Kapitel 34

Auf allen Seiten sah ich die Walküren sich versammeln,
Bereit zu den Reihen der Götter zu reiten …

LIEDER-EDDA

Sie schauten zuerst nach den Verwundeten. Aus Roben, Gewändern und anderen Stoffen, die sie in einem Raum neben dem Hauptschiff fanden, bereiteten sie ihnen Lager. Dann legten sie die blutenden Nordmänner auf die reich bestickten Kleider der Christenpriester und verbanden die Wunden mit Fetzen, die sie aus feinstem Stoff gerissen hatten.

Um Failend kümmerte sich Thorgrim selbst. Er kniete sich über sie und schnitt ihr blutgetränktes Hemd vorsichtig auf. Einmal schnappte sie gequält nach Luft; ansonsten blieb sie vollkommen still.

Louis der Franke kam. In der einen Hand hatte er einen goldenen Kelch, in der anderen eine Flasche Wein. Er kniete sich neben Failend, und Thorgrim verbarg seine Verärgerung um ihretwillen. Er war nicht sicher, ob sie seine Gegenwart begrüßt hätte oder nicht, aber sie litt offenbar zu sehr, als dass es sie kümmerte.

Louis hob den Kelch. »Wasser«, sagte er. Thorgrim nickte, und Louis wusch Failend das Blut von der Wunde. Failend gab eine Reihe scharfer, gutturaler Laute von sich, als müsse sie Schmerzensschreie herunterschlucken, und ihr Körper verspannte sich. Doch das waren die einzigen Zeichen von Protest.

Ihre Haut, die man durch das zerschnittene Hemd sehen konnte, war blass und glatt. Es war eine wunderbare Haut, eine Haut, die Thorgrim gerne streichelte, und ein Teil dieser Haut war nun von einem irischen Speer zerrissen worden. Es war eine hässliche Wunde. Der Speer hatte ihre Seite nicht nur gestreift, wie Thorgrim zunächst vermutet hatte, sondern war mitten durch sie hindurchgegangen und hatte ihr Fleisch zerfetzt. Wäre sie größer gewesen, der Speer wäre vermutlich in ihr stecken geblieben, doch so war eine klaffende Wunde zurückgeblieben.

Louis hob die Weinflasche, und Thorgrim runzelte die Stirn. Er wusste nicht, wie viel Wein in der Kirche war, aber er würde es herausfinden und sicherstellen, dass die Männer sich betrinken konnten, wenn auch nicht bis zur Bewusstlosigkeit. Ein wenig Wein würde ihren Kampfgeist wecken. Tranken sie jedoch zu viel, würden die Iren sie mühelos erledigen.

Aber Louis trank den Wein nicht. Stattdessen schüttete er ein wenig davon auf Failends Wunde. Die dunkelrote Flüssigkeit mischte sich mit ihrem rotbraunen Blut. Failend schnappte wieder nach Luft, und Thorgrim packte Louis am Handgelenk, damit er nicht weitergießen konnte.

Louis sagte etwas. Er schaute Thorgrim unverwandt in die Augen, sprach aber nicht in seinem gebrochenen Nordisch.

»Er …«, keuchte Failend. »Er sagt, wenn man Wein auf eine Wunde gießt, dann … dann schwärt sie nicht. So hat er das auch immer mit seinen Soldaten gemacht.«

Thorgrim hielt Louis’ Handgelenk weiter fest, und die beiden Männer schauten einander in die Augen. Thorgrim wusste nur wenig von der Heilkunst, und dessen war er sich schmerzlich bewusst. Er war auch schon hilflos gewesen, als Harald und Starri schwere Wunden davongetragen hatten. Aber konnte er dem Franken wirklich trauen?

Schließlich ließ er Louis wieder los und nickte knapp. Der Franke goss weiter Wein auf Failends Wunde. Dann verbanden er und Thorgrim sie mit Stoffstreifen. Zu guter Letzt trank Louis den restlichen Wein aus der Flasche.

Thorgrim stand auf. Er musste sich um mehr kümmern als nur um Failend. Um viel mehr. Thorgrim schickte Männer zu den Kirchenwänden, um nach Türen oder anderen Wegen hinein zu suchen, und er platzierte ein Dutzend Männer an jedem Zugang. Andere schickte er los, allen Wein und alles Brot einzusammeln, das sie finden konnten. Er deutete auf die goldene Tür in der Wand im hinteren, leicht erhöhten Teil der Kirche. »Hinter dieser Tür da ist ein Laib Brot«, erklärte er. »Lasst den, wo er ist.«

»Warum das denn?«, verlangte Vestar zu wissen.

»Ich weiß nicht«, antwortete Thorgrim. »Aber in Glendalough hat Failend gesagt, wir sollten ihn lassen, wo er ist. Er ist irgendwie magisch oder so was.« Die anderen nickten. Mehr mussten sie nicht hören. Keiner der Nordmänner fühlte sich in dem Christentempel wohl, wo seltsame Götter und unbekannte Geister lauerten.

Thorgrim beobachtete, wie seine Männer die Befehle ausführten. So … und was jetzt?, überlegte er. »Godi, Gudrid, Harald! Kommt her!« Und die drei Männer liefen zu ihm. Thorgrim schaute zu Louis, der an einer der Säulen lehnte, die das Dach trugen. Wieder einmal stand er vor der Frage, ob er den Rat des Franken suchen sollte oder nicht.

Doch er und Failend waren die Einzigen, die wussten, wie diese irischen Christenmänner dachten. Diese Tatsache allein machte Louis’ Rat schon wertvoll.

»Louis!«, rief Thorgrim, und als der Franke zu ihm schaute, winkte Thorgrim ihm, sich zu ihnen zu gesellen. Als er da war, begann Thorgrim: »Im Augenblick sind wir sicher. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Béccs Männer die Kirche gerade umstellen, aber ich glaube nicht, dass sie uns angreifen werden. Dafür müssten sie durch die Türen, und dann könnten wir sie einen nach dem anderen erschlagen. Und Louis hier sagt, dass sie die Kirche auch nicht niederbrennen werden.«

Harald übersetzte Thorgrims Zusammenfassung der Lage und hörte sich Louis’ Antwort an. »Louis sagt, dass er sich das zumindest nicht vorstellen kann, es sei denn, Bécc ist noch wahnsinniger, als er zu sein scheint. Aber Bécc hat hier auch nicht das Kommando, sondern der Abt. Er nimmt an, dass sie schlicht warten und uns aushungern werden.«

Thorgrim nickte. Das glaubte auch er. Irgendwann würde das schon funktionieren, und es hieß zudem, dass weniger Männer ihr Leben lassen würden – weniger Iren jedenfalls. Thorgrim glaubte zwar nicht, dass Bécc die Geduld dafür hatte – Bécc war ein Krieger, und sein Instinkt war es anzugreifen –, aber Bécc traf auch nicht die Entscheidungen. Ein Kampf in der Kirche wiederum würde großen Schaden anrichten. Die Nordmänner könnten sie sogar in Brand stecken, und das wollte der Abt mit Sicherheit verhindern.

Thorgrim schaute zu Louis. »Gibt es in dieser Kirche irgendetwas, das so wertvoll für den Abt ist, dass er darum handeln würde?«

Harald übersetzte, und Thorgrim sah, wie Louis wie gewohnt mit den Schultern zuckte. So kannte er auch die Antwort schon, bevor Harald die Worte des Franken übersetzte: »Louis sagt, es gebe da …« Harald hatte Probleme, die richtigen Worte zu finden. »… heilige Dinge … Dinge, die der Abt nicht verlieren will.«

»Was für heilige Dinge?«, hakte Thorgrim nach. Es gab jede Menge Sachen aus Gold und Silber in der Kirche, und Thorgrim nahm an, dass Louis davon sprach.

»Da gibt es Stücke von den heiligen Männern der Christusanbeter«, erklärte Harald. »Wie einen Finger, einen Beinknochen oder so was, die einst zu einem ihrer heiligen Männer gehörten.«

Thorgrim runzelte die Stirn. Er erinnerte sich daran, so etwas auch schon einmal in Glendalough gehört zu haben. »Glaubt Louis, dass der Abt uns sicheren Abzug gewähren wird, wenn wir versprechen, diese Dinge in Ruhe zu lassen?«

Harald übersetzte. Louis schaute Thorgrim an. »Nein«, sagte er.

So waren sie im Augenblick zwar sicher, hatten aber keine Fluchtmöglichkeit, und Thorgrim befahl seinen Männern, sich auszuruhen. Ein paar legten sich auf den mit Stroh eingestreuten Boden, andere setzten sich an die Türen, sodass sie sofort aufwachen würden, sollte sich jemand daran zu schaffen machen. Godi verteilte kleine Portionen Wein und Brot, und die Nordmänner tranken aus den wunderbaren Gold- und Silberkelchen, die sie gefunden hatten.

Thorgrim und Harald saßen Seite an Seite auf dem Podium im hinteren Teil der Kirche, den Rücken an den Altar gelehnt. Thorgrims Anspannung ließ ein wenig nach. Er konnte jetzt ohnehin nichts mehr tun, nur warten.

»Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie du in Gefangenschaft geraten bist«, sagte er zu Harald. Seit ihrem Wiedersehen an der Bann hatte nur Chaos geherrscht, und Thorgrim bezweifelte, dass er und sein Sohn seitdem mehr als ein paar Dutzend Worte gewechselt hatten. »Wir hatten gehört, dass du dich Airtre als Geisel angeboten hast. Was ist dann passiert?«

Harald erzählte ihm von dem Kampf am Strand und dem Gefeilsche um die Ruder, doch diese Geschichten hatte Thorgrim schon von Haralds Männern gehört, als sie nach Loch Garman zurückgekehrt waren. Dann berichtete Harald, wie es gewesen war, Airtres Geisel zu sein, und wie der ihn als Gefangenen behandelt hatte. Und schließlich erzählte er von seiner Flucht.

»Wir sind dich retten gekommen, weißt du?«, sagte Thorgrim. »Ein paar von uns. Wir haben Airtres Lager angegriffen und nach dir gesucht, aber da musst du schon weg gewesen sein.«

Harald nickte. Er fragte nicht, wie Thorgrim erfahren hatte, dass er in Airtres Lager gewesen war oder wo das Lager sich befand. Als sein Sohn hatte er ohnehin eine gute Vorstellung davon.

»Als wir dich nicht finden konnten, haben wir Airtre als Geisel genommen«, berichtete Thorgrim weiter. »Aber Bécc hat darauf bestanden, dass wir ihm Airtre übergeben. Dann haben diese Hunde sich verbündet und sich gegen uns gewandt.«

»Jaja«, sagte Harald. »Diese Iren hassen uns Nordmänner sogar noch mehr, als sie einander hassen.«

»Und wie ist es mit dir weitergegangen, nachdem du Airtre entkommen bist?«

Harald erzählte die Geschichte, wie er durchs Land gewandert war und versuchte hatte, den Weg nach Ferns zu finden. Er berichtete, wie er die Iren auf der Straße getroffen und ihnen die Geschichte aufgetischt hatte, dass er der entflohene Sklave eines Nordmanns mit Namen Thorgrim sei.

Thorgrim lächelte, als er das hörte. Er hatte schon länger nicht mehr etwas derart Amüsantes gehört. »Und das haben sie dir geglaubt?«, fragte er und hob die Augenbrauen.

»Größtenteils jedenfalls«, antwortete Harald. »Der Mann, der das Sagen hatte … Er hieß Cathal. Er war auch einer der Männer, die wir auf dem Boot gefangen genommen haben. Und er war kein Narr. Ich glaube nicht, dass er meine Geschichte je geglaubt hat, aber sie hatten auch Grund, mich zu mögen.«

Harald erzählte von den Banditen, die die Hütten der Iren geplündert hatten, und von dem Kampf, der darauf gefolgt war. Er erklärte, wie er die Iren angeführt hatte, und wie sie die Diebe gemeinsam besiegt hatten, aber Thorgrim durchschaute seine Worte. Er wusste, dass sein Sohn die meiste Arbeit getan hatte. Vermutlich hatte er den Kampf sogar allein bestritten, doch er wollte nicht prahlen. Sie waren nun seit mehr als zwei Jahren auf Wiking, er und Harald, und in dieser Zeit hatte Thorgrim seinen Sohn zu einem fähigen, furchtlosen Krieger heranwachsen sehen.

Thorgrim hatte auch schon früher darüber gegrübelt, und er fand es irgendwie seltsam. Er und Harald, sie waren beide frei von Furcht: Harald, weil er jung war und sich für unbesiegbar hielt, und er, weil er alt war und nicht mehr viel älter werden wollte.

»Aber sie haben sich auch gegen dich gewendet, nicht wahr?«, fragte Thorgrim.

»Ja … irgendwie schon. Sie mussten. Sie haben mir nämlich erzählt, dass sie dort oben Eisen abbauen würden. Das kam mir aber ein wenig seltsam vor. Es war mir zwar egal, was sie da machten, aber ich wurde neugierig und fand heraus, dass die Mine – sie nennen sie die Mine von Sankt Aiden – tatsächlich eine Goldmine ist.«

»Eine Goldmine? Wirklich?«

»Ja. Sie graben nach Gold und bringen es versteckt in Wagen voller Eisenerz und Abraum nach Ferns. Es ist ein großes Geheimnis. Offenbar weiß so gut wie niemand davon. Um das Wissen um diese Mine zu wahren, sind sie bereit zu töten.«

»Und du glaubst, das ist wahr?«

»Ich weiß, dass das wahr ist«, erklärte Harald. »Ich habe selbst nachgeschaut und das Gold im Felsen gesehen. Deshalb haben sie mich auch gefangen genommen. Weil ich die Wahrheit herausgefunden hatte. Sie wollten mich hierherbringen. Der Abt sollte entscheiden, was mit mir geschieht. Ich bin fast entkommen, aber sie haben mir eins mit dem Ruder übergezogen.«

Thorgrim runzelte die Stirn und starrte in die dunklen Ecken der Kirchendecke. Eine Goldmine …, sinnierte er. Er hatte schon Geschichten darüber gehört, dass hier in Irland Gold abgebaut wurde, aber er hatte nie einen Beweis dafür gehabt … bis jetzt.

Nicht, dass das in ihrer gegenwärtigen Situation einen Unterschied machte.

»Wie auch immer, die Götter haben dich zu uns zurückgebracht, und das auch mehr oder weniger in einem Stück«, sagte Thorgrim. »Jetzt müssen sie uns nur noch einen Weg aus dieser Falle zeigen, in die wir geraten sind.«

»Das werden sie«, erwiderte Harald derart überzeugt, dass Thorgrim zu ihm hinüberschaute.

»Du hast wirklich viel Vertrauen in die Götter«, bemerkte Thorgrim. »Und das trotz der Tatsache, dass sie schon seit über zwei Jahren mit uns spielen.«

»Ja, das habe ich«, bestätigte Harald, »denn ich muss Airtre töten, und das werden die Götter mir nicht verweigern. Ich werde ihn natürlich selbst töten, aber die Götter werden auf meiner Seite sein.«

Thorgrim nickte. »Ich hoffe, du hast recht«, sagte er. Zwei Gedanken kamen ihm in den Sinn. Der eine war, dass er, Thorgrim, selbst die Absicht hatte, Airtre zu erschlagen. Der zweite war, dass Harald viel zu sehr darauf vertraute, dass die Götter ihm seinen Wunsch erfüllten. Dabei hatte er doch gesehen, wie sie in den letzten Jahren mit seinem Vater umgesprungen waren. Doch Thorgrim hielt den Mund.

Du bist alt und müde, Thorgrim Nachtwolf, dachte er, lass dem Jungen seine Hoffnung. Eines Tages wird er es schon noch lernen. Er hat ja auch gelernt, ein Krieger zu sein.

Dann kam ihm ein weiterer Gedanke: Vielleicht hat Harald ja auch recht, und du bist hier der Narr, alter Mann. Vielleicht solltest du ja von ihm lernen.