Die Heiden wurden aus Irland vertrieben …
Und sie ließen eine große Zahl ihrer Schiffe zurück
Und flohen halbtot, nachdem sie
Verwundet und gebrochen worden waren.
DIE ANNALEN VON ULSTER
Failend hatte jenseits des Schildwalls ein Fass entdeckt, und drei von Thorgrims Männern holten es für sie. Jetzt stand es neben der Kirche und Failend darauf, den Bogen in der Hand und den Köcher am Gürtel. Sie hatte noch ein paar Dutzend Pfeile übrig, und auch wenn das nicht reichen würde, um den Sieg zu erringen, so würde es die Angreifer doch ausbremsen.
»Und los geht’s!«, brüllte Thorgrim im selben Augenblick, da Béccs und Airtres Männer sich in Bewegung setzten.
Zuerst gingen die Iren im Schritt, dann liefen sie immer schneller in der Hoffnung, die Nordmänner zwischen den zwei Schildwällen zu zermalmen. Auch sie schrien, und die Stimmen der irischen Krieger schwollen inmitten der Gebäude beeindruckend an. Ihr Kriegsgeschrei konnte es mühelos mit dem der Nordmänner aufnehmen, und zusammen klang es wie ein mythischer Kampf zwischen bösen Geistern.
Thorgrim beobachtete den Ansturm von Béccs Männern, sah den vordersten Mann stolpern und fallen. Die anderen trampelten über ihn hinweg, bevor Thorgrim klar wurde, dass Failend den Kerl niedergestreckt hatte. Sie wirbelte herum, schoss einen Pfeil auf die Angreifer aus der anderen Richtung; dann drehte sie sich wieder um und jagte einen weiteren Pfeil in Béccs Männer.
Inzwischen hatten die Iren die Hälfte der Distanz zurückgelegt. Thorgrim sah, wie Failend einen weiteren Krieger in die Brust traf. Der Mann ging genauso zu Boden wie der erste und verschwand unter den Füßen der Männer hinter ihm.
Dann prallten erneut die Schildwälle aufeinander, und das Krachen von Holz auf Holz hallte von den Mauern wider. Die Schwerter der Iren sausten herab, und die Nordmänner begegneten ihnen mit Schild und Stahl, und Speere stießen durch die Lücken zwischen den Männern. Thorgrim sah, wie einer der Iren ein Schwert in den Hals bekam und nach hinten fiel. Eine Sekunde später taumelte einer seiner eigenen Männer zurück. Ein Speer steckte in seinem Bauch. Der Mann dahinter trat vor und füllte die Lücke, während der Verwundete den Speer herausriss und ihn wieder gegen die irischen Krieger schleuderte.
Thorgrim drehte sich zu der anderen Reihe um. Godi stand in deren Zentrum, und Harald war gegen die Wand des Hauses gedrückt worden. Sie schlugen mit Axt und Schwert und koordinierten ihre Schilde mit den anderen, um den wilden Ansturm der Verteidiger abzuwehren.
Failend stand noch immer auf ihrem Fass. Sie hatte einen Pfeil eingelegt und hielt nach einem Ziel Ausschau. Thorgrim nahm an, dass sie fürchtete, im Getümmel den Falschen zu treffen. Starri wiederum stand zwischen den Schlachtreihen und drehte den Kopf hin und her. Seine Arme zuckten. Die Berserkerwut kam über ihn.
»Starri!«, rief Thorgrim. »Nicht vor den Schildwall!« Starri dem Unsterblichen mangelte es an Disziplin, um in einem Schildwall zu kämpfen, doch Thorgrim wollte auch nicht, dass er zwischen seine eigenen Männer und die Iren geriet. Das würde bestimmt nicht gut ausgehen.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Thorgrim etwas aufblitzen, und er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um einen Speer über den Schildwall fliegen zu sehen. Die Waffe traf Failend, riss sie herum und warf sie wie ein Spielzeug von ihrem Fass.
»Bastard!«, brüllte Thorgrim und stürzte in demselben Moment in ihre Richtung, da Starri an ihm vorbeistürmte. Mit einem Sprung war der Berserker auf dem Fass, doch da blieb er nicht. Er stieß sich ab, landete mit dem Fuß auf Gudrids Schulter, und bevor der auch nur reagieren konnte, warf Starri sich schreiend auf Airtres Männer.
Thorgrim drängte sich durch die Männer in der zweiten Reihe bis zu der Stelle, wo Failend im Dreck saß, den Rücken an der Kirche. Der Speer steckte nicht in ihr. Tatsächlich war er nirgends zu sehen. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und drückte die Hand auf die Seite. Blut sickerte zwischen ihren Fingern hindurch.
»Failend!«, rief Thorgrim. Er war sich durchaus bewusst, dass er keinem seiner Krieger so viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte, nicht mitten im Kampf und noch nicht einmal Harald. Aber Failend war nicht wie die anderen Krieger. Diese Wahrheit musste er sich eingestehen. Doch ihr gegenüber durfte er das niemals aussprechen.
»Ich … Ist nicht so schlimm«, sagte sie und strafte ihre Worte Lügen, als sie gequält nach Luft schnappte.
»Lass mich mal sehen«, sagte Thorgrim. Failend nahm die Hand weg, und Thorgrim schälte den zerrissenen, durchnässten und verklebten Stoff von ihrer Seite. Er sah ihre glatte weiße Haut darunter, die Haut, die er so sehr liebte, und auch die Wunde, die der Speer hinterlassen hatte. Die Spitze hatte Failend direkt rechts über der Hüfte getroffen, war aber nicht stecken geblieben, sondern weitergeflogen. Trotzdem hatte sie eine tiefe Wunde gerissen.
»Gut, gut«, sagte Thorgrim. »So schlimm ist das nicht.« Das mochte stimmen oder auch nicht. Thorgrim hatte Männer schon Schlimmeres überleben gesehen – Starri zum Beispiel –, doch er hatte auch gesehen, wie weit kleinere Wunden sich entzündet hatten und die Betroffenen im Fieberwahn gestorben waren. In jedem Fall konnte man bei all dem Blut kaum feststellen, wie schwer die Verletzung wirklich war.
»Geh«, forderte Failend und drückte die Hand wieder auf die Wunde. »Geh.«
Thorgrim nickte. »Drück fest drauf«, sagte er. Dann stand er wieder auf und schaute nach rechts und links. Überall schrien, hackten und stachen Männer aufeinander ein. Einige wichen zurück, und mehr stürzten sich von links in den Kampf. Thorgrim wusste, dass Starri nun mittendrin war, doch daran konnte er jetzt auch nichts mehr ändern.
Rechts von ihm wurde ebenfalls weitergekämpft, doch die Kämpfe ebbten ab. Je mehr Iren an dem undurchdringlichen Schildwall der Nordmänner fielen oder verwundet wurden, desto geringer war ihre Lust zu kämpfen. Als die Iren zurückwichen, um mit ihren Waffen aus der Ferne zu kämpfen – was natürlich völlig nutzlos war –, schien sich eine Lücke zu öffnen.
Dann kam ein Reiter im Trab die Straße runter und schrie. Es war Bécc, und auch wenn Thorgrim die Worte nicht verstand, so war er sicher, dass der Mann seinen Kriegern zurief, sie sollten gefälligst weiterkämpfen und sich wieder gegen die Nordmänner werfen. Bécc schlug einen der Speerkämpfer mit der flachen Seite seines Schwerts und deutete zum Schildwall, doch der Speerträger ließ sich lieber prügeln, als wieder vorzurücken.
Vestar war fünf Fuß von Thorgrim entfernt. Er hatte einen Speer in der Hand, nahm den Arm zurück und schleuderte die Waffe über den Schildwall hinweg auf Bécc. Aber der Kriegermönch sah die Waffe fliegen, und er zuckte noch nicht einmal. Stattdessen schlug er einfach mit dem Schwert nach dem Geschoss, traf den Schaft, und der Speer flog gegen die Wand.
Doch in diesem Augenblick kamen seine Männer zu dem Schluss, dass sie genug hatten. Die vorderen Krieger wichen zurück und drückten die nachfolgenden nach hinten, und die hinten drehten sich daraufhin einfach um und rannten über die Toten und Verwundeten hinweg davon. Thorgrims Männer waren viel zu erschöpft, als dass sie ihnen hätten hinterherjagen oder auch nur jubeln können.
Thorgrim drehte sich zu dem anderen Schildwall um und sah, dass auch dort die Iren rannten. Sie flohen auf demselben Weg, den sie gekommen waren. Gudrid und zwei andere setzten ihnen nach. Thorgrim wollte sie gerade zurückrufen, als er erkannte, dass sie nicht die Iren jagten, sondern Starri, der mit hoch erhobenen Äxten die Straße hinunterstürmte.
Die drei Nordmänner fingen Starri ein, packten ihn an den Armen und zogen ihn zum Schildwall zurück. Der Berserker schrie, trat und schlug um sich, und er heulte wie auf einer Beerdigung. Thorgrim wusste, dass Starri nicht um die gefallenen Gefährten weinte, sondern weil er noch lebte und nicht von den Walküren in Odins Halle getragen worden war.
Eine seltsame Stille senkte sich über den Ort, die vom schweren Atmen der ausgelaugten Krieger und vom Stöhnen der Verwundeten nur noch betont wurde. Thorgrim schickte zwei seiner Männer zu Failend. Sie sollten sich um sie kümmern und es ihr so bequem wie möglich machen. Er selbst wollte erst sehen, welche Verluste Bécc ihnen zugefügt hatte.
Die Iren hatte es am schlimmsten getroffen, so viel war klar. Für jeden Nordmann, der in einem blutigen Haufen auf der Erde lag, waren drei Iren gefallen. Doch die Iren hatten ja auch die härtere Aufgabe gehabt. Thorgrims Männer hatten nur standhalten müssen, während die Iren versucht hatten, einen massiven Schildwall zu durchbrechen. Und sie waren gescheitert. Dieses Mal.
Und was jetzt?, dachte Thorgrim. Als er die Entscheidung getroffen hatte, seine Männer zwischen diesen zwei Gebäuden aufzustellen, da hatte er nur daran gedacht, den Morgen zu überleben. Das war nun geschafft, und nun mussten sie sich überlegen, was sie als Nächstes tun sollten.
Thorgrim schaute die Straße hinunter, die auf einen Platz hinter der Kirche führte. Er sah ein paar dieser runden Häuser aus Lehm und Flechtwerk in der Ferne und ein Gatter mit Vieh darin. Von den irischen Kriegern war nichts zu sehen, doch Thorgrim war sicher, dass sie hinter den beiden Gebäuden lauerten, um sich sofort auf die Nordmänner zu stürzen, sobald sie den Schutz der ummauerten Straße verließen.
Da können wir nicht raus, überlegte Thorgrim. Er schaute nach oben. Das Kirchendach lag gut dreißig Fuß über ihnen, und es gab keine Möglichkeit, dort hinauf- und hinüberzukommen. Das Haus des Abtes wiederum war zwar niedriger, doch auch dort konnte man die Straße nicht verlassen, nicht ohne Leitern. Und Leitern hatten sie nicht. Die Iren hingegen schon, und Thorgrim nahm an, dass es nicht lange dauern würde, bis die ersten Krieger auf dem Dach auftauchten, um die Nordmänner mit Felsbrocken und Speeren einzudecken. Sie saßen hier fest wie Fische im Netz.
Louis stieg über ihn hinweg. Sein Kettenhemd war aufgerissen, und da war Blut auf dem Hemd darunter. Auch seine Hose war zerfetzt und blutig, aber er humpelte nicht. Louis nickte. Er deutete zum Dach des Abtes und sagte in gebrochenem, kaum verständlichem Nordisch: »Iren … gehen da … bald.«
Thorgrim nickte. Genau das hatte er gerade auch gedacht. Harald und Godi gesellten sich zu ihnen. Ihre Kleidung war genauso mitgenommen wie die von Louis.
»Sie werden wieder zurückkommen«, sagte Harald. »Und sie können sich so viel Zeit lassen, wie sie wollen. Vielleicht sollten wir die beiden Straßenzugänge verbarrikadieren.«
Thorgrim nickte wieder, doch sein Blick war auf etwas anderes gerichtet, auf etwas, das ihm bis jetzt nicht aufgefallen war. Vierzig Fuß entfernt, in den Mauern versenkt und deshalb nicht gut zu sehen, gab es Türen; eine in der Kirchenmauer und eine im Haus des Abts. Sie lagen einander genau gegenüber und dienten vermutlich dazu, dass der Abt ohne Umwege von einem Gebäude ins andere gelangen konnte.
Thorgrim hielt Eisenzahn noch immer in der Hand. Er hob die Klinge und deutete damit in die entsprechende Richtung. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als er plötzlich einen Schlag an seiner Schulter spürte und einen Ruck an seinem Kettenhemd. Im selben Augenblick hörte er den dumpfen Aufprall von irgendwas zu seinen Füßen.
Thorgrim schaute zu Boden. Ein Speer steckte im Dreck der Straße, und der Schaft wies zum Dach des Abts, von wo er geworfen worden war. Thorgrim hob den Blick. Sechs irische Krieger standen auf dem Giebel, und hinter ihnen befanden sich offenbar noch mehr, denn die sechs wurden kontinuierlich mit Speeren versorgt.
»Schilde!«, brüllte Thorgrim. »Schützt eure Köpfe!« Ein paar seiner Männer hatten die Bedrohung bereits gesehen und nach ihren Schilden gegriffen. Einige hielten sie sogar schon in die Höhe, während ein Speer nach dem anderen auf sie hinabflog. Einer von ihnen traf einen von Thorgrims Männern, der seinen Schild gerade erst halb gehoben hatte. Die Spitze drang dem Mann komplett durch die Schulter, riss ihn herum und warf ihn blutüberströmt auf die Straße.
»Schnappt euch die Verwundeten!«, brüllte Thorgrim. »Tragt sie, wenn ihr müsst! Der Rest: Schützt die, die ihnen helfen!«
Er drehte sich auf der Suche nach Failend um und sah, dass Hall sie bereits auf den Armen trug. Vestar stand vor ihm und schützte beide mit seinem Schild. Failend schien das Bewusstsein verloren zu haben, und Thorgrim sah entsetzt, wie zerbrechlich sie aussah, klein und schwach. Da erkannte er, dass ihr Geist sie stets hatte größer erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit war.
Thorgrim schaute nach rechts und links. Die Verwundeten wurden in die Höhe gezogen oder von jenen getragen, die noch unverletzt waren. Ein halbes Dutzend Tote lag auf dem Boden, doch dagegen konnte Thorgrim nichts tun.
»Vorwärts!«, brüllte Thorgrim. Godi schrie von weiter die Schlachtreihe runter: »Da!« Er deutete zum Kirchendach. Thorgrim schaute hinauf und sah, wie die ersten von Béccs Kriegern mit Speeren in der Hand über den Giebel stiegen. Sie mussten weit werfen, doch sie schleuderten ihre Waffen nach unten, und das würde genug Wirkung zeigen. Die Schilde würden einem solchen Angriff nicht lange standhalten.
Dann sah Thorgrim eine Bewegung am Ende der Straße. Ein Dutzend Männer schob einen schweren Karren quer in die Lücke. Thorgrim schaute den Weg zurück, den sie gekommen waren, und auch dort war ein Wagen zu sehen. Bécc sperrte sie in der Straße ein, wo seine Speerwerfer sie einen nach dem anderen töten konnten.
»Da«, sagte Thorgrim und deutete auf die Kirchentür. Er lief über die Straße, hörte, wie seine Männer ihm folgten, und einen überraschten Schrei von den Iren oben auf den Dächern.
Thorgrim schaffte es zur Tür, musste jedoch feststellen, dass sie sich nicht öffnen ließ. »Sie ist verriegelt!«, rief er. »Sucht einen …!«
Mehr brachte er nicht hervor. Mit einem Schrei auf den Lippen flog Godi über die Straße wie ein riesiger Felsblock, der einen Berg hinunterrollt. Harald und Gudrid liefen ihm mit erhobenen Schilden hinterher und hatten große Mühe mitzukommen.
Godi prallte mit einem gewaltigen Knall gegen die Tür. Thorgrim hörte Holz brechen, doch der Riegel gab nicht nach. Godi brüllte und wich wieder von der Tür zurück, während Harald und Gudrid versuchten, ihm weiter Deckung zu geben. Ein Speer flog vom Dach heran und schlug mit voller Wucht in Haralds Schild. Harald hatte alle Mühe, ihn in der Luft zu halten.
Dann stürmte Godi wieder vor. Diesmal schrie er sogar noch lauter, und sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Mit erschreckender Gewalt prallte er gegen die Tür, und jetzt brach der Riegel mit einem dumpfen Krachen. Die Tür schwang auf, und Godi stolperte in den dunklen Innenraum.
»Los, los, los!«, brüllte Thorgrim. Er stand ein paar Fuß von der Wand des Hauses des Abts entfernt. Er hielt den Schild über den Kopf und schwang Eisenzahn, um seine Männer anzutreiben.
Aber die Männer brauchten keine Ermutigung. Dafür reichten die eisernen Spitzen, die inzwischen von beiden Dächern regneten. Ein Speer drang in Armods Schild, und er warf den Schild weg und lief durch die Tür. Der Mann hinter ihm hatte jedoch nicht so viel Glück. Ein Speer verfehlte seinen Schild und traf ihn genau in den Rücken. Er stolperte und fiel. Er war tot oder würde es zumindest bald sein.
Harald war der Letzte, der durch die Tür lief. Dann war nur noch Thorgrim übrig. Thorgrim rannte, so schnell er konnte. Er hielt noch immer den Schild über den Kopf und schlug Haken, um es den Werfern so schwer wie möglich zu machen. Schließlich erreichte er die Tür und sprang in die kühle, große Kirche. Der Raum war riesig, und die Decke hoch über ihren Köpfen. Hier und da brannten Kerzen, und auch ein wenig Sonnenlicht fiel durch die bunten Fenster, doch ansonsten war es dunkel.
Thorgrim schaute sich um. Louis der Franke stand zehn Fuß von ihm entfernt. Ihre Blicke trafen sich, und Louis lächelte Thorgrim an. Er sagte ein Wort auf Fränkisch. Thorgrim wusste zwar nicht, was es bedeutete, aber es klang wie »Zuflucht«.