TEIL IV
Gefühlvolles
Maisbrot
1945
1
Tagelang fuhr Eden mit dem Zug quer durch das Land, schlief mit offenem Mund, eingeschläfert von dem gleichmäßigen Rattern der Räder, dem Ticken ihrer Armbanduhr, und wenn sie aufwachte, saß häufig jemand anderer auf dem Platz ihr gegenüber. Die Waggons waren voller Soldaten, manche laut und prahlerisch, andere still und in sich gekehrt. Tagsüber zogen die weiten Ebenen am Zugfenster vorbei, und nachts sah Eden ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe. Schließlich kletterte der Zug schnaufend den Jesuitenpass hinauf, und das Tal von St. Elmo lag vor ihnen.
Eden war auf dem Weg zu Tom und Afton, um dort auf Nachricht von Logan zu warten. Ganz gleich, wie kurz die Wartezeit sein würde, sie würde ihr vorkommen wie eine Ewigkeit. Aber sie war entschlossen, ihre Zeit bei Tom und Afton zu genießen, denn wenn sie erst einmal mit einem geschiedenen Katholiken verheiratet war, würde Afton sie bestimmt nicht mehr willkommen heißen. Das ist egal, sagte sie sich. Ich heirate Logan, und wem das nicht passt, soll daran ersticken. ELD & FLS. Sie streichelte über ihre Uhr.
Ein Pfiff ertönte, und die Lokomotive wurde langsam, als sie in den Bahnhof von St. Elmo einfuhr. Unter den Arkaden neben dem Bahnsteig standen dicht gedrängt Menschen, die aufgeregt und voller Vorfreude auf ihre Angehörigen warteten. In dem Chaos, das entstand, sah Eden niemanden von ihrer Familie.
Sie trug Uniform und hatte die dunklen Haare unter dem Käppi streng zurückgekämmt. In der Hand hielt sie einen Koffer, der all ihre Habseligkeiten enthielt. Ihren Militärrucksack hatte sie sich über die Schulter gehängt. Sie ging in das Bahnhofsgebäude, in dem ein großes Transparent die Heimkehrenden begrüßte: Willkommen zu Hause, siegreiche Männer der Streitkräfte!
»Und was ist mit den Frauen der Streitkräfte?«, sagte Eden zu einem jungen Sergeant, der neben ihr stand. »Sie waren schließlich auch siegreich.«
Er kaute Kaugummi. »Ach, das musst du nicht so eng sehen, Schwester. Es hat nichts zu bedeuten.« Er lächelte ihr zu.
»Ich bin nicht Ihre Schwester.«
»Hier! Eden Louise! Hier drüben!«
Eden spähte durch die Menge und sah eine stämmige Gestalt, die sich mit einer Hand den Hut festhielt, auf sich zulaufen. Afton duftete nach Stärke mit einem Hauch Rosmarin, als sie ihre Nichte umarmte. Eden schloss die Augen. Endlich war sie zu Hause.
»Du liebe Güte, Eden! Wir sind so stolz auf dich! Hast du mich erkannt?«
»Natürlich. Du veränderst dich nie.«
»Na ja, in meinem Alter kann man da nicht so sicher sein. Juhu!« Afton winkte ihrem Mann und ihrer Schwester Lil heftig zu. »Li! Tom! Hier ist Eden!«
Tom Lance war, ebenso wie Afton, zwar grau, aber nicht gebrechlich geworden. Beide hatten sie eine Brille mit Drahtgestell, die ihre Augen größer erscheinen ließ. Tom sah man das Alter lediglich an den Händen an, die stärker als früher von blauen Adern durchzogen waren, aber Afton wirkte tatsächlich unverändert. Ihr Hut war neu und vielleicht auch ihr dunkelblaues Sonntagskostüm, aber ihre Augen waren noch so lebhaft und flink wie früher. Ihre Tante Lil hingegen hätte Eden fast nicht erkannt, aber sie konnte sich auch kaum an sie erinnern. Sie war das gebrechliche, blasse Ebenbild ihrer Schwester, und Eden traute sich kaum, sie zu umarmen, aus Angst, ihr wehzutun.
Seit dem Tod ihres zweiten Mannes wohnte sie bei Afton und Tom, und Tom hatte ihr im Garten ein eigenes kleines Haus gebaut, damit sie ihre Privatsphäre hatte. Dort war Lil glücklich.
»Nun, Eden«, Afton hakte sich bei ihr ein, »die ganze Familie wartet schon auf dich. Dir zu Ehren haben wir alle zusammengerufen.«
Damit hatte Eden nicht gerechnet; sie hatte seit Tagen nicht mehr gebadet, aber es war sinnlos, Aftons Plänen widersprechen zu wollen. »Im Moment möchte ich eigentlich nur baden und dann in einem richtigen Bett schlafen.«
»Und essen, hoffe ich. Ich habe wie eine Wilde für dich gekocht, Eden. Zu deiner Heimkehr haben wir das gemästete Kalb, also eigentlich eher den gemästeten Truthahn geschlachtet und ihn mit Mutters berühmter Füllung gestopft. Und ich habe Schweinelendenbraten gemacht. Das musste einfach sein! Und Maissalat mit eingelegten Tomaten. All deine Lieblingsspeisen. Drei Desserts, mindestens drei. Und außerdem bringt auch noch jeder etwas mit. Es wird ein richtiges Familienfest der Lances!«
»Gib mir deine Tasche, Eden«, sagte Tom. Er warf sie auf die Ablagefläche des Pritschenwagens, die voller Schmutz, Heu und Federn war. Dann stiegen alle vier in die Fahrerkabine, und Tom ließ den Motor an. Afton griff in ihre Tasche, und während sie über die staubige Landstraße rumpelten, reichte sie Eden ein Sandwich mit Bananen und Honig.
Lächelnd tätschelte sie ihrer Nichte die Hand. »Die Lances wissen, wie man einen Helden empfängt, wie man die Rückkehr eines Soldaten feiert«, erklärte sie. »Und es soll keiner behaupten, weibliche Hilfskräfte seien keine Soldaten. Ich will kein Wort gegen diejenigen hören, die zum Wohle aller Opfer gebracht haben. Manche, wie Lucius, sogar das größte Opfer von allen.«
Für Eden würde ihr Cousin Lucius immer zwölf bleiben, erstarrt in dem Augenblick, wie er auf dem Trittbrett mitfuhr, die Hupe betätigte und selbstbewusst allen in der Stadt zuwinkte. Sie suchte nach einem Wort des Trostes für Afton, aber es fiel ihr nichts ein, deshalb drückte sie ihr nur die Hand.
Lil fragte nach der Zeit, die Eden in Paris mit Junior verbracht hatte.
»Zeit war es eigentlich nicht«, erwiderte Eden. »Es war nur ein einziger Abend.«
»Junior hat mir geschrieben, wie sehr er sich gefreut hat, dich in Paris zu sehen, auch wenn es nur so kurz war«, warf Afton ein. »Er meinte, es wäre ein Stück Zuhause gewesen. St. Elmo in Paris! Kannst du dir das vorstellen, Lil?«
»Nein.«
»Junior hat Orden bekommen«, sagte Afton. »Wusstest du das? Viele Orden!«
»Bei unserem Treffen hat er nicht über seine Orden geredet«, antwortete Eden. Sie wollte nicht darüber sprechen, dass jeder dieser Orden seinen Tribut von Tom Lance Junior gefordert hatte. Er rauchte, er trank, er benutzte unflätige Ausdrücke. Seine Familie hatte er nicht mehr gesehen, seitdem er eingezogen worden war. »Junior war der Einzige aus meiner Familie, den ich während des Krieges gesehen habe. Während des Krieges«, sinnierte Eden, »das hört sich genauso seltsam an wie sonst immer nach dem Krieg.«
»Du bist müde, Liebes. Iss dein Sandwich auf. Zu Hause kannst du dich dann ausruhen.«
»Eden kennt unser neues Haus noch gar nicht«, sagte Tom.
»Ja, stimmt! Wir sind umgezogen, kurz nachdem du mit deiner Familie nach Idaho gegangen bist, und diese undankbare Eisenbahn Tom gekündigt hat. Ja, tatsächlich, das haben sie gemacht. All die Jahre hat er für sie gearbeitet, aber sie waren nicht loyaler als eine Katze. Ein Hund bleibt immer bei dir, aber eine Katze geht zu jedem, der ihr ein Schälchen Milch hinstellt. Ich war fassungslos. Völlig fassungslos.
Ich wusste nicht, was wir tun sollten. Tom ist besser damit fertig geworden. Und wir mussten uns ja auch um Mutter kümmern. Sie war schon eine Last. Geliebt, aber trotzdem eine Last. Zum Glück waren nicht mehr alle acht Kinder zu Hause, aber es waren immer noch genug.« Sie überlegte. »Ich weiß gar nicht mehr, wer eigentlich noch da war.«
»Genug«, warf Tom ein.
»Also nahmen wir all unsere Ersparnisse und investierten es in etwas Land und eine kleine Ranch außerhalb der Stadt. Damals gab es da draußen noch nicht einmal Strom. Jetzt haben wir natürlich Strom und auch ein Telefon. Wir hielten Kühe und Geflügel, unsere eigenen Schweine und ein paar Rinder. Den ganzen Krieg über hatten wir Butter, Milch, Sahne und Eier. Das mit der Eisenbahn ist also nicht so schlimm gewesen.« Sie tätschelte Tom den Arm, als ob ihn die Kündigung nach all den Jahren immer noch bekümmerte. »Tom hat Zitronenbäume angepflanzt und einen Garten angelegt. Nur das Haus war zu klein. Aber Tom und die Jungen haben auch das in Ordnung gebracht, angebaut, die alte Veranda zugemacht und eine neue Veranda hinter dem Haus gebaut und auch ein Badezimmer mit einer feinen Wanne. Oh, und sie haben auch die Scheune renoviert und aus dem Schuppen hinter der Küche eine Waschküche gemacht. Da steht jetzt ein schöner großer Bottich und eine Waschmaschine mit elektrischer Mangel. Was sagst du dazu?«
»Stell dir das vor!«, sagte Lil.
»William hat für dich Mutters ehemaliges Zimmer geräumt. Das wird jetzt dein Zimmer. William ist unser Jüngster, er ist jetzt in der Highschool, aber er wird bei den Jungen schlafen. Daran wirst du dich gewöhnen müssen, Eden. Überall sind Jungs!« Afton klang glücklich. »Hungrige Mäuler, die gestopft werden wollen, schmutzige Wäsche und Manieren, auf die man achten muss. Micah und Jonah sind meine ganze Freude. Es sind wundervolle Jungen. Genau wie ihr Vater, unser lieber Lucius.«
»Ist ihre Mutter nie wiedergekommen, um sie zu holen?«, fragte Eden.
»Sie war eine S-c-h-l-a-m-p-e«, warf Lil ein. »Du weißt schon.«
»Natürlich ist sie nie mehr zurückgekommen! Sie wagt es nicht, sich meinem Haus zu nähern!« Afton verschränkte die Arme und hob das Kinn. »Das ist auch besser so! Ich weiß, wie man Jungen aufzieht. Sie sind bei uns viel besser aufgehoben. Nur bei uns bekommen sie genug Liebe und harte Arbeit.«
Eine ganze neue Generation, der sie den Mund mit Seife auswaschen konnte, dachte Eden. Irgendwie war Aftons Einstellung erstaunlich. Wie konnte ein Mensch nur so korrekt sein? Ein Weltkrieg hatte stattgefunden, aber für Afton Lance hatte die Ewige Wahrheit nie in Frage gestanden.
Afton schürzte die Lippen. »Na, ich kann dir auch gleich die anderen Neuigkeiten berichten. Alma ist durchgebrannt und hat einen Baptisten geheiratet.«
»Und dabei musste sie noch nicht einmal«, warf Lil ein. »Ihr Baby ist erst ein ganzes Jahr später zur Welt gekommen.«
»Er kam aus Arkansas«, ergänzte Afton. »Sie kommen im Sommer immer zur Obsternte hierher und schlafen in ihrem Wagen. Das stimmt wirklich, das musste selbst Alma zugeben.«
»In Kalifornien kommt doch fast jeder von irgendwo anders«, bemerkte Eden.
»Walter Epps ist auch aus Arkansas, aber er ist wenigstens kein Ausländer«, sagte Lil.
Afton seufzte. »Nicht so wie die Braut deines armen Bruders, Eden. Was für eine Schande. Es macht mich so traurig. Jetzt ist Ernest blind vor Liebe, aber er wird es noch bereuen. Ich verspreche es dir. Liebe auf den ersten Blick, hat er gesagt und dieses armenische Mädchen drei Monate später geheiratet. Aber zumindest ist sie Christin, im Gegensatz zu anderen Leuten, die wir kennen.«
»Die Apostolischen sind schlimmer als die Katholiken«, stieß Lil mit ungewohnter Heftigkeit hervor. »Wir haben Annie und ihre Eltern kennengelernt.«
»Ach, tatsächlich? Das habt ihr mir nie geschrieben.«
Afton und Lil wechselten einen Blick. »Nun, dein Bruder hatte Urlaub, einen Tag oder so, und er rief an und sagte, er würde uns gerne sehen. Ob wir zu dem Haus von Annies Eltern nach Beverly Hills kommen und seine Braut kennenlernen wollten. Für so etwas Frivoles konnten wir natürlich unsere Benzinration nicht verschwenden, aber wir sind mit dem Zug hingefahren, und Ernest hat uns an der Union Station abgeholt. In einem Cabriolet, jawohl!«
»Ein Cord«, sagte Tom. »Schönes Auto!«
»Annies Vater hat es ihr geschenkt. Das muss man sich vorstellen, nicht zur Hochzeit, sondern bloß zum Schulabschluss! Lil und ich wussten ja nicht, dass wir in einem Cabriolet fahren würden. Wir wurden ganz schön durchgepustet.«
»Wie ist Annie denn so?«, fragte Eden, die nur ein Foto von einem zierlichen, dunkelhaarigen Mädchen mit einer Gardenie im Haar gesehen hatte.
»Sie ist Ausländerin«, sagte Lil, »wie die armenischen Hungerleider.«
»Na ja, diese Leute hungern auf jeden Fall nicht, das kann ich dir versichern. Aber das Essen war seltsam! Äußerst seltsam! Weinblätter. Ja, sie nehmen Weinblätter und rollen alle möglichen Sachen darin auf, und dann gab es ein klebriges Sirupdessert und etwas, das wie Rosen geschmeckt hat. Ja. Blumen. Als wir nach Hause kamen, haben wir uns erst mal Kartoffeln und Eier gemacht. Ein schönes Spiegelei auf Kartoffelpüree.«
»Die Weinblätter sind mir nicht bekommen«, sagte Lil. »Erzähl Eden von Griechenland.«
»Annies Mutter hat ständig immer nur von Griechenland geredet, als ob wir schon da gewesen wären! Was für eine Vorstellung!«
»Erzähl Eden von dem Mädchen, Mutter«, unterbrach Tom sie sanft. »Von Annie.«
»Annie ist ein sehr nettes Mädchen. Da bin ich mir sicher. Sehr gescheit«, Afton faltete die Hände über ihrer Handtasche, »eben nur Ausländerin. Sie und ihre Familie haben allerdings die Staatsbürgerschaft. Sie hat gerade ihr Examen auf der UCLA gemacht, sie muss also intelligent sein. Und sie ist hübsch. Eben nur ausländisch. Ich habe Ernest gesagt, wie schön ich es fände, jemanden mit College-Abschluss in der Familie zu haben.«
»Nun, du hast doch jetzt auch eine Akademikerin in der Familie«, sagte Eden und stupste Afton liebevoll an. »Juniors Frau Juliette. Sie hat an der Sorbonne studiert. In Paris. Das ist eine französische Universität«, fügte sie hinzu, als sie die verständnislosen Gesichter sah. »Juliette spricht sehr gut Englisch. Besser auf jeden Fall als Junior Französisch spricht. Sie und Junior sind so glücklich. Junior strahlte förmlich vor Glück. Wir vier hatten leider nur diesen einen gemeinsamen Abend in Paris.« Eden blickte aus dem Fenster und streichelte gedankenverloren über ihre Armbanduhr. Sie dachte an das kleine Restaurant, in dem sie sich getroffen hatten. Die Besitzer waren aus der Normandie, und Juliette hatte gesagt: »Normand reimt sich auf Gourmand.« Sie hatten viel gelacht an diesem Abend. Juliette und Junior waren so verliebt, sie konnten kaum die Hände voneinander lassen. Juliette liebte alles Amerikanische, vor allem aber liebte sie Tom, wie sie Junior nannte. Und nach dem Essen waren sie in einen verrauchten Nachtclub gegangen, wo sie mit Logan getanzt hatte. Ach ja, Logan und Paris und …
Tom hustete und riss sie aus ihrer Träumerei. »Junior hat eine Französin geheiratet?«
Auch in Aftons Landhausküche stand der alte Emailletopf hinten auf dem Herd. Der Duft empfing Eden wie ein alter Freund. In der Küche wimmelte es von Frauen, die fast alle Babys auf dem Arm hielten. Für Eden sahen die Säuglinge alle gleich aus, auch wenn die Mütter sie stolz auf irgendwelche Besonderheiten wie ein hübsches Näschen oder dichte Haare hinwiesen. Sie kam sich vor wie in einem Traum, wo man zwar die Gesichter kennt, aber nicht unbedingt die Leute, zu denen sie gehören. Die Nachricht von Juniors Heirat mit dem französischen Mädchen lief wie ein Lauffeuer durchs Haus, und Eden verfluchte Junior im Stillen, weil er ihr nicht gesagt hatte, dass er seine Familie im Dunkeln gelassen hatte. Na ja, das war jetzt seine Sache. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen.
Afton wehrte scheinheilige Äußerungen des Mitgefühls - Wie konnte Junior nur so undankbar sein? So gedankenlos? - ab, indem sie sich an die Zubereitung des Kartoffelpürees machte.
»Junior darf heiraten, wen er will«, erklärte Connie, die jüngste Tochter der Lances. Als Eden sie zuletzt gesehen hatte, war sie noch ein mageres kleines Ding gewesen, aber jetzt, mit zwanzig, sah sie aus wie alle Douglass-Frauen, breitschultrig mit dunklen Haaren. Obwohl auch sie ein Kleinkind auf dem Arm hatte und ein weiteres Kind ihr an den Röcken hing, strahlte sie Verachtung für ihre Umgebung aus. »Lass mich los«, sagte sie zu ihrem verschüchterten Sohn. »Geh spielen.« Das Kleinkind drückte sie einer anderen Frau in die Arme. Dann wandte sie sich an Eden. »Kommst du mit mir nach draußen?«
Eden folgte ihr aus der Küche über die vordere Veranda in den Garten. Sie bogen um die Ecke des Hauses und gelangten in einen Bereich, wo Zitronenbäume ihren Schatten auf wackelige Korbsessel warfen. Der Boden um sie herum war voller Kippen.
Connie zündete sich eine Zigarette an und bot ihr ebenfalls eine an.
»Danke. Ich rauche nicht. Ich musste nur lachen, als ich all diese Kippen gesehen habe. Hierhin kommt also die Familie, wenn sie das Wort der Weisheit bricht. Tut Afton so, als wüsste sie es nicht?«
»Meine Mutter? So tun als ob? Meine Mutter ist der Racheengel.«
Unwillkürlich musste Eden wieder lachen. Das musste sie unbedingt Logan erzählen.
»Mutter macht nur Schweinebraten, um Victor zu ärgern.«
»Was?«, sagte Eden, als sie auf die Stühle sanken.
»Victor ist nicht religiös oder so, aber es stört ihn doch. Er ist eben so aufgewachsen. Ein Jude zu sein ist so ähnlich wie Mormone zu sein. Es ist nicht nur eine Religion, sondern eine Lebensart. Du kannst nicht entkommen.« Connie runzelte die Stirn. »Victor ist Jude. Wusstest du das nicht?«
»Nein. Ich wusste noch nicht einmal, dass du geheiratet hast«, gestand Eden. »Niemand hat es mir gesagt.«
»Das überrascht mich nicht. Wir sind durchgebrannt. Es ging nicht anders. Du weißt ja, wie Mutter und Dad mit den Juden sind. Victor ist älter als ich. Er hat zwei Kinder.«
»Ist er geschieden?«, fragte Eden. Vielleicht war sie ja nicht die Erste in der Familie, die einen geschiedenen Mann einer anderen Konfession heiratete.
»Er ist Jude, da spielte es kaum noch eine Rolle, dass er geschieden und älter ist als ich.«
Eden musste zugeben, dass schon eine dieser negativen Eigenschaften ausreichte, um Afton gegen ihn einzunehmen.
»Jedenfalls sind wir nach Nevada abgehauen. Als wir wieder zurückkamen, habe ich Mutter gesagt, ich sei schwanger. Daraufhin hat sie natürlich überall rumerzählt, wir seien schon vor Monaten durchgebrannt. Es war wirklich komisch, sie dabei zu beobachten, wie sie mich unbedingt respektabel machen wollte, obwohl ich doch einen Juden geheiratet hatte. Aber sie hat keinen Empfang für uns gegeben. Das hat sie nur bei Alma und Walter gemacht, und dabei ist Walter Baptist.«
»Das habe ich gehört.«
»Aber für mich und Victor nicht.«
»Das hat dich bestimmt verletzt. Und Victor auch.«
»Uns war es egal, wir hatten unseren eigenen Empfang.
Wir haben einen Nachmittag lang die Elks Lodge gemietet. Victor hat alles bezahlt, Champagner, alles. Es war nicht gerade die Hochzeit, von der ich immer geträumt habe, aber es war eine schöne Party.« Einen Moment lang sah Connie wehmütig aus. »Winifred Merton hat sogar im Herald über uns geschrieben.«
Eden runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich vage an das Bojo’s und eine Frau, die allein aß. »Wer ist Winifred Merton noch einmal?«
»Die Redakteurin der Frauenseiten im Herald.« Connie verzog die Lippen. »Sie schreibt seit Methusalems Zeiten - was die Braut anhatte, wer zum Tee kommt und wann sich die Methodistendamen zu ihrem wohltätigen Kaffeekränzchen treffen. Für mich hätte sie normalerweise keinen Finger krumm gemacht, aber Victor ist immerhin Chefredakteur. Also war sie da, mit einem kleinen goldenen Stift in der Hand, auf dem reizenden Empfang für Mr. und Mrs. Victor Levy, die - wie romantisch - vor ein paar Monaten durchgebrannt waren.«
»Waren deine Eltern auch da?«
»Ich hatte gehofft, sie würden nicht kommen.« Connie warf Eden einen resignierten Blick zu. »Ich hatte gehofft, Mutter würde sagen, ich käme ihr nicht wieder ins Haus. Aber das tat sie nicht. Die gesamte Familie war da. Es war furchtbar. Auf einer Seite des Saales Victors Kollegen von der Zeitung, die Champagner schlürften, Zigaretten rauchten und sich Cocktailhäppchen einverleibten. Auf der anderen Seite die Heiligen mit ihren Limonadengläsern in der Hand, die in ihrer Tempelunterwäsche schwitzten. Du weißt ja, wie sie sind.«
»Ja. Und du kannst sie nicht ändern.«
»Sieben Monate später kam unsere kleine Tochter zur Welt. Pünktlich auf die Minute.« Connie drückte ihre Zigarette mit der Schuhspitze aus und wedelte den Rauch beiseite. »Das Baby ist in Ordnung, aber sie ist noch zu klein, um wirklich interessant zu sein. Und meine Stiefkinder sind kleine Biester. Victors erste Frau wollte sie nicht. Manchmal glaube ich, er hat mich nur geheiratet, damit sich jemand um seine Kinder kümmert.«
Connie Levy sah aus wie jemand, der den ersten Akt verpasst hatte und erst langsam die Handlung zu begreifen begann, und Eden fand, dass es kein besonders guter Handel gewesen war, Afton Lance gegen drei kleine Kinder einzutauschen. »Wir sollten wieder hineingehen«, sagte sie.
Auf dem weiß gedeckten Tisch im wenig genutzten, sonnigen Esszimmer standen Krüge mit Wasser und Limonade. Buntes Geschirr, das nicht zueinander passte, Schüsseln mit eingelegten Tomaten, dampfendem Gemüse und Teller voller Sauerteigplätzchen neben großen Butterstücken. Sie setzten sich alle, und Tom Lance sprach das Tischgebet.
Afton befahl wie ein häuslicher Eisenhower, dass Eden, die heimgekehrte Heldin, als Erste bedient werden solle. Niemand wagte, ihr nicht zu gehorchen. »Ja«, herrschte Afton die Jungen am Ende des Tisches an, »auch eine Frau kann ein Held sein, ebenso gut wie ein Mann. Denk immer daran, William. Eden hat ihrem Land gedient wie jeder Mann, und ich dulde kein Wort dagegen.«
Alle begannen zu essen. Der Geschmack von Aftons Schweinebraten erinnerte Eden an die Sonntage ihrer Kindheit, als sie mit ihrem Vater und ihrer Großmutter bei den Lances am Tisch gesessen hatte. Sie blickte in die Gesichter ihrer Vettern und Cousinen und versuchte, die Züge der Erwachsenen mit denen der Kinder von damals zu vergleichen. Ein großer Familieneintopf. Und ich bin ein Teil davon, dachte sie. Der Gedanke missfiel ihr nicht, vor allem, da sie wusste, dass ihre Zeit hier begrenzt sein würde. Wenn sie erst einmal mit Logan verheiratet und nach Philadelphia gezogen war, würde sie sie vielleicht nie mehr wiedersehen.
Beim Essen redeten alle über Juniors heimliche Hochzeit mit dem französischen Mädchen. Stimmte es, dass die Französinnen jeden Amerikaner, dessen sie habhaft werden konnten, geküsst hatten, als die Amerikaner Paris befreit hatten? Hatten sie sich ihnen auch körperlich hingegeben? Rauchten sie dort alle Zigaretten, selbst die Kinder?
»Viele Leute rauchen Zigaretten«, erwiderte Eden.
»Nun, aber nicht Junior. Er ist Mormone.« Davon war Lil absolut überzeugt.
»Stimmt es«, fragte William, »dass die Französinnen keine Unterwäsche tragen und nicht baden?«
Alle am Tisch keuchten auf. Eden ergriff ihre Rippchen, von denen die Sauce heruntertropfte, und sagte: »Das sind die besten Rippchen, die ich je gegessen habe. Diese Sauce ist wundervoll.«
»Das Rezept ist von meiner Mutter«, sagte Walter Epps errötend. »Sie hat die Rippchen gemacht, um dich zu Hause willkommen zu heißen.«
»Das war sehr nett von deiner Mutter. Bitte sag ihr meinen Dank.«
»Walters Mutter ist eine großzügige Frau. Mit einem großzügigen Geist«, verkündete Alma trotzig und nickte Afton zu. »Eden, ich glaube, du kennst meinen Mann Walter noch nicht. Walters Familie stammt aus Arkansas.«
Eden antwortete freundlich, dankbar dafür, dass die Frage nach der Unterwäsche der Französinnen nicht mehr zur Debatte stand.
»Das Barbecue meiner Mutter ist in ganz Arkansas berühmt«, sagte Walter. »Bis nach Memphis.«
»Nun, ich habe so etwas Leckeres auch noch nicht gegessen. Allerdings war ich auch noch nie in Arkansas. Was tut deine Mutter denn hinein?«
»Sie hat nichts aufgeschrieben, sie hat es alles hier drin.« Walter tippte an seinen Kopf. »Aber sie schreibt es für dich sicher gerne auf, wenn du möchtest.«
Zufrieden, dass sie ihren Mann und seine Familie so gut eingeführt hatte, wandte sich Alma Epps an Eden. »Was machst du denn jetzt, wo der Krieg vorbei ist?«
»Eden heiratet«, sagte Afton lächelnd. »Alle Mädchen heiraten.«
• Die bis nach Memphis berühmte Barbecue-Sauce •
Wie die meisten Köche übernahm Eden das Rezept von Mrs. Sally Epps einfach. Es wurde Edens berühmte Sauce im Café Eden. Ihre kann es auch werden.
Die Sauce schmeckt immer ein wenig unterschiedlich, je nachdem, was Sie im Haus haben. Wichtig ist vor allem das Gleichgewicht zwischen süß und sauer, scharf und mild. Zum Süßen können Sie Honig oder Ahornsirup nehmen, verschiedene Arten von Senf, aber der Trick ist jedes Mal, die richtige Balance zu finden. Sie müssen während der Zubereitung häufiger probieren.
Zwei Zwiebeln fein hacken und in heißem Öl anbraten. Die Hitze reduzieren, viel braunen Zucker darübergeben und 15 bis 20 Minuten unter Rühren kochen. 2 oder 3 Knoblauchzehen hinzugeben. Wenn Zwiebel, Zucker und Knoblauch zu einem dicken Brei verkocht sind, irgendeinen Fruchtsaft hinzufügen, allerdings keinen Orangensaft. Ein Schuss Essig verleiht Würze. Honig oder ½ Tasse Zucker hinzugeben. Dann zerstampft man reifes Obst, Wassermelone zum Beispiel. Pfirsiche eignen sich hervorragend, müssen aber geschält werden. Aprikosen braucht man nicht zu schälen. Auch Johannisbeeren oder Erdbeeren sind gut, Trauben aber nicht, weil sich die Haut ablöst. Das zerstampfte Obst in die Sauce geben und nicht mehr kochen.
Schließlich fügen Sie den Inhalt einer ganzen Flasche Ketchup hinzu, die sie mit einer Tasse Weinessig ausspülen.
Geben sie einen guten Löffel Senf hinzu, Salz und Pfeffer. Umrühren und abschmecken. Wenn Ihre Sauce ein bisschen schärfer sein soll, geben sie noch ein paar Teelöffel Chilipulver hinein. Bei niedriger Temperatur köcheln lassen und ab und zu umrühren, bis die Sauce eine schöne dunkelrote Farbe angenommen hat.
Passt hervorragend zu Rippchen, Koteletts oder Hühnchen. Kann aus einem langweiligen Hotdog einen Star machen.
MOMENTAUFNAHME
Der Ochse und das Pferd
Annie Agajanian Douglass und Eden verband eine Freundschaft, die ihr ganzes Leben andauerte. Sie waren mehr Schwestern als Schwägerinnen.
Annies Eltern waren armenische Flüchtlinge aus der Türkei, die in Griechenland gelebt hatten. 1923 waren sie nach Los Angeles gekommen. Annie kam während der Überfahrt zur Welt. Vartan und Shushan Agajanian sprachen sieben Sprachen, allerdings beherrschte Vartan Englisch nie vollständig.
Von ihrem Vater lernte Annie früh, dass Menschen essen müssen. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn er nicht zu einem Volk gehört hätte, das nichts zu essen hatte. Der Ausdruck armenische Hungerleider durfte in Vartans Gegenwart nicht erwähnt werden, in keiner Sprache. Er mietete einen kleinen Laden in Santa Monica und eröffnete ein Lebensmittelgeschäft. Er gab Kredit - mit Zinsen -, und es ging ihm gut.
Vartan Agajanians Familie lebte einfach, sogar frugal, während er das Geld aus dem Geschäft in Grundstücke überall in Los Angeles County anlegte. Als Annie, seine älteste Tochter, sechzehn war, war er ein reicher Mann. Sie besaßen ein Haus in Beverly Hills mit einem Park und einem Pool. Vartan machte den kleinen Laden in Santa Monica zu und eröffnete den ersten von mehreren großen Supermärkten.
Annie Agajanian war klein, lebhaft, mit dunklen, lachenden Augen und einem reizenden Lächeln. Sie war die Beste ihres Jahrgangs auf der Beverly Hills High und studierte Kunstgeschichte an der UCLA.
Ernest Douglass, der damals bei der Navy war, lernte sie bei einer Tanzveranstaltung kennen. Für Ernest war es Liebe auf den ersten Blick. In seiner Marineuniform wirkte er groß und stark neben ihr; sie weckte in ihm den Wunsch, sie zu beschützen und sie zu nehmen. Annie hingegen war hingerissen von seinem Eifer zu gefallen, und sein Glaube an ihre gemeinsame Zukunft zog sie an. Ernest strahlte eine felsenfeste Gewissheit aus, die in diesen ungewissen Zeiten besonders attraktiv war.
Annie hatte noch nie einen Mormonen kennengelernt. Ernest kannte keine Armenier. Sie hatten beide viel zu lernen.
Ernest hielt bei ihrem Vater förmlich um ihre Hand an. Annie saß neben ihm. Sie hatte sich eine Gardenie ins Haar gesteckt. Vartan Agajanian fragte nach Ernests Religion. Obwohl Vartan den Glauben der armenischen apostolischen Kirche praktizierte, war Annie protestantisch erzogen worden. Ernest sagte, er sei als Mormone aufgewachsen, aber er praktiziere keine Religion und würde sich gerne Annies anschließen. Vartan nahm an, dass Mormonen so etwas Ähnliches wie Methodisten waren, und Ernest ließ ihm den Glauben.
Vartan fragte, ob Ernests Eltern diese Heirat billigten, und Ernest erwiderte, sie seien begeistert. In Wahrheit erzählte er Kitty und Gideon erst Monate später, dass er verheiratet war. Und in seinem Brief erwähnte er weder Annies Mädchennamen noch ihre ausländische Herkunft. Für Ernest war Annie tatsächlich wie ein fremdes Land: Alles an ihr - vom Duft ihrer Gardenie bis zum Klang ihrer Stimme - brachte ihn zu einem wundervollen Ort weit, weit weg von Fairwell, von St. Elmo, von allem, was er jemals gekannt hatte. Sie war geheimnisvoll und fremd.
Nachdem sie Lamm und Reis und wie Zigarren gerollte Weinblätter mit einer seltsamen, köstlichen Füllung gegessen hatten, saß Ernest im Wohnzimmer der Agajanians und trank schaumigen Kaffee aus winzigen Tassen. Die Tassen waren so zerbrechlich, dass er seine eigene Kraft fürchtete, wenn er sie anfasste. Er genoss die klebrigen Kuchen, die sie servierten, hauchdünn und delikat wie Honig und Rosen. Er bewunderte ihr armenisches Essen, aber er wusste nichts von der uralten armenischen Kultur, ihrem Stolz darauf, die erste christliche Nation gewesen zu sein, auch wenn sie keine Nation mehr waren. Ernest Douglass hatte keine Ahnung von armenischer Kunst, ihrer Literatur, der Musik, den Kirchen. Ihm war lediglich der Ausdruck armenische Hungerleider bekannt, den er allerdings klugerweise nicht verwendete.
Sie wurden von einem Marinepfarrer getraut. Ihre Verlobungszeit hatte drei Monate gedauert, und ihre Flitterwochen bestanden aus einem zweitägigen Ausflug nach Santa Barbara. Dann fuhren sie in Annies Cabrio nach Los Angeles zurück. Ernest ging an Bord der Baroka Sea. Annie bekam einen Job in einer Kunstgalerie, die von Armeniern geführt wurde, die allen Grund hatten, ihrem Vater dankbar zu sein. Sie wohnte bei ihren Eltern und wartete auf Briefe von ihrem Ehemann. Wenn sie eintrafen, zog sie sich zum Lesen in ihr Zimmer zurück, zum Teil, weil er so viele Rechtschreibfehler machte, und zum Teil, weil er seine Gefühle so beredt zum Ausdruck brachte.
Als Tom, Afton und Lil sie an jenem Samstagnachmittag im Haus ihrer Eltern besuchten, ließ Annie sich nicht anmerken, dass sie ihr Misstrauen, ja ihr Entsetzen durchaus bemerkt hatte. Annie erkannte, dass auch sie ein fremdes Land betreten hatte. Ernest jedoch fiel nicht auf, wie spröde die Lances auf seine Braut reagierten. Er war verliebt.
Ernest Douglass war beständig; das war seine große Tugend. Und, wie seine Frau nach dem Krieg entdeckte, zugleich sein großer Makel. Nach dem Krieg weigerte sich Ernest, zur Universität zu gehen, wie es so viele andere heimkehrende GIs taten. Stattdessen lernte er bei einer der Schulen, die in Zeitschriften werben, Fernseher zu reparieren. Er machte einen Fernsehreparaturdienst auf in einem neuen Einkaufscenter, das nicht weit von dem Haus entfernt lag, das Annies Eltern für sie und die drei Kinder, die in rascher Folge zur Welt kamen, gekauft hatten.
Hatte er sich erst einmal für etwas entschieden, so ließ Ernest sich durch nichts davon abbringen. Natürlich litt seine Ehe mit Annie darunter. Vartan Agajanian verglich ihre Ehe später einmal mit einem Ochsen und einem Rennpferd, die man gemeinsam vor einen Wagen gespannt hatte. Annie war das Rennpferd, bereit, loszulaufen und mit anderen zu konkurrieren. Der Ochse jedoch ist zufrieden mit seinem Joch. Und der Ochse ist stärker.
Annie, das Rennpferd, blieb mit Ernest verheiratet, lebte mit ihm und den drei Kindern, aber sie löste sich aus dem Gespann. Annie Agajanian war das Beste und eigentlich auch das Einzige, was Ernest Douglass jemals widerfahren war. Aber sie war mit dem Joch nicht zufrieden. Sie eröffnete ein Geschäft, das mit Kunstgeschichte so wenig wie möglich zu tun hatte.
Die Menschen müssen essen. Annie Douglass caterte für Filmproduktionen im gesamten San Fernando Valley. Die Beziehungen ihres Vaters im Lebensmittelhandel waren nützlich für sie, aber ihr Erfolg resultierte aus vielen Stunden harter Arbeit. Sie fing klein an, aber bald schon hatte sie eine ganze Flotte von Lieferwagen und Verträge mit allen Produktionsgesellschaften im Tal. Sie nannte ihr Geschäft Oasis, aus Gründen, die sie ihrem Mann nie offenbarte.
2
Kurz nach ihrer Rückkehr nach St. Elmo bekam Edens
Leben den Charakter eines Musicals. Potenzielle Ehemänner wurden ihr präsentiert, und Tanten und Cousinen, Freundinnen und Nachbarinnen sangen alle: »Heirate, heirate! Heiraten ist besser als Alleinsein!« Eden Louise Douglass nahm die Parade der Bräutigame ab. Augen rechts. Salut. Gute Männer. Ehrenhaft. Einige mit Orden, aber alle hatten tapfer gekämpft, versicherte man ihr. Da Eden es höflich ablehnte, zur Kirche zu gehen, lud Afton jeden Sonntagmittag geeignete Kandidaten zum Essen ein. Diese Männer, blond, blauäugig, alle anständig, wollten unbedingt heiraten, eine Familie gründen. Aber Eden kam sich vor wie bei der Musterung: Größe, Gewicht, gute Knochen, breite Hüften, jemand, mit dem man das alte Joch teilen und durchs Leben pflügen konnte. Am liebsten hätte sie Logan geschrieben, ihm gesagt, wie irrsinnig und amüsant das alles war, aber sie musste warten, bis er sich meldete, weil sie seine Adresse nicht wusste.
Aus Stolz weigerte sie sich, am Briefkasten zu lauern, und sie lernte, ein neutrales Gesicht zu machen, wenn Afton vom Briefkasten an der Straße nur mit einem Brief ihrer Eltern zurückkehrte. Einer Einladung von Annie, der Frau ihres Bruders, sie in Los Angeles zu besuchen. Einer Karte von ihren Freundinnen aus dem Frauenhilfskorps, einer Einladung zu Dottie Lofgrens Hochzeit in Wichita, Kansas. Faye schrieb, dass sie ganz überraschend einen Mann aus New York geheiratet hatte. Aus Philadelphia kam nichts.
Einer der potenziellen Ehemänner fuhr mit Eden zum Einkaufen in die Stadt, und er wartete am Limonadenbrunnen des Drugstores, während Eden zur Telefonzelle ging. Sie zog die quietschende Tür hinter sich zu und rief die Auskunft in Philadelphia an. Der Operator lachte sie aus, als sie nach Smith fragte. Francis Smith?, fuhr sie fort. Nein. Logan? Nein. F. L.? Nein. Eine Kanzlei mit Smith im Namen? Ein Smith mit einer Adresse in Chestnut Hill? Der Operator legte einfach auf, und Eden blieb in der stickigen Zelle stehen und starrte auf die runde Wählscheibe.
Zu der Parade potenzieller Ehemänner gehörten auch junge Männer, die mit ihr ins Kino gingen. Im Dream Theatre wandte sich Eden zum Balkon. »Dort können wir nicht sitzen«, erklärte ihr ein Mann. »Das ist nur für Farbige. Sie wissen schon, die Söhne der Lamaniten.«
»So etwas Dummes habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Meine Mutter und ich haben immer auf dem Balkon gesessen.«
Der Mann war danach nicht mehr an ihr interessiert, aber andere Kandidaten betrachteten Eden als verirrtes Schäfchen, das sie wieder auf den rechten Weg zurückführen mussten. Das waren die unangenehmsten.
Tagsüber ackerte Eden auf der Ranch der Lances - hackte, grub um, pflanzte, jätete, mistete aus und fütterte die Tiere. Ihre Hände wurden rau, ihre Haut dunkel, sie wurde kräftig, schmutzig und erschöpft. Die Tomatenpflanzen, die sie gesetzt hatte, gediehen und wurden so hoch, dass sie gestützt werden mussten, und kleine grüne Tomaten wuchsen daran. Eden schützte sie vor der unerbittlichen kalifornischen Sonne und wässerte sie unermüdlich, weil der Boden immer wieder austrocknete. Und immer noch hatte sie nichts von ihrem Liebsten gehört. Sie bat Tom, ihr die Haare kurz zu schneiden. Als ihre dicken dunklen Haare auf den Boden der Veranda fielen und vom Wind weggeweht wurden, hatte Eden das Gefühl, damit die potenziellen Ehemänner abgewiesen und ein Keuschheitsgelübde abgelegt zu haben. Der Wüstenwind trocknete auch sie aus, jeden Tag ein bisschen mehr.
Da nichts ihrem Leben eine Richtung gab, fühlte Eden sich in jenen Monaten seltsam unbestimmt, so als sähe sie ihr eigenes Dasein aus einer Distanz. Alle um sie herum redeten von der G. I. Bill, vom Wiedereingliederungsgesetz für Soldaten durch das man aufs College gehen konnte, Jobs und alle möglichen Chancen bekam. Kalifornien war der Ort, an dem man es zu etwas bringen konnte!
Eden lauschte dem Gerede bei den zahlreichen Essenseinladungen in ihrer Verwandtschaft und schwieg. Eines Sonntags, im Haus ihrer Cousine Bessie, versuchte ein Kandidat sie damit zu beeindrucken, dass er von seinem Dodge schwärmte und damit prahlte, wie viele Japaner er umgebracht hatte. Eden blickte schweigend auf ihren Teller. Bessies Schwiegervater, der am anderen Ende des Tisches saß, murrte laut über Frauen im Allgemeinen und über das Frauenhilfskorps im Besonderen. Alle Frauen bei der Armee seien Huren von Babylon, die Uniformen trügen, um Männer biblisch zu erkennen. Seine Verwandten versuchten, ihn zum Schweigen zu bringen, aber der alte Mann wurde immer lauter und heftiger.
Eden spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie hasste diese engstirnigen Mormonen. Sie hasste St. Elmo. Sie hasste es, dass sie nichts von dem Mann gehört hatte, den sie geliebt und biblisch erkannt hatte. Sie hatte Logan geliebt, und er hatte sie geliebt; ihre Liebe war genauso heilig wie das, was diese Leute dafür hielten.
Eden wandte sich an den Dodge liebenden Japanerhasser neben ihr und sagte: »Sie sind also ein Held, und ich bin eine Hure? Wie ist das denn gekommen?« Dann legte sie ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich bei Bessie und ging.
Sie ging zu Fuß bis zum Dream Theatre, kaufte sich ein Ticket und setzte sich auf den Balkon. Der Film war ihr egal, aber es beruhigte sie, die abgestandene, vertraute Luft, die nach Rauch und Schweiß, Illusion und Erfüllung roch, einzuatmen. Sie würde tapfer weiterwarten.
Aftons Sommer einzumachen war ein Prozess, der nicht mehr aufgehalten werden konnte, wenn er erst einmal eingesetzt hatte, aber er war in keiner Hinsicht geistlos. Er erforderte Konzentration, Planung und Hingabe. Hatte man erst einmal angefangen, gab es kein Entrinnen mehr.
An einem Sommermorgen arbeiteten Afton und Eden Hand in Hand. Dunkle Schweißflecke bildeten sich unter ihren Achseln, und der Schweiß stand ihnen auf der Stirn. Dampf wirbelte in Schwaden durch die Küche, obwohl alle Fenster offen standen. Zwei Kessel mit kochendem Wasser blubberten auf dem Herd: einer zum Auskochen der Gläser, bevor sie gefüllt wurden, ein zweiter zum luftdichten Verschließen. Auf der Wachstuchdecke auf dem Tisch lagen abgezogene Tomaten und Knoblauch, Pfefferkörner, getrocknete Chilis und Rosmarin.
»Du achtest am besten gar nicht auf den alten Narren bei Bessie«, sagte Afton, legte die heißen Deckel auf die Gläser und streifte das Gummiband darüber.
»Hast du davon gehört?« Eden füllte die heißen Gläser, in denen sich bereits Knoblauchzehen, Chili und Pfefferkörner befanden, mit warmen, enthäuteten Tomaten.
»Ich höre alles. Ich weiß alles. So bin ich eben. Ich kann nichts daran ändern.« Afton setzte den Deckel auf ein Einmachglas, stellte es ins kochende Wasser und wandte sich dem nächsten zu. »Manche Leute weigern sich zu glauben, dass wir jetzt in einer neuen Welt leben. In der Welt nach dem Krieg. Die Zeiten haben sich geändert, und wir müssen uns ihnen anpassen. Jedenfalls die, die noch am Leben sind und sich ändern können.« Sie stellte ein weiteres Glas ins kochende Wasser. Dann wischte sie sich schnaufend mit dem Unterarm über die Stirn. »Lucius hat diese Chance nicht. Und Junior? Junior Lance war tapfer genug, um in Italien zu kämpfen und alles zu befreien, was ihm begegnete, um die Nazis auszulöschen, aber nicht tapfer genug, um seinen Eltern zu sagen, dass er geheiratet hat. Ich habe drei Briefe von Junior bekommen, in denen nicht ein Wort von dem französischen Mädchen steht. Nicht ein einziges. Diese Ehe steht unter einem schlechten Vorzeichen.«
»Er kommt ja bald nach Hause«, erwiderte Eden, der die Richtung, die dieses Gespräch zu nehmen drohte, nicht zusagte.
»O ja, bald kommt er nach Hause«, sagte Afton grimmig. »Auch du bist tapfer, Eden. Du hast dich im Krieg bewährt wie nur wenige Frauen. Damals hast du Befehle befolgt. Warum kannst du jetzt nicht dem gehorchen, was Gott von dir verlangt?«
»Und was soll das sein?«
»Niemand möchte allein bleiben. Möchtest du einsam sterben?«
»Natürlich nicht. Ich möchte heiraten und Kinder bekommen.«
»Dann tu es! Natürlich leben wir jetzt in einer neuen Welt, aber Gottes Wort bleibt doch dasselbe. Gott verändert sich nicht. Gott möchte, dass wir unsere Pflicht tun und uns des Himmlisches Reiches würdig erweisen. Die Pflicht einer Frau ist es, zu heiraten und die Seelen zur Welt zu bringen, die darauf warten, auf diese Erde zu gelangen. Ich verstehe nicht, warum du dir nicht einen der jungen Männer hier ausgesucht hast. Sie sind alle so nett.«
Eden wollte diese Männer nicht, ganz gleich wie nett sie waren. Sie wollte nicht ihr Leben lang Kinder großziehen und Tomaten einlegen, Sklavin ihres Gartens, ihres Mannes und einer Kinderschar sein. Sie hatte so viel von Ruth Douglass in sich, dass sie mehr wollte als das. Sie wollte Logan Smith. Sie wollte Philadelphia, Chestnut Hills und all die Bilder, die er ihr von ihrem gemeinsamen Leben gemalt hatte: rudern auf dem Fluss im Herbst, Sommer in Maine, Leben in einer Stadt, in der sie vielleicht sogar bei einer Zeitung arbeiten könnte. Sorgfältig wählte sie ihre Worte, als sie antwortete: »Es muss doch eine Möglichkeit geben, dass eine Frau ihren Mann und ihre Familie lieben kann, ohne sich im Dienst für die anderen völlig selber aufzugeben.«
»Es gibt auch Möglichkeiten, Kopf zu stehen, und trotzdem tun es die wenigsten«, erwiderte Afton. »Du kannst deine Pflicht auch vermeiden.«
In Eden stieg Ärger auf. Am liebsten hätte sie gesagt: Ich habe jahrelang meine Pflicht getan, aber heiraten will ich verdammt noch mal, wen und wann ich will.
»Man kann alles Mögliche tun, Eden, aber du kannst nicht mit der Liebe und Zuneigung der Menschen rechnen, die du enttäuschst.«
»Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe, aber ich muss mein Leben so leben, wie es mir richtig erscheint.«
»Du hast einen starken Hang zur Unabhängigkeit, der einer Frau nicht gut zu Gesicht steht. Pass jetzt auf. Der richtige Zeitpunkt ist wichtig. Mach das nächste Glas fertig. Sie dürfen nicht abkühlen, bevor sie ins kochende Wasser kommen. Ich rede nicht nur von diesem Leben«, fuhr Afton fort, »sondern von dem Leben danach. Vom Himmlischen Reich. Unverheiratete können nicht vollständig an dem Nachleben teilnehmen, das Gott für uns plant. Wenn du nicht heiratest, kommst du auch nicht ins Himmlische Reich.«
Eden stöhnte. Selbst im Tod sah die Kirche die Menschen nur zu zweit, wie bei der Arche Noah. Natürlich wollten sich die Mormonen auch im Himmlischen Reich fortpflanzen, es war also kein Wunder, dass sie verheiratet sein mussten. Plötzlich wurde ihr alles zu viel, der Dampf in der Küche raubte ihr den Atem. Kitty war all diesen Verpflichtungen entkommen, aber sie war abgetaucht und lebte nur noch in ihrer Fantasiewelt. So konnte Eden nicht leben. Es musste doch Alternativen geben. Ruth Douglass hatte doch auch ein unabhängiges Leben geführt. Wie? Und flüchtig durchzuckte sie der Gedanke, dass ihre Großmutter einen hohen Preis dafür gezahlt hatte.
»Es gibt für alles im Leben ein Rezept, und du solltest es befolgen.« Afton stapelte erneut Gläser in den Kessel mit dem kochenden Wasser.
»Du hast mir doch immer gesagt, ein Rezept sei offen für Erfindungen, man solle nehmen, was man gerade zur Hand hat, und mit etwas Fantasie würde schon etwas daraus werden.«
Afton wischte sich die Hände an der Schürze ab und blickte sie streng an. »Ich will doch nur dein Bestes. Heirate einen dieser netten, jungen Männer. Kehr wieder zur Kirche zurück, dem Glauben deiner Familie. Du wirst belohnt werden, auf der Erde wie im Himmel. Ich will doch nur dein Bestes.« Sie prüfte die Flamme unter dem Einmachkessel. »Das muss jetzt zehn Minuten lang kochen. Achte darauf, dass das Wasser die ganze Zeit kocht. Es ist jetzt zehn nach zehn. Um zwanzig nach zehn kannst du den Korb herausholen und ihn auf die Küchentheke stellen. Wenn die Gläser abgekühlt sind, prüfst du, ob sie dicht sind. Das ist jetzt das letzte Glas.«
»Aber auf dem Herd stehen noch Tomaten mit Essig und Zucker.«
»Nun, die kannst du fertig machen. Meine Arbeit hier ist getan. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«
»Ich soll darauf achten, dass die Deckel heiß sind und der Essig warm, und ich soll schnell arbeiten.«
»Denk auch an das andere, was ich dir gesagt habe.« Afton raffte alle Tomatenschalen zusammen in eine Schüssel und ging nach draußen. Eden hörte, wie sie ihre Hühner rief.
Tomaten kurz in kochendes Wasser geben, sie mit einem Schaumlöffel herausholen, wenn die Haut beginnt aufzuplatzen. In eine Schüssel legen, um den Saft aufzufangen. - Wenn Sie schon einmal dabei sind, können Sie aus diesen geschälten Tomaten auch einen schönen Salat machen. Das Dressing besteht aus Öl, Weinessig, Minze und Petersilie. Für das Abendessen beiseitestellen.
Um die Tomaten einzumachen, geben Sie in ein sterilisiertes Einmachglas 1 geschälte Knoblauchzehe, ein paar Pfefferkörner, 1 oder 2 getrocknete rote Chilischoten. Darauf füllen Sie Tomaten. Verwenden Sie nur so viele Einmachgläser, wie Sie schnell bearbeiten können.
Zu gleichen Teilen Rotweinessig und Wasser, 1 Esslöffel Pökelsalz und ein wenig Zucker aufkochen lassen, bis Zucker und Salz sich aufgelöst haben. Über die Tomaten gießen, dabei das Glas nur zu drei Vierteln füllen. Einen Zweig Thymian oder Rosmarin hineinlegen.
Das Einmachglas mit Deckel und Gummiband oder Klammern fest verschließen und 10 Minuten in kochendes Wasser stellen. Vorsichtig herausheben und abkühlen lassen. Prüfen Sie, ob die Gläser fest verschlossen sind. Geben Sie nicht nach, können sie an einem dunklen Ort gelagert werden. Lassen Sie die Tomaten mindestens drei Wochen lang stehen. Am besten schmecken sie im Januar, weil sie dann alle Erinnerungen an den vergangenen Sommer wachrufen. Sie passen gut zu jedem Salat, und man kann sie auch zu einer schönen Wintersuppe reichen. So eingemacht halten sie jahrelang.
MOMENTAUFNAHME
Herzschmerzen
Logan war für sie verloren, und sie empfand seinen Verlust wie einen ständigen Schmerz im Herzen. Nachts lag Eden wach in dem Zimmer, in dem ihre Großmutter gelebt hatte. Trotz des langen Tages und der harten Arbeit auf der Ranch konnte sie nicht schlafen. Sie sehnte sich nach Logan und spürte seine Hände und seine Lippen überall an ihrem Körper. Und jede Nacht, wenn sie sich schlaflos in ihrem Bett herumwälzte, fragte sie sich, ob Logan wohl neben seiner Frau lag.
Warum hatte sie nur ihm alles überlassen? Eden hatte ihn nie nach seiner Adresse oder seiner Telefonnummer in Philadelphia gefragt. Sie hatte ihm vertraut. Warum hatte sie nicht einfach gesagt: Vergiss Philadelphia. Komm einfach nach Kalifornien. Zum Teufel mit dem Skandal. In Kalifornien kommt jeder woanders her. Du kannst dich in Kalifornien völlig neu erfinden. Alle machen es so. Wir könnten in Los Angeles oder San Francisco leben. Niemanden würde es stören, dass ein geschiedener Katholik eine abtrünnige Mormonin geheiratet hat. Niemanden.
Und dann durchschoss sie der entsetzliche Gedanke, dass er einen schrecklichen Unfall gehabt haben könnte. Dass er verwundet war. Oder schlimmer noch. Dass Frances Smith ein furchtbares Telegramm erhalten hatte. Wer würde Eden anrufen? Wer würde ihr schreiben? Woher würde sie es erfahren? Wäre seine Treulosigkeit leichter zu ertragen als sein Tod? Was hatte Faye noch einmal gesagt? Sie wollen dich doch nur vögeln. Und wenn er dich erst einmal ins Bett gekriegt hat, siehst du ihn nie wieder. Hatte Logan Eden vergessen?
Immer wieder kreisten ihre Gedanken. Aus ihrem Lieblingsausdruck »Nach dem Krieg« wurde »Nach dem Ball«, ein trauriger Schlager über gebrochene Herzen, den Kitty immer gesungen hatte.
Und jetzt? Was kam jetzt?
3
In seiner freien Zeit möbelte Tom Lance einen 1929 Model A für Eden auf. »Ein Mädchen braucht vier Räder, um unabhängig zu sein«, sagte er, als er ihr zeigte, wie sie ihn kurzschließen musste. Einen Schlüssel gab es nämlich nicht. Der Motor sprang an, und Tom nickte. »Jetzt kann es losgehen.«
»Wohin?« Für Eden war die Frage ganz real. Sie war jetzt schon seit drei Monaten hier.
»Connie hat Mutter angerufen und dich für heute Abend zum Essen eingeladen. Afton kann dir den Weg erklären. Sie weiß ja immer alles.«
Eden fuhr in dem stinkenden, lauten alten Ford vor Connies Haus vor. Es war so neu, dass es keine Vorderveranda hatte, nur wenige Fenster vorn, einen kleinen, sorgfältig gestutzten Rasen, eine breite Einfahrt und eine Doppelgarage. Es sah völlig anders aus als die anderen Häuser, die Eden kannte.
Connie machte auf in einer engen Hose, hohen Absätzen und einer nutzlosen kleinen Schürze und führte Eden in die Küche, wo es jede nur erdenkliche Annehmlichkeit gab.
Der Kühlschrank summte leise. Der Tisch war für drei gedeckt. Platzsets, keine Wachstuchdecke. Völlig anders als bei Afton.
»Es freut dich sicher zu hören, dass ich keine passenden jungen Männer für dich eingeladen habe.«
»Danke. Ich habe schon genug potenzielle Ehemänner kennengelernt.«
»Mutter gibt einfach nicht auf, was?«
»Es ist ihre große Stärke«, erwiderte Eden. »Und ihre große Schwäche.«
Durch das breite Küchenfenster blickte man auf die überdachte Terrasse, hinter der ein riesiger Garten lag. Auf der Schaukel spielten Kinder, und Connie erklärte, dass ihre beiden Stiefkinder und Leah, ihr eigenes Töchterchen, in der Obhut einer Frau namens Josefina seien.
»Nur noch ein paar Handgriffe«, sagte Connie und setzte ein grünes, wackeliges Viereck auf ein Bett aus Salatblättern. »7-Up-Salat«, erklärte sie. »Limone. Meine Lieblingssorte. Magst du 7-Up-Salat?«
»Ich habe ihn noch nie probiert.«
»Was nur beweist, dass du bei Mutter wohnst. Für sie ist das alles viel zu modern. Genau wie Hühnchen à la King. Magst du das denn?«
»Das habe ich auch noch nie gegessen, aber ich habe schon davon gehört. Meine Mutter hat immer gesagt, es sei ein Essen für Könige.«
»Hier.« Connie löffelte ihr etwas in eine kleine Schale. »Probier mal.« Sie grinste. »Toll, was?«
Eden fuhr mit der Gabel durch eine weiße, klumpige Sauce, in der grau-grüne Erbsen und kleine, weiche Karottenwürfel schwammen. Die arme verblendete Ma, dachte sie. Dieser blasse Brei? Das war ja schlimmer als Auferstehungspastete. »Es schmeckt wundervoll«, versicherte sie ihrer Cousine.
»Ich habe das Rezept aus dem Herald ausgeschnitten. Ich gebe es dir.« Connie trat an die Glasschiebetür und rief nach Josefina. »Ohne Josefina könnte ich nicht leben. Sie hat den Kindern schon Abendbrot gegeben und bringt sie gleich ins Bett. Möchtest du etwas zu trinken? Victor macht sich immer einen Gin Tonic, wenn er nach Hause kommt. Klingt das gut?«
Gut? Es klang zivilisiert. Reif. Entspannt. Connies Gegenwart belebte Eden. Sie nahmen ihre Drinks auf der Terrasse. Die Dämmerung senkte sich über den Garten, und der Wind trieb den blauen Rauch von Edens Zigarette über den trockenen Rasen. Neben ihrem Stuhl war ein Aschenbecher, der aussah, als stünde er auf Stelzen.
»Ich bin wieder schwanger«, sagte Connie zu Eden. Ihre Lippen zitterten vor ohnmächtiger Verachtung, und ihre dunklen Augen blickten in die Ferne. »Ich habe es Victor noch nicht gesagt. Ich will es natürlich nicht, aber was kann ich schon tun? Ich muss wahrscheinlich nächstes Mal einfach besser aufpassen. Ich frage mich wirklich, wie Mutter es ertragen hat. Acht Kinder. Sie schien nie zu merken, dass wir so viele waren.«
»Ich glaube, Afton liebt es, wenn viel Betrieb ist. Sie hätte Jesus ohne Weiteres bei der Speisung der Fünftausend unterstützt.«
»Sie hätte Ihm gesagt, wie er den Fisch zubereiten und die Brotlaibe backen soll.«
»Und sie hätte recht gehabt«, erwiderte Eden.
»Der lebhafte Tumult.«
»Was?«
Connie schüttelte den Kopf. »Das hat Mutter irgendwo gelesen. Ich weiß noch, dass sie mal zu mir gesagt hat: ›Ja, das liebe ich, den lebhaften Tumult einer großen Familie, in der nichts vergeudet wird.‹ Ich war damals noch ein kleines Mädchen, vielleicht zehn, aber ich habe ihr geantwortet, dass ich gerne Dinge vergeuden möchte! Ich sei es leid, immerzu alte Sachen auftragen zu müssen. Damals schon habe ich Mutter geschockt. Und das hat seitdem nicht mehr aufgehört.«
»Ich habe auch die abgetragenen Sachen deiner Schwestern getragen«, sagte Eden. »Aber ich fand es immer toll, dass bei Afton einfache Dinge so wichtig schienen. Sie gab einem das Gefühl, schon als Kind wichtig zu sein.«
»Mutter bringt die Menschen dazu, sie zu lieben, ob sie es wollen oder nicht. Meine Stiefkinder lieben mich nicht. Ich weiß nicht, warum. Ich habe versucht, sie zu lieben, aber ich kann es einfach nicht. Natürlich gebe ich das Victor gegenüber nicht zu. Wenn ich gewusst hätte, dass Victors erste Frau die Kinder nicht will, hätte ich mich vielleicht anders entschieden.« Unglücklich verzog sie den Mund. »So wollte ich es jedenfalls nicht.«
»Was wolltest du denn?«
Connie stieß den Rauch aus. »Ich wollte für eine große Tageszeitung schreiben. Meinen Namen unter den Artikeln gedruckt sehen. Ich habe geglaubt, das gehört zu dem Leben mit Victor dazu.«
»Das will ich auch! Wollte es.« Eden verhaspelte sich. »Nein, ich will es noch. Ich habe in Idaho für die Enterprise geschrieben, die Gesellschaftskolumne und Todesanzeigen. Sicher, das war langweilig, aber mein Name wurde gedruckt. Ich habe immer davon geträumt, so wie Martha Gelhorn oder Dorothy Thompson zu sein, eine dieser furchtlosen Reporterinnen, denen nur die Story wichtig ist.«
»Das waren auch immer meine Heldinnen.«
»Ich wollte zum Pressekorps, vor allem während des Krieges.« Während des Krieges klang in Edens Ohren immer noch seltsam, so als ob sie ein großer Graben von ihrem eigentlichen Leben trennte. »Das Frauenhilfskorps war nur das Zweitbeste, aber es war zumindest ein bisschen Abenteuer.«
»Ich bin nie aus St. Elmo herausgekommen«, sagte Connie. »Als ich 1943 meinen Abschluss auf der St. Elmo High gemacht habe, habe ich einen Preis als beste Schulreporterin in der Stadt gewonnen. Uns zu Ehren wurde ein Essen gegeben, und dort habe ich Victor kennengelernt, den Chefredakteur des Herald. Er gab mir meine Medaille und schüttelte mir die Hand. Ich bemerkte ihn kaum. Ich dachte nur, pass auf, Martha Gelhorn! Hier kommt Connie Lance! Nach meinem Examen habe ich mich beim Herald um einen Job beworben. Ich dachte, ich könnte mich direkt in die Redaktion setzen und mein Können unter Beweis stellen.« Connie blies einen Rauchring. »Ich habe tatsächlich geglaubt, sie lassen ein Mädchen da hinein.«
»Was ist passiert?«
»Ich musste zeigen, ob ich Schreibmaschine schreiben konnte, und dann haben sie mich ins Schreibbüro gesetzt. Aber ich habe den Job genommen.«
Josefina brachte die Kinder zum Gutenachtkuss. Connie sagte ihr, ihr Geld läge auf der Küchentheke, sie könne es mitnehmen, wenn sie ginge.
»Weihnachten hat mich Victor zur Weihnachtsfeier der Zeitung eingeladen. Es gab viel blödes Getratsche, weil er viel älter ist als ich, und meine Eltern, na ja, du kannst dir schon denken, was sie gedacht haben.«
»Ja, ich weiß schon.«
»Ich hatte gehofft, dass Mutter mich hinauswerfen würde, weil ich mit einem Juden zur Weihnachtsfeier gegangen bin. Ich wäre sicher gegangen. Aber sie tat es nicht. Sie stand nur wütend und mit schmalen Lippen daneben, während er mir die Blumen am Mieder befestigte. Und als wir gingen, sagte sie, Fröhliche Weihnachten!«
»Und wie hat Victor reagiert?«
»Er kannte das alles schon, schließlich ist er Jude! Ich habe ihn gewarnt, dass meine Eltern schrecklich sind, aber es war ihm egal. Er war verrückt nach mir, und er war ein erwachsener Mann und nicht irgendein Junge, der erst noch küssen lernen musste. Er wollte mich heiraten. Und ich dachte: Na ja, warum nicht?«
Eden schwieg. Sie wusste, dass sie sich damit nicht zufriedengegeben hätte. Sie hatte mehr gewollt, viel mehr, und jetzt lief sie Gefahr, überhaupt nichts zu bekommen. Sie hatte Logan aufgegeben, aber sie wusste nicht, was die Zukunft ihr bringen würde.
Victor Levy war zu Hause wesentlich lebhafter, als er bei Afton gewesen war. Er war herzlich und liebenswürdig und unterhielt sie mit Anekdoten aus der Redaktion. Eden fand Connie und Victor als Paar erfrischend und belebend. Sie redeten nicht über Familie oder Kirche, über Hühnerkrankheiten oder was man mit der Luzerne machen sollte. Sie waren überhaupt nicht wie Afton und Tom, deren Welt eng und beschränkt war. Connie und Victor waren für sie eher Freunde als Verwandte. Sie lachten Tränen über Edens Geschichten von den potenziellen Ehemännern, vor allem über einen, der darauf bestanden hatte, ihr in Aftons Esszimmer zu zeigen, was die Zahnärzte bei der Army für ihn getan hatten.
»Na ja, Eden«, prustete Victor, »wenn Afton Lance sich etwas in den Kopf setzt, dann fügst du dich besser. Sie will immer gewinnen, und sie wird keine Ruhe geben, bis sie dich am Boden hat. Warte nur ab, Ende des Jahres bist du verheiratet.«
Eden überlegte. »Aber ihr beide habt ihr doch auch die Stirn geboten und geheiratet. Warum sollte mir das nicht gelingen? Ich heirate, wen ich will«, fügte sie trotzig hinzu. Victor und Connie blickten auf ihre glimmenden Zigaretten, und Eden wurde auf einmal klar, dass alle Lances vermuteten oder wussten, dass sie auf einen Mann wartete, der nicht kommen würde. Dass sie versetzt worden war.
Die Zeitschaltuhr am Herd klingelte, und sie gingen hinein, um zu essen.
»Eden braucht einen Job, Victor«, sagte Connie. »Sie könnte doch beim Herald arbeiten. Sie hat Erfahrung. Sie hat jahrelang für eine Zeitung in Idaho geschrieben. Es stimmt doch, oder?«, wandte sie sich an Eden.
»Ja«, erwiderte diese überrascht und bauschte ihre Zeit bei der Enterprise ein wenig auf. Victor aß weiter, während sie erzählte.
»Sie ist Kriegsveteranin«, fuhr Connie fort. »Wenn sie ein Mann wäre, würdest du bestimmt etwas für sie tun, so begabt wie sie ist.«
»So einfach ist es nicht. Das verstehst du nicht, Liebling.«
»Der Herald hat ein neues Gebäude in der Stadt, aber sie leben immer noch im finsteren Mittelalter. Braucht ihr nicht langsam mal ein wenig frisches Blut? Ist es nicht an der Zeit, dass Winifred Merton mal in Rente geht?«
Victor Levy hustete und trank einen großen Schluck Eistee.« Winifred Merton in Rente? Sie ist seit... seit vierzig Jahren Gesellschaftsreporterin des Herald. Nein, länger! Sie war wahrscheinlich schon hier, noch bevor die Mormonen 1854 in dieses Tal kamen! Winifred Merton wird nur in einem Sarg aus der Redaktion getragen werden, vorher nicht! Und dazu werden sie ihr noch die Schlüssel aus den Fingern winden müssen.« Sein Gesicht war ganz rot geworden.
»Ich habe nicht gesagt, dass du sie feuern sollst«, sagte Connie.
»Feuern? Winifred Merton feuern? Das ist ein guter Witz. Nein - verzeih mir bitte, Eden -, aber es würde noch nicht einmal eine Rolle spielen, wenn deine Cousine Eden Pearl S. Buck wäre, die sich in St. Elmo um einen Job bewerben und ihre gerahmte Nobelpreisurkunde über den Schreibtisch hängen würde. Dann könnte ich Winifreds Posten trotzdem nicht antasten. Niemand kann das. Mein Vorgänger hat es versucht.« Er verzog das Gesicht. »Und ich habe dir ja erzählt, was aus ihm geworden ist.«
»Na ja, gut. Dann lass Winifred Merton bleiben. Vielleicht braucht sie ja eine Assistentin«, schlug Connie vor. »Du weißt schon, eine Hilfskraft.«
In dieser Hinsicht war Connie genau wie Afton. Entweder sie bekam ihren Willen schnell, oder sie blieb beharrlich am Ball. Victor blickte Eden Louise Douglass prüfend an, und sie konnte förmlich hören, wie es in seinem Gehirn ratterte.
»Kannst du Schreibmaschine schreiben?«, fragte er.
Connie Lance Levy aß schrecklich gerne 7-Up-Salat. Unterschiedliche Sorten Wackelpudding ergaben unterschiedliche Farben, die sie mit großzügigen Mengen an Lebensmittelfarbe noch verstärkte. Für das Picknick am 4. Juli machte sie sogar eine Version in Rot, Weiß und Blau, aber in der Hitze des Sommers in St. Elmo schmolz alles zu einer unappetitlichen Masse zusammen.
Dieser Salat war in der amerikanischen Küche nach dem Krieg äußerst beliebt: leicht zuzubereiten, beinahe narrensicher und bunt. Das 7-Up hatte keinen wahrnehmbaren Eigengeschmack.
1 große Packung Wackelpudding (jede beliebige Farbe)
1 kleine Dose Ananasstücke
1 Schachtel Hüttenkäse
Bereiten Sie den Wackelpudding unter Verwendung des Ananassaftes und des 7-Up anstelle von kaltem Wasser zu. Geben Sie Ananas und Hüttenkäse dazu. In einer flachen Schüssel über Nacht im Kühlschrank erstarren lassen und in Quadrate schneiden. Auf einem Blatt Kopfsalat servieren.
MOMENTAUFNAHME
Die Heimkehr
1962 bekam Constance Lance Levy im Alter von sechsunddreißig Jahren Krebs. Der Tod ereilte sie so schnell, dass ihre Eltern noch nicht einmal mehr lernen konnten, den Namen des Krebses, der sie tötete, richtig auszusprechen. Sie starb innerhalb von vier Monaten im August. Afton, Tom und Victor waren bei ihr, und die letzten Worte, die sie von ihr hörten, klangen wie: Das ist nicht fair.
Die Beerdigung - Victor widersetzte sich Aftons Wünschen nicht - fand in der Kirche von Jesus Christus der Heiligen der Letzten Tage statt.
Eden kam zur Beerdigung nach St. Elmo, aber sie ging zuerst zur falschen Kirche, weil sie nicht gewusst hatte, dass in der Zwischenzeit eine neue erbaut worden war. Der Parkplatz an der neuen Kirche war voll, als sie ankam, und Eden fragte sich, wie viele Menschen wohl wegen Connie hier waren und wie viele, um Afton zu stützen. Mormonen begrüßten Eden, umarmten sie und redeten mit ihr, als ob sie nie aus St. Elmo weggegangen wäre, als ob sie immer noch an der Hand ihres Vaters hinge.
Eden schaute sich nach Victor Levy um und fand ihn, umgeben von seinen Kindern, allein vor dem Seitengang der Kirche, wo er eine Zigarette rauchte. Alle vier Kinder sahen aus wie Victor; sowohl die Kinder aus seiner ersten Ehe als auch die Kinder aus seiner Verbindung mit Connie waren ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Connie hatte sich weder bei ihrem Sohn noch bei ihrer Tochter durchgesetzt.
Eden berührte Victor am Arm. Er wandte sich zu ihr um, und Tränen traten ihm in die Augen.
Die Kinder blickten sie stumm und zurückhaltend an. Der sechzehnjährige Aaron stand wie angewurzelt neben seiner Schwester, der achtzehnjährigen Leah. Eden umarmte sie alle, auch Connies Stiefkinder, aber keiner von ihnen reagierte, und Eden spürte, wie sie es ihnen übel nahm, dass sie nicht um Connie trauerten.
Victor jedoch war traurig. Er war vor Trauer außer sich und durcheinander. Er wischte sich über die Augen und legte Eden die Hand auf die Schulter. »Connie hat dich geliebt, Eden«, sagte er. »Sie hat dich bewundert.«
»Connie war mehr meine Schwester als meine Cousine.«
Alma Epps unterbrach sie: »Mutter will dich sehen«, sagte sie zu Eden. »Mutter will, dass du neben ihr sitzt.« Alma tätschelte Victor den Arm und wiederholte, dass Eden zu Afton kommen sollte.
Also folgte Eden Alma in die erste Reihe der Kirche. Hinter ihnen saß der gewaltige Clan der Lances, ein Meer von Gesichtern. Lil machte Platz, damit Eden neben Afton sitzen konnte.
Afton war traurig. Sie zitterte am ganzen Körper, aber es lag nicht in ihrer Natur, vor Kummer außer sich zu sein. Sie hielt Edens Hand und sagte: »Connie war wie du. Ihr hättet Schwestern sein können.«
»Wir hatten die gleichen Träume«, erwiderte Eden.
»Und ihr habt die gleichen Fehler gemacht. Ihr wart beide viel zu leichtsinnig«, sagte Afton. Dann begann der Gottesdienst, und alle griffen nach ihren Gesangbüchern. Afton hatte die Lieder jedoch selber ausgesucht, und sie brauchte kein Gesangbuch. Sie ließ Edens Hand erst los, als sie nach ihrem Taschentuch greifen musste.
Nach dem Gottesdienst strömten die Leute in die Turnhalle, wo das Essen aufgetragen war. Die Fenster standen offen, und ein heißer Wind wehte herein. Zu Connies Ehren hatten viele Leute 7-Up-Salat mitgebracht. Quadrate in Hunderten von Pastellfarben schmolzen in der Hitze, und Ananasstückchen schwammen in einem bunten, körnigen Meer.
4
Als Eden Louise Douglass anfing, für den Herald zu schreiben, ging es auf den Frauenseiten der Zeitungen noch nicht um Gesundheit und Fitness des weiblichen Körpers. Es ging auch nicht um erektile Dysfunktion oder Untreue des Ehemanns oder was man tun sollte, wenn man den Sohn in Frauenkleidern überraschte oder die Tochter ihren Bauchnabel piercen lassen wollte. Es gab nur zwei Themen: gesellschaftliche Ereignisse und Rezepte. Rezepte waren meistens Variationen auf 7-Up-Salat, Dosensuppen, Dosenthunfisch und Cornflakes; Maraschinokirschen waren fester Bestandteil des Desserts. Und was die Ereignisse anging, so war jeder Anlass in St. Elmo, den Miss Winifred Merton mit ihrer Anwesenheit beehrte, ein gesellschaftliches Ereignis.
Der Herald war kurz vor dem Krieg in ein neues Gebäude in der Stadt umgezogen. Modern, riesig und luftig, wenn auch noch nicht mit Klimaanlage, nahm es einen ganzen Block ein. Die Druckerpressen befanden sich im Keller; sie summten und ratterten die ganze Nacht. Im Erdgeschoss waren der Empfang, das Schreibbüro, die Archive, ein Konferenzsaal und die Büros von Leuten, die sich die Hände nicht schmutzig machten. Im ersten Stock befand sich die Redaktion. Abgesehen von Victor Levys verglastem Büro war sie ein einziges Meer von Schreibtischen mit Schreibmaschinentischen im rechten Winkel dazu. Darauf standen große Schreibmaschinen, deren Schlitten und Glocken ein ständiges Konzert lieferten. Die Neonleuchten waren Tag und Nacht an. Wenn sich die Reporter langweilten, spitzten sie ihre Bleistifte und spielten Darts, indem sie auf die Styroporfliesen an der Decke zielten. Es war immer etwas los. Die Telefone klingelten. Telexmaschinen ratterten. Schreibmaschinen klapperten, und die Botenjungen rannten zwischen Keller und erstem Stock auf und ab.
In diesem verqualmten, nach Tinte riechenden Chaos hemdsärmeliger Männerfreundschaften gab es keine Frau, sondern nur eine Lady, Miss Winifred Merton. Ihr Schreibtisch stand ganz hinten in der Redaktion, in der Nähe der Treppe für die Angestellten.
Winifred Merton benutzte diese Treppe allerdings nicht. Sie nahm den Aufzug und marschierte jeden Morgen an den Schreibtischen der Männer vorbei, als sei sie ein mit Handschuhen und Hut bekleidetes Boot, das sich seinen Weg durch gefährliche Untiefen bahnt. An ihrem Schreibtisch streifte sie die Handschuhe ab, schlug den kleinen Schleier an ihrem Hut zurück, warf den Männern in der Redaktion einen bösen Blick zu und setzte sich an ihre Schreibmaschine. Die majestätische Winifred Merton, so dünn, dass sie weder Hintern noch Brust hatte, von einer Blässe, die durch das pechschwarz gefärbte Haar noch betont wurde. Ihre Kollegen behandelten sie mit sarkastischer Ehrerbietung, hinter der sie ihre Angst versteckten. Sie war älter als sie alle. Sie war schon viel länger da. St. Elmos gesellschaftliche Elite war ihr treu ergeben. Brautpaare und die Mütter der Brautpaare, soziale Aufsteiger und Absteiger gierten nach ihrer Aufmerksamkeit. Miss Mertons Kolumne hatte so viel Macht, dass ihre lobende Beschreibung eines Empfangs für ein Paar, das Monate zuvor »durchgebrannt« war, alles wieder ins Lot rückte. Connie Levy konnte das bezeugen.
Miss Merton informierte Victor Levy in ihrer trockenen, unnachgiebigen Art, sie wolle keine Assistentin, aber der Chefredakteur bestand darauf.
Winifred Merton konnte mit Niederlagen nicht gut umgehen.
»Sie brauchen nicht einen Moment lang zu glauben«, sagte sie zu Eden an ihrem ersten Tag, »dass sie meinen Job übernehmen können.«
»Das will ich gar nicht. Ich will nur...«
»Es interessiert niemanden, was Sie wollen«, sagte Miss Merton und zog die Augenbrauen über ihrer Schildpattbrille zusammen. »Sie sind über familiäre Beziehungen hier hereingekommen. Ich bin hier aufgrund harter Arbeit und Selbstverleugnung. Mit mir können Sie sich nicht messen.«
Die Hausmeister schoben die Schreibtische herum, sodass Eden Miss Merton gegenübersaß. Miss Merton hatte die gesamte Redaktion im Blick und konnte aus dem Fenster schauen, aber Eden sah nur Miss Merton und die Wand. Aber was macht das schon?, sagte Eden sich. Ich bin hier, ich atme Tinte und Rauch ein, und mein Name wird über langen, grauen Kolumnen stehen.
»Und bilden Sie sich bloß nicht ein, dass Sie erwähnt werden. Alles auf dieser Seite gehört mir. Sie mögen Schreibmaschine schreiben, aber Sie werden nicht für den Herald schreiben. Sie werden ausschließlich für mich arbeiten.« Miss Merton kniff ihre korallenrot geschminkten Lippen zusammen. »Ist das klar? Und außerdem«, sie musterte Eden missbilligend, »werden Sie nie wieder Hosen tragen.«
»Sie sind praktisch zum Arbeiten. Sie schützen...«
»Wenn Sie für mich arbeiten wollen, werden Sie sie nicht tragen. Es gibt einen Grund, warum Hosen zu Männern gehören und Frauen sie nicht tragen sollen.«
»Und was für ein Grund ist das?«
»Männer haben etwas hineinzustecken.«
Hinter Eden ertönte höhnisches Kichern in der Redaktion. Selbst Miss Merton wurde rot, ließ sich jedoch nicht beirren und wies Eden an, ihren Platz einzunehmen.
Eden spannte einen Bogen Papier in die Schreibmaschine ein und begann ein neues Leben als Assistentin der Redakteurin der Frauenseiten, Miss Winifred Merton.
Eden Douglass mietete sich eine winzige möblierte Wohnung mit Einbauküche. Sie gab Tom Lance den alten Ford zurück und kaufte Annies Cord-Cabrio, als Ernest und Annie ihr erstes Kind erwarteten und ein Familienauto brauchten. Jeden Morgen band sie sich einen Schal um ihre dunklen Haare, setzte eine schicke Sonnenbrille auf und fuhr mit ihrem Auto zum Herald.
Es dauerte nicht lange, und Miss Merton lernte, ihre Assistentin auszunutzen. Wenn zwei gesellschaftliche Ereignisse kollidierten, ging Miss Merton zu dem interessanteren und schickte Eden zu den zahllosen langweiligen Anlässen, bei denen sie beinahe einschlief.
Schlimmer noch als die Ereignisse waren die Rezepte. Obwohl Miss Merton letztlich die Auswahl traf, musste Eden ihren Lesern exakte Anweisungen geben, wie man Grapefruit grillte oder Salatdressings aus gleichen Teilen Ketchup, Mayo und süßen Pickles herstellte. Sie musste Loblieder auf Dosenschinken in Mayonnaise singen, weil die Leser des Herald genau diese einfachen und schnellen Rezepte wollten, wie Miss Merton ihr versicherte. Vor allem jetzt, da der Krieg vorbei war und kein Mangel mehr herrschte, wollten Frauen wissen, wie man ohne großen Aufwand Speisen zubereitete, damit sie selbst mehr Zeit hatten um Golf zu spielen oder einzukaufen.
Nach außen hin befolgte Eden jede Anweisung von Miss Merton, aber innerlich wurde sie in die entgegengesetzte Richtung gezogen. Häufig fuhr sie mit heruntergelassenem Verdeck und laufendem Radio mit ihrem Cabrio herum und suchte nach... Sie wusste eigentlich nicht genau, was sie suchte, sie wusste nur, dass sie eine vage Sehnsucht verspürte nach etwas, was nicht schnell und einfach ging. Die Düfte ihrer Kindheitsfreuden: die Treppe im Haus ihrer Großmutter, Aftons Küche, Bojo’s, Mr. Kees Laden, Erinnerungen an Gloria Pattersons Bohnen- und Fleischeintöpfe, ihre in Sackleinen eingewickelten Tortillas. Und abgesehen von Aftons Küche gab es sie alle nicht mehr, wie auch Napoleon verschwunden und mitsamt seinen Feigen Napoleon zur Legende in St. Elmo geworden war. Selbst das Gebäude, in dem sich das Pilgrim befunden hatte, war 1939 einem Erdbeben zum Opfer gefallen.
Sie durfte gar nicht darüber nachdenken.
Vor allem nicht samstagabends, wenn Eden immer mit einem der Sportreporter ausging. Für gewöhnlich gingen sie in den Happy Horseshoe, wo er sich Spiele anschaute und dabei seinen Hamburger mit Pommes frites oder ein zähes Steak mit Reis vertilgte. Er hätte auch Schuhsohlen gegessen, wenn nur genug Ketchup daran gewesen wäre. Danach mit ihm ins Bett zu gehen, befriedigte ihren physischen Hunger, berührte jedoch nie ihre tieferen Bedürfnisse oder Gefühle. Eden war sich sicher, dass der alte Mann in der Wohnung neben ihr das Ohr an die Wand presste, was ihren Enthusiasmus beim Akt ziemlich beeinträchtigte. Aber der Sportreporter brauchte sowieso nie lange, und er blieb selten über Nacht.
Freitagsabends ging sie immer zu Connie und Victor. In St. Elmo wohnten viele Verwandte von Eden, aber Freunde fand sie beim Herald nicht. Außer ihr und Miss Merton arbeiteten alle anderen Frauen im Schreibbüro. Sie verachteten Eden, nachdem sie erfahren hatten, dass sie ihren Job Victor Levy verdankte, dem Mann ihrer Cousine.
Eines Tages wollte sie mittags gerade die Redaktion verlassen, als sie in der Lobby zufällig mit einer Schwarzen zusammenstieß. Sie entschuldigten sich beide, und dann starrten sie einander an.
»Eden Douglass?«, sagte die Frau.
»Sojourner Johnson?«, sagte Eden.
Lachend schüttelten sie sich die Hände. Obwohl sie noch nicht dreißig war, sah Sojourner schon so aus wie ihre Mutter, deshalb hatte Eden sie auch sofort erkannt.
»Machst du immer noch so viel Ärger?«, fragte Sojourner. »Das konntest du immer gut. Meine Mutter hat immer gesagt, du hättest ein kleines Teufelchen im Auge.«
»Ich arbeite jetzt hier.«
»Wirklich? Was machst du?«
»Na ja, ich schreibe für die Frauenseiten«, erwiderte Eden mit leisem Stolz.
»Für die alte Miss Merton?« Sojourner verzog das Gesicht.
»Ja, leider.«
»Komm doch mal wieder ins Bojo’s, Eden.«
»Das gibt es doch nicht mehr.«
»Wir sind umgezogen. Es ist jetzt weit draußen auf der Valley Farms Road.«
Das neue Bojo’s befand sich in einem alten, renovierten Haus, das so weit von der Innenstadt entfernt war, dass Weiße wahrscheinlich nicht oft hierherkamen. Eden parkte den Cord im Schatten eines riesigen alten Eukalyptusbaums. Ein ungefähr achtjähriger Junge öffnete ihr die Fahrertür und sagte, für einen Nickel würde er auf ihr Auto aufpassen. Lächelnd dachte Eden an Nana Bowers Auffassung, dass Kinder nur genug zu tun haben müssten. Sie gab ihm den Nickel und ging die Stufen zu der langen, schattigen Veranda hinauf.
Die Atmosphäre im Lokal war angenehm, ganz anders als in dem alten Café. Edens Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen, da die Läden wegen der flirrenden Hitze geschlossen waren. Die Fußböden bestanden aus abgetretenen Holzdielen, und die Nischen waren tief und deutlich voneinander getrennt. Aus dem Hinterzimmer drang das Klicken von Billardkugeln.
Ein etwa zwölfjähriger Junge saß an einem leeren Tisch und las in einem dicken Schulbuch. Als er sie sah, legte er es beiseite und fragte, was er für sie tun könne.
»Ich wette, du bist Sojourners Sohn, was?«
»Ja, Wallace Dawson.«
»Nun, Wallace, würdest du bitte deiner Mutter sagen, dass Eden Douglass hier ist?«
»Setzen Sie sich. Ich hole sie.« Er reichte ihr eine Speisekarte.
Eden holte tief Luft. »Gibt es hier immer noch gebratene Okras? Das hätte ich gerne. Ich habe schrecklichen Hunger und esse alles, was nicht gegrillte Grapefruit, 7-Up-Salat oder Hühnchen à la King ist.«
»Steht das auf der Karte?« Wallace blickte sie verwirrt an.
»Nein, Gott sei Dank nicht. Ach, und macht ihr immer noch Gefühlvolles Maisbrot?«
Der Junge lächelte. »Wir sind die Einzigen in St. Elmo, wo es das gibt.«
Eine Viertelstunde später kam Sojourner mit einem Tablett heraus, auf dem sich ein Krug mit Eistee, ein Teller mit gebratenen Okras, eine Schale mit Gefühlvollem Maisbrot und eine Packung Zigaretten befanden.
»Salz es, und iss es heiß«, befahl sie Eden. »Gebratene Okras dürfen nicht kalt werden. Du bist zu einem guten Zeitpunkt gekommen. Ich habe gerade Zeit zum Reden. Erzähl mir, was du so machst. Was ich gemacht habe, siehst du ja. Jung geheiratet und im Familienunternehmen geblieben, wenn uns auch die Whickhams gezwungen haben, aus der Innenstadt zu ziehen. Sie haben das Bowers Building gekauft und nach Nanas Tod die Miete verdoppelt.«
»Du bist anscheinend dem Rat der alten Nana gefolgt und lässt deine Kinder ganz in deiner Nähe arbeiten.«
»O ja. Und du bist auch dem Beispiel deiner Großmutter gefolgt.«
»Wieso?«
»Du gehst deinen eigenen Weg und bindest dich an keinen Mann.«
»Ich wünschte, das stimmte. Ich muss noch viel lernen.«
»Nun, jetzt iss erst mal, und dann kannst du mir erzählen, was du bisher schon alles weißt.«
Eden war Victor sehr verpflichtet, aber selbst er wich vor Winifred Merton zurück. Eines Freitags fragte Eden beim Abendessen bei Connie und Victor, ob sie nicht eine Artikelserie mit Rezepten aus dem älteren St. Elmo, von Lokalen wie Bojo’s, die ihre eigene Tradition hatten, bringen sollten. Victor verdrehte die Augen und bat seine Frau, ihrer Cousine die wahre Bedeutung des Wortes unmöglich zu erklären. Winifred Merton würde das nicht dulden, und Victor würde sie nicht dazu zwingen.
Eden gab sich mit der Antwort zufrieden, begann aber trotzdem, mit den Leuten zu reden, Rezepte zu sammeln und Features über Sojourner Dawson und andere zu schreiben. Sie rief Walter Epps an und besuchte seine Mutter Sally, die ihr das Rezept für »Die bis nach Memphis berühmte Barbecue-Sauce« gab und die Geschichte, die dazugehörte. Eden drängte auch Afton, einige ihrer Rezepte aufzuschreiben. Afton erklärte zwar, sie habe keine Zeit dazu und außerdem habe sie sie alle im Kopf, aber Eden antwortete: »Diktier sie mir einfach, ich stenografiere mit und tippe sie dann später in die Schreibmaschine.«
Der größte Triumph für Eden wartete im Zacateca’s, einem schäbigen Lokal zwischen einem Pfandleihhaus und einem Schuster in einer Gasse, in der man nur Spanisch sprach. An der Decke hingen die üblichen staubigen Pappmascheefiguren und an den Wänden Gemälde von Stierkämpfen sowie Porträts von Benito Juarez. Die Ventilatoren waren schon lange nicht mehr geölt worden. Aber Eden fiel ein vertrauter Duft auf. Sie fragte, ob das Lokal zufällig Gloria Patterson gehörte, die früher Tortillas und Bohnen aus ihrer Küche verkauft hatte.
»Das hat meine Mutter nie gemacht«, sagte die Kellnerin. Sie hatte die Haare zu einem Zopf um den Kopf geschlungen und hatte harte blaue Augen. Ihre Haut war glatt, wenn auch nicht mehr jung, und sie war auf eine kantige Art und Weise attraktiv. Auf ihrem Namensschild stand Lupe. »Wir hatten keine Genehmigung. Wollen Sie die Genehmigung des Zacateca sehen? Sie hängt in der Küche.«
»Ich komme nicht vom Gesundheitsamt. Ich bin bei der Zeitung, beim Herald.«
»Und?«
»Lebt Gloria Patterson noch?«
»Sie lebt noch, aber sie spricht mit den Toten.«
»Ich möchte gerne mit ihr sprechen. Sie wird sich an mich erinnern.«
»Warum sollte sie sich an Sie erinnern?«
»Ich bin Eden Douglass. Ich bin immer zu ihr gekommen. Ich kann mich auch noch an Ihren Vater, Ben, erinnern.«
Lupes Gesichtsausdruck wurde weicher. »Der arme Papa. Möge er in Frieden ruhen. Okay, aber ich verkaufe Ihnen nichts ohne Genehmigung.«
»Nein, das hat es nie gegeben«, sagte Eden.
»Und wenn Mama müde wird...«
»Dann gehe ich.«
Die Nachmittagssonne brannte gnadenlos, als Eden vor einem Metallzaun parkte, der einen ungepflegten Rasen umschloss. Ein bellender Köter schoss auf sie zu. Die Fensterläden am Haus waren geschlossen, und die Veranda brach unter dem Gewicht der Bougainvillea beinahe zusammen. Aufgebockte Autos standen im Hof, und ein gut aussehender junger Mann, vielleicht siebzehn Jahre alt, kam unter einem Chevy hervor und fragte, was sie wolle.
»Ich möchte zu Gloria Patterson. Lupe hat mir die Adresse gegeben.«
Er hielt den Hund fest und bedeutete ihr, sie könne das Tor aufmachen und nach hinten gehen. Hohes Gras streifte Edens Rocksaum, als sie den Weg zu einer Laube ging, die so von Weinlaub mit armdicken Stämmen überwuchert war, dass kein Sonnenstrahl durch das dichte Blattwerk drang. Von den Balken hingen gelbe Fliegenbänder voller toter Insekten herunter. Eden hörte ein schabendes, stoßendes Geräusch, und einen Moment lang schloss sie die Augen, um dem Rhythmus ihrer Kindheit zu lauschen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie eine winzige Frau, die an einem kleinen Tisch saß und in einem Mörser etwas zermahlte. Die Frau blickte nicht auf.
Mrs. Patterson war geschrumpft. Nur ihre Hände waren immer noch groß, mit kräftigen langen Fingern. Unbeirrt drehte sie den Stößel im Mörser. Ihre Haare waren schneeweiß und kurz geschnitten, fast so kurz wie Edens. Ihre Nase schien ins Gesicht gesunken zu sein, und ihre Augen waren von einem milchigen Schleier überzogen.
Lupe kam an die Hintertür und runzelte die Stirn, als sie Eden sah. Sie trat zu ihrer Mutter und sagte leise etwas auf Spanisch zu ihr.
Mrs. Patterson hielt in der Arbeit inne und bedeutete Eden, näher zu kommen. Sie berührte Edens Gesicht, ihre Haare. Ihre Finger waren so hart, dass Eden sich fragte, ob sie überhaupt etwas spürte. Eden sagte ihren Namen, und Mrs. Patterson verzog den Mund zu einem breiten zahnlosen Grinsen. »Setz dich her. Neben mich.« Sie sagte etwas auf Spanisch und fügte dann hinzu: »Lupe, etwas Kaltes zu trinken. Ein Bier, ja, Eden? Oder bist du auch Mormone wie dein Vater?«
»Ein Bier wäre toll.« Sie zog sich einen Schaukelstuhl neben Mrs. Patterson. »Ich arbeite für die Zeitung, Mrs. Patterson. Für den Herald. Ich würde gerne darüber schreiben, wie Sie zu so einer großartigen Köchin geworden sind, die ganz St. Elmo von ihrer Hintertür aus verpflegte.«
Lupe, die mit drei kalten Bier zurückkam, unterbrach sie. »Das ist nie geschehen. Unser Familienrestaurant ist das Zacateca.«
»Ist das Essen das gleiche? So wie früher...«
»Du warst damals ein Kind«, sagte Mrs. Patterson. »Es wird nie wieder etwas so sein wie damals.«
Das stimmte natürlich, und deshalb war Eden ja auch hier. »Sie waren ein Pionier, Mrs. Patterson. Heutzutage kaufen die Leute überall Essen zum Mitnehmen. Am Brigham Boulevard gibt es ein Lokal, wo man vorfährt und an einem Fenster einen Hamburger für fünfzehn Cents bestellt. Sie packen ihn in eine Papiertüte. Alle Hamburger sind schon vorbereitet. Es geht zwar schnell, aber es ist nicht befriedigend. Was Sie hingegen gekocht haben, war magisch.«
Mrs. Patterson wirkte erfreut. Lupe warf ihr einen misstrauischen Blick zu.
»Ich möchte gerne Ihre Geschichte und Ihre Rezepte im Herald veröffentlichen. Eines Tages«, fügte sie hinzu.
Mrs. Patterson und Lupe wechselten einige Worte in schnellem Spanisch. Schließlich sagte Lupe: »Die Geschichte ja. Aber die Rezepte nicht. Wenn die Leute gut essen wollen, müssen Sie ins Zacateca’s kommen. Wird das auch in der Zeitung stehen?«
»Ja.«
Gloria bedeutete Eden, sich zu setzen und einen Schluck Bier zu trinken. »Es ist eine gute Geschichte, Eden. Ich kam als Gloria Trujillo zur Welt, die Jüngste, das einzige Mädchen in einer Familie von Pferdedieben. Die Trujillos waren die besten Pferde- und Viehdiebe in Kalifornien. Sie waren...« Sie sagte etwas auf Spanisch zu Lupe, nickte und schloss die Augen.
Mit einem Küchenhandtuch verscheuchte Lupe die Fliegen. »Die Trujillos waren großartige Viehdiebe. Zwei Generationen. Sie kannten jeden Canyon, jeden Steg und Pfad von San Gabriel bis zur Wüste nach San Gorgonio. Sie kannten den Jesuitenpass wie ihre Westentasche. Keine Herde war vor den Trujillos sicher, wenn sie beschlossen, die Pferde und das Vieh haben zu wollen. Manchmal kamen sie nach St. Elmo und plünderten die Vorratslager der Eisenbahn. Sie führten ein sehr gefährliches Leben. Einer der Brüder meiner Mutter wurde 1894 oder’95 gehängt. Die Leute sagten immer, die Trujillos könnten einem das Pferd unter dem Hintern wegstehlen und man würde es erst merken, wenn man auf dem Boden landen würde. Aber dann hätten die Trujillos das Pferd schon längst verkauft und rauchten irgendwo unschuldig eine Zigarre.«
Lupe und Gloria lachten laut. »Das ist eine gute Geschichte«, wiederholte Gloria.
»Die kleine Ranch der Trujillos war da oben.« Lupe nickte ostwärts zu den Bergen hin. »Niemand hat sie jemals gefunden.«
»Fast niemand.« Mrs. Patterson verzog ihren zahnlosen Mund zu einem Lachen. »Meine Eltern hatten sechs Söhne, vielleicht auch sieben. Sie waren schon lange vor meiner Geburt erwachsene Männer. Harte Männer. Meine Brüder waren Schweine. Sie behandelten ihre Pferde besser als ihre Frauen oder Kinder. Sie waren auch meinem Vater gegenüber nicht loyal und bestahlen ihn. Ich kann es zwar nicht beweisen, glaube es aber trotzdem. Und dann kam ich zur Welt. Eine Überraschung! Ihr einziges Mädchen. Meine Eltern haben mich vergöttert. Unser kleines Geschenk, haben sie immer gesagt. Aber unter solchen Männern wie meinen Brüdern ist das Leben für so ein kleines Mädchen hart, und eines Tages, ich war vielleicht fünf oder sechs, geriet ich in eine Stampede, als meine Brüder Pferde jagten. Sie hatten mich nicht gewarnt. Meine Nase, mein Kinn...« Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Alles war kaputt. Mein Schädel war aufgeplatzt. Es gab keinen Arzt, zu dem wir gehen konnten, und meine Eltern dachten, ich würde sterben. Aber sie haben gebetet, und so habe ich überlebt. Nach dem Unfall war ich nicht mehr sehr klug. Ich brauchte lange, bis ich wieder sprechen lernte. Wegen meines Schädels, weißt du. Und mein Gesicht! Aber meinen Eltern war es egal. Ich war ihr Engel, ihr süßestes Gut.« Sie sagte zu Lupe etwas auf Spanisch, das Eden nicht verstand.
Lupe ging wieder in die Küche und kam wieder mit drei weiteren eiskalten Bierflaschen, dampfend frischen Tortillas, einem Berg gebratener Bohnen, scharfem Fleisch mit glänzend grünen Jalapeños und einer Schale mit Sauce, in der die Chilikörner wie kleine gelbe Augen schimmerten. Auf einem anderen Teller lagen goldene Tamales in Maisblättern.
»Iss etwas, Eden.« Gloria tätschelte ihr das Knie. »Ich gebe den Leuten gerne zu essen. Ich vertrage es nicht mehr so gut, aber ich schaue gerne anderen beim Essen zu. Du musst auch essen, Lupe. Eine Geschichte erzählt sich besser, wenn du nicht hungrig bist.«
Eden nahm sich vor, sich den Satz zu merken. Sie nahm eine warme Tortilla, löffelte Bohnen und Fleisch darauf, gab einen Klecks von der Sauce darüber und biss hinein. Der Schweiß brach ihr aus, und das kalte Bier prickelte ihr in der Kehle, als sie einen Schluck trank.
»Ich sehe unsere kleine Ranch immer noch vor mir.« Gloria seufzte. »Mein Vater hat sie in den Canyon gebaut, wo niemand sie finden konnte. Wir hatten eine gute Scheune, aber meine Brüder lebten mit ihren feigen Frauen in Hütten. Das Haus meiner Eltern war allerdings ein gutes Haus. Dort hat meine Mutter mir Kochen beigebracht. Nicht nur, wie man kocht und brät, sondern auch den...«
»Instinkt«, warf Lupe ein.
»Ja. Und eines Morgens kommen zwei meiner Brüder angeritten, und über einem dritten Pferd liegt gefesselt ein Mann, eigentlich noch ein Junge. Er blutet schlimm. Meine Brüder haben ihn erwischt, als er ihnen nachspioniert hat. Und wer ist der Junge? Madre de Dios! Es ist Ben Patterson, der nichtsnutzige Sohn von Richter Patterson.«
»Der arme Papa.« Lupe seufzte. »Dieses eine Mal hat er etwas richtig gemacht.«
»Er möge in Frieden ruhen.« Gloria schlug das Kreuzzeichen.
»Ehrlich, mein Papa war nie besonders klug«, sagte Lupe nachdenklich und trank einen Schluck Bier. »Aber er sah gut aus.«
»Er hatte blaue Augen«, sagte Gloria und lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück. »Goldene Haare und blaue Augen. Grübchen. Und einen Mund.« Gloria machte mit ihren schmalen, runzeligen Lippen einen Kussmund. »Und er hatte so ein schönes Lächeln. Obwohl meine Brüder ihm die Nase gebrochen hatten, war er wunderschön. Nie hat es einen so schönen Mann gegeben wie Ben Patterson.«
»Wie hat er Ihre Brüder gefunden?«
»Geld.« Gloria schaukelte und nickte. »Eines Abends hat er im Ferris Hotel etwas getrunken, und ein Mann da hat sich beklagt, dass die Trujillos sein Vieh gestohlen und ihn ruiniert haben. Ben zweifelte seine Männlichkeit an. ›Wer sind schon die Trujillos?‹, sagte er. ›Ein Haufen Mexikaner. Was für ein Weißer bist du, wenn du dein Vieh nicht von einem Haufen mexikanischer Pferdediebe zurückholen kannst?‹«
Gloria und Lupe lachten so heftig, dass Lupe die Tränen kamen.
»Und dann hat er das Lager der Trujillos gefunden«, fuhr Gloria fort. »Er fand das Vieh und das Versteck.«
»Der arme Papa. Die Trujillos haben ihn nämlich auch gefunden.«
»Natürlich haben sie ihn erst einmal zusammengeschlagen, aber ohne das Einverständnis meines Vaters konnten sie ihn nicht hängen. Also haben sie ihn gefesselt über das Pferd geworfen und ihn zum Ranchito gebracht. Mein Vater dachte an den Sohn, den Richter Patterson’95 hatte hängen lassen und sagte: ›Der Sohn von Richter Patterson wird das gleiche Schicksal erleiden wie mein Sohn, aber ich will nicht, dass meine Tochter dabei zuschaut. Bringt ihn in den Canyon hinunter, weit weg von hier und hängt ihn dort.‹ Aber meine Mutter sagte: ›Warte.‹«
Gloria Patterson lehnte sich zurück, holte tief Luft und schloss die Augen.
»Möchtest du dich ausruhen?«, fragte Lupe, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte. »Mama?«
»Nur einen Moment. Jetzt kommt der beste Teil.«
Gloria Patterson und ihre Töchter weigerten sich, ihre Rezepte und Küchengeheimnisse zu verraten. Um die einzigartigen Kombinationen zu schmecken, müssen Sie ins Zacateca’s nach St. Elmo gehen. Das Lokal befindet sich allerdings nicht mehr zwischen dem Pfandleihhaus und dem Schuster. Das neue Restaurant liegt am Caesar Chavez Boulevard. Es ist montags bis samstags von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends geöffnet und sonntags zum Lunch. Man kann nicht reservieren, also geht man besser früh dorthin. Falls Sie aber doch draußen warten müssen, gibt es eine Markise, die vor der Sonne schützt, und wunderschöne Mädchen bieten frischen Hibiskus-Eistee an. Es wird Ihnen sicher gefallen. Sie bekommen vielleicht ein bisschen Sodbrennen, aber es lohnt sich.
Eden, die später mit Mrs. Pattersons Gerichten, soweit sie sich daran erinnerte, experimentierte, gelang es nie ganz, den Geschmack ihrer Kindheit wiederzufinden. Aber was machte das schon?
Nehmen Sie ein billiges Stück Fleisch, Schwein oder Rind, und schmoren Sie es, gewürzt mit der unten angegebenen Mischung, bis es sich vom Knochen löst. Geben Sie das Fleisch in eine große Pfanne, fügen Sie 2 oder 3 fein gehackte Jalapeños hinzu und fein gehackte rote Zwiebel. Bei geringer Hitze gut verrühren, ein paar gehackte Tomaten und eine Mischung aus Koriander, Kreuzkümmel, Chilipulver und einer Prise Zimt hinzugeben. Auch etwas Salz. Den Deckel auf die Pfanne legen. Backen Sie rasch Maistortillas und halten Sie sie im Backofen warm. Mit gebratenen Bohnen, Salsa und Zutaten wie geriebenem Käse, gehacktem Zwiebelgrün oder saurer Sahne, obwohl sie nicht zu Glorias Tacos gehörte, servieren. Es spielt auch keine Rolle, was obendrauf ist, wichtig ist nur, was Gloria hineingetan hat.
MOMENTAUFNAHME
Gloria und die Methodisten
Señora Trujillo sagte zu ihrem Mann, es sei eine Sünde, einen Mann zu hängen, der nicht sprechen könne. Señora Trujillo war eine gut aussehende Frau, zäh wie Leder, aufrecht, die grauen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Sie sagte, sie müssten warten, bis der Patterson-Junge aufwachte. Vielleicht habe er ja noch letzte Worte zu sagen.
»Gut«, erwiderte ihr Mann und ging wieder zur Koppel. Señora Trujillo befahl ihren Söhnen, den Patterson-Jungen in die Scheune zu bringen und ihm einen Eimer Wasser ins Gesicht zu schütten, damit er aufwachte.
»Dürfen wir ihn dann hängen?«, fragten sie.
»Lasst mich mit dem blöden Gringo allein«, antwortete sie.
Benjamin Franklin Patterson erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit, und alles tat ihm weh. Señora Trujillo hielt sein Kinn, drehte sein blutiges Gesicht hierhin und dorthin und schaute ihm in den Mund, um sich seine Zähne anzusehen. Er schrie und begann zu winseln und zu jammern. Es war doch nur eine Wette gewesen! Er würde nichts sagen, kein Sterbenswörtchen, niemandem etwas erzählen. Gott, sie sollten ihn nur am Leben lassen! Señora Trujillo sagte ihm auf Spanisch, er solle den Mund halten, aber er plapperte in einer Tour weiter und flehte um sein Leben.
Seine Knöchel und seine Handgelenke waren immer noch gefesselt. Sie wusch ihm das Blut vom Gesicht, von der gebrochenen Nase, den zugeschwollenen Augen und den aufgeplatzten Lippen. Sie untersuchte seinen Schädel auf Verletzungen. Ihre Hände glitten über seinen Körper. Er wimmerte, weinte und schrie, versprach, nie wieder zu trinken oder zu wetten, und als Señora Trujillo ihm die Hose und die Unterhose aufknöpfte, kreischte er zum Gotterbarmen.
Gloria Trujillo, sechzehn Jahre alt, hörte diese Schreie in der Küche, wo sie gerade mit dem Stößel Gewürze im Mörser zerrieb. Aber sie unterbrach ihre Arbeit nicht.
Señora Trujillo knöpfte Bens Hose wieder zu. Sie ließ ihn liegen und ging ihren Mann holen.
Señor und Señora Trujillo musterten den blonden Gringo-Jungen, der immer noch weinte. Señor Trujillo sagte, dieser Junge bedeute das Ende ihres Lebens. Die Leute würden ihm folgen und ihn finden. Señor Trujillo wollte, dass er gehängt wurde.
»Und wenn sie das herausfinden, vernichten sie uns«, sagte Señora Trujillo. Ihr Mann versprach, ihn irgendwo zu vergraben, wo ihn niemand finden konnte.
Die ganze Zeit über blubberte und heulte Benjamin Franklin Patterson. Rotz und Speichel liefen ihm übers Kinn, und wenn er schluchzte, taten seine gebrochenen Rippen so weh, dass er aufschrie.
Señora Trujillo kippte einen weiteren Eimer Wasser über Ben Patterson. Zu ihrem Mann sagte sie: »Wir sind zu alt für dieses Leben. Es ist zu gefährlich für einen Mann deines Alters. Unsere Söhne sollen tun, was sie wollen. Biete dem Jungen den Handel an, Juan.«
Und sie boten Ben folgenden Handel an: Er konnte ihre sechzehnjährige Tochter Gloria heiraten, behindert, hässlich und zurückgeblieben wie sie war, oder sie würden ihn hängen.
Als sie die Scheune verließ, kam Señora Trujillo an ihren beiden Söhnen vorbei, die rauchend im Schatten der immergrünen Eichen saßen und den Strick für Ben Patterson vorbereiteten. Ihre barfüßigen Kinder spielten im Dreck, und ihre hundeäugigen Frauen brachten ihnen schlecht gekochtes Essen nach draußen. Señora Trujillo sagte ihren Söhnen, sie sollten einen Stuhl in die Scheune mitnehmen und den blöden Gringo-Jungen darauf festbinden.
In der Küche fand sie Gloria an dem langen Esstisch, immer noch damit beschäftigt, Kräuter zu zermahlen. Señora Trujillo strich ihrer Tochter die dunklen Haare glatt und lächelte in ihr zerstörtes Gesicht mit der zerschlagenen Nase und den hängenden rot geränderten Augen. Unverblümt - sie war eine unverblümte Frau - sagte sie ihr, wie viel Angst sie um sie habe.
»Wenn wir sterben, wird dich niemand mehr beschützen können«, sagte sie zu Gloria. »Du wirst kein Zuhause mehr haben. Deine Brüder werden dich nicht respektieren. Sie werden dich bestehlen, wie sie ihren eigenen Vater bestohlen haben. Du wirst die Sklavin ihrer Frauen sein, die nur wenig besser als Huren sind.« Señora Trujillo seufzte. Sie war von ihren Söhnen enttäuscht. »Seit Jahren bete ich um einen Ehemann für dich, Gloria. Aber wer will dich schon heiraten? Wer würde denn sehen, wie süß, wie schön du in Wirklichkeit bist? Mit dieser Nase? Diesem zerschlagenen Gesicht? Und jetzt ist hier dieser blöde Gringo-Junge, den Gott als Antwort auf die Gebete deiner Mutter geschickt hat. Jeder Ehemann, selbst so ein Gringo, ist besser als gar kein Ehemann. Zumindest wirst du verheiratet sein. Und dein Vater und ich können in Frieden sterben.«
Señora Trujillo sagte Gloria, sie hätten dem Jungen einen Handel angeboten; er hätte in die Hochzeit eingewilligt, aber die letztendliche Entscheidung läge bei Gloria. Ganz allein bei ihr. Wenn sie Benjamin Franklin Patterson nicht heiraten wolle, dann würden sie ihn hängen.
Gloria hielt in ihrer Arbeit inne, befeuchtete ihre Fingerspitze und probierte ihre Gewürze. Dann nahm sie den Mehlsack ab, den sie sich als Schürze vor ihren Rock gebunden hatte, und folgte ihrer Mutter aus dem Haus, durch den Garten, an ihren mürrischen Brüdern und ihren neugierigen Frauen vorbei in die Scheune, wo ihr Vater mit Benjamin Franklin Patterson, der an einen Stuhl gebunden war, wartete.
Ihr Vater wiederholte noch einmal, dass es ganz allein ihre Entscheidung sei. Sie konnte ihn heiraten, musste aber nicht.
Gloria Trujillo trat auf Ben Patterson zu. Seine Nase war gebrochen. Wie ihre. Sie berührte sie, und er zuckte zusammen. Sie schob ihm die blonden Haare aus der Stirn und blickte in seine blauen Augen, die langsam begannen, zuzuschwellen. Seine Lippen waren blutig, aufgeplatzt und geschwollen. Er hatte einen Stoppelbart. Er war das Schönste, was Gloria je in ihrem Leben gesehen hatte, abgesehen von der Porzellanpuppe, die ihr Vater ihr einmal aus Mexiko mitgebracht hatte. Sie sagte, sie wolle ihn heiraten.
Es ging alles ganz schnell. Ein Pfarrer wurde geholt, und in der Zwischenzeit schlachteten Glorias Brüder eins der gestohlenen Rinder für ihr Hochzeitsessen.
Als der Priester, Frank Callahan, wieder nach St. Elmo zurückging, hatte er einen Brief an Richter und Mrs. Patterson von ihrem Sohn Ben dabei. Die Wette im Ferris Hotel wurde darin nicht erwähnt. Ben schrieb seinen Eltern nur, er sei ausgeritten, sein Pferd habe gescheut und ihn abgeworfen, er sei verletzt gewesen und würde jetzt von einer Familie gepflegt, die ihn vor dem sicheren Tod gerettet habe. Er habe sich auf den ersten Blick in ihre schöne Tochter verliebt und sei jetzt ein verheirateter Mann.
Ein paar Monate später, im Herbst 1902, fuhren Mr. und Mrs. Benjamin Franklin Patterson in St. Elmo ein. Sie saßen in einer Kutsche, ein Geschenk von den Eltern der Braut, gezogen von einem Paar prächtiger Pferde, die von einer Ranch in der Nähe von San Gabriel gestohlen worden waren. Die Kutsche war an einem weiter entfernten Ort gestohlen worden. Hinten an der Kutsche war ein Stutfohlen angebunden, sodass Ben seine Wettschulden begleichen konnte. Sie fuhren zum Haus von Richter und Mrs. Patterson.
Im Familiensalon der Pattersons brach Mrs. Patterson in Tränen aus. Ben saß neben Gloria und hielt seinen Hut in den Händen. Gloria lächelte ihr schiefes Lächeln. Schließlich war sie eine Braut. Der Richter lehnte am Kamin. Ernst versicherte er Ben, die Heirat sei nicht rechtskräftig und könne annulliert werden.
Ben sagte, das glaube er nicht. Pfarrer Callahan sei ein richtiger Priester.
Richter Patterson sagte, sie könnten sich ja scheiden lassen. Ben lehnte ab.
Richter Patterson fragte seinen Sohn: »Willst du wirklich in eine Familie mexikanischer Pferdediebe einheiraten? Was für ein Weißer bist du eigentlich?« Und dann sagte der Richter noch, wenn Ben bei Gloria bliebe, würden die Pattersons ihn enterben. War ihm dieses zurückgebliebene Mädchen wichtiger als seine Mutter und sein Vater?
Ein Mädchen, das von Pferden niedergetrampelt worden ist, ist einem Haufen Methodisten sicher gewachsen. Gloria war hässlich, aber sie war nicht zurückgeblieben, und obwohl jahrelange körperliche Schmerzen sie still gemacht hatten, ließ sie sich nicht einfach herumschubsen. Und blöd war sie ganz gewiss nicht. Gloria stand auf und zog Ben am Ellbogen. Auch er erhob sich.
Gloria sagte: »Wir haben einander, das ist genug. Vor den Augen Gottes sind wir verheiratet. Ich liebe diesen Mann. Ich werde ihn lieben bis zu dem Tag, an dem ich sterbe. Das werden Sie nicht ändern. Nichts kann das ändern.«
Gloria Trujillo Patterson hielt ihr Wort, und Ben hielt seins ebenfalls, obwohl es ihm nicht gelang, wirklich für sie und ihre sieben Kinder zu sorgen. Ständig wechselte er von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Und schließlich gab er es ganz auf und blieb zu Hause bei seiner Frau, die irgendwann begann, Tortillas mit Fleisch und Bohnen aus ihrer Küche zu verkaufen, sodass alle Welt an ihre Hintertür kam.
5
I m Sommer 1946 wurde auf den Frauenseiten des Herald mit keinem Wort erwähnt, dass auf der jährlichen Wohltätigkeitsveranstaltung der methodistischen Ladies’ League verdorbene Shrimps serviert worden waren. Und auch auf den Männerseiten, sprich im Rest der Zeitung, wurde nicht darüber berichtet.
Trotzdem wusste jeder, dass Krankenwagen vorgefahren waren, dass Miss Winifred Merton und etwa dreißig andere ehrenwerte Damen ins Krankenhaus gebracht worden waren, wo man ihnen lange Schläuche in die Nase schob und ihnen unter Würgen, Erbrechen und Tränen den Magen auspumpte. Miss Merton, die schon unter normalen Umständen dünn war, litt ganz besonders; Shrimps gehörten zu ihren Lieblingsspeisen. Ihr Arzt verordnete ihr eine zehntägige Bettruhe. Winifred Merton hatte erst ein einziges Mal in ihrem Leben auf der Arbeit gefehlt, als sie 1919 der Grippe erlegen war.
In diese Lücke stieß Eden Louise Douglass, furchtlos und verwegen.
Als die Leser des Herald am Montag die Zeitung aufschlugen, fanden sie ein langes Feature über Gloria Patterson, die zwar behindert, aber nicht zurückgeblieben war, und über einen jungen Mann, der lieber geheiratet hatte, als sich hängen zu lassen. Im Zacateca’s bekam jeder Leser, der diesen Artikel mitbrachte, zehn Prozent Rabatt.
Die ganze Woche schrieb Eden Douglass ihre Geschichten über das Bojo’s, über die Nachfahren von Mr. Kee, die ein kleines Restaurant betrieben, das Red Dragon hieß. Sie lieferten das Rezept ihrer köstlichen Karotten-Ingwer-Suppe, das in der Zeitung abgedruckt wurde.
Eden veröffentlichte das Rezept von Sally Epps’ Bis-nach-Memphis-berühmte-Barbecue-Sauce und erzählte die Geschichte von ihrem Treck von Arkansas nach Kalifornien, bei dem sie unter den Banken, schlechtem Wetter und Hunger litten. Die Familie Epps war vom Hunger getrieben worden, seit die ersten Epps 1848 aus Irland geflohen waren. Selbst Afton Lance musste dem Mut dieser Familie mürrisch Respekt zollen, als sie die Geschichte las. Und als sie ihre eigenen Rezepte und die Familiengeschichten, die Eden aufgeschrieben hatte, gedruckt sah, errötete sie vor Stolz, obwohl sie solche Gefühle leugnete.
Auf den Frauenseiten des Herald standen auf einmal Artikel über die ehemals florierende Gemeinde japanischer Gemüsehändler. Eden hatte Mr. Yamashita ausfindig gemacht, der seinen kleinen Laden nach dem Film Die grüne Göttin benannt hatte. Das Geschäft gab es schon lange nicht mehr, es war geschlossen worden, als Mr. Yamashita mit den anderen Japanern in St. Elmo bei Kriegsausbruch in ein Internierungslager hoch im Norden gekommen war. Manche waren zurückgekehrt, andere nicht. Mrs. Yamashita weigerte sich, mit Eden Douglass über Die grüne Göttin oder irgendetwas anderes zu sprechen.
Die ganze Woche klingelte ununterbrochen das Telefon auf Edens Schreibtisch, aber sie ging nicht dran. Sie wusste, dass es Miss Merton war. Bettlägerig zwar, aber nicht hinfällig.
Miss Merton rief auch Victor Levy an und erinnerte ihn in scharfen Worten an seine Pflicht als Chefredakteur. Sie verlangte von ihm, Eden Douglass unverzüglich zu entlassen. Aber Victor weigerte sich. Seine Frau hatte ihm erklärt, die Angelegenheit ginge nur Winifred Merton und Eden Douglass an, und am Ende würde er eine von beiden los sein. Das leuchtete Victor ein.
Am Freitagnachmittag betrat Winifred Merton dünner und grimmiger denn je die Redaktion des Herald. Sie kam aus dem Aufzug, und während sie langsam durch den riesigen Saal schritt, schwiegen alle Schreibmaschinen. Da Eden nicht sehen konnte, was in der Redaktion vor sich ging, tippte sie eifrig weiter, und schließlich klapperte nur noch ihre Schreibmaschine. Leise Angst stieg in ihr auf. Sie dachte an die Fliegerbomben im Krieg und zählte bis zehn.
Winifred Merton trat an ihren Schreibtisch, der Edens gegenüberstand. Sie berührte die Rose, die in ihrer Abwesenheit verwelkt war. »Sie halten sich bestimmt für besonders schlau«, begann sie. »Wie fortschrittlich Sie doch sind! Sie applaudieren der Küche von Negern, Mexikanern und Chinesen auf meinen Seiten, schreiben über Arkies und Japse und Ihre eigene Familie.«
»Es sind die Frauenseiten, Miss Merton. Nicht Ihre und auch nicht meine«, erwiderte Eden gleichmütiger, als sie sich fühlte. Sie stand auf, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.
»Ich halte Sie nicht für besonders schlau. Ich rate Ihnen, sich davonzumachen. Am besten jetzt, solange Sie noch können.«
»Sie können mich nicht feuern, Miss Merton.«
»Ich feuere Sie nicht.« Ihre Stimme war ruhiger als ihre Hände. »Benutzen Sie Ihren Verstand, auf den Sie so stolz sind, Miss Douglass. Verschwinden Sie aus dieser Redaktion. Verschwinden Sie aus der Branche. Verschwinden Sie aus dieser Stadt. Heiraten Sie. Gehen Sie aufs College. Tun Sie etwas. Gehen Sie. Leben Sie, Miss Douglass! Aber verschwinden Sie um Himmels willen von hier! Jetzt! Bevor Sie sich an mitleidige Leute binden, die Ihnen nie etwas anderes als Mitleid oder vielleicht sogar Verachtung entgegenbringen werden. Verschwinden Sie, bevor Sie unauflöslich den Konventionen verhaftet sind, die Sie so sehr verabscheuen. Glauben Sie wirklich, dass Sie sich in ein paar Jahren den Respekt dieser Zeitung verdient haben? Glauben Sie, Sie gehören dann zu denen da?« Sie hob ihren knochigen Finger und zeigte auf die Männer in der Redaktion, die nach Zigarettenqualm stinkende, hemdsärmelige Brigade. »Vielleicht in zehn Jahren? In zwanzig? Glauben Sie, 1966 steht Ihr Name über einem Artikel, der nicht von einem Rezept oder einem gesellschaftlichen Ereignis handelt?« Miss Merton stieß ein ungeübtes, trockenes Lachen aus. »Sie sind zwar eine Närrin, aber so dumm können selbst Sie nicht sein. Glauben Sie wirklich, Sie seien eine so hervorragende Journalistin, dass Ihr Talent Sie aus dieser Ecke herausträgt? Dass Sie einen Schreibtisch in der Redaktion bekommen? Dass Sie für die Welt schreiben werden?«, fügte sie heftig hinzu.
»Martha Gelhorn tut es ja auch. Dorothy Thompson...«
»Ach, halten Sie doch den Mund, Mrs. Ernest Hemingway. Mrs. Sinclair Lewis, Sie kleine Närrin. Benutzen Sie Ihren Verstand! Benutzen Sie Ihre Augen! Sehen Sie mich an! In meinen Adern fließt Tinte, das kann ich Ihnen versichern! Seit dem Tag meiner Geburt atme ich Zeitungsluft. Meinem Vater hat die Gazette gehört, die erste Zeitung, die es in dieser Stadt je gegeben hat. Mein Vater hat die erste Druckerpresse nach St. Elmo gebracht. Wir kamen im gleichen Jahr hier an, als die Eisenbahn fertig gebaut war. Wir schliefen bei der Presse im Frachtwaggon, so wichtig war uns die Zeitung. Die Konkurrenz hatte meinen Vater aus Missouri, Texas und Arizona vertrieben, aber als er hier ankam, wusste er, dass das der richtige Ort war. Wie Brigham Young sagte auch er: Das ist der Ort! Und es stimmte. Mein Vater konnte so schnell setzen, dass man seine Hände kaum sah. Er brachte es mir bei, damit ich ihm helfen konnte. Meine Mutter hasste die Zeitungsbranche. Sie verließ ihn. Sie versuchte, mich mitzunehmen, aber ich wollte nicht. Ich liebte die Zeitung mehr als meine Mutter. Mehr als meinen Vater oder jeden anderen Mann. Ich liebte das Geräusch der Druckerpresse, den Geruch nach heißem Metall und nach Tinte. Ich liebte, was die Zeitung der Stadt, jeder Stadt brachte. Den Segen einer freien Presse!« Miss Merton war außer Atem. Voller Leidenschaft schlug sie mit der Faust auf ihren Schreibtisch. »Ich lebte für diese Zeitung. Lebte und atmete nur für sie, sie war meine Daseinsberechtigung. In einem Alter, in dem andere Mädchen noch mit Puppen spielten, schrieb ich schon für die Zeitung.« Sie trat auf Eden zu und schrie: »Wissen Sie, wovon ich rede, Miss Douglass?«
»Ja.« Eden wandte den Blick nicht ab.
Miss Merton wich wieder zurück und fuhr schwer atmend fort: »Und dann starb mein Vater, mein nutzloser Bruder ließ mich im Stich, und ich musste die Gazette zumachen. Die Besitzer des Herald kamen nach St. Elmo, wollten meine Druckerpressen, meine Abonnenten, und ich verkaufte sie ihnen. Aber nur unter der Bedingung, dass ich beim Herald arbeiten konnte. Und das tue ich. Oder?«
»Ja, Miss Merton.«
»Haben sich meine Träume nicht erfüllt, Miss Douglass? Bin ich nicht erfolgreich? Schwelge ich nicht jeden Tag in Erfüllung? Antworten Sie mir!«
Aber das konnte Eden nicht.
»Glauben Sie wirklich, dass ich so werden wollte? Glauben Sie, es war mein Ehrgeiz festzuhalten, wer wohin gegangen ist, was sie anhatten und wie reizend das Unterhaltungsprogramm war, und dass Mr. und Mrs. Methodist am Freitag zum Tee einladen?« Vorsichtig zog sie die verwelkte Rose aus der Vase und ließ sie in den Papierkorb fallen. »Glauben Sie wirklich, dass mich das interessiert? Haben Sie keine Fantasie? Auch Sie werden eines Tages alt sein, Miss Douglass. Wollen Sie so jämmerlich enden wie ich? Wollen Sie das?«
Eden schwieg, aber sie machte instinktiv eine Bewegung auf Winifred Merton zu, die jedoch zurückwich, als sei sie bereits ein Gespenst und die Wand könne sie schlucken. In der Redaktion war es totenstill. Eden drehte sich um und betrachtete die Männer, die feixend an ihren Schreibtischen saßen.
»Ich weiß nicht, was aus mir wird, Miss Merton. Aber ich werde nicht hierbleiben.«
»Gut. Das ist gut für Sie, Eden.«
»Leben Sie wohl, Miss Merton.«
»Leben Sie wohl, Eden. Viel Glück. Ich freue mich darauf, große Dinge von Ihnen zu hören, was immer Sie auch tun werden.«
Eden ließ das Blatt Papier, das sie in die Schreibmaschine eingespannt hatte, stecken, ging quer durch die Redaktion zum Aufzug und blieb dort stehen, den Rücken dem einen Traum zugewandt, unsicher, was sie als Nächstes erwartete. Noch bevor die Türen des Aufzugs zischend auseinanderglitten, wurden Stühle gerückt und das Klappern der Schreibmaschinen setzte erneut ein: Alle machten sich wieder an die Arbeit.