TEIL I
Grüne Göttin
1926

1

Die Frauen der Douglasses hatten ein Händchen für Probleme. Sie konnten damit ebenso gut umgehen wie mit Geld und Zeit. Sie fütterten hungrige Mäuler mit Bohnen und einem Schinkenknochen, mit Brotlaiben und Fischen. Sie hantierten mit zehn Pfund schweren Bratpfannen und schleppten Zehn-Gallonen-Fässer. Zu herrschen, zu lenken und wenn nötig zu verteidigen, war ihnen angeboren. Wehe den armen Schluckern, den Gedankenlosen und Undankbaren, den Jammerern und den Schwachen. Wenn man in dieser Familie den Sog der Flut spürte, dann hatte es immer etwas mit den Frauen zu tun; ständig hatten sie jemanden im Schlepptau. Ihre Männer widerstanden ihnen manchmal, manchmal gerieten sie auch auf Abwege, angezogen von schwächeren, nachgiebigeren Frauen, von Religion, Alkohol oder von der Aussicht auf schnellen Reichtum, von großen Obsessionen wie den Zeittafeln von Edens Vater oder großen Katastrophen wie den Western ihres Ehemanns, belastet mit Träumen und Schulden. Manchmal gaben diese Männer auch auf und verabschiedeten sich. Manche versanken in ihrer eigenen Unzufriedenheit. Manche suchten prahlerisch Zuflucht in ihrer Rolle als Patriarch und erklärten, der allmächtige Gott habe ihnen alle Rechte verliehen und Frauen, die ihren Platz kannten, müssten ihnen gehorchen. Die Frauen der Douglasses kannten ihren Platz nie.
Und deshalb wurde der Direktor der Fourth Street School auch blass, als die kleine Eden Douglass in seinem Büro wegen einer Regelverletzung auf dem Schulhof vor ihm stand und ihn bat, statt ihrer Mutter Kitty lieber ihre Tante, Mrs. Afton Lance, oder ihre Großmutter, Mrs. Ruth Douglass, anzurufen. Mr. Snow erwiderte, er würde anrufen, wen er wollte, zog das Telefon zu sich heran und wählte die Nummer von Miss Moody, der Fernsprechvermittlerin und Klatschtante von St. Elmo.
»Wen rufen Sie denn nun an?«, fragte Eden neugierig. »Meine Tante oder meine Großmutter?«
Mr. Snow warf ihr einen finsteren Blick zu und fuhr sich rasch mit der Zunge über die Lippen.
Intuitiv wusste Eden, was Mr. Snow von ihr wollte, und tat so, als breche sie in Tränen aus.
Da sein Überlegenheitsgefühl gewahrt blieb, sagte Mr. Snow, er würde Afton Lance anrufen. »Geh hinaus, und setz dich im Flur auf den Missetäterstuhl neben der Tür.«
Mit hängenden Schultern schlurfte Eden hinaus und setzte sich im Gang auf den harten Holzstuhl neben der Bürotür. Langsam drehten sich die Ventilatoren und verbreiteten den Geruch von trockenem Brot aus hundert Pausenbrotdosen, Gummisohlen, verschütteter Milch und ungeputztem Linoleum. In dem hohen Flur war das Licht ausgeschaltet, und die Türen an jedem Ende standen offen, um das Gebäude in der Septemberhitze kühl zu halten. Eden zog ein Knie an die Brust und legte ihr Kinn darauf, eine Haltung, die Mädchen verboten war. Sie kratzte sich an einem Mückenstich durch das Loch in ihrem schwarzen Strumpf. Eden Louise Douglass hatte kurze, glatte Haare, dick, glanzlos, staubig und direkt unter den Ohren ungleichmäßig abgeschnitten. Sie trug ein Baumwollkleid, das schon Bessie und Alma Lance getragen hatten, und dessen Blau und Weiß vom Trocknen in der heißen kalifornischen Sonne gleichermaßen zu Grau verblichen war. Leise summte sie genau die Lieder, die sie in Schwierigkeiten gebracht hatten: »Hot Tamale Molly« und »Keep your skirts down, Mary Ann«. Lieder, die davon handelten, dass man nachts in Zelte kroch, Lieder, die sie auf dem Grammofon zu Hause ständig hörte, Lieder, die 1926 alle sangen.
Eine Lehrerin hatte gehört, wie Eden auf dem Schulhof gesungen hatte, sie am Ellbogen gepackt und war mit ihr zum Büro des Direktors marschiert. Obwohl die Lehrerin die verbotenen Texte natürlich nicht wiederholen konnte, hatte sie auf deren verderbliche Natur hingewiesen, und Mr. Snow hatte erklärt, man solle Edens Mutter in die Schule bestellen, sie über das Vergehen ihrer Tochter informieren und das Mädchen von der Schule entfernen.
Aber Kitty Douglass war unzuverlässig, und Eden wusste das. Ihre Reaktion war nicht vorherzusagen. Es konnte sein, dass sie den Direktor auslachte und ihn einen Korinthenkacker nannte, oder wenn sie genügend Bowers Tonic zu sich genommen hatte, dann... Na ja, man wusste es eben nicht. Eden hatte ihn gebeten, ihre Tante oder ihre Großmutter anzurufen, weil sie bei ihnen genau wusste, was sie tun würden. Sie würden ihr den Mund mit Seife auswaschen. Sie würde ernsthaft Ärger kriegen, rasch bestraft werden, und dann wäre es vorbei. Sie war froh, dass er statt ihrer Großmutter Afton angerufen hatte. Ruth Douglass würde jetzt gerade im Pilgrim Restaurant arbeiten, und die Unterbrechung würde ihr nicht recht sein. Bei Afton würde Eden - nachdem sie ihr den Mund mit Seife ausgewaschen hatte - ein Sandwich mit Honig und Banane bekommen, und danach sehnte Eden sich im Moment, weil ihre Lunchbox lediglich die Reste einer kalten Matschpastete enthielt, die vom Abendessen am Tag zuvor übrig geblieben war.
Als Eden von dem Mückenstich an ihrem Knie aufblickte, sah sie Afton Lances Silhouette im Sonnenlicht, das durch die Doppeltüren am Ende des Ganges fiel, stehen. Sie schob den Kinderwagen in den Flur. Man sah sie nie ohne ein Kind an der Hand oder am Rockzipfel, und sie roch immer nach Wäschestärke und einem Hauch von Rosmarin. Ihre dicken, dunklen Haare waren auf dem Kopf ordentlich zu einem Dutt geschlungen. Sie sah solide aus in ihrem Alltagskleid und dem Kirchgangshut auf dem Kopf. Ihre festen Schritte hallten im stillen Flur. Sie blieb vor ihrer Nichte stehen und fragte nach Edens Vergehen.
»Ich habe die Lieder nicht für so schlimm gehalten«, verteidigte Eden sich und stand auf. »Ich dachte gar nicht, dass sie überhaupt schlimm sind.«
»Was du denkst, ist unerheblich. Was denkt der Direktor?«
Eden hörte nicht, was Afton mit Mr. Snow besprach. Drei ihrer Kinder waren schon durch diese Schule gegangen, Lucius, Bessie und Alma. Zwei besuchten sie noch, Junior und Sam, und das Kleinkind im Buggy, Constance, würde zu gegebener Zeit auch hier Schülerin sein. Afton war schwanger mit einem Sohn, Douglass, der sechs Monate später, im März 1927, zur Welt kommen würde, und das letzte ihrer acht Kinder würde 1931 geboren werden. Sie war auf ihre Art eine Legende. Das Gespräch mit Mr. Snow war kurz.
Eden und ihre Tante verließen die Schule und gingen schweigend nebeneinander her, während die kleine Connie in ihrem Buggy vor sich hin plapperte. Für eine so redselige Frau wie Afton Lance war Schweigen ein sicherer Indikator für die Schwere des Vergehens. Als sie schon halb zu Hause waren, fragte Afton: »Was hält dein Vater von diesen Liedern, Eden?«
»Ich weiß nicht. Kennt er sie überhaupt?«
Afton zuckte schnaubend mit den Schultern, eine so beredte und einzigartige Geste, daß jeder, der sie kannte, vom Kleinkind bis zum Kirchenältesten, sich wappnete.
Auch Eden wappnete sich, aber sie verteidigte ihren Vater trotzdem. »Pa denkt doch meistens über seine Große Zeittafel nach.«
»Die bekommt er sowieso nie fertig. Wie sollte er auch? Schließlich geht die Geschichte ja immer weiter.«
»Aber er arbeitet die ganze Zeit daran. Er geht fast jeden Abend nach der Arbeit in die Bibliothek. Die Karten kann er zu Hause zeichnen, aber lesen muss er in der Bibliothek.«
Er geht in die Bibliothek, dachte Afton, weil sie für ihn die Erinnerung an den Himmel ist. Als Junge und als junger Mann war Gideon ein vielversprechender Schüler gewesen, aber er hatte alle seine Chancen vertan, als er sich geweigert hatte, ein christliches College zu besuchen. Er könne doch seinen mormonischen Glauben nicht verraten, hatte er gesagt. Seine Seele. Nun, was tat er denn jetzt anderes? Er lebte mit Kitty in einer Trägheit, die beinahe schon Sünde war. Afton hätte ihren Bruder gerne bemitleidet, aber Mitleid ohne Handlung war einer Heiligen nicht würdig. Stattdessen kümmerte sie sich mit einer Energie um die Kinder ihres Bruders, die an Rache grenzte.
Edens Großmutter Ruth war über Gideons Schicksal und seine Frau genauso entsetzt. Ihrer stählernen Natur jedoch war Enthusiasmus fremd. Und Buße? In solchen Begriffen dachte Ruth nicht. Afton und Ruth waren in vieler Hinsicht unterschiedlich, auch was Kirche und Familie betraf: Ruth beugte sich schon lange nicht mehr den Regeln der Mormonen, und ihre große Familie empfand sie als Last. Afton hingegen hielt sich, ohne zu fragen, an alle Lehren der Heiligen und suchte ihren Rat. Sie genoss den Lärm und den Tumult einer großen Familie. Einig war sie sich mit ihrer Mutter lediglich darin, dass dem unglücklichen Gideon und der gottlosen Kitty nicht mehr zu helfen war. Aber da waren immer noch die Kinder. Und es musste etwas geschehen.
Afton und Ruth konzentrierten ihre Rettungsbemühungen auf Eden Louise. Sie sahen sie als eine der Ihren an. Ihre beiden Geschwister ähnelten der Mutter, mit ihren großen blauen Augen, rosig wie kleine Schweinchen, geistlos und leicht zufriedenzustellen. Aber Eden Louise hatte die dunklen Haare, die grünen Augen und den blassen Teint der Douglasses. Zudem verfügte sie über die Lebhaftigkeit, das Lächeln und die Intelligenz der ältesten Schwester ihres Vaters, Eden, die 1911 bei einem Zugunglück ums Leben gekommen war. Von allen Kindern und Enkelkindern war Eden Louise Ruths Liebling. Ihre Mutter, ihre Tante und ihre Großmutter wetteiferten miteinander, wenn vielleicht auch nicht um Edens Liebe - sie konnte alle drei lieben -, so doch um ihre Loyalität. Jede von ihnen wollte sie nach ihren Vorstellungen zu einer Frau formen. Ruth schätzte Unabhängigkeit und Achtbarkeit, zwei Werte, die sich oft widersprachen. Afton glaubte an Pflichtbewusstsein und die Treue zur mormonischen Religion, während Kitty ihre Religion eher aus der Samstagsmatinee im Dream Theatre oder aus zweifelhaften Liebesromanen zog. Kitty verwechselte häufig das Wort mit der Tat, vor allem, wenn das Wort mit Musik unterlegt war und gesummt werden konnte.
Als sie zu Hause waren, wusch Afton Eden den Mund mit Seife aus, die Eden weinend und hustend in das Waschbecken spuckte. Anschließend nahm sie ein Handtuch und wischte sich damit übers Gesicht.
»Und jetzt lass uns in die Küche gehen«, sagte Afton, nachdem die unangenehme Pflicht erledigt war. »Ich habe dir ein Sandwich mit Honig und Banane gemacht. Iss es, und dann bringe ich dich mit Connie nach Hause. Es ist an der Zeit, mit deiner Mutter zu reden. Ernsthaft zu reden. Schon wieder mal.«
Die beiden blickten einander an. Obwohl Eden erst im ersten Schuljahr war, wusste sie genauso gut wie ihre Tante, dass sie Kitty wahrscheinlich betäubt von Bowers Tonic vorfinden würden - ursprünglich einmal als Medizin von Nana Bowers entwickelt, der Matriarchin von St. Elmos erster schwarzer Familie. In diesen finsteren Zeiten der Prohibition war jedoch schwarz gebrannter Schnaps daraus geworden, der im Hinterzimmer des Barbierladens der Bowers und auf den Rängen des Dream Theatre verkauft wurde. Sie wussten auch, dass sie Kitty wahrscheinlich nicht voll bekleidet vorfinden würden. Und ganz bestimmt war sie in Wolken von Zigarettenrauch eingehüllt, las einen billigen Roman und aus dem Grammofon ertönte eines der Lieder, die Eden in Schwierigkeiten gebracht hatten. Vermutlich würde der kleine Ernest durch das Haus krabbeln, während seinen ungewechselten Windeln ein übler Geruch entströmte, und die vierjährige Ada wäre ebenfalls unbeaufsichtigt. In der Küche würde sich das ungespülte Geschirr stapeln, die Betten wären nicht gemacht, die Fußböden klebrig und schmutzig, und der Hund, Buster, würde sich ständig kratzen, weil er Flöhe hatte.
»Muss ich wirklich jetzt schon nach Hause?«, fragte Eden. »Kann ich nicht hierbleiben? Ich habe immer noch Hunger. Vielleicht können wir Kuchen backen.«
»Jemand muss doch deiner Mutter sagen, was heute in der Schule passiert ist. Willst du diejenige sein?«
Edens Schultern sanken herab.
»Eine Unterlassungssünde ist auch eine Sünde.«
»Es waren doch nur Lieder«, sagte Eden. »Ich habe niemanden getreten oder geschlagen. Ich war nicht gemein.«
»Natürlich nicht. Du bist kein gemeines Kind. Du bist ein liebes Kind. Du bist das Abbild unserer lieben Eden.«
»Eden Douglass TRAUER«, erwiderte das Mädchen. Das war der Name auf dem Grabstein auf dem Friedhof von St. Elmo, als ob »Trauer« Eden Douglasses richtiger Name wäre, ihr wahrer Name. Bei dem Gedanken prickelte es unter ihren Armen und hinten an den Knien.
»Wirst du deinen Eltern erzählen, was passiert ist?«
Es hatte keinen Sinn, Afton anzulügen. »Ich werde es Pa erzählen«, bot Eden an. »Er kann es dann Ma sagen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Afton, die ihre eigenen Pläne hatte. »Na gut. Iss dein Sandwich, während ich Connie zum Mittagsschlaf hinlege.«
Alles Unangenehme war auf der Stelle vergessen. Eden saß am Tisch, ließ die Beine baumeln, genoss den Honig und die Bananen und summte immer noch »Der Scheich aus Arabien« vor sich hin. Gesiebt vom Laub der Pfefferbäume draußen drang das Sonnenlicht durch die staubigen Fenster, huschte über die Handtücher, die am Küchenfenster zum Trocknen hingen, über die Kinderzeichnungen an den Wänden und über all die Schleifen, die Afton seit 1914 auf der Citrus-Ausstellung von St. Elmo für ihre Backkünste und ihr Eingemachtes gewonnen hatte. Der alte Hund, Chester, lag vor der Tür und träumte seine Hundeträume. Vom Herd stieg aus einem gesprenkelten Emailletiegel auf der Warmhalteplatte ein Duft auf. Was der Topf enthielt und welcher Duft ihm entströmte, hing davon ab, was vom Essen übrig geblieben war, um dann zu Suppe oder Saucenfond verarbeitet zu werden. Der Geruch gehörte ebenso zu Afton Lance wie das Rascheln ihrer gestärkten Kleidung und die Rosmarinzweige, die am Waschbecken im Badezimmer standen, um für frischen Atem zu sorgen.
Afton kam zurück, band sich eine Schürze um und gab ihrer Nichte auch eine. »Na, komm, dann wollen wir mal etwas Schönes backen.«
»Was?«
»Nun, wir müssen mal im Schrank und im Eisfach nachschauen, was wir denn so haben und was wir brauchen könnten. Ein guter Koch verschwendet nichts und verwendet alles - und nicht nur alles in der Küche, sondern auch hier und hier.« Afton berührte ihren Scheitel und ihr Herz.
Eden lächelte. Alles war verziehen.
»Für alles im Leben gibt es ein Rezept.«
»Und wenn du das, was du dazu brauchst, nicht da hast?«
»Dann musst du dir behelfen.«
»Und wie?«
Afton überlegte, obwohl sie eigentlich keine nachdenkliche Person war. »Dann musst du erfinden. Ein Rezept fordert dich zum Erfinden auf. Du nimmst, was du hast, und verwandelst es in das, was du willst. Dazu brauchst du Fantasie. Und zwar nicht die Fantasie deiner Mutter, sondern eine gute Art von Fantasie.«
Nach der schlechten Art fragte Eden erst gar nicht.
Afton hatte trockenen Kuchen, Milch, Eier, braunen Zucker und ein paar überreife Bananen. »Bananencreme-Kuchen«, verkündete sie und wies Eden an, am Küchentisch mit einem Nudelholz den Kuchen, den sie in eine Tüte steckte, zu zerkrümeln. Afton machte die Milch warm und begann, Eier, Mehl und braunen Zucker zu schlagen. »Weißt du, als ich klein war, hat meine Mutter keinen von uns, noch nicht einmal die Mädchen, im Pilgrim Restaurant arbeiten lassen. Sie pflegte immer zu sagen, wir hätten Besseres zu tun, als anderen Leuten die Mägen zu füllen. Bildung sei unser Fahrschein aus der Küche heraus. Ich sagte zu ihr: Aber Mutter, die Leute müssen doch schließlich essen. Warum sollte denn in Gottes Augen die Arbeit in der Küche schlechter sein, als in der Schule zu unterrichten oder Recht zu sprechen oder so etwas? Gott freut sich über eine kleine Leistung genauso wie über ein Meisterwerk.«
»Steht das im Buch der Mormonen?«, fragte Eden.
»Ja, irgendwo.« Eigentlich war diese Weisheit auf ihrem eigenen Mist gewachsen, aber natürlich konnte es durchaus sein, dass es irgendwo in der Schrift stand.
Unter ihrer Anleitung vermischte Eden die Krümel mit geschmolzener Butter und drückte die Masse in eine tiefe Kuchenform. Eden goss die heiße Milch in die Creme aus Zucker und Eiern, während Afton mit ihrem Schneebesen, einem Küchengerät, das ihr Mann Tom ihr nach ihren eigenen Maßgaben angefertigt hatte, in einem stetigen Rhythmus weiterschlug. Dann wurde die Masse wieder in den Topf gegossen. Afton zog einen Stuhl an den Herd und stellte die Temperatur niedrig. »So, Eden, du musst jetzt aufpassen, dass es nicht anbrennt und dass die Eier nicht stocken. Das ist eine Kunst. Du musst jetzt immerfort rühren. Und während du das machst, bringe ich dir ein paar Lieder bei. Ein paar gute Lieder, die du ohne Angst zu haben singen kannst.«
Eden hatte auch keine Angst gehabt »Lass deine Röcke unten, Mary Ann« zu singen, aber das sagte sie nicht. Sie rührte einfach weiter und sang mit, als Afton mit ihrer unmelodischen Altstimme begann, mormonische Kirchenlieder anzustimmen.
Sie hörten, dass Connie wach wurde, und Afton ging sie holen. Sie setzte sie auf den Küchenboden und gab ihr ein paar Töpfe und einen Löffel zum Spielen. Dann trat sie wieder an den Herd. »Sehr gut gemacht. Du hast aufgepasst, dass die Eier nicht gestockt sind, und die Milch ist auch nicht angebrannt. Du hast wirklich das Zeug zu einer guten Köchin, Eden Louise.«
Während Eden Vanille, Zimt und frisch geriebene Muskatnuss in die cremige Masse gab, legte Afton die braunen, überreifen Bananen zuunterst, wo sie niemand sehen konnte, bedeckte sie mit der Creme und ordnete die schönen Bananen oben drauf an. »Verstehst du die Logik, die dahintersteht?«
»Die guten Bananen sind oben«, sagte Eden. »Und die braunen sieht niemand.«
»Wie klug du bist, Eden!« Eden errötete bei dem Kompliment. »Und bevor wir den Kuchen jetzt in den Kasten stellen, um ihn vor lästigen Fliegen zu schützen, fügen wir noch ein wenig Inspiration hinzu. Du weißt doch, was das ist, oder?«
»So wie Gott Joseph Smith die goldenen Tafeln gegeben hat?« Eden lächelte stolz. Sie ging jeden Sonntag mit ihrem Vater in die Kirche.
»Was Gott Joseph Smith gab, war göttlich und zeitlos. Das hier ist Orangenschale.« Sie reichte ihr eine Orange und das schwere Schälmesser.
Der Duft der feuchten, frischen Schale prickelte Eden in der Nase. »Können wir jetzt schon ein wenig Kuchen essen?«
»Nein, natürlich nicht. Wir warten, bis die anderen Kinder aus der Schule kommen. Die geteilte Gabe segnet den Gebenden zweimal. Du weißt, dass ich recht habe.«
Dem widersprach Eden nicht. Niemand hätte das gewagt. Afton Lance hatte immer recht. Selbst wenn sie unrecht hatte, hatte sie recht.
»Und jetzt lass uns aufräumen. Pflichten werden den Gläubigen auferlegt.«
Bei Eden zu Hause wurden Pflichten höchstens den Arglosen oder Verzweifelten auferlegt, aber das sagte sie nicht.
Bevor die anderen Kinder aus der Schule kamen, hatte Eden Gelegenheit, im Baumhaus der Lances zu spielen. Sie hatte es nur selten für sich allein, da sie es sonst immer mit ihren Vettern und Cousinen teilen musste. Heute Nachmittag war es ein Piratenschiff, auf dem Captain Eden an Deck stand und über das weite Meer blickte. Langstielige rote Geranien lehnten wie Bettler an der Hintertreppe, und daneben wucherten Büschel von Thymian, Rosmarin und Minze. Das Gras war von den sechs Lance-Kindern platt getrampelt, aber in diesem Pfefferbaum hatte Tom Lance ein schönes Baumhaus gebaut, so sorgfältig, wie er alles machte. Tom Lance arbeitete bei der Eisenbahn. Das taten die meisten in St. Elmo. Aber Tom Lance konnte seine große Familie mit seinem mageren Einkommen von der Eisenbahn nur erhalten, weil Afton sich um alles kümmerte, und Tom, ein stiller, schüchterner Mann, tat alles, was sie von ihm verlangte.
Die Kinder stürmten herein und warfen ihre leeren Frühstücksdosen in die Spüle. Der Älteste, Lucius, war zwölf und seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, wenn man einmal von der Narbe an seiner Nase absah. Bessie und Alma, Schwestern, die Zwillinge hätten sein können, stritten sich wegen irgendeiner geringfügigen Sache. Die kleineren Jungen, Junior und Samuel, gingen in die gleiche Schule wie Eden und neckten sie, weil sie auf dem Schulhof gesungen hatte.
»Jetzt ist es genug«, wies Afton sie zurecht. »Man soll sich nicht am Unglück des anderen freuen.«
Eden warf den beiden einen spöttischen Blick zu. Die Jungen wuschen sich die Hände, und Afton ging hinaus, um Connie die Windeln zu wechseln. »Ich bin gleich wieder da«, rief sie aus dem Schlafzimmer. »Lasst die Finger von dem Kuchen.«
Eden setzte sich schon einmal an den Tisch und betrachtete den Kuchen voller Stolz. »Ich habe geholfen, ihn zu backen«, verkündete sie, während sich die anderen Kinder schubsend und drängelnd ebenfalls niederließen.
Junior schnaubte. »Ja, und sie haben dich auch nach Hause geschickt. Ich habe auf dem Schulhof alles gesehen.«
»Nur für heute Nachmittag. Und ich hatte es viel schöner als ihr.«
»Warum hast du ihnen denn nicht gesagt, sie sollten deine Ma anrufen? Warum denn unsere? Du weißt doch, dass sie dich haut.«
»Niemand haut mich.«
»Dein Pa will es nicht, und deine Ma kann es nicht.« Tom Junior stupste Eden in die Rippen. »Deine Ma ist betrunken. So sicher wie die Sünde ist sie betrunken.«
»Halt den Mund, du Schwanzlutscher.«
»Ma!«, rief Junior. »Ma! Eden hat mich Schwanzlutscher genannt!«
Bevor Eden etwas erwidern konnte, kam Afton in die Küche gerauscht, das Baby Connie auf der Hüfte. Sie züchtigte Eden wegen des vulgären Ausdrucks und erinnerte sie daran, dass - in den unsterblichen Worten von Ruth Douglass - Vulgarität schlimmer war als Sünde. Sünden konnten einem vergeben werden. »Und jetzt«, sagte Afton, »lasst uns beten.«
Als Eden schließlich ging, stand Afton auf der Veranda, mit Connie auf dem Arm. Sie ergriff die Hand des Babys. »Mach winke, winke, Connie. Sag Eden auf Wiedersehen. Mach winke, winke.« Connie winkte.
Afton gab Eden einen Kuss auf die Wange und entließ sie nach Hause. »Auf Wiedersehen, Eden, auf Wiedersehen, mein liebes Mädchen«, rief sie ihr nach, aber vorher hatte sie sie überschüttet mit guten Ratschlägen und Ermahnungen. Sie solle immer nur die guten, sauberen Lieder der mormonischen Kirche singen, stets daran denken, dass saubere Gedanken die Freude der Engel waren und dass der Weg zum Himmlischen Königreich verschmutzt war mit den Texten unziemlicher Lieder. Immer weiter ging die Litanei, ein Teelöffel aus dem Buch der Mormonen, eine halbe Tasse Regeln und Gesetze, ein Esslöffel voll mit der gesammelten Weisheit der Kirche und ein Viertelliter ihrer eigenen, unverbrüchlichen Gewissheit.
Afton Lances Suppentopf
Von der Zeit ihrer Heirat 1911 bis zu ihrem Tod 1965
Einen Kessel oder einen Tiegel mit Wasser füllen. Knochen und Fleisch- oder Hühnchenreste hineingeben, gekocht oder ungekocht. Es kann auch ein Stück Fleisch sein, das zu zäh ist, oder ein zu altes Huhn. Eine geschälte Zwiebel hinzugeben. Ein paar Knoblauchzehen, Pfefferkörner und Lorbeerblätter, ein paar Zweige Rosmarin und Thymian und eine Handvoll frische Petersilie. Man kann auch Gemüse hinzugeben, Mangold, Spinat, Sellerie oder Karotten und grüne Zwiebelspitzen, eigentlich jedes Gemüse, das schon zu alt und verwelkt ist, um noch verbraucht zu werden. Man braucht es ja niemandem zu sagen. Den Deckel darauf legen, zum Kochen bringen. Die Hitze reduzieren, den Deckel schräg legen, damit der Dampf entweichen kann und mindestens ein paar Stunden lang köcheln lassen. Am besten einen Tag lang. Ab und zu umrühren und Wasser nachgießen. Dann verwenden für Suppen und Saucen, zum Pochieren von Eiern und zum Bohnenkochen, um die Gesunden glücklich zu machen und die Kranken gesund zu pflegen.

MOMENTAUFNAHME

Die Heilige

Afton Lance hatte ein so weites Herz wie ihr Verstand beschränkt war. Mit siebzehn verliebte sie sich in Tom Lance, heiratete ihn 1911, und wenn sie es vermeiden konnte, blickte sie weder zurück noch nach innen.
Tom und Afton Lance zogen ihre acht Kinder groß, aber das schien Afton immer noch nicht genug zu sein. Die Betten in ihrem Haus wurden niemals kalt. Sie nahm auch noch ihre Enkelkinder auf und versorgte sie, als ihre eigenen Sprösslinge starben oder sich vom Acker machten.
Lucius fiel 1942 im Krieg. Connie starb 1962 an Krebs.
Junior, Douglass und William bauten Bockmist.
Aber Afton Lance wies niemandem die Tür. Sie gab niemals auf, und ständig erzählte sie allen, wie unrecht sie hatten und wie recht sie hatte.
Bessie, Aftons Älteste, stoisch, finster und leicht gelangweilt, entdeckte mit siebzehn Jahren auf einmal, dass zwischen ihren Beinen ein wundervolles Land lag, das sie mit dem gut aussehenden Nephi Hansen erforschen konnte. Sechs Monate nach ihrer hastigen Hochzeit kam ihr ältester Sohn zur Welt. Das war das einzig Hastige, was Bessie jemals in ihrem Leben tat.
Aftons Tochter Alma, nach dem Buch Alma im Buch der Mormonen benannt, hatte mehr Feuer. In der Tradition der eigensinnigen Douglass-Frauen lief sie davon und heiratete Walter Epps, einen Baptisten, dessen Familie zum Obstpflücken nach Kalifornien gekommen war. Eine Zeit lang wohnten sie im Auto auf der Obstplantage, wo sie arbeiteten. Eines Sonntags nahm Alma Walter mit zum Essen zu ihren Eltern. Walter hatte eine Krawatte umgebunden, die ihm am Hals viel zu eng war, und er bekam kaum einen Bissen herunter. Als er wieder weg war, sagte Afton zu ihrer Tochter, Baptisten seien arme Schlucker, kaum besser als Araber.
Zumindest war Walter kein Jude. Connie Lance heiratete einen geschiedenen Juden. Victor Levy brachte zwei Kinder von seiner ersten Frau, ebenfalls eine Jüdin, mit in die Ehe. Er war der erste im Lance-Clan, der einen Universitätsabschluss hatte, und er war hochgeachtet in St. Elmo. Daher fiel es Afton schwer, einen Makel an ihm zu finden, abgesehen davon, dass er Jude und mit seinen sechsunddreißig Jahren für die neunzehnjährige Connie zu alt war. Was wusste sie schon vom Leben? Nichts. (Aber sie wusste schon mit neunzehn, dass sie von ihren Eltern und der Mormonenkirche weg wollte.)
Afton missbilligte sogar die harmlose Eloise Travers, die ihren Sohn Samuel heiratete. Von allen Söhnen der Lances war Samuel der einzige, der genau wie seine Eltern unablässig hart arbeitete. Aber er machte sich trotzdem aus dem Staub und wurde Sheriff in der Wüste. Weit weg von seiner Mutter.
Aftons jüngster Sohn, William, saß wiederholt wegen Betrug, Fälschung und Diebstahl im Gefängnis.
Zumindest ihr Sohn Douglass folgte den Erwartungen des Glaubens und ging für zwei Jahre als Missionar nach Belfast. Aber wenn die Protestanten in Belfast den Katholiken feindselig gegenüberstanden, warum sollten sie dann mit den Mormonen freundlicher umspringen? Sie bewarfen Douglass mit Steinen, und Douglass Lance, der junge Mormone, verliebte sich, von Steinen und Einsamkeit überwältigt, in das erste rothaarige irische Mädchen, das ihn anschaute. Er verließ die Mission und zog mit dem Mädchen nach Boston. Seine Eltern sah er achtzehn Jahre lang nicht. Da war er mittlerweile schon weitere zwei Mal verheiratet.
Thomas Lance Junior war ein hochdekorierter Veteran des Zweiten Weltkriegs, der in Europa gekämpft hatte. Als Junior jedoch nach dem Krieg nach Hause zurückkehrte, wurde er ein verbitterter, mürrischer, eifersüchtiger Mann, der sich dem Alkohol ergab. 1961 sorgten er und seine französische, katholische Frau für einen Skandal in St. Elmo. Beide flohen. In unterschiedliche Richtungen. Ihre drei Töchter wohnten von da an bei Tom und Afton, die sie aufzogen, bis Afton 1965 starb.
Der Sohn jedoch, dessen Verlust Afton das Herz brach, war Lucius. Er war der Beste, der Intelligenteste - und Gott beschützte ihn nicht. Lucius fiel bei Guadalcanal. Zum ersten Mal in ihrem Leben stellte Afton Gottes Wille in Frage. Und sie zweifelte auch an ihrer eigenen unerschütterlichen Korrektheit. Es war ein kurzer, aber intensiver Anfall von Zweifel.
Als Lucius starb, war er mit einem hübschen Mormonenmädchen verheiratet, Elieanne, und sie hatten zwei kleine Söhne, Micah und Jonah. Nur wenige Monate nach Lucius’ Tod ließ sich Elieanne mit einem anderen Mann ein. Sie wollte ihn heiraten und mit ihm weggehen. Afton ließ Elieanne Adoptionspapiere unterschreiben, in denen sie zugunsten der Großeltern auf alle ihre Rechte verzichtete - eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, wie sich herausstellen sollte, da Elieanne sich nie wieder blicken ließ. Afton und Tom zogen Micah und Jonah wie ihre eigenen Söhne groß.
1962 - im selben Jahr, als Connie Lance Levy an Krebs starb - heiratete Micah Lance Helen Yamashita, ein Mädchen aus einer respektablen japanischen Familie. Micah hörte Aftons Tirade darüber, dass die Japaner seinen Vater auf dem Gewissen hätten, gar nicht zu, und Afton musste neben Tom in der ersten Reihe von Helen Yamashitas Kirche sitzen und zusehen, wie Micah den Feind heiratete.
Für eine Heilige benahm sich Afton Lance ganz schön unverzeihlich.

2

Das Tor quietschte erbärmlich, als Eden es aufstieß und zum Hintereingang lief. Niemand kam durch die Vordertür, außer vielleicht die Gemeindeschwestern, die sie einmal im Monat besuchten, gelegentlich ein Handelsvertreter und natürlich die Schuldeneintreiber. Eden lebte mit ihrer Familie in einem gemieteten, heruntergekommenen Holzhaus in einer schäbigen Gegend. Im Garten stand ein Pfirsichbaum, von dem eine Schaukel herabbaumelte. Wäsche hing oft tagelang an der Leine, bevor Kitty sie hereinholte. Eden trat auf eine kleine Veranda, auf der eine tiefe Doppelspüle für den Abwasch stand und schlug die Fliegentür hinter sich zu. »Ich bin zu Hause, Ma.«
In der Küche stieß sie auf ihre vierjährige Schwester Ada, deren rundes, rosiges Gesicht mit Marmelade verschmiert war. Auf dem Teller mit der weißen Margarine lag eine tote Motte, und ein Laib Brot vertrocknete in der Hitze des Nachmittags. Das Marmeladenmesser war auf den Boden gefallen, und am Tischbein krabbelten Ameisen auf den klebrigen Klecks zu. Fliegen summten herum, und Buster, der Hund, blickte gleichmütig auf. Interesse zeigte er nur für Gideon.
»Ich bin hier, Schäfchen«, rief Kitty aus dem Schlafzimmer.
Wie sie erwartet hatte, fand Eden Louise ihre Mutter in Unterwäsche und losem Kittel im Bett. Das Baby krabbelte um sie herum. Sie hielt einen Roman in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Ihre halblangen Haare standen in einem rötlichen Heiligenschein um ihr Gesicht. Eden lehnte sich an den Schreibtisch ihres Vaters, auf dem sich endlose Tabellen und Blaupausen seiner Großen Zeittafel stapelten. Die gerollten Entwürfe lagen überall herum und quollen aus dem Schrank und aus der Truhe, die Kitty aus Liverpool mitgebracht hatte. Die Tabellen, die an die Wand geheftet waren, raschelten in der leichten Brise.
»Warum machst du denn so ein saures Gesicht? War es ein schlimmer Tag in der Schule? Ach, mach dir nichts draus. Komm her.« Kitty warf den Roman zu Boden und schüttelte das Kissen neben sich auf. Ernest setzte sie ans Bettende. Sie breitete die Arme aus.
Eden legte sich neben ihre Mutter und ließ sich in eine Umarmung ziehen, die nach Zigarettenrauch und Schweiß, einem Hauch Talkumpuder und Bowers Tonic roch. Entspannt schmiegte sie sich an den weichen Körper ihrer Mutter, während Kitty eine Melodie summte, die sie in ihrer Zeit auf der Bühne in der Music Hall in Liverpool gesungen hatte. Lächelnd summte Eden mit. Sie fühlte sich angenehm warm und schläfrig und geliebt. Geliebt fühlte sie sich auch bei Afton, aber dieses angenehm warme, schläfrige Gefühl wollte sich dort nicht einstellen.
»Warum kommst du erst so spät?«, fragte Kitty.
»Sam und Junior haben mich zu Tante Afton mitgenommen. Sie hat Kuchen gebacken.«
Kittys Gesicht hellte sich auf. »Ein Stück Kuchen von Afton mit einer Tasse Tee. Na, das wäre doch mal was, oder? Was für ein Kuchen?«
»Bananencremekuchen mit ein bisschen Orange.«
»Oh, himmlisch! Afton hat dir sicher etwas mitgegeben, oder?«
Eden schüttelte den Kopf.
»Das nächste Mal musst du sie darum bitten, Kätzchen. Frag sie, ob sie nicht ein Stück für die armenischen Hungerleider entbehren kann.«
»Wir sind keine armenischen Hungerleider.«
»Nein, aber wenn wir welche wären, dann würde sie uns Kuchen schicken. Nur für ihr eigenes Fleisch und Blut rührt Afton keinen Finger.«
»Sie hat vor zwei Wochen hier saubergemacht«, erwiderte Eden. Sie hatte immer noch Condy’s Desinfektionsmittel in der Nase. Der Geruch hatte tagelang in der Wohnung gehangen.
»Das ist nicht dasselbe.«
Das musste Eden zugeben.
Das Baby kam auf sie zugekrabbelt und fiel über Kittys Schoß. Es roch übel. »O Ernest, ich liebe dich, aber du bist ein böser, böser Junge!« Kitty schwang die Beine aus dem Bett und klemmte sich Ernest unter den Arm. Eden folgte ihr auf die hintere Veranda. Sie schälte die schmutzige Windel ab und warf sie in einen Korb, in dem andere schmutzige Windeln lagen, dann hielt sie seinen verschmierten Po unter den Wasserhahn. Er brüllte los, als ihn der kalte Strahl traf.
»Miss Victorine St. John würde das Hinterteil dieses Babys an meiner Stelle nicht waschen. Nein, sie war in leidenschaftlicher Liebe zu einem Duke entbrannt«, erklärte Kitty.
»Ist er ihre wahre Liebe?« In allen Romanen von Ma kam wahre Liebe vor.
»Natürlich. Es war ja nicht seine Schuld und ihre auch nicht, dass er ein Duke war und sie ein armes Mädchen aus dem Volk. Aber sie benahm sich immer wie eine Lady, vergiss das nicht. Er verliebte sich in ihre blauen Augen und in ihre Tugendhaftigkeit, und natürlich auch in ihr Talent, Kätzchen. Oh, Victorine konnte so gut singen!«
»So wie du, Ma? ›Gone Where They Don’t Play Billiards‹?«
Kitty legte Ernest auf den Boden und zog ihm eine frische Windel an. Anschließend stand er auf und wackelte in die Küche. Seine nassen Füßchen hinterließen schmutzige Abdrücke auf dem Linoleum. Er stieß mit Ada zusammen und plumpste auf den leidgeprüften Hund. »Nun, Victorine stand niemals auf der Bühne in der Music Hall wie ich, die Lerche von Liverpool, ich und meine ganze Familie. Meine arme liebe tote Mama und mein Papa und meine kleine Schwester starben alle an Lungenentzündung, weil sie nasse Strümpfe anhatten.«
Kitty seufzte, wie immer, wenn sie an ihre Erfolge als Lerche von Liverpool dachte, und Tränen traten ihr in die Augen beim Gedanken an ihre verstorbenen, betrauerten Eltern und die kleine Schwester, die anscheinend keinen Namen gehabt hatte. Kitty war als junge Frau zu den Heiligen der letzten Tage konvertiert, aber seit sie in St. Elmo war, lebte sie so, als sei sie mit dem Taufwasser nie in Berührung gekommen.
Jetzt blickte sie auf den Schatten, den der Pfirsichbaum warf, und runzelte die Stirn. »Wenn du um drei nach Hause gekommen wärst, wäre ich schon längst aufgestanden. Du weißt doch, was für Sorgen ich mir immer mache, wenn du nicht nach Hause kommst.« Das stimmte gar nicht. Es war ihr kaum aufgefallen. Sie begann »Hot Tamale Molly« zu summen. »Geht dein Vater nach der Arbeit in die Bibliothek? Hat er was gesagt?«
»Woher soll ich wissen, was er macht?«
Kitty entzündete die Gasflamme unter dem Wasserkessel, blies das Streichholz aus und griff nach der dickbauchigen Keramikteekanne, die einen Sprung im Deckel hatte. »Nun, es ist Zeit für Tee, oder?«
In Kittys Haus war immer Zeit für Tee, obwohl die Schrift der Mormonen Tee, Kaffee und natürlich alle alkoholischen Getränke verbot. Kitty erklärte gerne, das mormonische Buch der Weisheit enthielte nichts als die Tiraden schamloser Blödmänner, Worte, die Gideon, der an die Mormonenkirche und ihre Weisheit glaubte, schmerzten. Je heftiger Kitty gegen seine Kirche und seine Familie wütete, desto mehr klammerte sich Gideon an seinen Glauben. Doch auch er war auf dem steinigen Pfad der Tugend gestrauchelt: Gideon trank morgens und abends heißen, gezuckerten Tee, zweifellos dankbar für diesen kleinen Trost. Dreizehn Jahre Ehe hatten ihn ausgelaugt.
Mittlerweile, 1926, schien Gideon Douglass begriffen zu haben, was mit seinem Leben passiert war. Ja, er akzeptierte es sogar. Er wusste, dass er gegen die Gezeiten des Schicksals machtlos war. Er hatte sich von den Tränen eines entehrten Mädchens zur Ehe überlisten lassen. Der alte Trick. Damals kam noch kein Kind zur Welt, aber ein Jahr später wurde ein süßer kleiner Junge geboren. Kitty nannte ihn Tootsie, und als er 1919 an Spanischer Grippe starb, zerbrach etwas in ihr. Gideon konnte sich kaum noch an den kleinen Jungen erinnern, und er konnte sich auch kaum noch an die Zeit erinnern, als Kitty mit ihrem Schmollmund Liebe und Dankbarkeit bei ihm ausgelöst hatte. Das war alles schon so lange vorbei, dass Gideon es auf seiner Großen Zeittafel nicht mehr messen konnte. Er arbeitete auf die Gegenwart zu, wusste jedoch nicht, dass er sie niemals finden würde, da sie schon wieder Vergangenheit sein würde, wenn er sie erreichte.
Wie manche Männer in den Saloon gingen, suchte Gideon Douglass den anonymen Trost der Stadtbibliothek. Dort las er und machte sich Notizen über die Große Zeittafel. In drei langen Spalten, die alle mit Adam und Eva begannen, synchronisierte Gideon weltliche Geschichte, biblische Geschichte und die Ereignisse auf dem nordamerikanischen Kontinent, wie sie im Buch der Mormonen beschrieben wurden. Die Tabellen waren lang, auf blauem Papier und genau bemessen. Immer, wenn er etwas Neues fand, das er noch auf die Zeittafel setzen wollte, musste er völlig von vorn anfangen.
Groß, kräftig gebaut, breitschultrig, aber hoffnungslos bücherbesessen und halb blind, hatte Gideon Douglass nichts von der unbezwingbaren Geschäftigkeit Aftons, nichts von der intelligenten Zurückhaltung seiner Mutter, obwohl man ihm unter diesen Voraussetzungen die Stelle bei der Versicherung gegeben hatte. Er war schließlich Ruth Douglasses Sohn; sie war die erfolgreichste Frau in der Stadt, und ihr Restaurant war weithin bekannt. Aber es hatte sich herausgestellt, dass Gideon für den Außendienst nicht geeignet war, und jetzt machte er die Ablage im Hinterzimmer. Insgeheim fürchtete er, auch diese Stelle zu verlieren.
Buster sprang auf und rannte Gideon fröhlich bellend entgegen, als dieser endlich nach Hause kam. Liebevoll begrüßte er den Hund. »Mein guter, alter Buster! Guter alter Junge! Guter Hund! Ja, du bist ein guter Hund, Buster.« Als er jedoch die Küche betrat, begrüßte er seine Frau und seine Kinder eher zerstreut. Er blickte zum kalten Herd, zum schmutzigen Geschirr, das sich in der Spüle türmte. Die Motte steckte in der blassen Margarine, Ameisen marschierten durch die Marmelade, seine Frau saß lesend am Tisch, und seine Kinder spielten auf dem Fußboden. Er setzte die Brille ab und putzte sie, eine Geste, die er immer machte, wenn er einen Anblick nicht ertragen konnte. Als ob er sich nach einem kranken Angehörigen erkundigte, fragte er: »Wie steht es mit dem Abendessen?«
Die Frage schien Kitty zu überraschen. Sie watschelte an den Eisschrank und blickte hinein. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob noch ein bisschen zum Aufwärmen da ist. Nein, leider nicht.«
»Wie wäre es denn mit Eiern und Toast, die du immer Frösche im Eimer nennst?«, schlug Eden vor.
Kitty musterte die schmalen Regale, denen ein abgestandener Geruch entströmte. »Keine Eier. Kein Kohl. Kein Fleisch. Noch nicht einmal genug für Auferstehungspastete.«
»Auferstehung sollte nicht im Zusammenhang mit etwas Essbarem genannt werden«, murrte Gideon.
»Ach, papperlapapp«, trällerte Kitty. »Dann lasst uns alle Hühnchen auf Königsart essen. Allerdings muss man dazu auch von königlichem Geblüt sein, sonst bleibt es einem im Hals stecken. Oder wir könnten ja auch in Ruths feines altes Restaurant gehen. Ja, genau, wir ziehen unsere Sonntagskleider an und rauschen in den Pilgrim, wo die feinen Leute hingehen. Wo die Damen von der Silk Stocking Row Federn in ihren schicken Hütchen tragen und die Herren goldene Uhren in der Tasche haben! Lasst uns ins Pilgrim gehen, wo der Koch sich selbst Napoleon nennt und die chinesischen Kellner sich verbeugen und uns mit Sir und Madam anreden. O ja, vielen Dank, und ich nehme die Lammkoteletts auf einem Bett von gebratenen Tomaten. Und zum Dessert, genau, Kolibri-Crème.«
»Was ist Kolibri-Crème, Ma?«
»Ein Essen für die Götter, glänzend grün und rosa.« Sie schwieg. »Ein wenig Wassermelone, ein wenig Limone, und etwas Sahne oben drauf. Wie Nektar und Ambrosia. Oh, und wenn du nicht zu beschäftigt bist, Ruth«, Kitty verdrehte die Augen himmelwärts, »dann nehme ich noch von den Feigen, die der heidnische Chinese Napoleon nach sich selber benannt hat. Ein Essen für die Götter, wenn ich so sagen darf.«
Gideon schluckte schweigend den indirekten Vorwurf über sein Versagen als Ernährer. Ruth Douglass gehörte das eleganteste Restaurant in St. Elmo, und sie wohnte in der Silk Stocking Row, aber ihr Sohn Gideon kam kaum über die Runden. Als Kitty mit ihrer Tirade am Ende war, fragte er erneut nach seinem Abendessen. Er hatte Hunger.
»Ein Mann hat ein Recht auf ein warmes Essen am Ende des Tages«, sagte Gideon.
»Papperlapapp«, gab Kitty zurück, aber Eden sah ihr an, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. Sie holte eine halb volle Flasche Milch aus dem Kühlschrank und stellte sie auf den Tisch neben das leicht angeschimmelte Brot.
Gideon setzte sich schwerfällig nieder. »Ich habe den Segen der Kirche, und zu Hause bekomme ich nichts anderes als Brot, das ich in einen Becher Milch tunken kann?«
»Ich könnte zu Mrs. Patterson gehen«, sagte Eden, »und Bohnen, Fleisch und Tortillas holen. Ich mag Mrs. Pattersons Essen gerne.«
»Von Mrs. Pattersons Bohnen und Fleisch bekomme ich Blähungen«, wandte Gideon ein.
»Furzen tut dir gut«, erwiderte Kitty. »Es löst böse Dämpfe.«
»Ich könnte auch schnell zu Bojo’s laufen und etwas mit nach Hause bringen«, sagte Eden. »Es ist nicht weit.«
»Warum müssen wir uns immer auf andere stützen?«, fragte Gideon. »Der Brotmann, der Milchmann, sie kommen ins Haus. Der Junge vom Lebensmittelladen bringt die Sachen. Der...«
»Wenn du mexikanisches Essen nicht magst, dann gib Eden Geld, setz sie in die Tram und schick sie nach China Flats zu Kee’s, damit sie da etwas zum Abendessen kaufen kann.«
Eden sprang von ihrem Stuhl auf und streckte ihrem Vater die Handfläche entgegen. China Flats, wo Mr. Kees Laden war, war für Eden wie ein fremdes Land, obwohl sie häufig dorthin fuhr. Wenn sie in Mr. Kees schwach beleuchteten Laden trat, kam sie sich vor wie in einem Abenteuer. Dort gab es rote Drachen über den Türen, Regale voller Fässer mit seltsamen Flüssigkeiten und exotische Gerüche, die Eden liebte, aber nicht benennen konnte. Die Chinesen dort sprachen in ihrem eigentümlichen Singsang, hielten sich die Schalen an die Lippen und schaufelten das Essen mit Stäbchen in den Mund. Es gab auch eine japanische Gemeinschaft in St. Elmo, aber die Chinesen blieben dichter zusammen und waren weniger offen. Die Männer waren mit der Eisenbahn nach St. Elmo gekommen, und als Ende der 1880er der Bahnhof fertig gebaut worden war, waren sie geblieben, hatten ihre Frauen aus China oder San Francisco geholt, ihre eigene Sprache und Sitten gepflegt und sich arm und stolz von den anderen Einwohnern des Ortes ferngehalten.
»Die Chinesen sind in gewisser Hinsicht ja ein gebildetes Volk«, sagte Gideon auf seine gelehrte Art, »aber sie sind doch Heiden, und ihr Essen ist unzuverlässig.«
»Unzuverlässig?«, wollte Kitty wissen. »Was soll das heißen?«
In der Kirche hatte letzten Sonntag ein Heiliger zu Gideon eine Bemerkung darüber gemacht, dass er seine Tochter Eden in der Tram mit einem Beutel voller Essen von Kee angetroffen habe, und er wollte Gideon nur darauf aufmerksam machen, dass die Chinesen ihre Hunde kochten. Das wollte Gideon nicht sagen, deshalb erwiderte er nur: »Eden sollte nicht nach China Flats gehen, und ganz bestimmt nicht allein. Das tun ehrbare Mädchen nicht«, fügte er hinzu.
»Ehrbare Mädchen können überall hingehen. Mach dich nicht lächerlich!« Kitty lachte herzhaft, verzog aber dann finster das Gesicht.
Die Essensfrage, spürte Eden, eskalierte in einen Streit, der in Tränen und Vorwürfen enden würde. Ma würde vor Ohnmacht weinen, Pa bliebe stoisch vor Ohnmacht, und alle hätten Hunger. Ihre Eltern starrten sich böse an, und das Baby hatte angefangen zu weinen.
»Gib mir ein bisschen Geld, Pa. Ich gehe zu Mrs. Patterson. Sie ist gleich um die Ecke. Gib mir einen Vierteldollar.«
Gideon blickte sie verständnislos an. Dann wandte er sich an seine Frau, die anfing, sich lauthals zu verteidigen, dass Mrs. Patterson die Preise für Bohnen erhöht habe. »Vierzig Cent! Sieh mich doch nicht so an, als ob ich Geld hätte! Du bist doch der Ernährer, das behauptest du jedenfalls!«
»Bitte, Kitty, Liebes. Wo ist das Geld? Ich habe dir doch gerade vorgestern Haushaltsgeld gegeben? Wo ist es denn?«
Darauf konnte - oder wollte - Kitty keine Antwort geben.
Gideon, Kitty und Eden begannen, sämtliche Schubladen und Taschen zu durchwühlen, blickten unter die Stühle und neben die Kissen, und Eden krabbelte auf allen vieren dort herum, wo ihr Vater gestern Abend seine Hose ausgezogen hatte. Sie kam mit siebenundzwanzig Cents wieder in die Küche. Und schließlich holte auch Gideon noch ein bisschen Geld aus seinem Versteck unter dem Tintenfass und gab es Eden, bevor er sich ins Schlafzimmer zurückzog, wo seine Große Zeittafel auf ihn wartete. Eden rannte aus dem Haus, als das Telefon klingelte.
Kittys Auferstehungspastete
Nimm alles, was du an Resten hast, und schneide es ganz klein. Schlag ein oder zwei Eier darüber und mische alles gut durch. Gib die Masse in eine Kuchenform, dekoriere sie mit Resten und würze mit Pfeffer und Salz. Backe so lange, bis die Masse Blasen wirft.

MOMENTAUFNAHME

Die Konvertierte

In Kittys Jugend in Liverpool war Auferstehungspastete ein Festmahl, da sie bedeutete, dass von einem anderen Essen etwas übrig geblieben war. Die meiste Zeit aß sie Brot mit einem Margarineersatz, der aus Unaussprechlichem bestand. Wenn sie Glück hatte, aß sie Brot mit Sauce, oder ganz selten einmal leckte sie ein wenig gebratenen Fisch und Senf von der Zeitung, in die sie eingewickelt gewesen waren. Das war in einem Laden in der Nähe des schmutzigen Ramsey Court, wo Kitty Tindall mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, einem Hilfsarbeiter, im Liverpooler Hafen, lebte. Die meisten ihrer Geschwister starben an Auszehrung oder Typhus. Auszehrung dauerte länger. In der Wohnung gab es einen Untermieter, Wanzen, Flöhe, Ratten und Schaben zur Gesellschaft sowie Gin und Missbrauch zur Unterhaltung.
Kitty war nie die Lerche von Liverpool gewesen, das war eine Lüge. Es gab keine Familie auf der Bühne und auch keine Schwester, die gestorben war, weil sie feuchte Strümpfe getragen hatte. Kitty war das uneheliche Kind eines Mannes, der dann schnell zur See gefahren und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Der Wendepunkt in ihrem Leben kam mit dem Alphabet; sie blieb lange genug in der Schule, um lesen zu lernen. Als sie es konnte, eröffneten sich ihr ganz neue Ausblicke. Sie war überzeugt, dass es die Welt der Liebesromane, die sie so mochte, tatsächlich gab, und in einem grauen, kalten, schäbigen Leben blühte Kittys Vorstellungskraft üppig.
Üppig waren auch die Music Halls, und Kitty liebte es, im Zuschauerraum zu sitzen, umgeben von Schweiß und Rauch, Bier, Gin, Gelächter, Geplauder und Musik. Sie träumte davon, selbst zu singen, tosenden Applaus zu erhalten und den Zuschauern, die sie bewunderten, ihr Herz und ihre Stimme zu öffnen, wenn sie als Lerche von Liverpool ihre Lieblingslieder sang und sich anmutig auf der Bühne bewegte. Aber Kitty besaß weder das Talent noch den Antrieb.
Und doch gab sie jeden Penny, den sie von ihrem mageren Lohn erübrigen konnte, für die Music Hall aus, und sie ging mit jedem Burschen dorthin, den sie dazu überreden konnte. Und wenn der Junge am Ende des Abends eine Belohnung dafür haben wollte, na ja, das kostete wenig und brachte vielleicht ein bisschen Spaß. Das wirkliche Vergnügen aber war die Bühne, dieser strahlende Glanz, den die Künstler in den tristen Alltag brachten!
Kitty Tindall arbeitete als Knopflochnäherin in einer Korsettfabrik. Das war ein Aufstieg, nachdem sie mit zwölf Jahren als Kehrmädchen angefangen hatte.
Drei oder vier Jahre später sah Kitty, als sie von der Arbeit kam, Mormonenmissionare auf den Straßen von Liverpool. Ein gut aussehender junger Mann und ein älterer Mann, schweigsam, bärtig und konzentriert, beim Verteilen von Broschüren. Die Leute warfen sie achtlos weg, und eine Broschüre fiel Kitty vor die Füße. Sie las sie, schließlich konnte sie lesen. Das kleine Heftchen erzählte die dramatische Geschichte eines wiederhergestellten Evangeliums, der Kräfte von Gut und Böse und wie sich die Nephiten und Lamaniten in der Schlacht von Cumorah bis aufs Blut bekämpften. Die Mormonen versprachen Gläubigen ein Geburtsrecht und einen Platz im Himmel, was sich wirklich sehr gut anhörte. Auf jeden Fall nicht so wie Ramsey Court. Für den nächsten Dienstagabend war eine Versammlung angekündigt, zu der alle Heiligen aus Liverpool eingeladen waren.
Kitty besuchte die Versammlung, und es gefiel ihr sehr gut. Sie mochte nicht nur die wundervollen Geschichten von Jesus auf dem nordamerikanischen Kontinent, sondern auch Brot, Butter und Kuchen, die während der Versammlung gereicht wurden. Leider gab es keinen Tee. Mit ihren hellbraunen Haaren, ihren blauen Augen und ihrem Eifer zu gefallen, hießen die Heiligen der Letzten Tage sie begeistert willkommen, und Kittys dramatischer Bericht über ihr jämmerliches Leben hielt sie alle in Atem - einschließlich des jungen Missionars, der sich persönlich um ihre Konversion kümmerte.
Allerdings hatte Kitty Tindall nicht damit gerechnet, dass sie völlig untertauchen musste. Bevor sie in einem Teich in der Nähe der Stadt von den Mormonen getauft wurde, war ihr Körper noch nie unter Wasser gewesen, und die Taufe brachte sie vor Angst beinahe um den Verstand.
1911 versuchten die Heiligen der Letzten Tage immer noch, Zion zu bevölkern, und man ermutigte europäische Konvertierte auszuwandern. Also segelte Kitty Tindall nach Amerika, wenn auch nur in der dritten Klasse. Die Reise bezahlten die Heiligen von Liverpool, und der junge Missionar sollte sich um sie kümmern.

3

Gloria Trujillo Patterson betrieb in ihrer Küche ein kleines Geschäft. Sie verkaufte Töpfchen mit Bohnen und Fleisch und warme, in Sackleinen eingewickelte Tortillas. Dass sie erfolgreich war, stellte sie nicht zur Schau. Sie und ihr Mann Benjamin Franklin Patterson lebten weiter in ihrem baufälligen Haus in der Nähe von Edens Familie. Früher einmal hatten sie auch ein wenig Ackerland gehabt, und Mr. Patterson hatte mit Pferden gehandelt. In dem ehemaligen Stall stand jetzt ihr neues Auto. Im Hof pickten Hühner, und eine fette Sau und ihre rosigen Ferkel wurden diskret außer Sichtweite hinter dem Stall gehalten. In der Stadt gab es Gesetze gegen Schweinehaltung, ebenso wie Gesetze gegen unangemeldete Geschäfte. Gloria Pattersons Kunden kamen an die Hintertür, die immer offen stand.
Eden lief das Wasser im Mund zusammen, als sie in Glorias Küche trat. Es roch würzig nach Koriander und Kreuzkümmel, nach gehackten Jalapeños und den Bohnen, die auf der Warmhalteplatte köchelten. Von Haken an der Decke hingen getrocknete Chilischoten herunter, und in der Ecke stand eine Tonne mit Zwiebeln. Daneben lehnte ein Sack Bohnen, und in einer Schüssel neben dem Herd befand sich ein Stück Speck, weiß wie Schnee. Drei schwere gusseiserne Pfannen standen auf dem Herd, und Gloria Patterson zermahlte gerade mit einem schweren Stößel ihre geheime Gewürzmischung im Mörser.
Sie blickte auf und begrüßte Eden freundlich. Sie war eine winzige Frau, braun wie Muskatnuss, mit breiten Gesichtszügen und schweren Augenlidern. Ihr Lächeln verschönte sie. Als Kind waren ihr bei einem Unfall Nase und Kiefer gebrochen worden und nicht mehr richtig zusammengewachsen. Sie war gescheit und hässlich, aber alle ihre Kinder, vier Söhne und drei Töchter, waren Schönheiten: schwarze Haare, cremefarbene Haut, leuchtend blaue Augen und ein strahlendes Lächeln. Gloria klopfte sich die Hände ab, die so stark wie die eines Mannes waren, und wischte sich mit ihrem Taschentuch über die Stirn und die zerquetschte Nase.
»Tut mir leid, Eden«, sagte sie. »Nada heute Abend. Für heute ist schon alles weg. Es ist...« Mrs. Patterson blickte zu ihrem Mann Ben, der gerade die Zeitung las. Ben Patterson war zwar korpulent und hatte schon fast keine Haare mehr, aber er sah immer noch gut aus. Gloria Patterson hatte Eden immer nur mit einer schmutzigen Schürze über einem formlosen Hauskleid gesehen, aber Mr. Patterson trug immer einen Anzug, eine Fliege, einen Papierkragen, ein gestärktes, gebügeltes Hemd und eine Weste, die über seinem gewaltigen Bauch spannte. Jetzt zog Ben seine Taschenuhr heraus und verkündete, es sei fast sieben.
»Siehst du? Nada. Aber hier«, sie reichte Eden etwas Knuspriges, Gebratenes, das mit Zimt und Zucker bestäubt war, »wenn du schon mit schlechten Nachrichten nach Hause gehen musst, dann solltest du wenigstens etwas haben.«
Aber Eden konnte nicht nach Hause gehen. Sie traute sich nicht, ohne Essen zurückzukommen. Um mit der Tram zu Mr. Kee’s zu fahren, war es mittlerweile auch zu spät, deshalb lief sie in die Richtung von New Town, wo das Restaurant ihrer Großmutter war. Dorthin konnte sie aber auch nicht gehen, und sie achtete sorgfältig darauf, nur ja nicht zu dicht daran vorbeizulaufen, für den Fall, dass Ruth gerade zum Fenster hinausschaute.
Gegenüber vom Pilgrim lag Bowers Block, ein solides, zweistöckiges Backsteingebäude, mit schmalen, gleichmäßig angeordneten Fenstern im ersten Stock, in dem Büros an Anwälte und einen Zahnarzt vermietet waren. In einem Büro befand sich die Buchhaltung für die zahlreichen Unternehmen der Familie Bowers. Im Parterre waren Miss Louellas Hutsalon, ein Drugstore, ein deutscher Juwelier und andere Läden, die die alte Nana Bowers an alle möglichen Leute vermietete. Zum größten Teil jedoch gehörten die Läden der Familie: Generationen von Bowers samt Verwandten und Freunden hatten dort seit ihrer Kindheit gearbeitet. Die Jungen begannen damit, den Barbierladen auszukehren, in dem die Männer ihr illegales Tonikum unterm Ladentisch verkauften.
Die Mädchen begannen schon früh damit, in der Küche von Bojo zu helfen, einem kleinen Esslokal, das natürlich nicht mit dem Pilgrim zu vergleichen war. Der Name war einfach aus Bowers und Johnson zusammengezogen. Das Essen war nahr- und schmackhaft, und man konnte dort lecker essen, wenn man Gebratenes und Eingelegtes mochte. Mabel Johnson briet alles, was nicht schnell genug weglaufen konnte, und das Beste war, dass im Bojo’s auf jedem Tisch eine Schale mit heißen, gewürzten Mandeln stand. Das gab es im Pilgrim nicht.
Als Eden eintrat, bimmelte eine Glocke über der Ladentür. Das Lokal war so gut wie leer, wenn man einmal von der dünnen, dunkelhaarigen Frau mit Hut absah, die allein an einem Tisch am Fenster saß. Wenn Eden abends zu Bojo’s kam, aß sie immer allein dort.
Eden stürzte zu einem Tisch und stopfte sich eine Handvoll Gewürzmandeln in den Mund. Der Cayennepfeffer, in dem sie gewälzt waren, brannte, und als Mabel Johnson aus der Küche kam, hatte sie ein hochrotes Gesicht.
»Hat deine Großmutter dich geschickt, damit du Rezepte ausspionierst?«, fragte Mabel gutmütig. »Hat sie Angst vor der Konkurrenz?« Sie reichte Eden ein Glas Wasser. »Diese Mandeln sind scharf. Du solltest sie langsam essen. Und das nächste Mal solltest du vorher fragen.«
»Ja, Ma’am. Entschuldigung.« Eden trank das Wasser. »Meine Ma schickt mich. Sie fragt, ob ich ein bisschen zum Essen kaufen und mit nach Hause nehmen kann.«
Aus einer dunklen Ecke kam ein schnaubendes Lachen, und als Eden sich umdrehte, sah sie Nana Bowers. Nana Bowers war uralt und eigentlich hätte sie schon längst tot sein müssen, aber sie war äußerst lebendig und äußerte stets mit Nachdruck ihre Meinung. Sie kannte St. Elmo noch aus seinen Anfängen, weil sie 1854 mit den ersten Siedlern als Sklavin hierhergekommen war.
»Kann deine Ma nicht kochen?«, fragte die alte Dame und wölbte ihre Lippen über dem zahnlosen Gaumen. Mit ihren kleinen Augen, die trotz ihrer achtundachtzig Jahre noch klar waren, blinzelte sie Eden an und setzte ihre Brille auf. »Ich kenne dich. Du bist das Kind von Ruth Douglass.«
»Die Enkeltochter«, sagte Eden. »Meine Mutter ist Kitty Douglass.«
»Erzähl mir nichts, was ich schon weiß.« Nana Bowers hatte kohlschwarze Haut, und ihre dünnen grauen Haare, die aus dem Haarnetz herausgerutscht waren, standen wirr um ihr Gesicht. Sie hatte einen Goldzahn und einen Stock. Früher war sie dafür bekannt gewesen, dass sie damit ihre frechen Enkel, Urenkel und vielleicht sogar schon Ururenkel verprügelt hatte. »Hat deine Mutter denn überhaupt jemals was gelernt?«
»Meine Ma sagt, wozu soll sie kochen lernen, wenn andere Leute, Leute wie Sie, es so gut können!«, erfand Eden aus dem Stegreif.
»Na, wenn du sie lässt, gibt es auch Leute, die für dich atmen und denken.«
Eden fuhr fort: »Meine Ma sagt, die gebratene Okra von Bojo ist das reinste Götteressen, besser als alles im Pilgrim.«
»Du bist ganz schön durchtrieben.« Mabel lachte.
In diesem Augenblick kam Mabels Tochter Sojourner aus der Küche, ein kaffeebraunes Mädchen von vielleicht zehn Jahren mit ordentlich geflochtenen Zöpfen und einer scheuen Art. Sie nickte Eden zu. »Ich habe gesehen, wie sie dich heute von der Schule verwiesen haben.«
Mabel Bowers warf Eden einen erschreckten Blick zu.
»Das war kein Verweis. Der Direktor hat mich nur kommen lassen, um mir zu sagen, ich sei so klug, dass ich dienstags nicht in die Schule müsse. Jetzt kann ich am Dienstag machen, was ich will.«
»Vielleicht solltest du kochen lernen«, sagte die alte Dame aus ihrer Ecke kichernd.
Sojourner nickte Eden verschwörerisch zu und wandte sich an ihre Großmutter. »Eden hat so ein schlimmes Lied gesungen, dass die Lehrerin fast in Ohnmacht gefallen ist, als sie es gehört hat. Etwas über den Scheich, Nana, der in Zelte kriecht.« Sojourner begann leise »The Sheik of Araby« zu summen.
»Schund!«, schrie Nana Bowers und schwang ihren Stock. »Dieser Schund im Dream Theatre. Dieser Schmutz ohne Sinn und Verstand, der die Leute von ihren gottgegebenen Pflichten abhält und sie mit Lust erfüllt. Ja, mit Lust!«
Die alte Dame wütete immer weiter. Sojourner hatte bestimmt gewusst, dass sie sich darüber aufregen würde, denn sie kicherte. Mabel warf ihrer Tochter einen warnenden Blick zu. Aber als die alte Dame dazu überging, Ernest March zu beschimpfen, den Star aus Die grüne Göttin, fühlte Eden sich bemüßigt, ihn zu verteidigen. Ernest March war für Kitty eine Art Gott, mehr als Jesus, Joseph Smith, Brigham Young oder Moses, und Eden teilte die Verehrung ihrer Mutter für den Schauspieler. Sie machte den Fehler, Nana Bowers’ Tirade zu unterbrechen, um sie darauf hinzuweisen, dass Ernest March ein Gentleman sei.
»Halt den Mund!«, fuhr Nana sie an. »Was weißt du schon von Korruption? Nichts! Diesem Dream Theatre dringt doch die Korruption aus jeder Pore. Alle sind sie korrupt!«
»Was ist Korruption?«
»Stimm ihr einfach zu«, riet Sojourner ihr leise.
»Ja, Ma’am, Korruption«, sagte Eden, entzückt über dieses wundervoll böse Wort. Sie wandte sich an Mabel. »Haben Sie noch etwas da, das ich kaufen und mit nach Hause nehmen kann?« Sie legte ihre vierzig Cents auf die Theke.
Mabel Johnson schnalzte mit der Zunge. »Ihr wollt fünf Leute für vierzig Cents satt kriegen?«
Arglos erwiderte Eden: »Bei Mrs. Patterson reicht das.«
Mabel runzelte die Stirn. Zwischen den Bowers und den Pattersons herrschte eine unausgesprochene Konkurrenz.
»Ruth Douglass hat ihre Kinder auch nie arbeiten lassen«, unterbrach Nana ihre Tirade. »Sie hat immer geglaubt, sie seien zu gut, um in ihrem Lokal zu arbeiten. Das war ihr Fehler. Man sieht ja, was es ihr gebracht hat. Nur Kummer und Leid. Außer Afton haben ihr doch alle Kinder nur Kummer gemacht, einer schlimmer als der andere.« Sie stampfte mit ihrem Stock auf. »Junge Leute müssen arbeiten. Hart arbeiten, damit sie etwas zu tun haben. Sie müssen nach einem Tag harter Arbeit hundemüde sein, damit sie keinen Unsinn anstellen. Ich habe auf meine Kinder immer ein Auge gehabt. Ich weiß, was sie tun, was sie denken, und dazu gehört auch dein nichtsnutziger Sohn, Mabel!« Sie stieß finstere Verwünschungen gegen Mabels missratenen Sohn aus.
»Ach, komm, Nana«, beruhigte Mabel sie, aber Sojourner, die all das ausgelöst hatte, warf sie einen finsteren Blick zu.
Die Frau, die am Fenster gesessen hatte, schob ihren Stuhl zurück und kam mit ihrer Rechnung an die Kasse. Sie war so dünn, dass ihr selbst die Schuhe an den Füßen schlotterten, und Eden kam sie genauso grimmig wie die alte Nana Bowers vor, obwohl sie noch nicht alt war. Sie trug ein braunes Kleid aus einem steifen Stoff mit einem Strauß falscher Veilchen auf der Schulter. Sie hatte eine gerade Nase, dünne Lippen, und ihre Augen hinter der schmalen Brille blickten misstrauisch. Der Hut auf ihrem Kopf ähnelte in Form und Farbe einem Pilz.
»Wie hat es Ihnen geschmeckt, Miss Merton?«, fragte Mabel.
»Es war zu fettig, wie üblich.« Sie warf Eden einen bösen Blick zu, und Eden trat einen Schritt zurück. Miss Merton nahm ihr Wechselgeld, und die Glocke über der Tür bimmelte, als sie hinauswatschelte.
»Wenn Winifred Merton unser Essen nicht mag«, meinte Nana Bowers und stampfte erneut mit dem Stock auf, »warum geht sie dann nicht ins Pilgrim?« Ihr empörtes Schnauben erinnerte Eden an Afton.
»Das kann ich dir sagen«, erwiderte Mabel. »Bei Ruth Douglass würde sie nicht wagen, so zu jammern und zu stöhnen. Ruth Douglass würde es nicht dulden, aber Winifred Merton weiß, dass uns nichts anderes übrig bleibt. Sie isst jeden Abend hier, und jeden verdammten Tag ist irgendetwas nicht in Ordnung. Winifred Merton hat noch nie in ihrem ganzen Leben ein freudiges Geräusch von sich gegeben, noch nicht einmal einen Furz. Sojourner!«, rief sie. »Räum den Tisch ab und spül das Geschirr, damit wir endlich nach Hause gehen können. Dreh das ›Offen‹-Schild um. Und du, Eden, kommst mit mir.«
Mabel führte Eden in die Küche. »Heute Abend will ich mal besonders nett zu dir sein, Eden.« Sie zog eine große Pfanne auf dem Herd nach vorn und nahm zwei Schweinekoteletts heraus, die sie in eine leere Blechdose legte. »Ich gebe dir die letzten zwei Rhythmus-im-Blut-Schweinekoteletts.«
»Warum heißen sie so?«, fragte Eden.
Mabel antwortete nicht. »Ich kann es nicht ertragen, wenn Kinder Hunger haben. Ich weiß nicht, warum deine Mutter keinen Finger krumm macht für ihre Familie.«
»Sie hält sich für Victorine St. John.«
Mabel schnaubte. »Sie kann sich meinetwegen für die Königin von England halten, das ändert auch nichts. Aber du bist ein liebes kleines Mädchen, Eden. Gescheit, heißt es.« Mabel hielt die Pfanne über die Koteletts und gab eine braungoldene Sauce darüber, die nach Orange und etwas Pikantem duftete. Sie verschloss die Dose, und in eine andere gab sie etwas Gemüse, drei gebackene Kartoffeln und ein Stück Gefühlvolles Maisbrot. So nannten es jedenfalls alle. Das Rezept stammte von Nana Bowers, und einer ihrer Söhne hatte einmal erklärt, Nanas Maisbrot sei kein Nahrungsmittel, sondern ein Gefühl.
»Können wir noch ein bisschen mehr Maisbrot haben? Morgen können Sie es doch sowieso nicht mehr servieren, oder?«
»Nein, aber ich kann es zermahlen und Hühnchen darin panieren.« Trotzdem legte Mabel noch ein Stück hinein.
»Keine gebratene Okra?«
»Alles weg.« Mabel packte die Dosen in ein kleines Tischtuch und trug Eden auf, sie von unten festzuhalten. »Gehst du zu Fuß nach Hause?«
»Ja.«
»Nun, eigentlich müsste es vor dem Essen aufgewärmt werden, aber ich nehme nicht an, dass ihr das tut.«
»Nein, ich auch nicht. Danke, Mrs. Johnson. Morgen bringe ich Ihnen die Dosen zurück.«
Eden kam zu Hause an, als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne den Horizont aufleuchten ließen. Sie stürmte durch die Hintertür und erwartete, wie eine Heldin willkommen geheißen zu werden. Aber sie spürte gleich, dass ihre Mutter schlechte Laune hatte. Gideon vermittelte ihr über seine Augenbrauen, dass Gefahr im Verzug war.
»Ich komme so spät, weil ich bis zu Bojo’s laufen musste. Mrs. Patterson hatte nichts mehr«, erklärte sie und stellte die Dosen auf den Tisch.
»Es sind nur zwei Schweinekoteletts, wir müssen sie teilen«, sagte Eden und setzte sich auf ihren Platz neben Ada, die unruhig hin und her rutschte. Ernest, der in seinem Hochstühlchen saß, schlug fröhlich mit dem Löffel auf den Tisch.
»Lasst uns beten«, sagte Gideon, »und Dank sagen.«
»Wir danken Mabel Johnson und Bojo’s«, sagte Eden.
»Nein, Gott. O Gott, Ewiger Vater...«
»Mach es kurz«, warf Kitty ein. »Wir haben alle Hunger.«
Sie aßen schweigend, mit klapperndem Besteck und schluckten und kauten geräuschvoll. Bei Afton oder ihrer Großmutter dürften sie sich nicht so benehmen, das wusste Eden.
Als sie fertig waren, erklärte Gideon, das seien die besten Schweinekoteletts, die je über seine Lippen gekommen seien. »Ich wünschte, es hätte zehn Schweinekoteletts gegeben. Ich hätte sie alle essen können.«
Kitty ignorierte ihn. »Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Miss Eden Louise Douglass heute von der Schule nach Hause geschickt worden ist. Allerdings bist du nicht nach Hause gekommen, nicht wahr? Sam und Junior Lance haben gar nicht gesagt, du sollst mit ihnen kommen, du Lügnerin. Der Direktor der Schule hat dich unehrenhaft nach Hause geschickt.«
Eden ließ ihren Löffel, den sie abgeleckt hatte, sinken. Ada verschluckte sich und begann zu weinen.
»Trink einen Schluck Milch, Ada, und halt den Mund«, sagte Kitty. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Eden zu. »Afton hat mich angerufen, kurz nachdem du zu Gloria gegangen bist, und hat mir einen Vortrag gehalten, und ich konnte dasitzen und es mir anhören. Sie hat mich angegiftet, als ob ich schmutzige Lieder singen würde. Und diese Fernsprechtante, Miss Moody, konnte jedes einzelne Wort hören. Vertrocknete Schlampe! Am liebsten hätte ich Afton gesagt, sie solle Kohle und Scheiße fressen. Miss Moody auch.«
»Das hast du aber nicht getan, oder?« Gideon wurde blass.
»Und kaum habe ich den Hörer wieder aufgelegt, da ruft Ruth an, um mir zu erklären, dass ich Schande über den Namen Douglass bringe. Als ob ich schmutzige Lieder singen würde. Aber du hast es getan, Eden. Du solltest dich schämen!« Kitty verschränkte die Arme über ihren schweren Brüsten und blickte Eden aus zusammengekniffenen Augen an.
»So war es doch gar nicht«, erwiderte Eden.
»Die Douglasses hatten schon immer was gegen mich. Ständig geben sie mir die Schuld. Und dabei bin ich unschuldig wie nur was und wusste gar nicht, was du getan hast, Eden. Und was noch schlimmer ist, mein undankbares Kind ruft Afton Lance an, statt seiner eigenen geliebten Mutter! Und behaupte jetzt nicht, dass es nicht stimmt! Mein eigenes Kind hat mich verraten!«
»Ich habe Mr. Snow gesagt, er soll dich anrufen, Ma!«, log Eden, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn Kitty erst einmal wütend war, konnte sie unheimlich viel Schaden anrichten, und Gideon konnte sie nicht aufhalten. »Frag ihn doch! Du brauchst ja bloß Mr. Snow zu fragen! Und ich habe nichts Schmutziges gesungen, Ma, es war nur der ›Sheik of Araby‹.« Eden fiel ein, wie Nana Bowers gegen Korruption und Lust gewettert hatte. Das Dream Theatre. Sie musste lächeln: Ernest March würde sie jetzt retten, so sicher, als ob sie an die Eisenbahnschwellen gefesselt wäre und sich verzweifelt winden würde. »Willst du wissen, warum ich wirklich Schwierigkeiten bekommen habe, Ma? Ich habe Ernest March in Schutz genommen! Josie McGahey hat Ernest March einen Spaghettifresser genannt. Und Maisie Fletcher auch. Ich habe sie beide verprügelt. Was ist ein Spaghettifresser, Ma?« Eden wusste ganz genau, dass es ein Schimpfwort war, mit dem bei ihr in der Schule jeder bedacht wurde, der kein Mormone oder Methodist und nicht weiß war.
»Wie können sie es wagen! Ernest March?«
»Ja, Ma. Maisie Fletchers Vater hat es gesagt. Er leitet das Dream Theatre, und er hat gesagt, er hat Ernest March getroffen, und er sei ein Spaghettifresser.«
»Die kleine Schlampe!«, sagte Kitty.
»Kitty, bitte«, wies Gideon sie zurecht, »Maisie Fletcher ist ein kleines Mädchen. Sie kann keine Schlampe sein.«
»Aber wenn sie groß ist, wird sie eine«, fuhr Kitty ihn an. »Wie kann man Ernest March als Spaghettifresser bezeichnen? Sieh ihn dir doch an. Er ist ein Gentleman. Wahrscheinlich ein Prinz. Oh, denk doch nur, wie er den Maharadscha in Die grüne Göttin gespielt hat! Wir haben den Film so oft gesehen.«
»O ja, Ma! Und Blanche Randall als Alice Crespin! Der Maharadscha sagt zu ihr: ›Ich, der Maharadscha, bin der König der ganzen Welt. Du gehörst mir, mit Leib und Seele!‹« Eden Louise Douglass hatte mit den Untertiteln der Stummfilme lesen gelernt. Überwältigt von ihrer eigenen Erfindungsgabe fuhr sie fort: »Und weißt du was, Ma? Ernest March und Blanche Randall kommen nach St. Elmo!« Blanche Randall war die derzeitige Herzensdame von Ernest March, eine große Schönheit mit goldenen Haaren und einem winzigen Kussmündchen. »Du weißt doch, die großen Filmstars kommen manchmal von Los Angeles nach St. Elmo, um zu sehen, ob auch die gewöhnlichen Leute ihre Filme mögen. Bald kommen sie nach St. Elmo und werden wie gewöhnliche Sterbliche im Dream Theatre sitzen, um unseren Applaus zu hören. Bald! Eine Ernest-March-Vorschau, Ma!«
Lachend prustete Kitty dem Baby einen Kuss auf den Bauch. Aus Liebe zu Ernest March hatte sie ihren Sohn Ernest genannt.
»Vielleicht kommt Ernest March ja sogar zu dem Balkon, auf dem wir immer sitzen, Ma!«
»Er wird auf jeden Fall dieselbe Luft atmen«, seufzte Kitty, und aller Ärger war vergessen. »Ernest! Ernest! Ernest, ich liebe dich!« Das Baby krähte vor Entzücken und spuckte sein Essen aus. Kitty wischte ihm das Erbrochene mit seinem Hemdchen vom Kinn, während Ada gleichmütig zuschaute. Eden, die dem Zorn ihrer Mutter entronnen war, stand auf, räumte den Tisch ab, stellte das Geschirr ins Spülbecken und drehte den Hahn auf.
»Ich glaube, das Baby müsste gebadet werden«, sagte Gideon.
Als ihm niemand zuhörte, nahm er die Brille ab, putzte umständlich die Gläser und setzte das Drahtgestell wieder auf. Dann zog er sich ins Schlafzimmer zurück. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und breitete seine Tabellen aus. Aus der Küche hörte er Eden und Kitty singen. Er ergriff seinen Bleistift und sein Lineal, um den Lauf menschlicher Ereignisse bis hin zu den winzigsten Zeitfetzchens unseres Daseins auf der Erde genauestens abzumessen.
Rhythmus-im-Blut-Schweinekoteletts
Diese Schweinekoteletts machen gute Laune. Sojourner selbst hat dieses Rezept an Eden weitergegeben, die es schließlich im Café Eden auf die Speisekarte setzte. 1961 veränderte Sojourners verheiratete Tochter Sonoma den Namen dieser Schweinekoteletts und nannte sie »Schweinekoteletts, dem gewidmet, den ich liebe«.
 
Das folgende Rezept ist für zwei Personen: Erhitzen Sie Öl in einer großen, gusseisernen Pfanne. Wenn es heiß ist, geben Sie eine gehackte Knoblauchzehe hinein. Anbräunen und wieder herausholen.
Nehmen Sie zwei ordentliche Schweinekoteletts, spülen Sie sie ab und tupfen sie trocken. Bestäuben Sie sie mit Mehl, Salz und Pfeffer und einem Hauch gemahlenem Koriander. Braten Sie sie von beiden Seiten scharf an. Dann geben Sie eine dreiviertel bis eine ganze Tasse Orangenmarmelade dazu, sodass die Koteletts bedeckt sind. Lassen Sie das Ganze bei reduzierter Hitze schmoren, bis das Fleisch gar ist. Das wird davon abhängen, wie dick die Koteletts sind, aber sie sollten nicht zu dünn sein, damit die Sauce das Fleisch richtig umhüllen kann.
Am besten eignet sich selbst gemachte, nicht zu süße Marmelade. Sollte sie doch zu süß sein, geben Sie einen Schuss Essig oder Senf dazu, wenn Sie das Fleisch aus der Pfanne geholt haben. Die Sauce braucht nicht angedickt zu werden. Mit den Bratrückständen verrühren und über die Koteletts geben. Dazu servieren Sie Kartoffelpüree.
Genießen Sie die Koteletts, und spüren Sie den Rhythmus im Blut.

MOMENTAUFNAHME

Naomi und der Apostel

Jedes Kind in der Fourth Street School kannte die Geschichte, wie Madison Whickham, Apostel der mormonischen Kirche, 1854 St. Elmo, Kalifornien, gegründet hatte. Er brachte etwa hundertzwanzig Seelen mit zu diesem Vorposten, einschließlich zweier seiner dreizehn Frauen und sechs seiner Sklaven. Madison war der Erste in der Familie der Whickhams, der alles, was er berührte, in Profit verwandelte. Aber Nana Bowers bot ihm die Stirn. Sie hieß eigentlich Naomi.
1856 erklärte Naomi eines Nachmittags, sie sei eine freie Frau und niemandes Sklavin. Madison holte die Peitsche, um ihr ihren Ungehorsam auszutreiben. Aber seine dreizehnte Frau erinnerte ihn daran, dass der Kreisrichter seinen Besuch für übermorgen angekündigt hatte und dass er bei dem Apostel übernachten wolle. Am nächsten Tag sollte eine Gerichtsverhandlung stattfinden, und dann konnten alle Sklaven Naomis Bestrafung mit ansehen. Und wenn Madison sie jetzt auspeitschte, könnte sie nicht arbeiten und müsste am Ende noch gepflegt werden.
Richter Emerson traf bei Sonnenuntergang ein, und als er sich mit dem Apostel zum Abendessen niederließ, dachte er traurig, dass es keinen Alkohol und keine Zigarre hinterher geben würde. Aber das Essen war hervorragend. Maisbrot, heißes, gesalzenes Kartoffelpüree, das vor Fett glänzte, gebutterte Maiskolben, knusprig gebratene Okraschoten und Kanincheneintopf. Zum Dessert gab es Aprikosencreme. Der Richter war äußerst zufrieden und fragte, ob Mrs. Whickham so gut gekocht habe. Beide Mrs. Whickhams verneinten.
Richter Emerson lief rot an. Er hatte geglaubt, dass eine der beiden Frauen Madisons Schwester sei. Oder Schwägerin oder sonst eine weibliche Verwandte. Zornig wetterte er gegen diese Relikte von Barbarismus, Sklaverei und Polygamie. Der Apostel widersprach mit Religionsfreiheit. Die Stimmung wurde gereizt, und der Streit wurde immer heftiger.
Da die Mormonen in der Überzahl waren und der Richter sie nicht überzeugen konnte, stand er auf und erklärte, er wolle sich für die Nacht zurückziehen. Vorher aber wolle er der Köchin noch seine Komplimente übermitteln. Zu seiner Überraschung kam die junge Naomi, die damals noch keine achtzehn Jahre alt war, aus der Küche.
Am nächsten Morgen fand im Hauptversammlungssaal des Mormonenforts die Gerichtsverhandlung statt. Der erste Fall war die Sklavin Naomi - wegen Ungehorsams. Königlich und selbstgerecht trug Madison Whickham den Fall vor, und Naomi stand ungebeugt daneben.
Richter Emerson hörte sich aus Gründen der Rechtschaffenheit alles an, ließ dann jedoch rasch seinen Hammer niedersausen und erklärte, in Kalifornien gäbe es keine Sklaven, und deshalb könne ein ungehorsamer Sklave auch nicht ausgepeitscht werden. Naomi und die fünf anderen seien freie Bürger, die sich ihre Freiheit nicht zu erkaufen brauchten. Der Apostel protestierte, weil er schließlich gutes Geld für die Sklaven bezahlt habe, aber Richter Emerson ließ alle sechs Schwarzen vor den Richtertisch treten und erklärte ihnen, dass Mr. Whickham, Apostel oder nicht, ihnen von jetzt an Löhne zahlen müsse. Auch ihre Religion könne er ihnen nicht aufzwingen, obwohl er sie alle mormonisch hatte taufen lassen. Laut Gesetz im Staat Kalifornien könnten sie selbst über ihre Religion, ihre Arbeitskraft, ihr Leben bestimmen. Außerdem, fuhr der Richter fort, gäbe es im Staat Kalifornien auch keine Polygamie, und Mr. Whickham stelle doch sicher die Souveränität Kaliforniens über das Wort von Brigham Young, dem Präsidenten der Kirche in Utah.
In diesem Jahr heiratete Naomi Elijah Bowers, einen der fünf anderen früheren Sklaven. Sie heirateten, nachdem sie in der Kirche ihrer Wahl - und sie war nicht mormonisch - getauft worden waren. Elijah und Naomi Bowers hatten zehn Kinder und gründeten eine Dynastie. Nana Bowers wurde eine Legende in St. Elmo, berühmt für ihren Scharfsinn, ihre Intelligenz und nicht zuletzt ihre Kochkunst.

4

Zwei Abgaben bezahlte die Familie von Gideon Douglass immer, ganz gleich, wie schlecht sie sonst zurechtkam. Gideon bezahlte seine Kirchenabgaben noch vor seiner Miete und wich nie von der Überzeugung ab, dass der erste Zehnte seines Einkommens dem Herrn gehörte, also der Kirche. Und jeden Sonntagmorgen legte Gideon einen Nickel auf den Kollektenteller. Eden gab er einen Penny, damit sie es ihm nachmachte. Von der Familie ging nur Eden mit ihm in die Kirche, und Gideon nahm ihre Begleitung mit unausgesprochener Dankbarkeit hin. Er konnte es nicht ertragen, allein in die Kirche zu gehen, zumal die Mormonen allen Alleinstehenden mit Misstrauen gegenüberstanden.
Samstagsmorgens jedoch erlebte Eden mit ihrer Mutter eine andere religiöse Erfahrung. Sie fuhren mit der Tram zum Dream Theatre, für Kitty auch eine Art Kirche, deren moralische Standards Eden sogar noch intensiver als im Tempel der Mormonen erlebte.
Die Vorstellungen am Samstagvormittag färbten Kittys Wangen rot. Sie zog ein Kostüm an, band Eden eine überdimensionale Schleife in die Haare und versorgte sich mit einem kleinen Vorrat an Tonic bei der Familie Bowers, die den Alkohol heimlich im Theater verkaufte. Sie und Eden besuchten immer die frühe Vorstellung und sahen sich den Film manchmal auch zweimal an. Danach konnte ihnen die staubige Wirklichkeit des kleinen Ortes nichts anhaben, so geadelt fühlten sie sich durch die verheißungsvollen Abenteuer, die sie gerade genossen hatten.
Etwas Unterschiedlicheres als die Kirche der Heiligen der Letzten Tage und das Dream Theatre konnte man sich nicht vorstellen. Das Dream Theatre sah in seiner Pracht auch von außen aus, als sei es einem mediterranen Traum entsprungen - blau, gelb und grün, mit Säulen und Bögen, Neptunfiguren und Nymphen - deren nackte Brüste züchtig hinter Muscheln verborgen waren -, die wellenförmig geschwungene Türen umrahmten, deren Messinggriffe Seeigel waren. Auch der Kartenschalter war wie eine Welle geformt, und im Foyer mit seinem dunklen Holz, den tiefblauen Teppichen, den funkelnden Kristallleuchtern und den verzierten Balustraden kam man sich vor wie in einer anderen Welt. Und drinnen im dunklen Kinosaal erinnerten die blauen Samtsitze, das polierte Mahagoni und Messing an ein versunkenes Schiff.
Als Kitty und Eden eintrafen, hatte die Kartenverkäuferin gerade erst hinter ihrer Theke Platz genommen. Der Kartenabreißer, mit Kappe und einer schicken, mit Goldtressen besetzten Uniform, hatte gerade erst die Flügeltüren geöffnet, und die attraktiven Mädchen am Imbissstand stapelten Sandwiches auf Glasplatten. Kitty und Eden huschten hinein und liefen zur Treppe, die auf den Balkon führte.
Dort oben nahmen sie in der ersten Reihe ihre Lieblingsplätze ein. Sie kamen immer so früh, dass man noch hören konnte, wie die Theatermäuse eilig in ihre Löcher trippelten. Der Innenraum war lediglich von Wandfackeln erleuchtet, und ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dämmerlicht.
Über ihnen drehten sich träge die Deckenventilatoren und verteilten die abgestandene Luft. Es roch nach kaltem Rauch, Schweiß, getrockneter Orangenschale und Staub. Tief unten, im Orchestergraben, hörten sie die Schritte von Miss McBrean, der Pianistin des Dream Theatre, die alle Stummfilme begleitete. Sie hörten das Rascheln der Notenblätter und das Quietschen der Scharniere, als sie den schweren Flügel öffnete. Dann spielte Miss McBrean ein wenig und übte die Stücke, die sie während des Stummfilms spielen musste. Eden liebte diesen Moment. Es war wie ihr eigenes kleines Privatkonzert. Begeistert applaudierte sie, und Miss McBrean wandte ihr langes, schmales Gesicht mit den blauen Augen dem Balkon zu und verneigte sich.
Seufzend sagte Kitty zu ihrer Tochter: »Die Heiligen können über den Tempel sagen, was sie wollen, Schätzchen - das hier ist der eigentliche Tempel. Hier stirbt niemand oder wird hässlich, und wenn das nicht das Ewige Leben ist, dann weiß ich es nicht.«
 
Sonntags wurde nicht geklatscht. In der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, einem nüchternen Bau mit harten Holzbänken und ohne Ventilatoren, gab es nur ein verstimmtes Piano, um den Gesang zu begleiten. Schwester Bledsoe spielte so fürchterlich, dass die Gemeinde extra laut singen musste, um ihre Misstöne zu übertönen. Eng aneinandergedrängt saßen die Menschen in der Wärme, und Eden, die zwischen ihrem Vater und Tom oder Afton Lance saß, atmete Schweiß und feuchte Ausdünstungen ihrer Körper ein. Manchmal war es so heiß, dass das Gesangbuch blau auf ihre Finger abfärbte. An solchen Tagen brachte Afton kleine Papierfächer mit und verteilte sie an die Damen um sie herum. Auch Eden bekam einen und kam sich sehr erwachsen vor.
Nach der Kirche nahmen Tom und Afton Lance Gideon und Eden manchmal in ihrer großen Limousine mit. Gideon protestierte zuerst immer, es sei nicht genug Platz, aber Afton wollte nichts davon hören, und sie stiegen alle ins Auto. Eden saß hinten auf dem Schoß ihres Vaters. Bessie und Alma saßen zwischen Junior und Sam. Lucius, der älteste Sohn, hatte den besten Platz, er durfte auf dem Trittbrett stehen. Eden beneidete ihn glühend. Sie wäre gerne alt genug gewesen, um an seiner Stelle dort zu stehen und den Leuten auf der Straße zuzuwinken. Lucius durfte auch in den Wagen greifen und die Hupe betätigen, wenn ihm danach zu Mute war. Tom ließ es zu, und Afton sagte zwar, er solle es sein lassen, aber alle wussten, sie meinte es nicht so. Sie waren alle glücklich.
Anschließend strömten sie alle in die Küche der Lances. Tom hielt Connie auf dem Arm, die bald nicht mehr das Baby der Familie sein würde, weil Aftons Niederkunft kurz bevorstand. Lucius hielt Junior und Sam davon ab, sich zu boxen, und Bessie und Alma schälten und zerstampften Kartoffeln. Ruth gesellte sich zu ihnen und zeigte Eden, wie sie das Silberbesteck beim Tischdecken richtig anordnen musste.
Eden Louise war einer der wenigen Menschen, die Ruth Douglass ein Lächeln, ein aufrichtiges Zeichen der Zuneigung entlocken konnten, denn Ruth, die nie jemanden wirklich geliebt hatte, gestattete sich, Eden ganz unverhohlen zu lieben. Sie überschüttete sie mit Lachen, Großzügigkeit und lange unterdrückter Zärtlichkeit, und Eden nahm ihre Liebesbekundungen als Selbstverständlichkeit entgegen. In der Jugend erworbenes Selbstbewusstsein kann einem nie wieder jemand nehmen.
Es schmerzte Ruth, dass Eden lesen gelernt hatte, indem sie mit Kitty in Stummfilme gegangen war. Ruth hatte das erst vor einem Monat entdeckt, als sie Eden zum Einkaufen auf den Markt mitgenommen hatte. Eden hatte quer über den Markt auf Mr. Yamashitas Gemüsestand gezeigt und gerufen: »Grüne Göttin!« So hatte nämlich Mr. Yamashita seinen Stand genannt, da auch ihm der Stummfilm mit Ernest March sehr gut gefallen hatte. Mr. Yamashita empfahl Ruth die Zutaten für die neuerdings sehr beliebte Salatsauce à la Grüne Göttin, und während Ruth ihm zerstreut lauschte, fragte sie Eden, was sie sonst noch lesen könne. Und Eden las sämtliche Schilder an den Körben vor, verwechselte ab und zu mal ein Wort, stolperte über Kartoffel und Kürbis und scheiterte schließlich an Zwiebel. Mr. Yamashita fand es bemerkenswert, dass Eden schon lesen konnte, und Ruth erwiderte, das habe sie von den Douglasses. Mr. Yamashita widersprach ihr nicht.
In Aftons Küche jedoch riss Ruth sich zusammen und beobachtete Eden mit kritischen Blicken. »Nein, Eden, die Gabel liegt allein. Denk daran, was ich dir gesagt habe«, erklärte sie.
»Die Gabel liegt allein! Die Gabel liegt allein!«, trällerte Eden zur Melodie eines Kinderliedes, und Baby Connie fiel fröhlich ein.
Ruth bedachte sie beide mit einem rügenden Blick. Lärmende Kinder ertrug sie nicht. Sie wandte sich an ihren Sohn. »Da Eden jetzt lesen kann, solltest du sie vor dem Schund bewahren, mit dem Kitty sich umgibt. Du musst dafür sorgen, dass sie gute Bücher liest, Gideon.«
»Ich habe Pa gesagt, dass ich Ben Hur lesen will. Den Film habe ich schon so oft mit Ma gesehen. Ramon Novarro finde ich beinahe so gut wie Ernest March«, erklärte Eden. »Und dieses Wagenrennen! Wenn ich das Buch lesen könnte, könnte ich das Wagenrennen im Kopf sehen, immer wieder!«
»Ben Hur ist zu dick für dich«, fuhr Ruth sie an. »Du musst sie nach der Arbeit mit in die Bibliothek nehmen, Gideon.« Stirnrunzelnd musterte Ruth ihren Sohn, der die Brille abgesetzt hatte und sie eifrig putzte. »Du hast die Stelle bei der Versicherung doch noch, oder?«
Umständlich setzte Gideon sich wieder die Brille auf die Nase. »Nein, sie versichern jetzt ohne mich.«
Afton, die am Herd stand, drehte sich um und wechselte einen Blick mit Ruth. »Wann ist das passiert?«
»Ach, ich weiß nicht. Vor Kurzem. Aber ich finde schon etwas anderes. Macht euch keine Sorgen.« Sein Versuch, selbstbewusst zu erscheinen, schlug fehl und wurde dann in der Duftwelle verschluckt, die aus dem Backofen drang, als Afton die Tür öffnete.
Tom setzte Connie ab, trat an den Herd und holte den Braten aus dem Ofen. Er schnitt das Fleisch, in dem Zitrone, Rosmarin und Pfefferkörner steckten. Bessie und Alma halfen ihrer Mutter, Mangoldgemüse und Kartoffelpüree, Mais- und Tomatensalat auf die Teller zu häufen. Eden setzte sich auf ihren Platz neben ihrer Großmutter. Ihre grünen Augen leuchteten. Tom und Afton setzten sich ebenfalls, und Eden senkte den Kopf, bis Tom mit seinem kurzen Gebet fertig war.
»Ich finde schon einen anderen Job«, wiederholte Gideon ungefragt. Er reichte Tom die Sauerteigbrötchen und bat um eins der kleinen Marmeladentöpfchen. Pfirsich. »Ich fange ernsthaft an zu suchen, sobald ich mit dem Alten Testament fertig bin.«
»Was hat das Alte Testament mit deiner Arbeit zu tun?«, fragte Ruth. Sie kniff die Lippen zusammen, was kein gutes Zeichen war. In scharfem Tonfall korrigierte sie Juniors Manieren, unterstützt von Afton. Beide fuhren Alma an, aber es war deutlich zu spüren, dass sich ihr Zorn in Wirklichkeit auf Gideon richtete.
»Meine Große Zeittafel. Wenn ich mit dem Alten Testament fertig bin, habe ich immer noch das Neue...«
»Und was ist mit der Miete?«, wollte Ruth wissen. »Was ist mit Essen, Kleidung und Unterhalt für deine Familie?«
»Wir haben keinen Hunger«, erwiderte er.
»Doch«, sagte Eden. »Ich habe immer Hunger.«
Afton lachte. »Ja, das stimmt.«
Ruth lächelte ihre Enkeltochter an. Und dann hatte sie eine Idee. Wenn Gideon keine Arbeit hatte und seine Miete nicht bezahlen konnte, warum sollte er mit seiner Familie dann nicht zu ihr ziehen? Ruth lebte allein in dem großen Haus, in dem ihre Kinder aufgewachsen waren, einem Haus an St. Elmos alter, exklusiver Silk Stocking Row. Ja, sicher, Ruth würde sich einschränken müssen, sie hatte noch nie viel für eine große Familie oder Kinder übrig gehabt. Selbst ihre eigenen Kinder waren ihr oft wie ein unruhiges Völkchen vorgekommen, mit offenen Mündern und ausgestreckten, fordernden, schmutzigen Händen. Und als sie älter wurden, waren sie dickköpfig, rebellisch und undankbar. Sie betrachtete Afton und ihre große Familie. Afton Lance war eine glückliche Frau. Hatte Ruth etwas versäumt? Nun, sie wollte lieber nicht über Dinge nachdenken, die sie doch nicht ändern konnte. Sie aß ein Stück Kartoffel und dachte, dass Gideon ein hoffnungsloser Fall war. Wenn die Familie in ihr Haus einzog, dann hätten zumindest Ada und Ernest, die armen kleinen Bälger, saubere Kleider, genug zu essen und die Möglichkeit, anständige Manieren zu lernen. Und Eden? Ruth konnte ihr gute Bücher zu lesen geben und könnte das Kind formen. Sie könnte Eden vor der Schwäche ihres Vaters und der Schlamperei ihrer Mutter bewahren. Aber könnte Ruth es ertragen, mit Kitty zusammenzuleben? Sie unterdrückte ein Schaudern und warf erneut einen Blick auf Eden, die sich Essen in den Mund schaufelte, als ob sie nie wieder etwas zu essen bekäme. Zumindest heute würde das wahrscheinlich auch der Fall sein. Ruth legte ihre große Hand über Edens kleine. »Iss langsam.«
 
Wirklich elegant war die mit Palmen bestandene Silk Stocking Row nicht mehr. Die viktorianischen Villen hatten dunkle Zimmer, breite Treppen mit Schnitzereien, auf denen sich der Staub sammelte, und große Spiegel. Für die Douglass-Kinder jedoch war Ruths Haus das reinste Paradies nach der vollgestopften alten Bruchbude, in der sie gehaust hatten. Sie spielten Verstecken in den Zimmern mit den schweren Vorhängen vor den Fenstern und den düsteren, wuchtigen Möbelstücken. Eden, Ada und Ernest hatten jeder ein eigenes Zimmer, und Eden war dankbar dafür, dass sie nicht mehr mit ihrer kleinen Schwester das Bett teilen musste, weil Ada es sich immer noch nicht abgewöhnt hatte, im Schlaf zu pinkeln.
Gideon Douglass hatte ein Arbeitszimmer, zwar eigentlich nur eine Kammer hinter der Küche, aber für sich ganz allein. Hier arbeitete er an seiner Großen Zeittafel, ohne für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen zu müssen. Seit sie im Februar 1927 bei Ruth eingezogen waren, arbeitete Gideon nie wieder in St. Elmo.
Da er keinen Job hatte, konnte er Kitty auch kein Geld für das Dream Theatre geben. Sie schmollte, tobte und weinte, beschuldigte Gideon, sie im Stich zu lassen, seine verdammte Große Zeittafel wichtiger zu finden als seine Familie. Sie hasste es, bei Ruth zu wohnen, obwohl sie zugeben musste, dass das Badezimmer mit der tiefen Wanne auf Klauenfüßen an heißen Nachmittagen der Himmel auf Erden war. Sie füllte die Wanne mit kaltem Wasser, gab einen Spritzer Eau de Cologne hinzu und stieg wie eine füllige, rosige Venus hinein, einen Roman in der einen und einen japanischen Fächer in der anderen Hand, die geheime Flasche Bowers Tonic griffbereit daneben.
Sie mussten natürlich alle Kompromisse machen. Buster, der Hund, wohnte bei Afton. Ruth mochte weder Hunde noch Katzen. Und auch keine schlechten Manieren, ungewaschene Kleidung, ungemachte Betten oder ungeputzte Schuhe. Ein ausgerissener Saum konnte nicht mit einer Nadel hochgesteckt, und ein Loch im Strumpf nicht mit schwarzer Tinte gestopft werden. Und auch das Essen änderte sich.
Häufig brachte Ruth Napoleons feine Mahlzeiten aus dem Pilgrim mit. Alles, was er kochte, schmeckte wundervoll, oft exotisch. Wer sonst in St. Elmo bereitete die Sauce für Hühnchen mit Sherry, sautierten Pilzen und Estragonspitzen zu? Selbst als Kind erkannte Eden, dass etwas Köstliches über ihre Zunge glitt. Dieses Essen konnte man nicht herunterschlingen. Später sollte Eden Jahre damit zubringen, Napoleons Rezepte nachzuvollziehen, weil sie ihr so nachdrücklich in Erinnerung blieben.
Auch Ruth machte Kompromisse, selbst im Hinblick auf Kitty. Ruth tolerierte, dass sie Tee trank, aber Bowers Tonic war verboten, was für Kitty bedeutete, dass sie noch raffiniertere Verstecke finden musste. Und Zigaretten untersagte Ruth kategorisch, aber schließlich durfte Kitty doch auf der hinteren Veranda rauchen, wo Ruth eine große Kanne mit Wasser aufgestellt hatte, in die Kitty ihre Kippen werfen konnte.
Und als sie etwa einen Monat lang dort gewohnt hatten, fragte Ruth Kitty eines Abends, ob sie gerne einen Job im Pilgrim hätte.
»Ich werde nie die Teller von anderen Leuten spülen«, erwiderte Kitty. Sie schob sich einen Bissen von Ruths köstlichem Essen in den Mund und musste unwillkürlich lächeln. Die Kombination aus Mandeln, Rosinen und Orangen war göttlich.
Ruth verkniff sich die Bemerkung, dass Kitty auch ihre eigenen Teller nicht spülte. »Das würde ich nie von dir verlangen. Ich dachte eher daran, dass du an der Kasse sitzen könntest.«
»Das ist doch dein Job.«
»Ich werde alt.«
»Das hast du gesagt.«
»Kannst du rechnen, Kitty? Den Leuten ihr Wechselgeld herausgeben?«
»Ich bin eine Dame und eine Künstlerin und habe meine Hände nie mit Geld beschmutzt.«
»Ich würde dich dafür bezahlen.«
Kitty wischte sich die Finger ab. »Mein eigenes Geld, das ich behalten könnte?«
»Ja«, erwiderte Ruth, nahm jedoch Kitty das Versprechen ab, im Pilgrim weder zu rauchen noch Bowers Tonic zu trinken.
Für ihren Job zog sich Kitty nun jeden Tag anständig an, Kleider, die sie sich von ihrem Lohn kaufte. Sie kaufte sich auch neue Schuhe und Strümpfe. Strumpfbänder. Sie lackierte sich die Fingernägel und schminkte sich die Lippen. Rouge färbte ihre Wangen rot, und Coty Puder machte ihre Gesichtszüge weicher. In einem japanischen Laden am New Market kaufte sie sich einen Sonnenschirm aus Papier, den sie immer mitnahm, wenn sie zur Arbeit ging, um ihren zarten englischen Teint vor der kalifornischen Sonne zu schützen.
Die Familie sah Kitty kaum noch. Ruth teilte sie abends an der Kasse ein, sodass sie wochentags vor neun Uhr nicht zu Hause war. Danach blieb sie lange auf, las Romane in der Badewanne und fand morgens nicht aus dem Bett. Nach und nach kümmerte sie sich überhaupt nicht mehr um ihre Kinder, die sie den kompetenteren Händen von Ruth überließ. In dem Haus in der Silk Stocking Row erklangen seltener Lieder wie »Hot Tamale Molly«, dafür jedoch häufiger die Melodien, die Miss McBrean Eden Louise auf dem Klavier beibrachte.
Wenn Eden aus der Schule nach Hause kam, rannte sie zunächst die Treppe hinauf und atmete tief ein. Hier roch man die Düfte aus der Küche am besten, und sie versuchte zu erraten, was es wohl zu Mittag gab.
In der Küche saß Ruth, schwarz gekleidet, und schälte Äpfel. Die langen grünen Schalen fielen auf die feuchte Zeitung auf ihrem Schoß. Später sah Eden sie immer so vor sich, immer mit etwas Nützlichem beschäftigt, mit einem strengen Gesichtsausdruck, der nur weicher wurde, wenn sie Eden sah.
»Schinken und Apfelsauce?« Eden umarmte ihre Großmutter.
»Ja. Du kannst schon mal den Tisch decken«, sagte Ruth und rückte die Schleife in Edens Haaren zurecht. »Wenn du den Tisch gedeckt hast, kannst du dich auf einen Stuhl stellen und in der Apfelsauce rühren.«
»Das ganze Haus riecht wundervoll danach.«
»Es würde gut riechen, aber Kitty raucht auf der hinteren Veranda«, erwiderte Ruth betont laut.
Kitty warf ihre Zigarettenkippe in die Wasserkanne und kam in die Küche gerauscht. »Warum dürfen Männer rauchen und Frauen nicht? Wir können wählen, also können wir auch rauchen. Habe ich recht, Eden?«
Eden gab eine neutrale Antwort. Sie wusste, dass dies ein gefährliches Terrain war.
»Rauchen ist nicht gut für dich, für niemanden«, sagte Ruth. Sie stand auf und trat an den Herd. »Egal, ob Mann oder Frau, es stinkt.«
»Ach was! Ich kann schon selber beurteilen, wonach ich rieche.« Kitty hob einen Arm und schnüffelte an der Achsel. »Evening in Paris, wenn du es wissen willst.«
Ruth wandte ihr den Rücken zu und öffnete die Backofentür. Mit Handtüchern über den Händen holte sie das Bratblech mit dem Schinken heraus und stellte es auf den Holztisch. Der Schinken trug einen Mantel aus klebrigem braunem Zucker und Senf mit Nelkenknöpfen und war umgeben von golden glänzenden Mandarinenvierteln. Ein seltener Ausdruck von Freude huschte über Ruths ernste Züge. Sie lächelte. »Na, das ist mal ein schöner Schinken.«
»Ja«, warf Eden ein, »eine Schönheit.«
Kitty stützte sich mit den Ellbogen auf die Küchentheke und betrachtete den Schinken, als ob er Pferdefleisch für die Leimfabrik sei. »Ich würde mich umbringen, wenn es für mich nichts Schöneres als einen Schinken gäbe. Ja, wirklich, dann wüsste ich, dass mein Leben vorbei ist. Ich würde mich aufhängen, wenn ich jemals von einem Schinken sagen müsste, dass er schön ist.« Sie wandte sich zur Tür.
Auf Ruths Oberlippe sammelten sich kleine Schweißperlen, während sie um Fassung rang. »Deck weiter den Tisch, Eden«, sagte sie.
»Komm mit, Eden«, sagte Kitty.
Eden Louise Douglass musste sich entscheiden. Sie drehte sich zur Anrichte, wo die Holzlöffel wie Lilien in einer kaputten Vase standen, und öffnete die Schublade, um das Silberbesteck herauszuholen.
Kitty trällerte einen Schlager und verließ die Küche.
Aftons Schweinelendenbraten
Leicht abgewandelt für das Café Eden, Skagit Valley, Washington
Einen Schweinelendenbraten ohne Knochen leicht mit Salz und Pfeffer einreiben. In die Fettseite Löcher stechen. Geriebene Schale einer Zitrone mit Pfefferkörnern und Rosmarinnadeln mischen und die Mischung in die Löcher drücken. Die restliche Zitrone klein schneiden. Öl in einer gusseisernen Pfanne erhitzen und das Fleisch von allen Seiten scharf anbraten. Die Schweinelende mit der klein geschnittenen Zitrone auf ein Bratblech geben und bei 220° C im Backofen braten. Ab und zu begießen. Statt der Zitronenschale kann man auch ein wenig Thymian verwenden. Die Pfannenrückstände werden mit etwas Wasser oder Wein aufgekocht und mit Mehl leicht angedickt.
 
Oder:
Eine kleine Schweinelende längs in der Mitte durchschneiden. Eine ganze Zitrone in dünne Scheiben schneiden und auf eine Hälfte verteilen. Darüber eine ganze Chili-Pfefferschote geben und sehr fein gehackten Knoblauch darüberstreuen. Darüber kommen noch ein paar frische Minzeblätter und ein wenig Salz. Die Hälften aufeinanderlegen und an drei oder vier Stellen zusammenbinden. Wie oben beschrieben, scharf anbraten.
Bei 220° im Backofen braten, bis das Fleisch gar ist - das hängt von der Größe des Bratens ab. Einige Male mit Bratensaft übergießen. Auf einer Servierplatte unter Alufolie ruhen lassen. In der Zwischenzeit Perlzwiebeln karamellisieren.
Aftons Methode für die Perlzwiebeln: Geben Sie sie vorher für ein paar Minuten in einen Topf mit kochendem Wasser. Abgießen und mit kaltem Wasser abspülen. Ende abschneiden und aus der Schale drücken. Mühsam, aber es lohnt sich. Mit ein wenig Salz und Pfeffer in eine kleine Schüssel geben und mit weißem Essig bedecken.
In der Pfanne, die Sie zum Anbraten benutzt haben, noch ein wenig Öl erhitzen, Zwiebeln und Essig hineingeben. Mit einem Holzlöffel umrühren und ungefähr drei Esslöffel braunen Zucker darübergeben. Gut verrühren, bis alles bedeckt ist. Um den Braten legen, mit frischer Minze garnieren und servieren.

MOMENTAUFNAHME

Die Pilger

Ruth Douglass mit dem Strohhut, der auf ihrem grauen Haarknoten festgesteckt war, war in St. Elmo wohlbekannt. Ihre Hutnadel war ihr einziges Schmuckstück. Sie war eine große, strenge Gestalt, eine Frau, die früher vielleicht einmal attraktiv gewesen war. Jetzt war sie nur noch beeindruckend. 1900 war sie als Witwe mit einem Haufen vaterloser Kinder, auf die Wohltätigkeit ihres verhassten Schwagers Art Whickham angewiesen, nach St. Elmo gekommen.
Um sich von diesen Zwängen zu befreien, erinnerte Ruth sich an ihre Fähigkeiten als Köchin. Damals konnte sie zwar noch nicht so exzellent kochen, aber sie hatte hervorragende Instinkte und einen angeborenen Sinn für Anstand. Nach der Gründung des Pilgrim Restaurants sorgte Ruth schnell für zufriedene Kunden, bezahlte ihre Angestellten gut und achtete auf einen hohen Standard.
Als sie 1915 über eine Anzeige in der Lokalzeitung einen neuen Koch suchte, bewarben sich nur wenige Leute. Und diese wenigen waren nicht geeignet. Deshalb überraschte es Ruth auch, als eines Morgens ein Chinese zu ihr kam, der die Stelle haben wollte. Als sie ihn nach seinem Namen fragte, sagte er, man nenne ihn Napoleon, und er habe in der Küche der französischen Gesandtschaft in Schanghai kochen gelernt. Er war bereit, sich prüfen zu lassen, und wollte einen Tag lang ohne Bezahlung kochen. Napoleons Verhalten gefiel Ruth. Ein anderer Arbeitgeber hätte vielleicht gefragt, was ihn nach St. Elmo geführt hatte, aber Ruth war nicht an seiner Vergangenheit interessiert. Sie wollte nur wissen, ob seine Kochkünste ihrem Standard entsprachen.
Napoleon machte seine Sache an jenem Tag gut, und auch an allen anderen Tagen in den nächsten zwanzig Jahren. Napoleon las und sprach Englisch, Französisch und Chinesisch. Er war schweigsam und humorlos, aber das war Ruth egal. Sie hatte ihn nicht wegen seines Charmes engagiert. Er kochte so gut, dass der Ruf des Pilgrims bis an die mexikanische Grenze drang. Viele Leute stiegen in St. Elmo aus und setzten ihre Reise erst fort, wenn sie im Pilgrim Restaurant gegessen hatten. Napoleon blieb bis zum Ende im Pilgrim. Dann verschwand er.
Nachdem sie Napoleon eingestellt hatte, überließ Ruth die Küche seinen fähigen Händen und setzte sich an die Kasse. Sie begrüßte die Gäste, führte sie zu ihren Tischen, machte den obligatorischen Small Talk und gab ihnen das Geld heraus, wenn sie ihre Rechnungen bezahlten.
Zunehmend arbeiteten Chinesen bei ihr. Als es offene Stellen im Pilgrim gab, schlug Napoleon vor, dass Mrs. Douglass seine Vettern einstellen solle. Vielleicht waren sie tatsächlich mit ihm verwandt, vielleicht aber auch nicht, auf jeden Fall herrschte er in der Küche wie der Kaiser über sie, nach dem er benannt war. Ruth fand sie alle absolut geeignet, und sie amüsierte sich insgeheim über die Empörung der Honoratioren von St. Elmo, die ihr sagten, es sei gefährlich, den Chinesen so hohe Löhne zu zahlen.
Das Restaurant war außergewöhnlich erfolgreich, aber das war nicht ihre größte Leistung. Ruth Douglass hatte ihr Leben so eingerichtet, dass sie niemandem Rechenschaft ablegen musste, und schon gar nicht einem Mann. Das konnten nicht viele Frauen von sich behaupten. Als ob es ein Rezept für alles gäbe, hatte Ruth sich aus unwahrscheinlichen Zutaten Unabhängigkeit geschaffen. Und falls es sie mehr gekostet hatte, als sie dafür zu zahlen bereit war, so sagte sie es nicht.

5

Eine Dame mit eigenem Geld konnte tun, was sie wollte. Die Stelle gab Kitty Douglass mehr als Geld, sogar mehr als Unabhängigkeit. Als Kassiererin im Pilgrim fand Kitty ein völlig neues Publikum für ihr theatralisches Talent, das belebender war als Tonic.
Die Männer, die ins Pilgrim kamen, waren natürlich alle äußerst galant zu ihr, während die Frauen eifersüchtige alte Schachteln waren.
Wenn sie beim Bezahlen Komplimente machten, errötete Kitty und tat so, als habe sie mit ihren eigenen zarten Händen das köstliche Mahl zubereitet. Nein, leider könne sie das Rezept für die berühmten Feigen Napoleon nicht weitergeben; einer ihrer Vorfahren habe es aus dem spanisch-indianischen Krieg mitgebracht, und es sei mit einem Fluch belegt, falls es jemals außerhalb der Familie verbreitet würde.
Dem begabten Napoleon gegenüber erwähnte Kitty das Lob der Gäste nie. Napoleon und seine Verwandten nahmen Kitty ihr angeberisches Benehmen übel, warteten jedoch schweigend den richtigen Zeitpunkt ab und verbündeten sich insgeheim gegen sie.
Und dann kam 1928 der Tag, von dem Kitty Douglass geträumt hatte. Der Manager des Dream Theatre, Mr. Fletcher, ein Stammgast im Pilgrim, ließ durchblicken, dass in der Vorschau am Montagabend der Film Gold of the Yukon gezeigt würde, mit Ernest March und John Kent, die zwei Brüder spielten, die sich in das gleiche Mädchen verliebten, die schöne Blanche Randall. Filmstars kamen oft inkognito nach St. Elmo, das nur sechzig Meilen von Los Angeles entfernt war, und setzten sich wie ganz gewöhnliche Leute ins Publikum. In diesem Fall jedoch war es für zwei der drei Schauspieler absolut unmöglich, unerkannt zu bleiben, weil mindestens jeder vierte Einwohner von St. Elmo sie kannte.
Kitty flehte Ruth an, ihr am Montag freizugeben, damit sie ins Dream Theatre gehen konnte. Sie weinte und schrie, aber Ruth blieb hart. Wenn Kitty nicht um Punkt siebzehn Uhr hinter der Kasse stünde, würde sie die Stelle auf immer verlieren.
Also stand Kitty da und knabberte mürrisch an einem Fingernagel, während die chinesischen Kellner durch das Lokal huschten und letzte Vorbereitungen an den weiß gedeckten Tischen trafen. St. Elmo war ein Arbeiterstädtchen, und die Leute aßen früh zu Abend. Aber die erste Gruppe, die an jenem Abend das Lokal besuchte, bestand nicht aus Einheimischen. Durch das Fenster sah Kitty einen Chauffeur, der die Türen einer großen glänzenden Limousine aufriss. Schöne Frauen und gut gekleidete Männer stiegen aus. Und dann stieß Blanche Randall die Tür des Pilgrim auf und trat ein.
Verstohlen glättete Kitty ihre mit Henna gefärbten Haare und fuhr sich rasch mit der Zunge über die Lippen. Hinter Miss Randall kamen zwei stattliche Männer und zwei weitere schöne Frauen ins Lokal. Der eine Mann war der blonde John Kent, der den Major Crespin in Die grüne Göttin gespielt hatte. Kitty hätte ihn überall wiedererkannt, stellte jedoch schockiert fest, dass er in Wirklichkeit gar nicht so attraktiv war wie im Film, sondern lediglich blond und langweilig mit einem zu großen Kinn. Und hinter John Kent trat niemand Geringerer als Ernest March durch die Tür.
Kitty schlug das Herz bis zum Hals, und sie spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. Zwischen ihren Beinen prickelte es, und sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. So anmutig, wie es ihr möglich war, ging sie von der Kasse in die Küche. Sie trat ans Spülbecken und tupfte sich ein wenig kaltes Wasser hinten auf den Nacken. »Du musst mir alles sagen, was sie bestellen«, sagte sie zu dem Kellner.
Er verzog die Mundwinkel. »Nichts. Dir sage ich gar nichts.«
Kitty wandte sich an Napoleon. »Was haben sie bestellt?«
»Gerade?«, erwiderte er in seinem seltsam gestelzten Englisch, in dem immer noch ein Hauch der französischen Gesandtschaft in Schanghai zu spüren war. »Eben gerade haben sie um Gläser und einen Krug unseres berühmten Wassers gebeten, damit sie ihre Taschenflaschen hineinentleeren können.« Er warf ihr einen unergründlichen Blick zu.
Leise fluchend ging Kitty durch die Schwingtüren wieder ins Lokal. Sie ergriff das kleine Glas mit den Zahnstochern und bot sie den Gästen am Tisch an, als ob es Splitter des heiligen Kreuzes seien.
»Nein danke«, sagte einer der korpulenten Männer.
»Die grüne Göttin«, Kitty räusperte sich und setzte erneut an: »Die Salatsauce Grüne Göttin ist sehr zu empfehlen. Sie ist ganz hervorragend. Wir sind das einzige Restaurant südlich von San Francisco, das sie anbietet. Sie ist nach dem wundervollen Film benannt, den ich viele Male gesehen habe und der sich mir ins Herz gebrannt hat.«
Mittlerweile war der Kellner mit dem Wasser gekommen und schob sie einfach beiseite. Er schenkte Wasser ein, die Taschenflaschen kamen zum Einsatz, und der Inhalt der Gläser färbte sich golden. Kitty zog sich wieder an die Kasse zurück. Ernest March würde sie bestimmt bemerken und mit ihr sprechen. In der Zwischenzeit beobachtete sie ihn und Blanche Randall, um zu sehen, ob auch in St. Elmo die wahre Liebe zwischen ihnen so blühte wie auf der Leinwand.
Aber hier, wo sie so dicht nebeneinander saßen, beachtete Blanche Randall Ernest March kaum. Stattdessen schenkte sie ihr verführerisches Lachen, ihr wissendes Lächeln und das Leuchten ihrer blauen Augen dem kahlköpfigen Mann rechts von ihr. Er hatte ein großes Muttermal an der Nase, und seine Augenbrauen waren struppig wie das Fell eines Bären. Kitty hatte immer geglaubt, Blanche Randall habe ein glockenhelles Lachen, aber hier klang es rau und ordinär, vor allem, je mehr Whiskey sie kippte.
Montags war im Pilgrim nie viel los, und die Kellner kümmerten sich hingebungsvoll um die kleine Gesellschaft. Immer mehr Whiskey wurde in die Wassergläser geschüttet, und die Gäste wurde immer lärmender und ausgelassener.
Ernest March sagte fast gar nichts, und er achtete auch nicht auf seine Gefährten. Er konzentrierte sich auf das Essen, genoss es und nickte ab und zu versonnen. Offensichtlich schmeckte es ihm, und er wirkte sehr zufrieden.
Zum Dessert bestellte er Feigen Napoleon, und als sie vor ihm standen - ein goldener Teich aus Honig und Butter mit glänzenden schwarzen Feigen an blassen Eiscremekugeln, rollte er mit den Augen. Lächelnd schüttelte er seine Serviette aus und tupfte seine Lippen ab. Kitty wäre nur zu gerne an Stelle des gestärkten Leinentuchs gewesen. Und dann aß Ernest, mit geschlossenen Augen, träumerisch vor Entzücken schlossen sich seine schönen Lippen um den Löffel.
Sein Mund war voller, als Kitty es von der Leinwand in Erinnerung hatte. Er sah auf eine düstere Art gut aus, mit dicken, lockigen Haaren, die er mit Pomade gebändigt hatte, sodass sie glatt und glänzend an seinem Kopf lagen. Er hatte perfekt geschwungene Augenbrauen, und seine leicht verhangenen braunen Augen waren wie dunkle Tümpel, umgeben von überraschend langen Wimpern. Seine Nase war gerade, er hatte einen Schnurrbart und ein energisches, schwarz schimmerndes Kinn. Hatte er sich nicht rasiert? Nein, er hatte nur starken Bartwuchs. Überhaupt war er dunkler, als Kitty es sich vorgestellt hatte, und er war auch nicht so groß oder kräftig, wie er ihr auf der Leinwand vorgekommen war. Eigentlich wirkte er sogar fast zierlich, aber das konnte natürlich auch an dem untersetzten Mann neben ihm liegen.
Ernest March hatte die Feigen und das Eis aufgegessen und gab dem Kellner mit einer Geste zu verstehen, wie köstlich das Dessert gewesen war. Sein Teller wurde abgeräumt, und nachdenklich hob er den Blick und lächelte Kitty an. Dann blickte er auf seine goldene Armbanduhr und erinnerte die übrigen Gäste daran, dass der Film gleich anfinge und sie doch die Reaktionen der Einheimischen beobachten wollten.
»Das sind doch sowieso nur Holzköpfe«, sagte Blanche Randall. Sie stand auf und taumelte leicht gegen den dicken Mann. Er ergriff stützend ihren Ellbogen und ließ seine Hand über ihren Hintern gleiten.
Der untersetzte Mann griff in eine lederne Brieftasche und warf ein Bündel Geldscheine auf den Tisch.
Der Kellner hatte ihnen noch nicht die Rechnung gebracht und gab seinem Vetter stumme Zeichen: Sie müssen noch warten, bis wir die Rechnung fertig haben, jemand muss mit ihnen sprechen. Der Vetter warf Kitty einen Blick zu und zuckte dann mit den Schultern. Wenn es mehr Geld war, als sie schuldig waren, bekamen sie es als Trinkgeld, und wenn es zu wenig Geld war, dann lag das in der Verantwortlichkeit der Kassiererin.
Kitty sah das auch alles, aber sie war so überwältigt, dass es ihr die Sprache verschlagen hatte. Zitternd beobachtete sie, wie die Männer ihre Hüte aufsetzten, die Frauen ihre prächtigen Umhänge ergriffen und aus bestickten Handtaschen ihre Puderdosen hervorholten, um sich die Nasen zu pudern. Und dann trat genau in dem Augenblick, als sie sich alle schon durch die Glastüren nach draußen drängten, Ernest March noch einmal an die Kasse, nahm sich einen Zahnstocher aus dem Glas und nickte Kitty zu.
»Warten Sie!«, rief Kitty, als er sich zum Gehen wandte. »Ich... ich habe jeden Film von Ihnen gesehen. Viele, viele Male. Zehn-, zwanzigmal. Ich...«
»Gut. Sehr freundlich.«
»Nein, wirklich. Ich bewundere Sie sehr.«
»Exzellent. Sehr freundlich.«
Kitty drückte auf eine Taste, und mit einem Pling ging die Kasse auf, sodass sie einen alten Beleg herausholen konnte. Sie hielt ihm den Zettel und einen Bleistift hin. »Unterschreiben Sie bitte? Bitte.«
»Gut. Exzellent. Zu freundlich. Bitte sagen der Küche, die Feigen waren...« Ihm fehlten die Worte. »Die Feigen... freue mich zu sagen, die Feigen sind Nahrung für die Götter.« Er küsste seine Fingerspitzen und blies ihr den Kuss zu. Er schrieb auf den Beleg, blickte jedoch noch einmal auf. »Und wie heißen Sie?«
»Was?«
»Ihre Name, liebe Dame. Wie ist Ihr Name?«, fragte er mit schwerem Akzent.
»Kitty.«
Er schrieb Für Chitty, mit allen gottes Wünschen. »Bis zum nächsten Mal, wenn ich komme in ihre wunderbar Stadt, arrivederci
Sie blickte ihm durch das Fenster nach und wäre ihm beinahe hinterhergelaufen. Die Tränen strömten ihr übers Gesicht. Ernest March hatte leibhaftig mit ihr gesprochen, und sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie ihn liebte. Sie hatte ihm nicht erzählt, dass sie ihren Sohn nach ihm benannt hatte, damit sie ihr ganzes Leben lang die Freude hatte, immer wieder sagen zu können: Ernest, Ernest, Ernest, ich liebe dich.
Feigen Napoleon mit Thymianblättchen
Pilgrim Restaurant, St. Elmo, California
(während der Prohibition ohne Alkohol)
und Café Eden, Skagit County, Washington
Verwenden Sie kleine, frische schwarze Feigen, ungefähr zwölf Stück. Waschen, aber nicht schälen, nur etwa zu zwei Dritteln einschneiden. In einer flachen Pfanne vier Esslöffel ungesalzene Butter schmelzen, dazu etwa ½ Tasse Honig geben. Masse zum Kochen bringen, dabei gut rühren. Hitze reduzieren, die Feigen hineinsetzen und so lange rühren, bis sie glänzen und sich ganz öffnen. Zwei Esslöffel guten Brandy, Amaretto oder Cointreau hinzugeben. Die Pfanne vom Herd nehmen und abdecken. Am besten ist es, die Feigen sofort zu servieren. Sollten sie kalt geworden sein, vorsichtig erwärmen. Auf einen Teller eine Kugel selbst gemachte oder sehr gute Vanille-Eiscreme geben, Feigen und Honig darum herum anrichten. Außen herum winzige Thymianblättchen streuen.
 
Köstlich. Einfach. Lecker.

MOMENTAUFNAHME

Shanghai, 1893

Seine Mutter weckte ihn noch vor dem Morgengrauen. Sie mahnte ihn, leise zu sein. Das Mondlicht erhellte den Raum, in dem Jung und Alt schnarchte und im Schlaf die schwitzenden Gliedmaßen zuckten. Als sein Großvater sich umdrehte, grunzte und schließlich furzend weiterschlief, hielten sie beide den Atem an.
Draußen zog ihn seine Mutter an der Hand durch feuchte Straßen und schmale Gassen voller Abfall und Exkremente. Dürre Hunde drängten sich an sie, aber seine Mutter verscheuchte sie. Es war heiß und feucht und roch nach Verwesung und Rauch von den Kohlebecken, die über ihren Köpfen hingen.
Doch selbst um diese frühe Stunde erwachte das werktätige Schanghai bereits. Kulis in zerschlissenen Baumwollhosen beugten sich unter der Last der Bambusstäbe, an denen sie Wassereimer transportierten. Verkäufer von Bohnenkuchen und Gemüse begannen, ihre Waren anzupreisen, und Bettler humpelten durch die Straßen. Ausgemergelte Rikschafahrer brachten ihre Fahrgäste, korpulente weiße Männer, die das Nachtleben genossen hatten, wieder in die Sicherheit der britischen Siedlung.
Beeil dich, drängte seine Mutter ihn und packte ihn am Arm. Beeil dich. Sie war eine winzige Frau, und er war ein kleiner Junge. Acht Jahre alt, klein für sein Alter. Unterernährt.
Sie gingen nach Süden, und sie hielt ihn fest an der Hand, als sie schließlich in die Rue du Consulat gelangten. Sie huschten in einen schmalen Durchgang zwischen hohen Mauern, auf denen Glasscherben lagen. Beeil dich, sagte sie noch einmal.
Schließlich kamen sie an ein Tor, das angelehnt war, und sie quetschte sich hindurch. Er folgte ihr. Geräuschlos liefen sie durch einen riesigen Garten voller hoher Bäume und üppiger, duftender Blumen. Fasziniert blieb der Junge vor einem vierstöckigen Palast stehen, in dessen Fenstern sich schimmernd das Morgenrot spiegelte. Seine Mutter führte ihn über einige Stufen zu einer Tür.
Eine untersetzte Chinesin öffnete ihnen. Sie trug ein schwarzes, westliches Kleid mit hohem weißem Kragen und eng geschnürtem Korsett. Es war seltsam, so dicke Chinesen in diesen Kleidern zu sehen. Auf den ehemals schwarzen, jetzt grau gesträhnten Haaren saß ein weißes Häubchen. An einer Goldkette, die sich über ihren Busen spannte, hing eine winzige Uhr in einem Täschchen. Sie nahm sie heraus, klappte sie auf und ließ sie wieder zuschnappen, nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte. Ihr kommt spät, sagte sie.
Bitte demütigst um Verzeihung, Tante, sagte seine Mutter.
Sie folgten ihr in einen riesigen Raum, in dem Töpfe und Pfannen klapperten und seltsame Gerüche in der Luft hingen. Heißes Wasser zischte aus einem Rohr. Der Junge hatte so etwas noch nie gesehen, und staunend blickte er sich um. Die Chinesen, die hier arbeiteten, schauten nur kurz auf und wandten sich dann wieder ihren Aufgaben zu.
Tante führte den Jungen und seine Mutter in einen kleineren Raum mit Regalen vom Boden bis zur Decke, mit Gestellen, an denen seltsame Werkzeuge hingen, und Stapeln von Schubladen mit Porzellanknöpfen. Im Fenster saß eine Katze. Tante musterte den Jungen kritisch.
Seine Mutter kniete sich vor ihn. Du bleibst hier eine Zeit lang bei Tante. Ich komme wieder zurück, aber jetzt verlasse ich Schanghai erst einmal und gehe auf eine Reise. Ich will deinen Vater finden.
Die untersetzte Frau schnaubte und sagte zu dem Jungen: Dein Vater ist tot. Zu seiner Mutter sagte sie: Sie schicken Männer mit Dynamit in die Löcher, die sie in die Berge graben, und die Chinesen werden in die Luft gejagt. Sie schicken sie in den sicheren Tod in die Wüste, wo ihre Knochen bleichen und ihre Seelen den Weg nach Hause nicht mehr finden. Und alles nur, um eine Eisenbahn zu bauen? Jeder Mann, der China verlässt, um so ein Leben zu führen, hat den Tod verdient.
Bitte, Tante, murmelte seine Mutter.
Und wenn er noch am Leben ist, hat er eine neue Frau.
Bitte, Tante, sagte seine Mutter noch einmal. Sie stand auf und legte dem Jungen den Arm um die Schultern.
Glaubst du etwa, solche Männer denken an ihre Frauen in China? An ihre Vorfahren? Sie werden Amerikaner.
Das Gesicht seiner Mutter war glatt und traurig. Sie war noch jung. Sie war stark. Sie sah aus wie der Junge, und sie sagte zu ihm: Dein Vater hat uns nicht freiwillig verlassen. Sie haben ihn geholt. Aber ich weiß jetzt, wo ich ihn finden kann. Ich habe einen Brief. Seine Mutter berührte die Schnur um ihren Hals, an dem ein kleines Baumwollsäckchen hing. Darin knisterte Papier.
Du kannst doch gar nicht lesen, sagte die untersetzte Frau.
Der Brief ist mir vorgelesen worden. Ich kenne jedes Wort auswendig.
In der Küche ertönte ein kurzer, scharfer Warnruf. Tante entschuldigte sich und sagte, sie sollten warten. Der Junge sah einen Mann in die Küche treten. Er hatte blasse weiße Haut, blasse blaue Augen und buschige rote Koteletten. Er trug eine schwarze Jacke und eine langen schwarze Hose. Der Junge fand, er sah aus wie ein Käfer. Befehlend klatschte er in die Hände und sagte etwas zu Tante in einer gutturalen, schnatternden Sprache.
Wer ist der Mann?, fragte der Junge seine Mutter.
Ein Ausländer, erwiderte sie. Barbaren. Hier sind die barbarischen Franzosen. Besser als die barbarischen Briten oder die barbarischen Amerikaner. Tante ist hier erste Haushälterin. Sie wird dir beibringen, für sie zu kochen. Du wirst hier in der Küche arbeiten.
Nein, ich will mit dir gehen.
Du wirst hier arbeiten, sagte sie noch einmal. Du wirst nie wieder Hunger haben. Sie kniete sich vor ihn und strich ihm die Haare aus der Stirn. Sein Gesicht war wie ihr Gesicht. Sie sagte: Bleib hier, bis ich zu dir zurückkomme. Ich bringe deinen Vater mit. Du wirst hier nie mehr Hunger haben. Du wirst groß werden. Und dick wie Tante, flüsterte sie lächelnd.
Sie stand auf und wandte sich zu der dicken Frau um, die wieder zu ihnen gekommen war. Der barbarische Ausländer hatte die Küche verlassen.
Er muss gehorchen, sagte Tante. Wenn er nicht gehorcht, verprügele ich ihn.
Er wird gehorchen. Er ist sehr klug, Tante. Er ist ein sehr kluger Junge.
Was machen sie da?, fragte der Junge und zeigte in die Küche.
Tante schlug ihm auf die Hand. Stell keine Fragen. Tu, was ich dir sage. Komm.
Der Junge hatte Angst. Er schlang die Arme fest um seine Mutter.
Seine Mutter löste seine Arme, seine Hände von ihrem Körper. Sie sagte: Weißt du noch, was ich dir gesagt habe?
Du kommst zu mir zurück. Du bringst meinen Vater mit. Der Junge verstand es jetzt.
Ja. Ich werde jeden Tag an dich denken, solange ich weg bin. So wie dein Vater an uns denkt.
Ich erinnere mich nicht an meinen Vater. Er ist mir egal. Ich will bei dir bleiben.
Du bleibst hier bei Tante, arbeitest hier und lernst alles, was Tante dir beibringen kann.
Ich will mit dir kommen.
Nein. Allein bin ich schneller. Wir sehen uns wieder. Bald schon. Aber du musst jeden Tag an mich denken. Und jeden Morgen, wenn du aufwachst, musst du sagen St. Elmo, California. In ihrer Sprache. In Englisch.
Der Junge wiederholte die Worte, die sich auf seiner Zunge fremd anfühlten: St. Elmo, California.
Dorthin gehe ich. Das steht in diesem Brief. Die Eisenbahn, die dein Vater durch die Wüste gebaut hat, endet in St. Elmo, California. Dein Vater sagt, es seien viele Chinesen in St. Elmo, und er ist nicht einsam, während er auf mich wartet.
Der Junge wusste nicht, was einsam bedeutete. Er hatte keine Vorstellung von dem Wort. Damals noch nicht.
Der Junge sagte zu seiner Mutter: Wenn du nicht zu mir kommst, komme ich zu dir.