig zurückgeblieben. Das ärgerte den Franken, doch andererseits musste er auch zugeben, dass er die Sprache der Nordmänner tatsächlich nicht so weit beherrschte, um ein vernünftiges Gespräch führen zu können. Die Hälfte der Zeit verstand er wenigstens, was Starri von ihm wollte … zumindest glaubte er das.

Jetzt nickte Louis. Starri schlug vor, dass sie noch ein wenig kundschaften sollten, um sicherzustellen, dass niemand sich von Osten an sie heranschlich, ob nun Béccs Heer oder dessen Kundschafter. Aber was auch immer Starri wirklich meinte, in jedem Fall war es besser, als einfach nur hier rumzuliegen und sich seinen Schuldgefühlen zu ergeben.

Louis trat seine Decke beiseite und stand auf. Dann schnappte er sich den Schwertgürtel und legte ihn an. Starri trat derweil nervös von einem Fuß auf den anderen. Schließlich nickte Louis, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die Dunkelheit.

Sie bewegten sich rasch, liefen locker durch das kniehohe Gras und auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Starri war schnell und schien unermüdlich zu sein, doch Louis war jung und hatte von Natur aus eine gute Kondition. Er hatte kein Problem, mit dem Nordmann mitzuhalten.

Im Norden hörten sie das Rauschen der Bann, und Starri bog in diese Richtung ab. Schließlich lief er einen kleinen Hügel direkt am Ufer hinauf. Dort blieb er dann stehen, und Louis tat es ihm nach. Gemeinsam ließen sie ihre Blicke über das Land schweifen.

Der Mond war kaum zu sehen, und so blieb das meiste unter den beiden Männern in Dunkelheit. Starri deutete zum Fluss und dann flussaufwärts.

»Boot?«, sagte er und zuckte mit den Schultern. Louis nahm an, dass er das Boot meinte, dass sie früher am Tag gesehen hatten, das, von dem sie gehofft hatten, es würde bis zu ihnen fahren. Louis zuckte ebenfalls mit den Schultern. Starri nickte.

Sie liefen weiter. Diesmal war es Louis, der plötzlich stehen blieb und Starri die Hand auf den Arm legte. Louis legte den Kopf zurück und atmete tief durch die Nase ein. Er roch Feuer, doch nicht den warmen Geruch von brennendem Holz, sondern den beißenden Gestank eines Feuers, das entweder rasch gelöscht worden oder heruntergebrannt war.

Louis tippte an seine Nase, und Starri nickte. Er roch es auch. Starri deutete zu einer Stelle ein Stück flussaufwärts. Von dort kam der Geruch. Louis nickte. Gemeinsam gingen sie den Hügel runter.

Als sie den Grund erreichten, verlangsamten sie ihren Schritt und bewegten sich so unauffällig wie möglich. Diese Art von Arbeit, das Kundschaften, war perfekt für Louis und Starri den Unsterblichen. Die Sprachbarriere stellte dabei nur ein kleines Problem dar, denn sie mussten ohnehin so leise wie möglich bleiben. Dafür brauchte man zwei Männer, die sich auch ohne Worte verständigen konnten und schon im Voraus wussten, was der andere tun würde. Und zu Louis’ großer Überraschung schienen sein Geist und der des Irren aus dem Norden vollkommen im Einklang zu sein.

Diese Vorstellung war ihm nicht gerade angenehm.

Der Geruch des schwelenden Feuers wurde immer stärker, je mehr sie sich dem Fluss näherten. Sie folgten dem Ufer und wussten sofort, dass sie in die richtige Richtung unterwegs waren. Vielleicht gehörte das Feuer ja den Iren in dem Boot, das sie gesehen hatten, vielleicht aber auch nicht. In jedem Fall hieß das, dass Männer im Rücken von Thorgrims Heer waren, und wenn sie eine Bedrohung darstellten, dann mussten sie ausgeschaltet werden.

Starri war zwei Schritte vor Louis, als er plötzlich stehen blieb und die Hand hob. Louis wäre fast mit Starri zusammengestoßen wie ein betrunkener Narr, als er ihn sah und ebenfalls innehielt. Louis trat neben Starri, und Starri, der in die Dunkelheit starrte, deutete leicht nach links. Da war ein Gestrüpp am Fluss, zumindest sah es für Louis so aus; ein dunklerer Fleck vor ohnehin dunklem Hintergrund. Das war durchaus eine Stelle, wo sich Menschen für die Nacht verstecken konnten.

Louis und Starri standen vollkommen regungslos da und ließen sich von den Geräuschen und Gerüchen der Nacht umschlingen. Der Geruch des Feuers war stark, und mit ihm kam der von Menschen. Louis hörte das Rauschen des Wassers und gelegentlich das Zirpen eines Insekts und den Wind in den Wipfeln. Und er nahm noch etwas anderes wahr: Atmen, Schnarchen. Dessen war er sicher.

Louis drehte sich zu Starri um, nickte, und Starri erwiderte das Nicken. Sie zogen ihre Messer und duckten sich. Louis schlich links herum, Starri rechts. Das war der Augenblick, da Worte sinnlos waren. Die beiden Männer waren auf den gleichen Instinkt angewiesen, doch Louis hegte keinerlei Zweifel daran, dass er und Starri wie ein Mann handeln würden.

Louis erreichte den Rand des Gestrüpps – wie er vermutet hatte, handelte es sich in der Tat um eines – und blieb stehen. Das Schnarchen war nun lauter. Wenn das Krieger waren oder auch nur jemand mit Verstand, dann hatten sie eine Wache aufgestellt, und Louis ging erst einmal davon aus, dass dem auch so war. Er trat ein, zwei Schritte weiter vor und schob dabei vorsichtig das Gestrüpp beiseite. Er hatte keine Ahnung, was sich auf der anderen Seite des Gestrüpps befand, ob es nur ein paar Kaufleute waren oder ein Dutzend kampfbereite Krieger.

Noch ein Schritt und noch einer, und dann konnte Louis durch die Büsche bis zum Fluss sehen, zwanzig Fuß entfernt. Ein paar orangefarbene Punkte verrieten, wo gerade die letzte Glut verlosch, und die schlafenden Männer erschienen als dunkle Haufen auf dem Boden. Louis sah vier, fünf, mehr nicht. Auch sah er keine Wache, was hieß, dass es entweder keine gab, oder der Mann war klug genug, sich gut versteckt zu halten.

Rechts von sich sah Louis eine Bewegung, wie ein Schatten, der über den Boden huschte. Starri kam ebenfalls aus dem Gestrüpp. Der Berserker rückte wie der Franke langsam vor und achtete sorgfältig darauf, kein Geräusch zu machen; doch nichts geschah. Alles blieb ruhig.

Mit dem Messer in der Hand schlich Louis zum nächsten Mann, doch er fragte sich, was er tun würde, wenn er ihn erreichte. In jedem Fall würde er ihn nicht töten, nicht im Schlaf; dessen war er sicher. Sie waren hier, um herauszufinden, wer diese Männer waren und ob sie eine Bedrohung für Thorgrims Heer darstellten.

Plötzlich war ein gedämpfter Schrei von der gegenüberliegenden Seite der Feuergrube zu hören, und Louis sah, wie einer der fremden Männer versuchte aufzustehen, doch eine andere Gestalt stürzte sich schnell wie eine Katze auf ihn. Dann setzte sich der Mann vor Louis auf und wirbelte gerade rechtzeitig herum, um Louis zwei Schritte auf sich zu kommen zu sehen; dann trat der Franke ihm vor den Kopf. Louis spürte den Aufprall bis in die Brust, und der Mann fiel zur Seite.

Louis drehte sich um und hielt das Messer vor sich. Zwei weitere Männer standen auf, doch Louis sah keine Waffen und keinen Schild. Das waren einfach nur zwei Schatten vor einem dunklen Hintergrund. In der Hoffnung, den nächsten Mann ebenfalls niederschlagen zu können und nicht töten zu müssen, setzte Louis sich in Bewegung.

Und dann rief eine Stimme in der Dunkelheit, laut und aufgeregt, aber nicht verängstigt. Wer auch immer da rief, sprach Nordisch, nicht Irisch, und auch wenn Louis die Sprache kaum verstand, glaubte er, den Mann sagen zu hören: »Töte sie nicht!«

Alle erstarrten, als hätte die Welt den Atem angehalten. Und Starri der Unsterbliche, der nur ein Schatten war, gut ein Dutzend Schritt von Louis entfernt, rief: »Harald Starkarm?«