Epilog

Die Ereignisse sind in der Tat zahlreich,
Das Töten, die Überfälle und die Schlachten.
Niemand vermag sie alle zu erzählen …

DIE ANNALEN VON ULSTER

Die Luft roch nach Salzwasser und Sumpf, und sie war erfüllt von Hämmern und Sägen und dem steten Schlagen von Äxten und Beiteln. Der improvisierte Longphort, Waesfjord, wie Thorgrim ihn nannte, Loch Garman für die Iren, war erneut voller Leben, als alle versuchten, die geschundenen Schiffe wieder seetüchtig zu machen. Um Irlands Küste zu verlassen. Um nach Norwegen zurückzukehren.

Vielleicht.

Thorgrim Nachtwolf wollte nicht darüber nachdenken. Selbst wenn ihn jemand danach fragte, würde er nicht offen erklären, dass dies sein Plan war. Das würde nur Unglück bringen, denn es hieß, die Götter herauszufordern, zumindest für ihn. Thorgrim wusste natürlich, dass einige Männer schlicht sagen konnten, dass sie nach Norwegen segeln wollten, und die Götter würden sich ihnen nicht in den Weg stellen. Tatsächlich schickten sie diesen Männern sogar günstige Winde, die sie mit ihren Schiffen voller Beute und glücklichen Seeleuten gen Osten trugen.

Bei Thorgrim war das anders. Das war ihm inzwischen klar. Also bemühte er sich sehr, die Götter in keinem Fall herauszufordern.

In diesem Augenblick dachte er jedoch nicht an diese Dinge. Er achtete nicht auf die Männer, die an den Schiffen arbeiteten. Stattdessen suchte er nach Failend, zerbrechlich wie ein Vogel und zäh wie Leder.

Failend saß auf einer Bank. Vor drei Wochen hatten sie sie noch auf einer Trage zu dem Boot bringen müssen, das an der Bann vertäut gewesen war, um sie von dort zu den Langschiffen in die Nähe der Küste zu fahren, wo Bann und Slaney sich trafen. Mit letzter Kraft hatte Failend neben Thorgrim gestanden, während er den freien Abzug seiner Männer ausgehandelt hatte und mehrere Ballen geölte Wolle noch dazu, die nach Loch Garman geliefert werden sollten.

Als sie den Longphort schließlich erreicht hatten, hatte sie drei Tage lang auf dem Rücken gelegen, geschlafen und Brühe getrunken. Die Nordmänner, die zu Anfang nicht gewusst hatten, was sie mit ihr anfangen sollten, hatten gelernt, sie zu lieben. Failend war mit ihnen marschiert, hatte mit ihnen gekämpft und war bei der verzweifelten Verteidigung des Schildwalls verwundet worden. Anschließend hatte sie ihre Verletzung ohne Klagen ertragen. Jetzt behandelten die Männer sie wie die privilegierte Edelfrau, die sie, wie Thorgrim annahm, einmal gewesen war.

Am vierten Tag war sie das Rumliegen jedoch leid geworden. Unter den fast schon komisch besorgten Blicken der anderen rappelte sie sich auf und humpelte durch den Longphort. Sie bestand auf fester Nahrung und Bier. Sie ging umher, bis sie erschöpft war; dann setzte sie sich kurz, bevor sie wieder losmarschierte.

Es war nun drei Wochen her, seit der Speer ihre Seite durchbohrt hatte, und jetzt war die Wunde fast verheilt, und eine beeindruckende Narbe entstanden. Vor zwei Nächten hatten sie und Thorgrim zusammen unter der Decke gelegen, die sie sich teilten, auf dem Bett aus Zweigen und Bärenfell, das Thorgrim gebaut hatte. Failend trug ein Leinenkleid nach irischer Art statt der Kleidung der Nordmänner. Das tat sie immer häufiger, und Thorgrim wusste nicht, ob es einfach nur bequemer für sie war oder ob sie sich in der Gesellschaft der Nordmänner jetzt schlicht sicher fühlte, sodass sie nicht länger beweisen musste, eine von ihnen zu sein.

Ihm kam jedoch nie der Gedanke, sie zu fragen. Das war nicht seine Art.

Jetzt saß Failend, aber sie ruhte sich nicht aus. Auf ihrem Schoß lag ein breites rotes Tuch und auf den Knien ein ebenso breites weißes. Ihre Hand bewegte sich schnell und regelmäßig, während sie das weiße an das rote Tuch nähte. Wenn sie fertig war, würden zwei weitere Streifen für das Segel der Meereshammer zur Verfügung stehen. Dann blieben nur noch sechs. Anschließend würde man ihr zeigen, wie man das Liektau nähte, das um das ganze Segel verlief.

Thorgrim hatte nicht damit gerechnet, dass der Abt ihm so viel geben würde, nachdem er darauf bestanden hatte, das Kloster solle ihm das Tuch übergeben, das man ihm versprochen hatte. Immerhin waren nur ein paar Wochen vergangen, seit Failend dem Abt die Silberkassette mit der Bezahlung gegeben hatte. Thorgrim war nicht davon ausgegangen, dass das Kloster so viel Tuch in so kurzer Zeit produzieren konnte.

Aber offensichtlich hatte er sich geirrt. Die Mönche hatten einen Karren geholt und ein Dutzend Tuchballen daraufgeladen, weiße und rote. Louis der Franke hatte gelacht, denn er verstand ebenso wie Thorgrim, was das zu bedeuten hatte. Der Abt hatte das Tuch die ganze Zeit über gehabt. Er hatte Thorgrim nur erzählt, dass Ferns geplündert werden würde, bevor das Tuch fertig war, um die Nordmänner dazu zu bringen, es zu verteidigen.

Dieser clevere Bastard, dachte Thorgrim. Er hegte ehrlichen Respekt für einen derart listigen Mann, auch wenn die List sich gegen ihn und seine Männer gerichtet hatte. Doch Thorgrim lachte nicht, denn lustig war das nicht.

Sie waren in den Longphort zurückgekehrt und hatten sich sofort an die Arbeit gemacht. Thorgrim hatte sich an sein Versprechen gehalten und verhindert, dass seine Männer nach Dubh-Linn gingen. Das war auch gar nicht so schwer, denn er hatte ja nie jemanden dort hingeschickt.

Eine Woche später kam das restliche Segeltuch aus Ferns.

Die paar Männer, die gut mit Nadel und Faden umgehen konnten, machten sich an die Arbeit. Nachdem Failend sich weit genug erholt hatte, gesellte sie sich zu ihnen, und es dauerte nicht lange, da ließ sie die anderen Segelmacher weit hinter sich. Nähen war nicht nur in Irland, sondern überall auf der Welt eine typische Frauenarbeit. Sie begannen schon in jungen Jahren damit, und Failend war sehr gut darin.

Jetzt hob sie den Blick, als habe sie gefühlt, dass Thorgrim sie beobachtete. Sie lächelte, und er erwiderte das Lächeln. Die Sonne strahlte auf sie herab und brachte ihr schwarzes Haar zum Glänzen. Als Thorgrim sie zum ersten Mal gesehen hatte, war ihre Haut noch deutlich heller gewesen. Jetzt hatte sie eine gesunde Bräune.

Thorgrim hatte ein seltsames Gefühl in seiner Brust, ausgelöst vom Sonnenschein und von Failends Anblick, dem Fertigstellen der Segel und den Schiffen, die bald wieder in See stechen würden. Es war ein Gefühl der Zufriedenheit, erkannte er, das Gefühl, dass alles gut war.

Thorgrim schaute sich um. Er ließ seinen Blick über die Dünen wandern, den schilfbewachsenen Sumpf, die grünen Hügel und das blaue Meer, das im Sonnenlicht funkelte. Er hatte diesen Ort immer verflucht, dieses Irland. Doch an einem solchen Tag, einem seltenen, da es mal nicht regnete oder Nebel über dem Land hing, da musste er zugeben, dass es eigentlich ganz schön hier war.

Und zum ersten Mal hatte er den Gedanken, dass, würden die Götter ihn nicht gehen lassen, es vielleicht gar nicht mal so schlimm wäre.

*

Die Sonne fiel auf die Schultern von Bécc mac Carthach, dieser Tage eher bekannt als Bruder Bécc, auch wenn es ihm selbst immer schwerer fiel, sich so zu sehen. Auch der Sonnenschein linderte seine schlechte Laune nicht. Aber er war dankbar dafür, wenn auch nur aus einem Grund: Das helle Licht erlaubte es ihm, weiter zu sehen als im Nebel.

Bécc saß auf seinem Pferd, oben auf einem Hügel, und der Ort, zu dem er schaute, lag gut eine Meile entfernt. Bécc hatte nur ein Auge, und mit dem konnte er auch nicht mehr gut sehen. Einzelheiten konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen. Er sah jedoch das Wasser der Bucht, in die die Slaney mündete, und er sah die hellbraunen Dünen, an denen sich die Wellen brachen. Auch den halbmondförmigen Strand konnte er erkennen, an dem die Heiden ihr Lager aufgeschlagen hatten. Deutlich waren die Umrisse der vier Schiffe zu sehen, die man dort an Land gezogen hatte, sowie die Zelte der Nordmänner.

Bécc wusste genau, wie das Lager aussah, der Longphort, wie die Heiden es nannten. Er war dort gewesen. Er hatte die letzten Stoffballen persönlich abgeliefert, die Abt Columb den Nordmännern versprochen hatte. Er hatte dem Abt gesagt, er und ein paar Krieger würden die Karren begleiten, um sicherzugehen, dass sie auch ankamen und dass die Heiden nichts Übles im Schilde führten. Der Abt war ihm dankbar dafür gewesen. Er hatte nicht verstanden, dass das nicht der eigentliche Grund für Béccs Reise gewesen war.

Bécc wollte das Lager der Heiden mit eigenen Augen sehen. Er wollte sehen, wie viele Männer sie hatten und wie ihre Verteidigung aufgebaut war. Er wollte abschätzen, was es sie kosten würde, dieses Ungeziefer auszurotten.

Also hatte er Abt Columb angelogen. Das hatte er noch nie getan, und es verursachte ihm größere Qualen als der Schwerthieb, der ihn ein Auge und sein halbes Gesicht gekostet hatte. Doch die Wahrheit war, dass Bécc mac Carthach Zweifel bekommen hatte.

Es waren jedoch nicht sein Gott oder sein Glaube, woran er zweifelte. Es war der Abt. Dabei hatte er nicht ein einziges Mal an Columb gezweifelt, seit er ins Kloster gekommen war und sein Leben Gott geweiht hatte. Und auch jetzt zweifelte er nicht an der Heiligkeit des Abts oder der Ernsthaftigkeit von dessen Glauben. Aber er zog zum ersten Mal das Urteilsvermögen des Mannes in Zweifel.

Abt Columb ist ein Mensch, sinnierte Bécc. Und es gab nur einen Menschen auf dieser Welt, der nie einen Fehler begangen hat, und das ist nicht mein Herr Abt. Bécc wusste, dass er recht hatte; trotzdem empfand er es als illoyal, an dem alten Mann zu zweifeln.

Und schlimmer noch: Abt Columb war sein Beichtvater. Bécc wusste nicht, ob es eine Sünde war, an der Weisheit des Mannes zu zweifeln; dennoch hätte er gerne die Gelegenheit gehabt, das zu beichten. Würde er jedoch zu einem anderen Beichtvater gehen, wäre seine Untreue für jedermann sichtbar. Bécc war lange Krieger gewesen, bevor er Mönch geworden war, den Großteil seines Lebens, und Treue lag ihm genauso im Blut wie die Liebe zum Herrn.

Bécc hatte nicht ein Wort von dem geglaubt, was Thorgrim, dieser verlogene Heide, gesagt hatte. Er hatte ihm nicht abgenommen, dass vier Mann aus Ferns entkommen waren. Er hatte den Abt gedrängt, ihn die Scheiterhaufen anzünden zu lassen. Sollten ihre Schreie die restlichen Heiden aus der Kirche locken. Dann würden sie sie abschlachten. Alle.

Doch Abt Columb wollte das Risiko nicht eingehen. Für ihn war es die Gefahr nicht wert, dass andere von der Mine des heiligen Aiden erfahren könnten, nur um ein paar Heiden zu zerschmettern. Er erinnerte Bécc daran, dass die Nordmänner versprochen hatten fortzusegeln, und Bécc erinnerte den Abt daran, dass das Wort von Heiden wertlos war.

Doch der Abt hatte sich nicht überzeugen lassen, und so hatte Bécc die letzten Karren ins Lager der Heiden begleitet, um unauffällig nach Schwachstellen zu suchen. Seitdem hatte er oft sein Kettenhemd übergestreift und das Schwert umgeschnallt und war von Ferns nach Loch Garman geritten, wo er mit seinem Pferd auf einem Hügel gestanden und das Lager aus der Ferne beobachtet hatte. Er wollte sehen, wie die Heiden ihre Schiffe wieder zu Wasser ließen. Er wollte wissen, ob sie die Segel Richtung Ferns setzten.

Während er sie beobachtete, kochte die Wut in ihm. Bécc hatte Abt Columb schon einmal getrotzt, als er sich mit Airtre gegen die Heiden verbündet hatte. Er hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen ob dieser Entscheidung gehabt, doch die Schuldgefühle waren verflogen, und jetzt war er fest davon überzeugt, genau das Richtige getan zu haben. Die Heiden waren eine Plage. Sie waren ein Fluch. Sie waren das Werk des Teufels. Das mussten sie sein. Gott würde es nie zulassen, dass solch eine Pest Irland heimsuchte, ein Land, das seinem Wort folgte wie kein anderes.

Dieses Ungeziefer musste vernichtet werden. Sie mussten aus Irland rausgeworfen werden, wie Gott Luzifer aus dem Paradies geworfen hatte. So lautete Gottes Wille.

Bécc mac Carthach verzog das Gesicht und schaute weiter zu dem heidnischen Lager in gut einer Meile Entfernung. Er spürte, wie die Sonne sein Kettenhemd erwärmte. Er sprach, doch seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Sein Wille geschehe.«