TEIL I
Sauerteig
1952

1

Nach dem Krieg. 1952 war selbst diese Redewendung Vergangenheit, und ganz gewiss im sonnigen Südkalifornien, das ungeduldig in die Zukunft blickte. Das galt auch für Eden Douglass. Die Hoffnung auf ein Leben mit Logan Smith war erloschen, als ob Jahrzehnte sie trennten, nicht nur Jahre. Wenn sie überhaupt noch an Logan dachte, schien er ihr so fern wie eine Gestalt in einem Buch, das sie einmal gelesen hatte. 1952 hatte für Eden ein neues Kapitel ihres Lebens begonnen.
Die Columbia First National Bank beanspruchte ihr Taktgefühl, ihre Zeit und ihre Intelligenz, aber ihre Wochenenden und Abende, ihr Geld und ihr Leben gehörten ihr. Sie mietete sich ein Apartment direkt hinter dem Venice Boulevard in Los Angeles, konnte tun und lassen, was sie wollte, und brauchte niemanden um Erlaubnis zu fragen. Sie brauchte keine Männerstirn zu glätten, nicht über Kinderknie zu pusten oder schlecht gekleidet herumzulaufen, weil alles Geld in Waschmaschine, Kühlschrank oder sonstige Haushaltsgeräte gesteckt wurde. Eden brauchte keine Hypothek abzubezahlen, keinen Rasen zu mähen, keinen Zaun zu streichen und noch nicht einmal ein Auto zu finanzieren. Sie fuhr immer noch Annies alten Cord Cabrio mit seinem verblassten Vorkriegscharme, während ihre verheirateten Freundinnen in dicken Limousinen mit großen runden Scheinwerfern herumfuhren, die Eden immer an überfütterte Fische erinnerten.
Sie hätte zahlreiche Kriegsveteranen heiraten können, die ebenfalls 1950 auf der UCLA Examen machten. Sie machte ihren Abschluss in Betriebswirtschaft und schob jeden Gedanken an Martha Gelhorn energisch beiseite. Die ernsthafteste Liebesaffäre hatte sie mit Ray, einem Ingenieur, der sie heiraten wollte. Er bekam einen guten Job bei Lockheed und wollte ein Haus in Lakewood bauen; er versprach ihr ein gutes Leben. Sie lehnte jedoch ab, weil sie ihn nicht liebte - auch wenn sie es oft zu ihm gesagt hatte, an den Samstagabenden, wenn sie miteinander ins Bett gingen. Sie lehnte ab, weil Ray ihre Seele nicht berührte. Als Afton ihr Vorwürfe machte, dass sie ihre Chance zum Heiraten vertan hätte, weil sie auf den unmöglichen Mann wartete, lächelte Eden nur, legte ihr den Arm um die Schultern und sagte: »Wer weiß schon, was alles möglich ist?«
Als Eden Douglass sich dann verliebte, war sie selber überrascht von der Schnelligkeit, der Gewissheit und der Intensität. Und als es eintrat, lag sie in einer Pfütze aus Kaffee und Schlamm und hatte sich schlimm die Hand verbrannt. Wenn es nicht so wehgetan hätte, wäre es schrecklich komisch gewesen.
 
Eden Douglass wuchtete einen riesigen Kaffeetopf mit zwei Henkeln von der Kochstelle. Auf Annies panischen Hilfeanruf hin war sie an diesem Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe losgeeilt, um bei Oasis auszuhelfen, weil Annies Personal mal wieder nicht erschienen war. Annie trug die Kaffeekanne über den Rasen einer ehemaligen Picknick-Fläche der Greenwater Ranch, einer Filmlocation für Western. Cowboys, Stuntmen, Schauspieler und das gesamte Team aßen an den Tischen, die verstreut unter Eukalyptusbäumen und immergrünen Eichen standen, zu Mittag. Die Luft war erfüllt von Fliegen und lebhaften Gesprächen, von Lachen und Zigarettenrauch, dem Geruch nach Pferden und Pferdeäpfeln, die in der Sonne trockneten.
Eden überquerte gerade die weite, freie Fläche, als sie plötzlich hinter sich das Donnern von Hufen hörte, einen Luftzug spürte, und noch bevor sie sich umdrehen konnte, bekam sie einen Schlag auf den Hintern. Sie stolperte, die Kanne flog ihr aus der Hand, aber instinktiv griff sie mit der anderen Hand danach und schrie laut auf, als sie sich die Handfläche an dem heißen Metall verbrannte, bevor sie mit dem Gesicht zuerst in den Tümpel aus Schmutz und Kaffee fiel. Ihr blieb die Luft weg; und als sie sich würgend und spuckend umdrehte, konnte sie zuerst nichts sehen. Aus ihrer Lippe rann Blut. Eden spürte, dass jemand ihr den Arm um die Schultern legte. Ein Mann kniete neben ihr und stützte sie, als er sie aufrichtete.
»Der verdammte Hurensohn! Verdammt noch mal! Der Hurensohn!«
Er wischte ihr Schmutz und Kaffee vom Gesicht und aus den Haaren. Sie spuckte Erde und Blut aus. »Meine Hand«, sagte sie und umklammerte ihr linkes Handgelenk.
»Ist sie verbrannt? Der Hurensohn!«
»Hier, Matt«, sagte jemand. »Hier ist ein Tuch.«
»Und hier ist etwas Wasser.«
Matt feuchtete das Tuch an und wischte ihr Erde, Blut und Kaffee von Nase und Lippen. »Können Sie die Augen aufmachen?«
Blinzelnd öffnete Eden die Augen, und er wischte den Schmutz heraus.
»Es ist nicht so schlimm«, sagte Eden, obwohl es sich schlimm anfühlte.
Sanft säuberte er ihr Gesicht. Dann blickte er auf und fragte: »Wer war das?«
Das wusste niemand. Oder sie wollten es nicht sagen.
»Derjenige, der das für lustig gehalten hat, soll sein Pferd nehmen, sich sein Geld abholen und verschwinden. Mir ist egal, wer der Produzent ist, das ist immer noch mein Grund und Boden.« Er wandte sich wieder Eden zu. »Sie werden es überleben, oder? Es wird schon wieder gut.«
Trotz ihres Schocks und der Schmerzen ging Eden unwillkürlich durch den Kopf, dass er recht hatte. Sie konnte zwar noch nicht sprechen, aber es würde schon wieder gut werden. Er hielt sie fest im Arm. Er hatte volle Lippen, Stoppeln am Kinn, eine schmale, gerade Nase und olivfarbenen Teint. Seine Augen waren dunkel.
»Versprechen Sie mir, dass Sie überleben.«
Eden spuckte Erde aus. »Ich verspreche es.«
Und tief in ihr entzündete sich ein Funke, der für den Rest ihres Lebens glühen sollte.
 
Als Eden am Montag darauf in ihrem Cabrio zur Bank fuhr, trug sie wie immer ein Tuch über ihren kurzen Haaren und eine Sonnenbrille. Heute verbargen die dunklen Gläser die Schwellungen und dunklen Verfärbungen um ihre Augen. Ihre geschwollene Lippe konnte sie nicht verbergen, und eine eitlere Frau wäre sicher zu Hause geblieben. Die linke Hand war dick verbunden und schmerzte höllisch. Sie erntete mitleidige und neugierige Blicke, als sie die Bank betrat, und sie hatte sich schon vorgenommen zu sagen, sie sei vom Pferd gefallen.
Eden Douglass trat in ihr Büro, wo ein kleines Namensschild auf ihrem Schreibtisch stand. Auf der undurchsichtigen Glastür, die ihr Vorzimmer vom Büro des Abteilungsleiters trennte, stand Mr. Brocks Name in Druckbuchstaben. Sekretärinnen bekamen bloß Namensschilder auf dem Schreibtisch, weil sie kamen und gingen. Sekretärinnen, wie Mr. Brock sie oft neckte, heirateten und blieben danach zu Hause, sodass die Bank all das Geld für ihre Ausbildung vergeudet hatte.
Ein Affe könnte ihren Job machen, dachte Eden oft. Ja, gut, ein außergewöhnlicher Affe. Die meisten Affen beherrschten kein Steno. Eden ärgerte sich ein wenig darüber, dass ihre Stenokenntnisse für die Bank wichtiger waren als ihr hervorragender Abschluss in Betriebswirtschaft an der UCLA. Die Bank hatte auch wissen wollen, ob sie Schreibmaschine schreiben könne. Ja, hatte Eden wahrheitsgemäß geantwortet, sie tippe seit ihrem zwölften Lebensjahr. Ob sie mit einer Telefonanlage umgehen könne? Da hatte sie gelogen und mit Nein geantwortet, weil sie nie wieder Kopfhörer aufsetzen und endlos denselben Satz wiederholen wollte. Als Chefsekretärin musste sie Walter Brock vor ermüdenden Details schützen, aber er traf natürlich die Entscheidungen. Sie tippte die Dokumente, nahm die Anrufe für ihn entgegen, organisierte seine Termine und erfand, wenn nötig, Ausreden für ihn. Manchmal kam sie sich vor wie ein Wachhund in hochhackigen Schuhen.
Von ihrem Schreibtisch aus konnte sie das gesamte erste Stockwerk überblicken. Die Columbia First National Bank war ausgestattet wie ein Geldtempel, mit hohen Decken, Messingstangen, die die Angestellten von den Kunden trennten, Marmortheken mit Füllern und Tintenfässchen, die täglich neu gefüllt wurden. Hohe Fenster aus Buntglas zeigten Schiffe und Eisenbahnen und warfen farbige Flecken auf den Marmorfußboden. Alles strahlte Wohlstand und Gediegenheit aus, und Eden freute sich an den Mustern, die das Sonnenlicht malte.
Sie war jetzt seit beinahe zwei Jahren hier. Der Job hatte Sicherheit und Aufstiegsmöglichkeiten versprochen, wobei Letzteres allerdings noch nicht eingetreten war. Vielleicht hatte sie es ja missverstanden. Aber sie war eine vorbildliche Sekretärin und hatte bereits eine Gehaltserhöhung bekommen. Sie verdiente jetzt zweihundertfünfundziebzig Dollars im Monat. Diese Ehre hatte ihr lächelnd der teiggesichtige Banddirektor, Mr. Webber, höchstpersönlich mitgeteilt, während Mr. Brock und die unglaublich dünne Miss Franklin danebenstanden. Die kleine Zeremonie fand in Mr. Webbers Büro im zweiten Stock statt, in dem es nach Zigarren und Möbelpolitur roch. Mit hochrotem Kopf lobte Mr. Webber Edens Intelligenz, ihren Fleiß und ihre Fähigkeit, grammatisch und orthografisch einwandfreie Briefe zu schreiben! Die meisten Sekretärinnen konnten nicht vernünftig schreiben, und Mr. Webber meinte, nur Miss Franklin könne es besser.
Miss Franklins schmale Lippen verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns.
Miss Abigail Franklin war wahrscheinlich die mächtigste Person in der Bank. Auf Mr. Webber war nach langen Mittagessen mit viel Alkohol kein Verlass mehr, und dann war eigentlich Miss Franklin die Direktorin. Mr. Webber verließ sich in jeder Beziehung auf sie, auf ihr Urteil, ihren Scharfsinn, ihre unerschütterliche Loyalität. Unter den jüngeren Angestellten war vor allem die letzte Eigenschaft Gegenstand heimlicher Heiterkeit, weil sie vermuteten, dass Miss Franklin, mit ihren grauen Haaren und ihren schmalen, zusammengekniffenen Lippen, jahrelang in unerfüllter Liebe zu Mr. Webber entbrannt war. Sie machte sein Leben besser, leichter und glücklicher. Sie suchte sogar seine Geburtstagsund Hochzeitstagsgeschenke aus. All das tat sie für dreihundert Dollars im Monat. Sie war eine weitere Winifred Merton, und dieses Schicksal wollte Eden auf keinen Fall erleiden.
Weitere Gefahren lauerten bei der Bank, Schicksale, die Eden ebenfalls keineswegs erleiden wollte. Gerüchte, Anspielungen, sexuelle Andeutungen. Eine der größten Gefahren stellte Mr. Brock selber dar, der die Finger nicht von den jungen, hübschen Bankangestellten lassen konnte. Seine letzte Sekretärin hatte die Flucht ergriffen, bevor ihr Ruf völlig ruiniert war.
Walter Brock war Mitte vierzig und besaß noch so viel Schwung wie 1930, als er kalifornischer Tennischampion gewesen war. Er spielte immer noch Tennis, aber sein Drang zu gewinnen erstreckte sich nur noch auf Frauen. Flirten schien für ihn eine sportliche Disziplin zu sein. Er betatschte Eden zwar nicht, machte aber ständig Andeutungen. Wenn er mit ihr essen ging, setzte er sich immer zu dicht neben sie.
»Sie wissen gar nicht, wie bezaubernd Sie sind, nicht wahr?«, sagte er lächelnd, als sie bestellt hatten. »Das gefällt mir. Ein Mädchen, das nicht weiß, wie faszinierend es ist. Ich möchte Sie gerne besser kennenlernen.«
Für wie blöd hältst du mich eigentlich, du eitler Fatzke, dachte Eden. Laut sagte sie: »Mr. Brock, bitte zwingen Sie mich nicht, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie ein verheirateter Mann sind. Wir beide arbeiten zusammen, aber mehr kann zwischen uns leider nicht sein.«
»Aber Sie möchten es gerne, oder? Sie waren doch beim Frauenhilfskorps. Sie sind bestimmt sehr abenteuerlustig.« Sein Knie drückte sich an ihres. »Nennen Sie mich doch zumindest beim Vornamen. Bitte, Eden, wenigstens das. Vergessen Sie das Büro, und nennen Sie mich Walter.«
Danach nannte Eden ihn Walter. Aber sie vergaß das Büro nicht, und das Mittagessen hatte keine Folgen, ebenso wenig wie seine ständige Aufforderung, die Tür hinter sich zu schließen, wenn er ihr einen Brief diktieren wollte.
Als sie an diesem Montag verletzt und mit verbundener Hand ihrem Chef eine Tasse Kaffee brachte, rief er bei ihrem Anblick erschreckt aus: »Du lieber Himmel! Was ist denn mit Ihnen passiert? Haben Sie einen Unfall gehabt?«
»Sozusagen. Ich bin vom Pferd gefallen.«
Er blickte auf ihre verbundene Hand. »Können Sie denn noch Schreibmaschine schreiben?«
»Wenn Sie wissen wollen, ob ich meine Arbeit noch tun kann, natürlich.« Ich könnte sogar noch deinen Job mit erledigen, dachte Eden, ohne eine Miene zu verziehen.
In diesem Moment klopfte es an ihre Bürotür, und ein Mann trat in ihr kleines Vorzimmer. Er war nicht groß, aber kräftig und strahlte förmlich vor Lebensfreude. Er trug ein Jackett mit breiten Aufschlägen, eine Hose mit messerscharfer Bügelfalte und Cowboystiefel. Zuerst erregten die Cowboystiefel ihre Aufmerksamkeit, aber dann blickte sie ihm ins Gesicht. Er hatte dunkle Haare, feste, lockige Haare, seine Nase war schmal und gerade, und seine Haut leicht gebräunt. Er hatte einen sinnlichen Mund, und sein Lächeln war strahlend und arglos. »Eden Douglass?«, sagte er.
»Ja.«
Er zog einen üppigen Blumenstrauß hinter dem Rücken hervor, rote Löwenmäulchen, wilde Sonnenblumen und welkende Mohnblüten. Die Stiele waren locker mit einem blauen Band zusammengebunden. Er legte den Strauß, der nach Feldern und Wiesen duftete, auf ihren Schreibtisch.
»Ich habe sie selber gepflückt. Heute Morgen. Vielleicht wäre ich besser in einen Blumenladen gegangen, aber...« Er wies auf den Strauß. »Wer will schon Blumen, die im Kühlschrank gelegen haben? Entschuldigen Sie mein Eindringen, bitte, aber ich wollte mich persönlich bei Ihnen entschuldigen. Der Cowboy, der Sie auf den... der Sie geschlagen hat, darf auf Greenwater nicht mehr arbeiten, das habe ich Monogram Pictures gesagt. Er hat sich ziemlich daneben benommen.« Er schwieg, und seine Miene hellte sich auf. »Aber er hat keinen schlechten Geschmack.«
»Cowboy?«, sagte Walter Brock.
»Er ist noch ein Junge, Miss Douglass, ein Trickreiter, der seine eigene Kraft noch nicht einschätzen kann. Er meinte, Sie hätten einen tollen Hintern, und er bittet Sie um Verzeihung. Er konnte nicht anders, und es täte ihm leid, weil er Sie natürlich nicht verletzen wollte. Er wollte nur ein bisschen angeben. Na ja, auf jeden Fall arbeitet er nicht mehr auf Greenwater.« Er wandte sich an Brock und schüttelte ihm die Hand. »Matt March. Mir gehört die Greenwater Movie Ranch am nördlichen Ende des Tals. Sie kennen sie bestimmt. Alle Western und Westernserien sind bei mir gedreht worden - na ja, vielleicht nicht alle, aber viele. Auch viele andere Filme. Mögen Sie Western?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder Eden zu. »Der Tierarzt hat gesagt, Sie kämen wieder in Ordnung. Waren Sie beim Arzt?«
»Der Tierarzt?«, fragte Eden.
»Können Sie sich nicht mehr erinnern, dass Les mit Ihnen geredet hat? Les Doyle ist eigentlich kein Tierarzt, sondern einer der besten Stuntmen in der Branche. Er kennt sich mit Tieren aus. Er hat Ihnen die Tablette gegen die Schmerzen gegeben, bis Annie Sie zum Arzt bringen konnte. Es war zwar ein Pferdemittel, aber er hat die Tablette natürlich in der Mitte auseinandergebrochen. Sonst wären Sie wahrscheinlich immer noch nicht wieder bei sich.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Les hat Sie gefragt, ob Sie ohnmächtig würden, aber Sie haben gesagt, Soldatinnen fielen nicht in Ohnmacht. Und dann sind Sie ohnmächtig geworden.« Matt March wandte sich erneut an Walter Brock. »Allerdings nicht lange. Dieses Mädchen ist hart im Nehmen.« Zu Eden sagte er: »Ich habe Annie heute früh angerufen, um mich nach Ihnen zu erkundigen, und sie hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann. Ich dachte, ich komme persönlich vorbei, um mich zu entschuldigen, und lade Sie zum Mittagessen ein.«
»Jetzt ist noch keine Mittagspause«, warf Mr. Brock ein.
»Nein. Wir haben auch noch nicht 1975, aber eines Tages wird es so weit sein.« Matt March drehte sich wieder zu Eden um. »Darf ich Sie heute Mittag abholen? Ich kenne ein tolles italienisches Restaurant in der Nähe. Das Pierino’s. Am La Cienega. Kennen Sie es? Sie haben gerade im Dezember wieder eröffnet. Ich kann Ihnen ein wunderbares...«
»Miss Douglass hat zu tun, Mr. March. Das sehen Sie doch sicher. Trotz der Verletzungen, die sie durch Ihre Hände erlitten...«
»Oh, das haben Sie falsch verstanden, Walter. Es war nicht die Schuld von Mr. March.«
»Matt.«
»Matt«, wiederholte Eden. Sie blickte ihm in die dunklen Augen. »Ich habe meiner Schwägerin ausgeholfen. Oasis liefert das Essen auf Filmsets. Ich trug gerade eine Kanne mit heißem Kaffee, und hinter mir tauchte ein Reiter auf. Auf einem Pferd«, fügte sie hinzu.
»Und schlug sie auf den...«, stammelte Walter Brock. Er hatte von diesem Mädchen bisher noch nicht einmal ein Küsschen ergattern können. Seine Empörung wuchs. »Verbringen Sie so Ihre freie Zeit außerhalb der Bank?«
Eden vergrub ihr Gesicht in dem riesigen Blumenstrauß. »Wir treffen uns um zwölf, vor der Bank«, sagte sie zu Matt March.
Mr. Brock schlug beleidigt seine Glastür hinter sich zu.
»Es ist nur...« Eden zögerte. »Ich sehe schrecklich aus. Mein Gesicht ist völlig verquollen.«
»Ich finde nicht, dass Sie schrecklich aussehen«, erwiderte Matt. Seine Stimme klang völlig aufrichtig. Eden musste unwillkürlich lächeln und spürte dabei jeden einzelnen Muskel im Gesicht. Sie sagte ihm, dass sie nur eine Stunde Mittagspause habe. »Das reicht«, erwiderte Matt.
 
Das Pierino’s war schick: helle Holztäfelung, Tische aus hellem Holz, umgeben von halbrunden Kunstlederbänken. Der Fußboden war dunkelblau gefliest, sodass hohe Absätze keinen Schaden anrichten konnten, und das Lokal war voll mit Männern in Anzügen und eleganten Frauen mit Hut und Handschuhen.
Eden Douglass blinzelte nach dem hellen Sonnenschein draußen. Am liebsten wäre sie wieder gegangen. Sie war ganz bestimmt die einzige Frau mit blauen Flecken im Gesicht, Hautabschürfungen auf Mund, Nase und Wangen. Die Leute starrten sie an, aber Matt March dirigierte sie mit der Hand an ihrem Ellbogen sicher durch die Menge bis nach vorn. Er hatte nicht reserviert, aber als er seinen Namen sagte, führte sie der Kellner sofort zu einem Tisch in der Nähe der Bar, wo sie den Klavierspieler hören konnten.
»Sie kommen wohl oft hierher«, sagte Eden.
»Ja. Aber der Service ist nicht deshalb so gut.« Er warf keinen Blick auf die Speisekarte. Seine Schönheit war nur durch dunkle Ringe unter den Augen ein wenig beeinträchtigt. »Mögen Sie Meeresfrüchte? Gut. Dann nehmen wir die Rigatoni mit Meeresfrüchten und Paprikasauce. Das schmeckt am besten. Sie haben ja nur eine Stunde Zeit, deshalb nehmen wir nur diesen einen Gang und Dessert. Die Rigatoni bekommt mein Onkel immer, und er versteht etwas von gutem Essen. Er hat hohe Maßstäbe, und deshalb hat er 1927 auch das Geld für dieses Restaurant gegeben.« Matt lachte und fuhr leiser fort: »Außerdem wohnten der alte Pierino und sein Bruder im gleichen Kellerapartment wie mein Vater und mein Onkel, als sie damals nach Los Angeles gekommen waren. Es gehörte einem Mann aus Poggibonsi, der Massen für Gewerkschaftsdemonstrationen organisierte. Die Miete war günstig, und man musste bloß ab und zu an den Protestzügen teilnehmen und Parolen gegen den Kapitalismus brüllen. Das tat dem alten Pierino weh. Ihm und seinem Bruder Paul. Kennen Sie Paul Pierino?«
»Sollte ich?«
»Der Kulissenmaler? Mein Onkel hat ihm seinen ersten Auftrag verschafft. Gold of the Yukon. Paul Pierino war der Beste. Mittlerweile arbeitet er nicht mehr hier. Er ist nach Rom gezogen.«
»An Gold of the Yukon erinnere ich mich. Zumindest an die Lawine und den Eisenbahnunfall.«
»Schauen Sie sich gerne Filme an?«
»Ja, ich gehe jede Woche ins Kino.«
»Gut. Mit einem Mädchen, das keine Filme mag, könnte ich nichts anfangen. Gehen Sie mit einem Freund ins Kino?«
»Nein, für gewöhnlich mit meiner Mutter. Sie lebt bei Annie und meinem Bruder, und ab und zu brauchen sie eine Pause.« In den sechs Monaten, in denen Kitty nach Gideons Tod bei Annie und Ernest wohnte, hatten ihre Bedürfnisse und Forderungen, ihre Launen die Ehe der beiden auf eine harte Probe gestellt.
Matt grinste. »Gut. Ich meine, es ist gut, dass Sie mit Ihrer Mutter ins Kino gehen, dass Sie sich um sie kümmern. Mögen Sie Western?«
»Ja.«
»Ich liebe Western, so lange ich denken kann. Mein Vater und mein Onkel haben mich schon ins Kino mitgenommen, als ich noch zu klein war, um den Sitz unten zu halten. Mein Vater hat mir eine signierte Erstausgabe von The Virginian geschenkt. Kennen Sie das Buch? Es ist toll! Das beste.«
Eden beschloss, sofort am Abend noch einmal Owen Wisters The Virginian zu lesen, das Logan ihr geschenkt hatte. Der klassische Western, den ein melancholischer Mann aus Philadelphia geschrieben hatte.
Ein gut aussehender, junger Mann trat an ihren Tisch, schüttelte Matt die Hand und erklärte, jeder mit Namen March habe eine Dauerreservierung hier.
»Eden«, sagte Matt, »das ist Frankie Pierino. Frankie, Eden Douglass.«
»Ich hatte einen Unfall«, erklärte Eden und berührte vorsichtig ihr geschwollenes Gesicht.
»Völlig egal«, versicherte ihr Frankie, »Sie sind trotzdem wunderschön. Matt hat bei Frauen immer den besten Geschmack. Und, was halten Sie von der Renovierung?«
»Ich war noch nie hier«, gestand Eden, »aber ich habe natürlich schon von dem Restaurant gehört. Wer kennt es nicht?«
»Es war ein Jahr lang geschlossen«, sagte Frankie, »und sehen Sie es sich jetzt an. Man würde nie vermuten, dass mein alter Herr es schon 1927 gegründet hat, oder?«
»Nein«, erwiderte Eden und blickte sich um. »Es ist sehr modern.«
»Ich habe für die Renovierung das Wandgemälde verkauft. Du ahnst nicht, was ich dafür bekommen habe.«
»Nein!«, rief Matt. »Der Typ gilt als Chagall von L. A.!«
»Es war altmodisch. Ich aber nicht.« Frank drehte sich um, winkte einen Kellner, verabschiedete sich von Matt mit Handschlag und zwinkerte Eden zu. Seltsam, dachte sie.
Als der Kellner kam, gab ihm Matt fünf Dollars für den Pianisten. »Man muss auch die Musiker bezahlen«, sagte er zu Eden. Dann bestellte er und drückte dem Kellner weitere fünf Dollars in die Hand. »Suchen Sie uns eine schöne Flasche Wein aus, ja?«, bat er ihn. »Einen guten Wein von vor dem Krieg.«
»Ich kann nichts trinken«, sagte Eden. »Ich muss noch arbeiten.«
»Nein«, erwiderte Matt und lächelte sie an. »Jetzt essen Sie erst einmal mit mir. Später können Sie dann in die Bank zurückkehren. Und jetzt erzählen Sie mir, wie es dazu kam, dass Sie Kaffeetöpfe für Cowboys schleppen. Und damit meine ich nicht, dass Sie letzten Samstag bei Annie ausgeholfen haben. Ich weiß, dass sie mit Ihrem Bruder verheiratet ist. Nein, wie kommt es, dass Sie genau jetzt und hier auf dieser Welt sind, damit ich Ihnen begegnen konnte? Ich glaube an solche Dinge. Schicksal.«
»Nicht an den Zufall?«
»Es gibt keinen Zufall.« Er zog an seiner Zigarette und dachte einen Moment lang nach. »Und nicht genügend günstige Gelegenheiten.«
Eden tat das Gesicht weh, wenn sie lächelte. Der Jazzpianist spielte »Body and Soul«.
Der Kellner brachte den Wein. Die Flasche war hastig abgestaubt worden, und der Korken kam mit einem leisen »Plopp« heraus. Er schenkte ihnen ein, und das Aroma des schweren Rotweins umgab sie. Das Essen kam, dampfend und farbenfroh mit Paprika und Basilikum, mit grauen Miesmuscheln und rosa Shrimps, dem ganzen Überfluss des Meeres.
»Ich habe noch nie etwas so Leckeres gegessen«, sagte Eden. »Es ist irgendwie magisch, nicht wahr?«
»Gute Küche ist immer Magie. Das sagt jedenfalls mein Onkel, und er kocht meistens zu Hause. Meine Mutter kann auch gut kochen, aber er liebt es geradezu. Und ich esse gerne. Ich mag Frauen, die auch gerne essen. Wir kommen demnächst mal abends hierher, wenn wir viel Zeit haben. Dann essen wir das Vier-Gang-Menü und brauchen den Koch nicht so zu hetzen. Sie wissen ja, wie das ist.«
»Ja«, sagte sie, »das weiß ich.«
Pierinos Rigatoni mit Meeresfrüchten und Paprikasauce
Pierino’s Restaurant, La Cienega Boulevard, Los Angeles, California, 1927 - 81. Das Gericht wurde auch häufig im Café Eden bestellt.
Die Mengenangaben reichen für ein Pfund Pasta.
2 rote Paprika, 3 geschälte Knoblauchzehen, eine Handvoll frisches Basilikum, Petersilie, Oregano, Thymian, Rosmarin. Alles hacken, aber nicht zu klein. Olivenöl in einer gusseisernen Pfanne erhitzen, und alles rasch anbraten. 1 große Dose geschälte Tomaten und einen Schuss Rotwein hinzugeben und köcheln lassen. Sie können auch ein halbes Dutzend frische, klein geschnittene Tomaten verwenden, müssen dann aber noch zusätzlich salzen. Mit einem Teelöffel zerstoßener, getrockneter Chilis, ein wenig Salz und Pfeffer würzen. Etwa 20 Minuten köcheln lassen, wenn nötig, noch etwas Wein zugießen. Abdecken und beiseitestellen.
Nehmen Sie 1 Pfund gemischte, tiefgefrorene Meeresfrüchte. Um das Gericht aromatischer zu machen, können Sie auch noch frische Muscheln hinzufügen. Als Grundlage jedoch eignen sich die gemischten Meeresfrüchte hervorragend, und sie sind nicht teuer.
Erhitzen Sie in einer hohen Pfanne den Saft von 2 Zitronen und ½ Tasse Wermut mit 1 Esslöffel Butter oder Olivenöl. Etwa um ein Drittel einkochen lassen. Frische Muscheln können Sie in der Flüssigkeit kochen, bis sie sich geöffnet haben. Holen Sie sie heraus, und geben Sie anschließend die Meeresfrüchte hinein. Kochen Sie die Mischung nicht zu lange, da es meistens nur kleine Stücke sind. In die Paprikasauce geben und gut umrühren. Pasta kochen und sofort mit der Sauce servieren.

MOMENTAUFNAHME

Das Haus der Un-Amerikanischen

In den Jahren nach dem Krieg war man ein echter Amerikaner und hielt den Mund. Tat man das nicht, konnte das schlimme Konsequenzen nach sich ziehen. Wenn man früher einmal im jugendlichen Überschwang für linke Politik auf die Straße gegangen war oder antikapitalistische Parolen auf Kundgebungen gebrüllt, oder auch nur verstohlen Sympathie für solche Verhaltensweisen gezeigt hatte, so war unter Umständen das Leben ruiniert. Und zwar nicht aufgrund dessen, was man tatsächlich, sondern was man angeblich getan hatte.
Die lautstark geäußerte Loyalität zu seinen alten sozialistischen Freunden stürzte den alten Pierino ins Verderben. Ende 1949 wurden Old Joe Pierino und sein jüngerer Bruder Paul, ein angesehener Kulissenmaler, vor das Komitee unamerikanischer Aktivitäten zitiert, wo ein Produzent unter Nennung von Namen mit dem Finger auf Paul zeigte und perverse sexuelle Neigungen andeutete sowie Pauls zahlreiche Affären mit jungen Männern.
Paul Pierino geriet auf die schwarze Liste und arbeitete nie wieder in Hollywood.
Dem Restaurantbesitzer war zwar nichts nachzuweisen, aber der Vorfall erschütterte Joe Pierinos Glauben an Amerika nachhaltig und untergrub seine Gesundheit. Danach glaubte er nicht mehr daran, dass man es in diesem Land mit harter Arbeit und guter Qualität zu hohem Ansehen bringen konnte.
Aber 1926 hatte Joe Pierino noch fantastische Familienrezepte und großen Ehrgeiz. Mit dem Geld, das ihm sein alter Freund, der Schauspieler Ernest March, lieh, eröffnete er sein Lokal auf der La Cienega. Die Prohibition machte es erforderlich, dass das Restaurant aufgeteilt wurde. Im Hinterzimmer wurde mehr als Tee serviert. Dieses Hinterzimmer kostete Pierino eine Menge Geld - überhaupt an Alkohol zu kommen, ohne bestohlen zu werden -, aber er schaffte es. Er war für die Organisation zuständig, seine Frau für die Küche; seine Kinder halfen ihr dabei.
Es gelang ihnen sogar, die Depression zu überstehen, auch wenn sie das Hinterzimmer schließen mussten, damit das Lokal noch einigermaßen voll wirkte. Pierino fand einen hungrigen Künstler, der ihm auf die neu gezogene Wand ein Bild malte. Später wurde dieser Künstler als Chagall von Los Angeles berühmt. Während des Krieges gab es bei Joe für jeden Soldaten in Uniform ein Dessert und einen Schnaps aufs Haus.
Als nach dem Krieg das Komitee mit den Brüdern Pierino fertig und Paul öffentlich als Schwuchtel gebrandmarkt worden war, wollte niemand mehr in Joes Restaurant gesehen werden. Und Joe konnte trotz all seiner Genialität und Energie nichts dagegen tun. Nicht sein Tun hatte ihn ruiniert, sondern Gerüchte und Anspielungen.
Aber sein Sohn Frankie war clever, gescheit und schweigsam. Frankie schloss das Lokal, renovierte es vollständig und eröffnete es vor Weihnachten 1951 wieder neu. Danach war das Pierino’s zwanzig Jahre lang eine Institution in Los Angeles, das angesagte Restaurant. Dann war es zehn Jahre lang ein Klischee. Heute befindet sich dort ein Parkplatz.

2

Matt parkte den Jeep in einiger Entfernung und stellte den Motor ab. Er legte den Finger an die Lippen und flüsterte Eden zu: »Schscht. Schall trägt. Vor allem über Wasser.«
In der Ferne stand ein einzelner Baum auf einer Anhöhe an einem Ende des Sees. Ein Ast ragte dunkel gegen die goldenen Hügel zur Seite empor. An diesem Ast hing ein Strick, der um den Hals eines Mannes auf einem Pferderücken lag, während andere Reiter mit schnaubenden Pferden um ihn herumritten. Ihre Stimmen klangen bedrohlich, wenn man auch nicht jedes Wort verstehen konnte, aber es war doch klar ersichtlich, dass der Mann mit dem Strick um den Hals seine Unschuld beteuerte. Vergeblich. Jemand fragte ihn, ob er noch ein letztes Wort sprechen wolle, aber er solle sich beeilen. Verzweifelt suchte er mit den Blicken den Horizont nach Rettung ab, während er darauf wartete, dass jemand dem Pferd einen Schlag aufs Hinterteil versetzte und er am Ast baumelte.
»Schnitt!«
Die Cowboys wendeten die Pferde und ritten davon. Der Gehängte, der nie wirklich gehangen hatte, sprang vom Pferd und ging weg. Ein Junge trat zum Pferd, setzte ihm eine Puppe, die genauso gekleidet war wie der Schauspieler, auf den Rücken und klatschte dem Tier aufs Hinterteil. Der Dummy baumelte vom Ast herunter, während das Pferd davonjagte.
»Schnitt!«
Der Cowboy ritt dem Pferd hinterher, und alle anderen setzten sich in den Schatten und zündeten sich Zigaretten an.
»Wir können jetzt hinfahren«, sagte Matt zu Eden und ließ den Motor an.
Es war Samstag, eine Woche nach dem Unfall, und Edens Gesicht heilte zwar bereits, war aber immer noch verschrammt, und die blauen Flecken waren grün geworden. Eden hatte die Verletzungen zum Vorwand genommen, um nicht mit ihrer Mutter ins Kino zu gehen. Stattdessen nahm sie Matt Marchs Einladung zu einem Ausflug nach Greenwater an. Sie hatte Kitty gegenüber seinen Namen nicht erwähnt, geschweige denn, dass er der Neffe des großen Stummfilmstars war. Eden sah Ernest March immer noch vor sich - seine dunklen Augen, seinen finsteren Gesichtsausdruck, seine glatt zurückgekämmten Haare, seine ausdrucksvollen Augenbrauen, seinen gestutzten Schnurrbart, den sinnlichen Mund und die schmale, gerade Nase. Kitty hatte ihn wahrscheinlich noch viel lebhafter in Erinnerung.
Als Matt ihr beim Mittagessen bei Pierino’s erzählt hatte, wer sein Onkel war, hatte Eden deutlich Züge des berühmten Gesichts erkannt. Aber sie fand Matt interessanter. Es hatte sie erstaunt, dass Ernest March noch lebte und im selben Haus wohnte wie der Mann, der ihr gegenübersaß. Genauso erstaunt war sie, als sie erfuhr, dass Matt March - der ihr so erfahren und so weltgewandt vorkam - zwei Jahre jünger war als sie.
Matt fuhr furchtlos, ja, verwegen mit dem Jeep, und Eden hielt sich an der Tür fest, als sie den Hügel hinunterholperten. Solche Wagen hatten sie im Krieg auch gehabt, man konnte mit ihnen überall fahren, und das Gelände der Greenwater Ranch war so uneben, dass ein anderes Fahrzeug nicht in Frage gekommen wäre.
Matt hielt neben den Pferden und den Schauspielern, ließ jedoch den Motor laufen und sprang hinaus. Signature Picture drehte, ein B-Movie. Wie alle anderen B-Western Produktionen auch hatten sie ihr Büro in Los Angeles auf der sogenannten Poverty Row. Die Dreharbeiten fanden immer auf Greenwater statt.
Matt trat zu dem Produzenten. »Lassen Sie mal sehen, ich habe hier die Hauptstraße, Nahaufnahme vom Saloon und dem Büro des Sheriffs, und der Rest sind nur noch Innenaufnahmen, oder?«
»Die Jagdszene.«
»Die habe ich schon. Ich wollte mich nur wegen der Stadt vergewissern. Wollen Sie das Drehbuch überprüfen?«
Der Produzent schnaubte. »Sie glauben doch nicht, dass jemand diesen Scheiß wirklich schreibt?«
Matt stieg wieder in den Jeep und löste die Bremse. »Was meinst du, Eden? Schreibt jemand diesen Scheiß?«
 
Eden hielt sich an der Tür fest, als Matt um ein Schlagloch herumfuhr.
»Ich lebe schon mein ganzes Leben hier, mit meinem Vater, meiner Mutter und meinem Onkel. »Mein Vater ist vierundvierzig gestorben, deshalb sind wir jetzt nur noch zu dritt: Ernesto, Mama und ich. Meine Mutter und mein Onkel haben immer zusammengewohnt. Bevor wir achtundzwanzig hierhergezogen sind, hatten wir ein großes Haus auf der West Adams, in der Nähe der Innenstadt. Ich habe Fotos davon gesehen, aber das hier ist das einzige Zuhause, an das ich mich erinnern kann.«
»Greenwater muss damals unglaublich abgelegen gewesen sein. Es ist ja immer noch ziemlich abgelegen«, sagte Eden.
»Als mein Onkel die Ranch gekauft hat, war hier im Norden nichts außer Kaninchen und baufälligen Hütten. Am Himmel schwebten die Adler, und nachts heulten die Kojoten. Ich war zu klein, um mich daran zu erinnern, aber mein Vater hat mir erzählt, dass wir eines Tages alle vier zum Picknick hier herausgefahren sind. Wir setzten uns an den See, genau unter den Baum, an dem sie eben den Typen aufgehängt haben. Mein Vater sagte, es sei so gewesen, als hätte mein Onkel Ernesto eine Vision gehabt. Meine Mutter, die eine gläubige Katholikin ist, glaubte, Engel seien auf den armen Ernesto herabgestiegen. Ja, Eden, es ist wahr, ich komme aus einer Familie von Betschwestern.«
»Mach dir keine Gedanken. Wir sind Mormonen.«
Matt grinste breit. »Glaubst du an Polygamie?«
»Es wird mehrfache Ehe genannt. Und ich glaube keineswegs daran. Erzähl weiter.«
»Na ja, was auch immer Ernesto erlebte, sie fuhren auf jeden Fall so lange durch die Gegend, bis sie den Eigentümer dieses Grundstücks gefunden hatten. Er lebte in dem Ranch Haus, wo jetzt der Picknickbereich ist. Da wo du letzte Woche deinen Unfall hattest. Deinen Glücksunfall.«
»Ja, es heißt, so etwas gibt es.« Eden lächelte.
»Ernesto stieg aus dem Auto und sagte zu meinen Eltern, er sei gleich wieder da. Dann klopfte er an die Tür des Hauses und bot ihnen achttausend Dollars in bar für die gesamten vierhundert Morgen. Und sie nahmen das Geld. Einfach so. Mein Onkel bestand damals aus Geld. Nach Die grüne Göttin verdiente er dreitausend Dollars die Woche. Er engagierte einen berühmten Architekten aus Los Angeles, der alle anderen Aufträge sausen lassen musste - mit Geld erreichte man schon damals alles -, um die Hacienda zu entwerfen und den Bau der Anlage zu beaufsichtigen. Tennisplätze, ein Poloplatz und ein Pool sollten angelegt werden, Weinberge und Viehweiden. Alles sollte so sein wie in der alten Heimat.«
»Du bist aus Europa?«
»Ich nicht, aber sie. Na ja, mein Vater und mein Onkel. Meine Mutter ist in New York geboren. Auf jeden Fall ist dieses ganze Gerede von der alten Heimat totaler Blödsinn! Sie haben alles erfunden. Aber wenn sie daran glauben, warum soll ich es ihnen denn ausreden? Es ist schon in Ordnung. Aber verlang nicht von mir, ich solle so tun, als ob es wahr wäre. Nein, die Wahrheit ist, wenn zu Hause alles so toll und erfolgreich gewesen ist, warum mussten sie dann hierherkommen? Der Name ist eigentlich Marchiani, aber ich bin als Matt March eingeschult worden, und ich bleibe auch Matt March. Ich bin Amerikaner, und ich will in Amerika nicht mit dem alten Namen von jemand anderem herumlaufen.«
Eden ging durch den Kopf, wie sie als Kind immer Angst gehabt hatte, ihr wirklicher Name könne Eden Douglass TRAUER sein. Jetzt hatte sie keine Angst mehr. Sie fühlte sich stark und selbstbewusst. Sie war verliebt. Matt March, mit seiner schmalen, geraden Nase, seinen dunklen Augen, den lockigen Haaren und seinem selbstbewussten Charme - von seinen Cowboystiefeln ganz zu schweigen - war der attraktivste Mann, den Eden Douglass jemals kennengelernt hatte.
»Ich habe alle Filme mit Ernest March gesehen«, sagte sie. »Ich bin mit meiner Mutter so regelmäßig ins Dream Theatre gegangen wie andere Leute in die Kirche. Aber an einen Western mit ihm kann ich mich nicht erinnern.«
»Es war auch nur einer. Gold of the Yukon.«
»Ach so, ja, mit der Lawine und dem Zugunglück.« Als Kind hatte sie sich bei dieser Szene außer sich vor Angst an Kitty geklammert.
»Die Lawine und das Eisenbahnunglück! Das war spektakulär! Aber der Film war ein Flop. Ernesto und mein Vater liebten Western, aber Ernesto eignete sich nicht für Cowboyrollen, er sah weder so aus, noch bewegte er sich so. Er war einfach nicht der richtige Typ dafür.«
»So wie du«, warf Eden ein.
»Ja, wie ich«, stimmte Matt ihr grinsend zu. »Nein, mein Onkel ist viel zu zivilisiert. Er trägt immer noch jeden Tag Anzug mit Weste und Fliege, obwohl er die Hacienda nicht mehr verlässt. Mein Onkel liebt die Oper. Gutes Essen. Wein. Aber er raucht nicht. Er behauptet, das würde die Geschmacksnerven ruinieren.« Matt schmunzelte. »Und niemand kann so kochen wie er. Du solltest ihn mal sehen, er ist mächtig fett.«
»Für meine Mutter war er der schönste Mann unter der Sonne. Sie liebte ihn. Ich meine das ernst. Sie hat meinen Bruder Ernest genannt, nur damit sie immer wieder sagen konnte, Ernest, ich liebe dich.«
»Das hat deinem Vater bestimmt nicht gefallen.«
Eden überlegte, ob Gideon es überhaupt gewusst hatte.
Sie hatten die Grenzstadt erreicht. »Die Produktionen, die hier filmen, können den Ort natürlich nennen, wie sie wollen«, sagte Matt. Er parkte, und sie stiegen aus. »Für mich heißt diese Stadt Lariat. Das Einzige, was wir hier nicht haben, ist die Eisenbahn. Das bräuchten wir noch. Na ja, und ein Gericht. Aber das kommt noch. Und eine kleine Büffelherde wäre nett.«
»Hier, in der Stadt.«
»Nein.« Er wies vage in nördliche Richtung. »Da draußen. Da ist genug Platz. Vielleicht auch eine Mustangherde. Es geht nichts über Pferde und Büffel, wenn man Freiheit, Kraft und Spontaneität darstellen will.«
»Auf der Leinwand?«
»Überall.«
Über mit Holzplanken belegte Gehsteige gingen sie an den Saloons, dem Barbier, der Scheune des Hufschmieds, einem Laden, einem Hotel, ein paar Wohnhäusern und natürlich der obligatorischen Bank, die ausgeraubt werden konnte, vorbei. Es gab das Büro des Sheriffs mit angrenzendem Gefängnis für die Schurken, aber kein Gerichtsgebäude, in dem sie verurteilt werden konnten. An der Ecke, wo die Straße scharf nach rechts abbog, stand das Schulhaus, und am Ende ragte eine strahlend weiße Kirche mit spitzem Turm auf. Dahinter lag der Friedhof mit Grabsteinen, unter denen niemand begraben war. In der Nähe stand ein Kran, und ein paar Männer stellten Scheinwerfer auf. Seltsamerweise erinnerte Lariat Eden trotz der kalifornischen Sonne und der trockenen Hügel ringsherum an Fairwell. So hätte es vielleicht ausgesehen, wenn es noch eine Zukunft gehabt hätte.
Eden blickte auf halb fertige Häuser an der Straße. »Wird denn in Lariat immer noch gebaut?«, fragte sie.
»Ja, natürlich. Die Stadt muss so aussehen, als ob sie noch wächst. Es darf kein zu statisches Bild entstehen«, erwiderte Matt. »Das ist eine echte Grenzstadt. Siehst du, viele Kulissen haben ein Innenleben. Alle Fenster können geöffnet werden. Die Vorhänge bauschen sich im Wind.« Matt legte seine Hand an einen Verandapfosten. »In jedem anderen Film wäre dieser Pfosten nachgemacht, aber hier ist alles solide und aus vollem Holz. Das bedeutet weniger Unfälle für die Stuntmen. Ich muss dir unbedingt Les und Ginny Doyle vorstellen. Sie sind die besten in der Branche. Ginny hat die Selbstmordschleppe erfunden! Weißt du, was das ist?«
»Nein.«
»Ich kann es eigentlich nicht beschreiben. Du musst sie einfach auf dem Pferderücken sehen. Als Reiterin ist sie ein Genie. Ein Champion. Ihr Pferd heißt Cody. Alle ihre Pferde heißen Cody. Ihre Mutter ist bei der Wild-West-Show von Buffalo Bill zur Welt gekommen. In London! Eine in London geborene amerikanische Indianerin. Das ist doch was, oder?«
»Schwer vorzustellen.«
»Prairie Fern hat zu Buffalo Bills Show gehört, noch bevor sie laufen konnte. Ach, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Du nicht auch?«
»Ja.« Eden ließ sich von seinem Enthusiasmus anstecken.
»Les und Ginny sind meine besten Freunde. Ich habe nicht viele wahre Freunde. Ich kenne zwar viele Leute, aber das ist nicht dasselbe. Les ist der, der dir letzte Woche das Pferdemedikament gegeben hat. Eine halbe Tablette nur«, fügte er hinzu. »Wir nennen ihn den Tierarzt. Niemand kennt sich mit Pferden so gut aus wie Les Doyle, außer vielleicht Ginny.«
Während sie über die hölzernen Gehsteige schlenderten, machte Matt sie auf alles Mögliche aufmerksam, das seine Liebe fürs Detail zeigte. Die Gewehre im Schaufenster des Büchsenmachers zum Beispiel waren detailgetreue Nachbildungen der Flinten von damals.
»Hast du Western immer schon geliebt?«, fragte sie.
»Ja, wir alle, von meiner Mutter mal abgesehen. Mein Vater und mein Onkel hielten John Fords Das eiserne Pferd für das größte Meisterwerk des Stummfilms, außer Buster Keatons Der General natürlich.«
»Ja, natürlich«, erwiderte Eden. Sie erinnerte sich noch an die Szene, in der der Zug in den Fluss fiel.
»Und ich, ich finde, John Ford ist ein Gott. Ringo ist für mich der beste Film aller Zeiten, hundertmal besser als Vom Winde verweht. Aber«, achselzuckend drehte er um und ging zu seinem Jeep zurück, »was kann man schon machen? Wenn es Wein wäre, würden die Leute sagen 1939 war eben ein guter Jahrgang. Aber eines Tages werde ich einen Western machen, der sogar noch besser ist als Ringo. Im Moment richte ich mich noch nach Signature Pictures, Monogram und den anderen von der Poverty Row. Aber es wird nicht so bleiben. Ich freue mich schon darauf. Warte nur ab, dann wirst du schon sehen.«
»Das mache ich«, erwiderte sie.
»Diese Stadt wird eines Tages legendär sein. In meinem Western wird es dieses ganze Einsamer-Wolf-Zeug nicht geben. Der einsame, edle Cowboy ist ein Mythos. Wie kann er ein wirklicher Held sein, wenn er sich um nichts und niemanden zu kümmern braucht? Deshalb hat High Noon so gut funktioniert. Zinnemann, der Regisseur, hatte beides, und deshalb war der Film so brillant. Der Sheriff war gegen Frank Miller auf sich selber gestellt, aber er war nicht allein. Erkennst du den Unterschied?«
»So habe ich es eigentlich noch nie gesehen. Ich fand die Stadtbewohner in High Noon ziemlich feige, das musst du zugeben.«
Matt hob die Hände. »Du musst die unterschiedlichen Elemente ausbalancieren, das Land, der Typ, der auf sich gestellt ist, die Gier, die Dummheit, die Leute, die in Frieden leben wollen und der Typ, der etwas zu beschützen hat, etwas, für das es sich zu leben lohnt. Der wahre Held kann nie furchtlos sein, aber er kann tapfer sein. Er muss seine Angst überwinden. Er hat zwar Kraft, muss aber auch etwas Fatalistisches haben. Verstehst du?«
Eigentlich verstand sie ihn nicht, aber sie hörte ihm gern zu, wenn er über Western redete, über die, die er immer wieder gesehen hatte, die, die er selber drehen wollte, die, die gerade gedreht wurden, während sie durch die Straßen von Lariat schlenderten. Ab und zu rief Matt jemandem etwas zu, winkte den Beleuchtern oder den Männern auf dem Kran.
Liebevoll blickte er sich noch einmal um, bevor sie in den Jeep stiegen. »Mein Vater hat die Stadt entworfen. Einige der Gebäude hier haben Ernesto und er mit ihren eigenen Händen aufgebaut. Sie waren alle gute Schreiner, mein Vater, mein Großvater, gläubige Katholiken, bescheidene Männer. Na ja, Ernesto war nie bescheiden. Mein Vater aber hatte Visionen, und ich möchte sein Werk fortsetzen. Das mexikanische Dorf ist noch nicht fertig, aber möchtest du das Fort sehen?«
Sie fuhren auf der Straße, die um die Stadt herumführte, nach Osten, auf die Berge zu, vorbei an gewaltigen Felsbrocken, bis ein dreiseitiges Fort vor ihnen lag. Die drei Seiten waren nötig, damit man die als Indianer verkleideten Schauspieler filmen konnte, wenn sie mit ihren Pferden um das Fort herumgaloppierten. Etwas weiter weg lag das Innere des Forts, das so aussah, als sei es aus dem Ganzen herausgebrochen worden. Seltsam verloren lag es in der Morgensonne.
»Wir können das Fort und das Indianerdorf dicht zusammen aufbauen, weil jeder, der das Fort braucht, wahrscheinlich auch das Indianerdorf braucht und wir uns keine Gedanken über Geräusche machen müssen.« Er lächelte Eden an. »Ich habe hier tolle Sommer gehabt. Mein eigenes Pferd und ein riesiges Gebiet, in dem ich reiten und Cowboy und Indianer spielen konnte.«
»Was warst du?«
»Beides. Ich hatte hier alle Freiheiten. Keine Freunde in der Nähe, nur ich und mein Pferd. Dancer. Die alten Herrschaften waren sowieso daran gewöhnt, ohne mich auszukommen, und solange ich zum Abendessen rechtzeitig zu Hause war, war es ihnen egal, was ich tat. Was konnte mir schon groß passieren?«
»Hast du denn nicht hier gewohnt?«
»Die meiste Zeit des Jahres war ich in der Schule. St. Ignatius in Santa Barbara.«
»Wie alt warst du damals?«
»Sechs.«
»Sie haben dich ins Internat geschickt, als du sechs warst?«
»Zuerst war ich auf der Agua-Verde-Grundschule und kam in der ersten Woche mit Kopfläusen nach Hause. Meine Mutter achtet sehr auf Äußerlichkeiten, und sie sagte zu meinem Vater und Ernesto, ihr Sohn ginge auf keinen Fall mehr mit einem Haufen Bauern zur Schule. Hier in der Gegend haben natürlich vor fünfundzwanzig Jahren keine Filmstars gewohnt! Nein, meine Mutter bestand darauf, dass ich eine richtige Schulbildung bekam. Ich sollte Anwalt oder Arzt werden, Senator, aber auf keinen Fall so ein armseliger Schreiner wie mein Vater, mein Großvater oder mein Onkel, aus dem ein Schauspieler geworden war. Also schickten sie mich nach St. Ignatius oben in Santa Barbara. Aber die ganze katholische Erziehung hat nichts genützt, im Grunde bin ich doch nur ebenfalls Schreiner geworden.«
»Aber sie kann doch nicht enttäuscht von dir sein.«
»Natürlich kann sie. Sie ist meine Mutter. Sie hat das Leiden erfunden.«
Matt zeigte auf das indianische Dorf, das in einem flachen, baumlosen Talkessel vor ihnen lag. Drei absolut identische Tipis, eins davon zusammengebrochen. Die Sonne stand hoch, und es gab so gut wie keinen Schatten. »Dieses Land zu besitzen, Greenwater, bedeutet meiner Familie alles«, sagte er nach einer Weile. »Es ist wahr, Eden, meine Mutter kann noch so oft sagen, sie wolle nicht mit Bauern zusammenleben, aber eigentlich sind sie Bauern, was dieses Land angeht. Sie lieben es. Sie hängen daran. Aber das muss unter uns bleiben. Du darfst ihnen nie erzählen, dass ich gesagt habe, sie seien Bauern.«
»Nein, das werde ich ihnen nie erzählen.« Ich halte meine Versprechen dir gegenüber, dachte sie.
Matt blickte zum Horizont und beobachtete einen Falken, der auf ein glückloses Mäuschen herunterstieß. »Wenn du bedenkst, wie weit Klang trägt, dann kannst du dir vorstellen, wie viel Spaß es gemacht hat, Stummfilme zu drehen. Es heißt, Lesley Markowitz sei auf und ab gehüpft und habe die Schauspieler angeschrien. Damit alle bei Laune blieben, haben sie Streichquartette engagiert. Du konntest so viel Krach machen, wie du wolltest. Sie konnten fluchen und singen und über Witze lachen. Sie konnten einander ermutigende Worte zurufen und den Schauspielern mitten in der Szene sagen, wie sie sich verhalten sollten. Stummfilme müssen wirklich Spaß gemacht haben.«
»Was war mit Ernest March, als die ersten Tonfilme kamen?«
»Ernest March war am Ende. Die Tonfilme waren sein Verderben. Er hat doch kein Englisch gesprochen! Jedenfalls nicht besonders gut. Das kann er immer noch nicht. Sein Akzent ist ihm so peinlich, dass er nur selten überhaupt den Mund aufmacht. Ohne zu reden sprachen seine Schönheit, sein Talent...« Matt nahm die Hände vom Lenkrad und hob sie mit den Handflächen nach oben. »Von dreitausend in der Woche auf null. Meine Mutter lag den ganzen Tag auf den Knien und hat in ihrem Buch der Heiligen nach einem Schutzheiligen für abgehalfterte Schauspieler gesucht. Du musst dir vorstellen, das war ungefähr um die Zeit des Börsenkrachs. Ich wusste von alledem nichts. Ich war in der katholischen Schule und gab damit an, der Sohn des großen Schauspielers Ernest March zu sein - o ja, ich habe meinen eigenen Vater verleugnet! Willst du das Versteck der Schurken und ihre Höhle sehen?«
»Warum haben eigentlich nur Schurken Verstecke und Höhlen?«
»Weil sie Schurken sind! Sie haben auch schwarze Hüte und dunkle Pferde. Die Höhle ist übrigens nicht echt.«
»Natürlich will ich sie sehen! Ich will alles sehen!«
Matt schaltete herunter, weil es leicht bergauf ging. »Wenn ich daran denke, was mit meinem Onkel damals passierte, dann wundert es mich, dass er sich nicht umgebracht hat. Sein Arbeitsleben war mit einem Schlag vorbei. Sie hatten gerade die große Hacienda mit Gästehaus, Scheune und Garagen fertig gebaut. Die Grube für den Pool war bereits ausgehoben, aber sie hatten keinen einzigen Cent mehr. Und es gab keine Aussicht auf weiteres Geld«, sagte Matt düster. »Mein Vater und mein Onkel schütteten das Loch für den Pool höchstpersönlich wieder zu, Schaufel für Schaufel, und Ernesto pflanzte Blumen darauf.«
Er fuhr scharf um die Kurve, und Eden hielt sich an der Tür fest.
»Der große Ernest March«, fuhr Matt fort, »der einer Million Frauen das Herz gebrochen hatte, sprach kein brauchbares Englisch und würde nie wieder eine Filmrolle bekommen. Er würde nie wieder einen einzigen Cent verdienen. Meine Mutter rang die Hände und blickte flehend zum Himmel. Das tat sie sowieso die ganze Zeit. Mein Onkel schmollte, kochte und hörte sich Opern an. Schließlich hatte mein Vater genug von Gebeten und Pasta. Ernesto war zwar der Schöne in der Familie, aber mein Vater, Nico, war der Kluge. Mein Vater sagte also: ›Okay, wir haben kein Geld, aber wir haben Land. Lass uns das machen, was wir immer gemacht haben. Bauen können wir schließlich.‹ ›Ernest March kann doch keinen Hammer in die Hand nehmen‹, antwortete Ernesto. ›Er ist nicht mehr der Junge von damals, der rote Flanellunterwäsche und einen Strohhut trug und einen Werkzeuggürtel umhatte. Ernest March ist ein großer Schauspieler! Ein Leinwandliebhaber! Ein Gentleman, der mehr Geld verdient als Ramon Novarro!‹ ›Aber jetzt nicht mehr‹, sagte mein Vater. ›Lass uns an die Arbeit gehen, überall auf Greenwater Kulissen bauen und sie an Produktionsgesellschaften vermieten. < Gute Idee, was? Man muss das nehmen, was man zur Hand hat, und etwas daraus machen.«
»Wie bei einem Rezept«, erwiderte Eden. »Meine Tante sagt immer, man kann jedes Rezept so verändern, dass es zu den Zutaten passt, die man zur Verfügung hat. Man nimmt das, was man hat, und verwandelt es in das, was man will.«
»Genau das haben sie getan. Mein Vater zeichnete einen riesigen Plan des Grundstücks und legte fest, wo alles sein sollte. Er entwarf die Stadt, die Ranch. Sie engagierten ein paar Einheimische, damit sie ihnen halfen. Es war genial. Solange es Western gibt, sind wir aus dem Schneider, und Western kommen nie aus der Mode. Außer der Eisenbahn, den Büffeln und der Mustangherde haben wir alles, was wir brauchen. Die Scheune, die mein Onkel gebaut hatte, steht noch. Natürlich ist jetzt nichts mehr drin, aber wir könnten jederzeit Tiere dort unterstellen. Neben der Hacienda wurde ein Gästehaus gebaut, sodass jeder, der länger hier draußen bleiben muss, dort übernachten kann.« Matt überlegte einen Augenblick lang. »Es müsste allerdings mal richtig sauber gemacht werden.« Lächelnd fuhr er fort: »Ich liebe dieses Leben. Ich konnte es kaum erwarten, nach dem Krieg aus der Armee entlassen zu werden und hier weiterzubauen.«
»Du hast gekämpft? Wo?«
»Eigentlich habe ich nicht gekämpft, Eden. Ich will dich nicht anlügen. Ich weiß, dass du mit dem Frauenhilfskorps in Europa warst, wo richtig gekämpft wurde. Ich respektiere das und wünschte, ich könnte bei deinen Kriegsgeschichten mithalten.«
»Ich mag keine Kriegsgeschichten. Ich mag Liebesgeschichten. Und Western.« Sie lächelte ihn kokett an. »Was sagst du denn, wenn deine Kinder dich fragen: Was hast du im Krieg gemacht, Daddy?«
»Ich war Captain Propaganda, Kinder!« Matt schlug sich auf die Brust, hustete und steckte sich eine Zigarette an. »Ich habe zehnminütige Meisterwerke für die Army gemacht. Captain Propaganda besiegt die bösen Hunnen und die schlitzäugigen Japse! Benutzt Kondome, bringt keine Geschlechtskrankheiten mit!« Er lachte verächtlich auf. »Selbst John Ford hat 1942 einen Film mit dem Titel Sex Hygiene gemacht.«
»Den habe ich wahrscheinlich sogar gesehen. Er ist auch beim Frauenhilfskorps gezeigt worden.«
»Ich habe verzweifelt versucht, zur kämpfenden Truppe nach Übersee zu kommen, aber der Major, der für die Produktion dieser Filme verantwortlich war, hatte ja keine Ahnung.«
»Aber du.«
»Ich hatte jedem erzählt, ich sei der Sohn von Ernest March! Aus der Lüge kam ich nicht mehr heraus. Aber ich wurde der Rolle ziemlich gut gerecht.«
»Hat Ernest March überhaupt einen Sohn?«
»Er war nie verheiratet. Natürlich hat er viele Frauen gehabt. Vielleicht auch ein paar Männer, doch das ist nur meine eigene Spekulation. Aber er hat nie geheiratet. Er wohnte gerne hier mit mir, seinem Bruder und Mama.«
»Dann warst du also in gewisser Weise doch sein Sohn.«
»Ja.«
»Und erzählst du deinen Kindern, was du im Krieg gemacht hast?«
»Ich habe keine Kinder. Ich bin nicht verheiratet.« Er zündete seine Zigarette mit einem Streichholz an. »Wie könnte ich so ein armes Mädchen heiraten? Ich arbeite ja immer nur.
Soll ich ihr meine verwitwete Mutter und meinen fetten alten Onkel zumuten? Was für ein Leben wäre das?«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte sie nachdenklich.
Der Unterschlupf der Schurken war eine baufällige Hütte mit einem Blechdach und einem Außenklo. Die Höhle, die oberhalb der Straße lag, bestand aus dunklen Segeltuchplanen über einem Holzgerüst. Sie stiegen aus dem Jeep und spazierten herum.
»Es sieht alles viel kleiner aus als im Film.«
»Das muss so sein. So wirken kleine Männer größer, und die Kamera verzerrt die Proportionen sowieso. Diese kleine Hütte hier ist schon in Hunderten von Filmen gezeigt worden.« Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie. »Schurken treffen sich immer in so einem Unterschlupf, planen ihre Rache und streiten sich. Die Schlägereien werden mit Soundeffekten untermalt. Galoppierende Pferdehufe macht man mit Kokosnussschalen.«
»Klingt witzig.«
»Ist es auch. Reitest du?«
»Nein.«
»Schade. Das ist eigentlich die beste Art, das Gelände zu erkunden. Man kann bis da oben hin reiten«, er zeigte in nördliche Richtung, »und an schönen Tagen, wenn es wirklich klar ist, sieht man sogar das Meer. Bestimmt.«
Er zog sie an sich. In seinen Cowboystiefeln war er nur ein bisschen größer als sie. Er fuhr mit den Lippen über ihre Schläfen, und Eden fühlte sich beschützt in seinen Armen. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, damit er sie küsste, aber sein Kuss war so sanft, dass sie ihn kaum spürte.
»Wenn das geheilt ist«, er tippte mit den Fingerspitzen leicht auf die Abschürfungen, »dann küsse ich dich, wie du geküsst werden solltest.«
»Woher willst du wissen, wie ich geküsst werden sollte?«
»Ich weiß es eben. Ich wusste es vom ersten Moment an, als ich dich gesehen habe.«
»Bevor oder nachdem ich mit dem Gesicht im Dreck gelegen habe?«
»Wenn ich nicht bei dir bin, denke ich ständig nur an dich. Ich sehe dein schönes Gesicht vor mir, sehne mich nach dem Klang deiner Stimme und dem Duft deiner Haare.« Er zog sie enger an sich und fuhr ihr mit den Fingern durch die Haare. »Aber es ist noch nie eine Frau zusammengezuckt, wenn ich sie geküsst habe, und ich möchte nicht, dass du die erste bist. Du sollst überhaupt nicht zusammenzucken.«
»Soll ich lieber in Ohnmacht fallen, so wie meine Mutter, wenn sie Ernest March sah?«
»Das kannst du doch besser.«
Eden lächelte, und die Abschürfungen auf ihrer Lippe prickelten. »Ja, ganz bestimmt.«
»Möchtest du die Ranch noch sehen? Danach fahren wir zurück und essen mit den anderen an der Kochstelle zu Mittag.«
Der Jeep rumpelte über den Feldweg. Matt erklärte Eden, dass sie um die Ranch viel Platz brauchten, weil in manchen Szenen Rinder dabei sein mussten oder falsche Getreidefelder, und außerdem musste alles weit genug auseinander liegen, wenn zwei Produktionsfirmen gleichzeitig auf dem Gelände drehten. »Wir haben hier hinten im Tal ja noch Glück, dass kein Flugzeugverkehr herrscht. Manche Locations sind deswegen pleite gegangen, weil sie nicht mehr gebucht werden konnten. Wenn wir erst mal die Eisenbahnlinie gebaut und ein paar alte Dampfloks angeschafft haben, dann können alle Western in Greenwater gedreht werden. Dann haben wir mehr zu tun, als uns lieb ist.«
»Und dann?«
»Wie meinst du das?«
»Was für einen Sinn macht es, wenn man mehr zu tun hat, als einem lieb ist? Dann muss man Angebote ausschlagen.«
Matt grinste und schob seine dunkle Haartolle aus der Stirn. »Ich habe große Pläne, Eden. Ich werde nicht ewig der Typ sein, der mit dem Klemmbrett rumrennt und Kuhfladen zählt. Das kannst du mir glauben.«
»Ich glaube es dir.«
»Ich freue mich schon darauf. Greenwater Pictures. Eines Tages wird Greenwater Pictures die besten Western auf der Welt produzieren. John Ford wird Tränen vergießen. Sieh nur, was ich zur Verfügung habe! Tolles Land, authentische Kulissen, gutes Wetter. Ich habe Wasser, den Ague-Verde-See, und weiter oben, im Winter, gibt es einen kleinen Fluss. Und ich kenne jeden Cowboy und Stuntman in der Branche. Sogar die singenden Cowboys. - Kennst du die? Weißt du was? Wir schauen uns heute Abend ihren neuen Film an. Gehst du mit mir ins Kino?«
»Ja, klar. Ich liebe Western.«
»Und Liebesgeschichten.«
»Die Leute werden Western immer mögen. Wenn ich einen schlechten Western sehe, möchte ich den, der dafür verantwortlich ist, am liebsten erwürgen. Diese schlecht gemachten Kulissen, der gemalte Hintergrund, Pappeisenbahnen, Kakteen aus Gummi. Damit verfälschen sie die Geschichte und die Menschen, die sie erlebt haben. Schau dich doch um. Das Land ist mythisch. Nein, Eden«, fuhr er lächelnd fort, »Western sind die einzig wahren Geschichten Amerikas, und nach John Ford bin ich derjenige, der sie erzählen kann. Und zwar authentisch. Ironie des Schicksals, was? Der Sohn von Immigranten ist der Einzige, der sie wirklich erzählen kann.«
»Wir kommen alle von woanders«, erwiderte Eden. »Nur die Indianer sind Eingeborene.«
»Ich werde auch ihre Geschichte erzählen, Eden. Meine Western werden besser sein als Rio Grande, Faustrecht der Prärie oder High Noon. Ich habe eine Vision.«
»Was hält dich auf?«
»Vielleicht muss ich erst mein eigenes Tonstudio haben und die Eisenbahn bauen. Und ich brauche Innenkulissen. Schade, dass Paul Pierino nicht mehr hier ist. Er war ein großartiger Kulissenbauer. Ein wahres Genie!« Matt steuerte den Jeep bergauf.
Die Ranch kam in Sicht, und der Wagen zermalmte die Blüten von Sonnenblumen, Raps und kalifornischem Mohn unter seinen Reifen, als sie darauf zuholperten. Natürlich wusste Eden, dass das Gebäude nur Kulisse war, aber ihr kam es so vertraut vor, als sei es echt. Auf der hohen Holzveranda stand ein Schaukelstuhl. Im Hof gab es neben der immergrünen Eiche eine Wasserpumpe mit einem Trog. Ein Windrad drehte sich knarrend. Neben der Scheune an der Seite befanden sich Hühner- und Schweineställe sowie ein Räucherhaus. Ein Toilettenhäuschen vervollständigte den authentischen Eindruck.
»Es gibt viele Filmkulissen ohne Toilettenhäuschen. Sie finden es zu vulgär. Aber auch die Leute damals mussten mal pinkeln. Wie kann ein solcher Ort ohne Hinweis auf die körperlichen Funktionen real sein? Einer von den Typen von Monogram Pictures hat mal zu mir gesagt: ›Ich filme hier, aber du musst das Häuschen abreißen. Ich will nicht, dass das Publikum sich die Heldin mit gerafften Röcken über dem Loch im Boden vorstellt.‹ Ich habe ihm geantwortet: ›Das Häuschen bleibt stehen. Das hier ist Greenwater, nicht Knott’s Berry Farm.‹ Aber das Toilettenhäuschen ist natürlich nicht wirklich funktionstüchtig«, fügte er augenzwinkernd hinzu. »Wenn die Schauspieler mal müssen, können sie hinter den Felsen verschwinden. Rechts für die Mädchen, links für Jungs.«
»Das Haus sieht so aus, als ob eine Familie nur noch einzuziehen bräuchte«, sagte Eden. »Die Frau sitzt in dem Schaukelstuhl, der Mann tritt auf die Veranda...«
»Ein Hund läuft über den Hof.«
»Ja. Ein Kind spielt dort, vielleicht ein Spiel, bei dem es singt.«
»Ein anderes Kind schlägt eine Tür im Haus zu. An dem Baum da drüben hängt eine Schaukel«, ergänzte Matt.
»Ja. Zwei Kinder. Wenn diese Leute auf einmal hier wären, hättest du das Gefühl, dass der Ort lebendig wird. Es wäre so real, dass sie uns zum Abendessen einladen würden. Sie hätten immer schon hier gelebt, in guten wie in schlechten Zeiten, mit Lachen und mit Tränen, aber sie wären immer zusammengeblieben.«
Matt fuhr zweimal um das dreiseitige Haus herum, scheuchte Kaninchen und Eichhörnchen auf und lockte ein paar Baumläufer aus der Eiche. Eden lehnte den Kopf zurück und ließ sich mit geschlossenen Augen von der Sonne wärmen. Das falsche Haus erfüllte sie mit unbändiger Freude.
Am Sonntagnachmittag darauf brachten Matt March und Eden Douglass ein Picknick an diesen Ort mit, und im Schutz des dreiseitigen Hauses liebten sie sich zum ersten Mal.
Picknick
Eden Louise Douglass wollte nicht, dass Matt March sie für einfallslos hielt. Dieses Picknick sollte Geschichte machen. Sie rief Annie Douglass an und fragte sie um Rat. Annie hatte die perfekte Picknicklösung - Gerichte, die man mit den Fingern essen konnte. Blaubeeren und Honigmelone, kühl und feucht. Hühnchenflügel und - unterkeulen, süß und heiß. Man konnte sich die Finger ablecken. Oder jemand anderer konnte sie ablecken.
 
Annies Augenschmaus im Sommer
Eine kleine Honigmelone in Stücke schneiden und in einer gelben oder weißen Schüssel anrichten. Frische Blaubeeren darüber streuen. Eine wahrer Augen- und Gaumenschmaus.
 
Annies süßes, heißes Picknickhühnchen
Butter und etwas Olivenöl in einer kleinen Pfanne schmelzen. Großzügig Cayennepfeffer, ein bisschen Salz, Pfeffer und zwei Prisen gemahlenen Piment hinzufügen. Gut verrühren. Hühnerflügel und -beine auf ein Backblech legen. Die Gewürzmischung darübergeben. Die Geflügelteile umdrehen, damit sie von allen Seiten bedeckt sind. Etwa 1 Stunde bei 220 °C backen, bis sie gar sind. Dabei mindestens einmal wenden. Sehr lecker und würzig.

MOMENTAUFNAHME

Die Toga und der Tonfilm

Es waren einmal zwei Brüder, Ernesto und Nico Marchiani. Ihr Vater war Schreiner und Sozialist. Als Italien im Mai 1915 in den Ersten Weltkrieg eintrat, wusste er, dass alle jungen Männer, die eingezogen würden, für den Profit von Kapitalistenschweinen, Königen und Kaisern getötet werden würden. Er schickte seine Söhne nach Amerika. Zwar wusste er, dass er sie nie wiedersehen würde, aber sie blieben wenigstens am Leben.
Zuerst fuhren Ernesto und Nico nach New York, wo sie jedoch nur einen Winter lang blieben. Sie konnten die Kälte nicht ertragen. Dann gingen sie nach Los Angeles und wohnten in der Garagenwohnung jenes Mannes aus Poggibonsi, der Schreihälse für seine sozialistischen Demonstrationen brauchte.
1917 verdienten die Brüder Marchiani vielleicht drei Dollars die Woche. Sie trugen Overalls, Werkzeuggürtel, rote Flanellunterwäsche im Winter und Strohhüte. Sie bauten Kulissen für Lesley Markowitz.
Heute ist Lesley Markowitz vergessen - Ernest March allerdings auch -, aber in den frühen Tagen des Stummfilms galt Markowitz als kreativ, erfindungsreich und erfolgreich. Er war dafür bekannt, dass er seine Leute herumscheuchte.
Nico, Ernesto und die anderen Arbeiter legten gerade letzte Hand an die Treppe des römischen Senats, als Markowitz’ Gehilfe sie mit den Worten verjagte: »Zeit ist Geld.«
Manche Dinge ändern sich nie.
Die Arbeiter traten beiseite. Mit großer Geste marschierte Lesley Markowitz auf die Bühne und nahm seinen Platz ein, während sich die Schauspieler versammelten. Alles war bereit, es fehlte nur der Star. Der Gehilfe ergriff sein Megaphon und rief ihn aus.
Ein Mädchen mit einer Toga machte Ernesto schöne Augen; selbst als er noch einen Overall trug, bemerkte er es nie.
Zwanzig Minuten vergingen. Zeit ist Geld. Markowitz kochte vor Wut. Und dann stolperte der Star sturzbetrunken auf die Bühne. Er fiel über die Treppe zum römischen Senat und rülpste.
Markowitz sprang von seinem Stuhl auf, riss dem Mann die Toga von der Schulter und ließ ihn nackt liegen. Dann drehte er sich um und musterte mit finsterem Blick seine Leute. Zeit ist Geld. Er sah Ernesto Marchiani am Rand stehen. »Hey, du!«, sagte er. »Zieh dich aus, leg diese gottverdammte Toga an, und mach dich an die Arbeit.«
Sie schwärzten Ernestos Augenbrauen, kleisterten ihm das Gesicht mit Make-up zu und schoben den Schreiner vor die Kamera. Sie sagten ihm, welche Gefühle er ausdrücken solle; zu sprechen brauchte er nicht. Er war ein Naturtalent. Beim nächsten Film steckten sie ihn in ein Lendentuch und sagten ihm wieder, was er fühlen und ausdrücken solle. Er tat, was sie ihm sagten. Niemand konnte es besser als er. Ernest March brach Herzen in ganz Amerika, obwohl sein Englisch schlecht war. Was spielte es schon für eine Rolle? In einem Film nach dem anderen bekam er das Mädchen und agierte als Liebhaber.
1919 verdiente er zweihundertfünfzig Dollars pro Woche, und er war mit seinem Bruder Nico und Nicos Frau Stella in ein großes Haus umgezogen. Als er Die grüne Göttin drehte, verdiente er dreitausend Dollars pro Woche und machte ungefähr fünf Filme im Jahr, meistens mit der schönen Blanche Randall. Sie verachteten einander. Sie hielt Ernest für einen blöden Spaghettifresser und er sie für eine kleine Nutte. Trotzdem dampfte der Kinosaal, wenn sich ihre Romanze auf der Leinwand abspielte. Ernestos Leinwandpräsenz wurde nur noch von John Gilbert, Ramon Novarro und Valentino übertroffen.
Als Valentino im August 1926 starb, wusste Ernest March, dass er jetzt nur noch mit John Gilbert und Ramon Novarro konkurrierte. Er wusste jedoch nicht, dass Valentino durch seinen Tod zur Legende wurde. Er wusste nicht, dass Ramon Novarro durch Ben Hur unsterblich werden und dass John Gilbert Greta Garbo haben würde. Und er wusste nicht, dass von ihm nichts bleiben würde, dass Ernest Marchs Name und Gesicht genauso aus dem Gedächtnis verschwinden würden wie der Stummfilm.
Nichts davon wusste er. Er, Nico und Nicos Frau Stella lebten in einer Villa. Nico spekulierte mit Ernestos Geld an der Börse, und Stella beschäftigte sich mit ihrem kleinen Sohn Matt, dem einzigen von drei Kindern, das überlebt hatte. Jeden Morgen ging Stella nach St. Agnes zur Messe. Die March-Männer trugen teuerste Anzüge, maßgeschneiderte Hemden aus England, Manschettenknöpfe aus 24-karätigem Gold und handgenähte italienische Schuhe.
Eines Frühlingstages fuhr die Familie nach Norden zum Picknick. Sie fanden die Anhöhe mit dem fantastischen Blick auf den Greenwater-See und die Hügel darum herum.
Ernest March verliebte sich. Für einen Mann, der nie heiratete, ging die Bindung äußerst tief. In Agua Verde sah Ernesto so etwas wie sein eigenes kleines Königreich; so weit das Auge blickte, gehörte alles ihm, hier konnte er rauschende Feste geben. Er kam, er sah, er baute, froh darüber, dass seine Filme ihn mit dem nötigen Kleingeld dazu versahen.
Bei der Premiere des ersten Tonfilms, Der Jazzsänger, säumten Menschenmengen den Bürgersteig und jubelten Ernest March und Blanche Randall zu, die strahlend aus dem Tower Theatre kamen. Als sie in dem Auto saßen, das Lesley Markowitz zur Verfügung gestellt hatte, fluchte Blanche Randall und zündete sich eine Zigarette an. Ernest March sagte dem Fahrer, er solle ihn zum Hotel Ambassador bringen, wo er immer abstieg, wenn er die Nacht in der Stadt verbringen musste. Dort nahm er meistens noch einen Drink in der Cocoanut Grove Bar und fand ein williges Mädchen, das mit ihm lachte, tanzte und mit ihm nach oben ging.
Am nächsten Tag kehrte er nach Hause zurück. Während er in der Küche der Hacienda das Mittagessen zubereitete, erklärte er Nico und Stella, dass Mr. Al Jolson mit seinem schwarzen Gesicht zwar sehr schön »You ain’t heard nothin’ yet« gesungen habe, dass jedoch sein Song »Toot Toot Tootsie« nicht La Traviata sei. Ernesto wischte sich die Hände an der Schürze ab und legte Aida auf. Er sagte, Der Jazzsänger wäre weder Ben Hur noch Die grüne Göttin.
Ein paar Monate später blieben Ernesto, Nico und Stella über Nacht in der Stadt, um in die Matinee-Vorstellung eines Films zu gehen, von dem alle redeten. The Lights of New York war ein alberner Streifen über Friseure und Schmuggler. Auch dieser Film war nicht Ben Hur. Es war der vierte Tonfilm, aber damals traute dem Ton noch keiner, und es gab immer noch Untertitel.
Ernesto, Nico und Stella saßen im dunklen Theater, während menschliche Stimmen von der Leinwand kamen. Das Publikum um sie herum machte seinem Erstaunen lautstark Luft, Ach, du meine Güte! Hast du das gehört!, obwohl Mundbewegungen und Ton noch nicht ganz übereinstimmten, und die Stimmen vor lauter Krachen und Rauschen manchmal kaum zu verstehen waren.
Und plötzlich stand jemand aus einer der ersten Reihen auf, drehte sich um und rief: »Haltet endlich den Mund, damit wir den verdammten Film hören können.«
Ernesto, Nico und Stella zuckten zusammen. Den verdammten Film hören? Wie kann man einen Film hören? Die Bilder bewegten sich doch! Aber es war eben jetzt ein Tonfilm.
Die drei gingen, bevor The Lights of New York zu Ende war. Sie fuhren ins Ambassador, wo ihre Zimmer königlich ausgestattet waren, mit Blumen und Obstschalen. Sie ließen sich maniküren und pediküren, zogen ihre Abendgarderobe an und gingen zum Dinner zu Pierino’s an der La Cienega, wo sie wie königliche Hoheiten behandelt wurden. Der beste Tisch.
Nach dem Essen kehrten sie ins Ambassador, in die Cocoanut Grove Bar, zurück. Ein Raunen ging durch die Menge: Ernest March ist gekommen. Er bestellte Champagner und Eiscreme für sich und seine Begleitung. Bananeneiscreme in Kristallkelchen auf einem Bett aus frischer Minze. Jemand ließ ihnen mit seinen besten Empfehlungen eine Flasche Champagner an den Tisch bringen. Die Leute reichten Ernesto Servietten oder Taschentücher, damit er sie signierte. Sie fragten ihn, wann er denn in einem Tonfilm zu sehen wäre, und da sein Englisch unvollkommen war, schenkte er ihnen ein strahlendes Lächeln, das nicht übersetzt werden musste.
Ein schönes Mädchen in einem rückenfreien Abendkleid mit Goldfransen lächelte ihn an, und auch dieses Lächeln brauchte keine Übersetzung. Sie gaben ein schönes Paar auf der Tanzfläche ab, und die Leute applaudierten ihnen. Die Kapelle spielte, solange sie tanzen wollten.
Das Mädchen in dem Kleid mit den Goldfransen ging mit Ernest nach oben.
In jener Nacht liebten sich Nico und Stella, schließlich war es ein außergewöhnlicher Anlass.
Beim Frühstück war das Mädchen nicht mehr da. Ernest, Nico und Stella frühstückten gemütlich am Pool des Ambassador. Der Pool in Agua Verde war zwar schon ausgehoben, aber noch nicht gebaut. Ernesto und Nico schwammen ein wenig und machten sich dann reisefertig. Ernesto und Nico so adrett wie immer, und Stellas blauer Seidenschal bildete einen hübschen Kontrast zu ihrer bräunlichen Haut. Ernest March bezahlte die Hotelrechnung mit einem Scheck und hinterließ ein denkwürdiges Trinkgeld. Der Manager rief einen Pagen, und die drei wurden mitsamt ihrem Gepäck zu ihrem Fahrzeug eskortiert.
Am Nachmittag ging Ernest March zu dem großen, nierenförmigen Loch, aus dem der Swimmingpool in Agua Verde werden sollte. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und rutschte im Schlamm in das tiefe Ende der Grube. Dort saß er drei Stunden lang und hielt sich eine Pistole an den Kopf, bis sein Bruder ihn fand.

3

Ihre Fingerspitzen waren blau vom Kohlepapier, aber alles lag perfekt geordnet in der Mappe, auf der stand: MARCH, MATT, GREENWATER PICTURES. Alle Anträge und Formulare, die Berechnungen, Steuerunterlagen, Versicherung und ein Plan des Teils der vierhundert Morgen, der beliehen werden sollte, um Matts Träume wahrzumachen.
So oft wie möglich kam Matt am späten Nachmittag von Greenwater, um sich mit Eden nach ihrer Arbeit in der Bank in ihrer kleinen Wohnung zu treffen. Oft geschah das spontan und ungeplant. Wenn Eden sah, dass der Jeep aus Greenwater vor dem Haus parkte, schloss sie auf und warf sich in Matts Arme.
Sie liebten sich und gingen dann zu Pierino’s. Vielleicht arbeiteten sie auch am Kreditantrag. Sie gingen ins Kino, am liebsten in Western, saßen in der letzten Reihe mit ihrem Popcorn, und Matt erzählte ihr flüsternd, was er bei seinen Western anders machen würde. Oder sie holten sich chinesisches Essen in kleinen Pappkartons, setzten sich in ihre geräumige Badewanne und fütterten einander mit Stäbchen. In jenem Sommer nahm Matt March Eden an Orte mit, die sie nie erträumt hätte. Sie gingen auf Partys in den Häusern der Filmproduzenten. Sie trafen sich mit diesen Männern und Frauen in Bars und Cafés an Sunset und Gower, sie pfiffen und applaudierten, als die Sons of the Sagebrush in einer Bar am Ende des Tals auftraten. Häufig verabredeten sie sich mit Ginny und Les Doyle im Lieblingscafé der Stuntmen, wo das Essen einfach war, die Kellnerinnen stämmig, das Bier kalt und Hank Williams aus der Jukebox ertönte. Sie gingen zu einem denkwürdigen Essen bei Juan und Marinda Reynolds. Juan, der an einem schrecklichen Husten litt, war seit vielen Jahren Stuntman. Marinda war eine fabelhafte Köchin, eine zarte, grauhaarige Frau, die von der mexikanischen Revolution erzählte und wie sie mit Pancho Villa Eiscreme gegessen hatte.
Aber Matt stellte Eden nie seiner Familie vor, und Eden nahm Matt auch nie zu ihrer Mutter mit. Matt kannte Annie, das musste reichen. Die Zeit, die sie mit ihm hatte, wollte sie mit niemandem teilen, und sie wollte sich nicht ständig für Kitty entschuldigen müssen.
Wenn Matt früh am Morgen die Wohnung verließ, weckte er Eden nie auf; es war eine lange Fahrt nach Greenwater, und die Arbeit begann schon in der Dämmerung. Seine Wärme jedoch blieb den ganzen Tag bei Eden und umhüllte ihren Körper wie ihre Seele. Sie liebte ihn. Er liebte sie. Sie sprachen oft von ihrer Liebe, manchmal wortlos, mit einer Liebkosung, einem Blick oder einfach mit der Wärme, die ihre Körper ausstrahlten. Aber Matt sprach nicht von Heirat. Wenn sie von der Zukunft redeten, ging es um Matts Träume für Greenwater und um den Kredit. Eden war entschlossen, ihn zu heiraten, aber sie wartete, bis er ihr einen Antrag machte.
Im August waren alle Unterlagen für den Kredit fertig, und Matt machte einen Termin mit Walter Brock. Edens Beitrag, ihr Wissen und ihre Erfahrung, erwähnte er nicht.
Walter Brock sagte, er werde Matts Antrag dem Finanzausschuss der Bank vorlegen. Fünf Tage später teilte Walter Eden mit, dass die Columbia First National für gewöhnlich nicht in so etwas investierte - er suchte nach dem richtigen Wort... Aber Greenwater sei ein schöner Grundbesitz. Das Tal boomte, und die Investition stand auf soliden Füßen. Er reichte Eden die Akte und bat sie, einen Termin mit Mr. March zu machen, damit er die Dokumente unterschreiben und sich sein Geld abholen könne.
Geschäftsmäßig sagte Eden am Telefon: »Mr. March? Mr. Brock möchte am Donnerstag um zwei Uhr einen Termin mit Ihnen machen.« Sie kannte Walter Brocks Gewohnheiten. Morgens war er oft mürrisch, weil er sich mit seiner Frau gestritten hatte. Aber nach ein paar Stunden Arbeit, Flirten und ein oder zwei Martinis beim Mittagessen war seine schlechte Laune verflogen. Matt schrie am anderen Ende der Leitung glücklich auf, aber Eden ließ sich nichts anmerken. Als sie auflegte und sich umdrehte, stand Walter Brock immer noch vor seiner Glastür.
»Bringen Sie mir bitte einen Kaffee, Eden. Sie wissen ja, wie ich ihn mag. Genau wie meine Frauen. Heiß und süß.«
»Ja, Walter.« Eden stand auf. Vor etwa sechs Wochen hatte Walter eine Affäre mit einer jungen Frau aus einer anderen Abteilung begonnen. Er lud Eden nicht mehr zum Lunch ein, und seine Anspielungen hatten sich auf gelegentliche Bemerkungen wie jetzt beim Kaffee reduziert.
Um an diesem Donnerstagnachmittag Matts Kredit zu feiern, hatte Eden ein Usambaraveilchen für ihren Schreibtisch gekauft. Sie zog ihre Schreibtischschublade auf und überprüfte ihr Make-up in dem Spiegel, den sie dort verwahrte: keinen Lippenstift an den Zähnen, die Haut leicht gebräunt und strahlend von den Wochenenden, an denen sie im offenen Jeep in Greenwater herumgefahren waren. Ihre Augen leuchteten, ihre kurzen Haare waren leicht toupiert. Sie trug eine elegante Seidenbluse, und der Duft von Chanel No. 5 stieg ihr in die Nase.
In der Zeit mit Matt hatte sie Seide schätzen gelernt: Seidenblusen, Seidenhöschen, seidene Wäsche ersetzten die Baumwollwäsche, die sie ihr ganzes Leben lang getragen hatte. Ein mit Spitze besetzter Strumpfgürtel hielt ihre Seidenstrümpfe. Ein Mieder trug sie nicht mehr, weil es Matt nicht gefiel. Er sagte, er wolle gerne sehen, wie ihr Hintern sich bewegte, wenn sie ging, und wenn er ihr aufs Hinterteil klatschte, wolle er Fleisch spüren und kein Miederhöschen. Sie dachte an den heutigen Abend, an ihr Essen bei Pierino und dann … ein leiser Schauer überlief sie. Du bist in der Bank, schalt sie sich selber, schlug die Beine übereinander und schloss die Schreibtischschublade. Sie blickte auf die Wanduhr über den Aktenschränken. Zehn Minuten nach eins. Sie brachte Matts Akte in Brocks Büro und legte sie auf den Schreibtisch. Viertel nach eins.
Sie beschäftigte sich, tippte, überprüfte Rechnungen und Termine. Um Viertel vor zwei betrat Matt March die Bank. Eden blickte ihm entgegen; er war kein besonders großer Mann, aber er bewegte sich mit solcher Vitalität, dass in Edens Augen alle anderen Männer in seiner Gegenwart zu verblassen schienen. Während er über den Marmorboden schritt, blickten die Kassierer auf, die Sekretärinnen schauten ihm nach, und sogar die Bankmanager schienen auf ihn zu reagieren.
»Walter ist noch nicht da«, sagte Eden. »Du bist zu früh.«
»Ich bin nervös.« Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Schreibtisch.
»Das brauchst du nicht zu sein. Möchtest du hier warten oder in seinem Büro?«
»Wie machen es denn die anderen Leute?«
»Du bist nicht die anderen Leute.« Sie achtete sorgfältig darauf, ihren Gesichtsausdruck neutral zu halten. Jeder in der Bank sah sie am Schreibtisch sitzen. Man kommt sich vor wie in einem Aquarium, dachte sie.
Matt warf ihr einen nervösen Blick zu. Er räusperte sich. »Ich möchte dir danken, dass du mir bei den Formularen so sehr geholfen hast. Und du hast entscheidend dazu beigetragen, dass ich alles für möglich halte. Alles.«
Mrs. Abigail Franklin kam vorbei. Sie schenkte Eden ein süßsaures Lächeln. »Du solltest besser in Walters Büro warten«, sagte Eden zu Matt. »Ich möchte nicht, dass jemand auf die Idee kommt, ich hätte irgendwas mit deinem Kredit zu tun.«
»Sie sollen nicht wissen, dass wir uns lieben?«, fragte Matt leise. »Warum denn nicht? Wen interessiert das schon?«
»Lass uns zuerst den Kredit unter Dach und Fach bringen. Dann ist alles andere egal.« Sie stand auf und öffnete die Glastür zu Mr. Brocks geräumigem Büro. »Hier entlang, Mr. March. Mr. Brock ist gleich bei Ihnen. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Ich wette, das sagst du zu allen Männern.« Er setzte sich in den Stuhl vor Brocks Schreibtisch und starrte auf die Tennistrophäen. Eden ging wieder an ihren Schreibtisch und schloss die Tür hinter sich.
Um zehn nach zwei war Walter Brock immer noch nicht da. Um fünf vor halb drei hatte Eden nasse Handflächen, und der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie telefonierte herum, um nachzuforschen, ob Mr. Brock vielleicht in einem anderen Büro war. Aber er war nirgendwo zu finden. Sie wagte nicht, ihr Büro zu verlassen, um nach ihm zu suchen. Angenommen, er käme in der Zwischenzeit, und sie säße nicht an ihrem Platz? Sie wagte auch nicht, mit Matt in Brocks Büro zu warten. Matt sollte nicht sehen, wie besorgt sie war. Hatte sie vielleicht etwas übersehen? Hatte Walter einen Unfall gehabt? Alle möglichen Dinge schossen ihr durch den Kopf.
Schließlich sah sie Walter Brock durch den Haupteingang kommen. Er und ein anderer Mann kamen auf das Büro zu. Es war Mr. Simon, Brocks Termin für halb drei! Ach du lieber Himmel! Eden stand auf und sprudelte hervor: »Mr. March wartet auf Sie, Walter. Haben Sie ihn vergessen? Er war...«
»Das dauert nur eine Minute«, sagte Walter zu Mr. Simon. Er ignorierte Eden völlig. »Nehmen Sie Platz.« Er wies auf den Stuhl neben Edens Schreibtisch. »Sie gibt Ihnen einen Kaffee.« Er verschwand hinter seiner undurchsichtigen Glastür, und man hörte Stimmengemurmel.
»Ein Kaffee wäre wunderbar«, sagte Mr. Simon.
Eden ließ sich schwer auf ihren hölzernen Bürostuhl sinken. Irgendetwas hatte sie vergessen. Irgendetwas Wichtiges! Was war es nur? Sie kam nicht darauf. Nachdenklich knabberte sie an ihrem Daumennagel und ging im Geiste alle Unterlagen noch einmal durch. Hatte sie etwas übersehen? Aber Greenwater gehörte eindeutig Matt March, also war mit dem Kreditantrag alles in Ordnung. Es musste etwas anderes sein.
Die Glastür ging auf und Matt trat heraus. Sein Gesicht war blass, die Lippen hatte er zusammengepresst, und seine dunklen Augen blickten ausdruckslos. Er hatte nichts in der Hand und ging ohne ein Wort an Eden vorbei.
»Hier entlang«, sagte Walter zu Mr. Simon. »Was, kein Kaffee?«
»Was geht hier vor sich?«, fragte sie Brock. »Was ist mit dem Geld?«
»Der Kredit?« Walter führte Simon in sein Büro. Eden folgte ihnen. Brock ergriff die Aktenmappe, MARCH, MATT, und reichte sie ihr. »Der Kredit wurde abgelehnt.«
»Nein, das stimmt doch nicht. Der Finanzierungsausschuss...«
»Hat es sich anders überlegt. Nach eingehenderer Prüfung sahen wir uns nicht imstande, Geld für Cowboys und Indianer zu verleihen. Nein, wir haben uns dagegen entschieden.« Er schwieg und blickte ihr ins Gesicht. »Ich handle im Auftrag der Bank. Wie Sie im Übrigen auch. Zeit ist Geld.«
Eden verschlug es die Sprache. Und dann sah sie das Glitzern in seinen Augen. Und da wusste sie, was sie übersehen hatte.
Sie drehte sich um, die Akte an die Brust gepresst, aber Matt March war nirgendwo zu sehen. Sie legte die Aktenmappe auf ihren Schreibtisch und rannte hinter ihm her. Die anderen Angestellten blickten erstaunt auf, als sie an ihren Schreibtischen vorbeilief. Ein Murmeln ging durch den Saal. Anscheinend war Eden entgangen, was alle anderen irgendwie gewusst hatten.
In der grellen Augustsonne blickte sie die Spring Street entlang und sah Matt, als er gerade um die Ecke biegen wollte. Laut rief sie seinen Namen und rannte auf ihren hohen Absätzen hinter ihm her. Als er endlich stehen blieb und sich umdrehte, schlang sie ihm die Arme um den Hals. »Oh, Matt! Es tut mir so leid! Es liegt nicht an dir! Auch nicht an Greenwater! Das ist nicht der Grund, Matt!« Sie schüttelte ihn. »Hör mir zu! Sieh mich an! Rede mit mir!«
In seinen Augen stand ein solcher Schmerz, eine solche Demütigung, dass sie es kaum ertragen konnte. Er löste ihre Hände von seinen Schultern. »Ich nehme es nicht persönlich«, erklärte er. »Ich verstehe etwas vom Geschäft. Ich bin kein blöder Spaghettifresser.«
»O Gott, Matt! Was hat er bloß zu dir gesagt? Der Bastard. Hör mir zu..., bitte.« Sie umfasste seinen Kopf mit beiden Händen und streichelte sein blasses Gesicht. »Es war meine Schuld, Matt. Brock hatte nie vor, dir das Geld zu leihen. Ich habe es nur nicht begriffen. Ich wollte nicht mit ihm schlafen. Das ist die schmutzige Wahrheit.« Sie weinte. »Walter Brock war vom ersten Tag an hinter mir her. Aber ich wollte nicht.«
Wie eine kleine Insel standen sie im Strom der Menschen auf dem Bürgersteig. Matt war wie erstarrt und hörte reglos zu, wie Eden wütete und schluchzte. »Verstehst du nicht, Matt? Er weiß, wie sehr ich dich liebe. Wie sehr ich an dich glaube. Und er wollte dich auch verletzen. Oh, dieser widerliche schleimige Hurensohn! Oh, Matt, es tut mir so leid!«
Matts Miene hellte sich auf. »Was?«
»Das mit dem Kredit. Mit Brock. Mit allem.«
»Vergiss Brock.« Matts Stimme war klar und leidenschaftslos. »Tut es dir leid, dass du mich liebst?«
»Nein. Warum das denn? Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben.«
»Willst du mich heiraten?«
»Was?«
»Willst du mich heiraten?«
»Ja. Ja, ich will.«
»Sofort. Heute.«
»Es ist schon spät. Heute können wir nicht mehr heiraten.«
»Wir können nach Mexiko fahren. Da ist es nie zu spät. Wenn du willst, können wir in Mexiko heiraten.«
»Mexiko?«
»Ja. Warum sollen wir warten? Keiner von uns ist religiös. Wir sind alt genug. Meine Mutter freut sich bestimmt, wenn ich verheiratet bin. Denk an meine arme, alte Mutter.«
»Ich kenne deine Mutter doch gar nicht, Matt. Ich habe sie noch nicht kennengelernt.«
»Und ich kenne deine Mutter auch nicht. Was macht das schon? Warum sollen wir warten? Wir brauchen keine Erlaubnis. Wir hören einfach auf unser Herz. Mein Herz sagt mir, du bist die richtige Frau für mich. Jetzt. Immer. Wenn wir ein gemeinsames Leben beginnen wollen, warum dann nicht heute schon? Wenn du mich allerdings nicht heiraten willst, ist es etwas anderes.«
»Du bist der richtige Mann für mich. Jetzt. Immer. Ja.« Eden schloss die Augen, und er zog sie in die Arme und küsste sie. Dann ergriff er ihre Hand und zog sie zum Wagen.
»Warte. Ich muss noch mal zurück.«
»Warum? Willst du für den Bastard etwa noch mal arbeiten? Zur Hölle mit ihm! Mit der gesamten Columbia First National!«
»Ich muss meine Sachen holen. Den Kreditantrag. Wir haben uns schließlich die ganze Arbeit gemacht. Das lasse ich Brock nicht einfach da. Die Columbia First National ist nicht die einzige Bank. Wir werden uns den Kredit woanders holen. Komm mit mir.«
Er überlegte einen Moment, dann ergriff er ihren Arm, und gemeinsam gingen sie zur Bank zurück. In der Halle wäre Eden am liebsten stehen geblieben und hätte allen zugerufen, dass sie und Matt heiraten würden, dass sein Erfolg die Columbia beschämen würde! Als sie zu ihrem Büro gingen, verstummten die Gespräche, und alle Blicke folgten ihnen.
Sie nahm das Namensschild von ihrem Schreibtisch und warf es in den Papierkorb. Dann ergriff sie ihre Handtasche und schob sich die Aktenmappe mit dem Kreditantrag unter den Arm. »Ich bin bereit«, sagte sie.
Die Glastür ging auf, Walter Brock trat heraus und wollte anscheinend etwas sagen.
»Ich kündige, Walter. Matt und ich heiraten. Heute.« Und im letzten Moment fiel ihr noch ein, das Usambaraveilchen mitzunehmen.
Um ihre romantische Flucht auch nach außen hin zu dokumentieren, fuhren sie nicht mit dem Jeep nach Mexiko, sondern mit Annies altem Cord Cabrio. Sie hielten nur einmal an. Matt ging zu seiner Bank und hob dreihundertfünfzig Dollars in bar ab. Wahrscheinlich wäre er pleite, wenn er nach Hause kam, dachte er, aber ihre Hochzeit würde er nie vergessen. Dann fuhren sie nach Süden, Matt am Steuer. Er fuhr viel zu schnell, und der Wind zerzauste ihre Haare.
»Ich hoffe nur, dass du es hinterher nicht bereust, dass du keine große Hochzeit mit allem Drum und Dran hattest.«
»So etwas wollte ich nie«, gestand Eden. »Vor allem nicht, nachdem ich für Miss Merton gearbeitet und ständig beschrieben habe, was die Braut trug und wer eingeladen war. Nein, das will ich ganz bestimmt nicht.«
»Was willst du denn?«
»Dich. Ich will, dass du mich liebst. Und ich möchte dich mit Körper und Seele ein ganzes Leben lang lieben.«
»Ja, das will ich auch.«
In Ensenada traute sie ein mexikanischer Friedensrichter, dessen Hinterzimmer, das für diese feierlichen Gelegenheiten vorgesehen war, in der Augusthitze stickig und erdrückend war. Der Friedensrichter war etwa fünfzig, mit einem harten, wenig glücklichen Gesicht und dünnen Haaren. Er redete Spanisch und hob den Zeigefinger, als Matt und Eden sagen mussten. Seine Frau fungierte als Trauzeugin. Im Gegensatz zu ihrem Mann zwinkerte sie ihnen zu, lachte, klatschte und freute sich über ihr Glück.
Wenn Miss Merton anwesend gewesen wäre, hätte sie notiert, dass die Braut eine mexikanische Spitzenbluse mit tiefem Ausschnitt trug, die sie erst am Nachmittag gekauft hatte. Der weite Rock passte farblich dazu, und an den bloßen Füßen trug sie neue Sandalen. Um den Hals hing an einer Goldkette ein Smaragdanhänger, Matts Hochzeitsgeschenk für sie.
Matt sagte, das alte Rosarito Beach Hotel sei besonders glamourös und der beste Ort für Flitterwochen. Eden fragte nicht, woher er das wusste. Sie war zufrieden damit, seine Frau zu sein, ein Zimmer mit Meerblick und einen breiten Strand zu haben. Die ganze Zeit spielten umherziehende Mariachis. In der dunklen, kühlen Bar mit den Ventilatoren an der Decke drängte Matt den Barkeeper, einen neuen Drink zu kreieren, den er Blue Eden nannte. Er färbte ihre Lippen blau und hinterließ einen salzigen Geschmack, wenn sie sich küssten.
Von ihrem Hotelzimmer aus machten sie die notwendigen Anrufe. Zuerst rief Matt Signature und Monogram Pictures an und ließ sich fröhlich von ihnen zur Heirat gratulieren. Anschließend musste er natürlich die Braut küssen.
Um seine Mutter Stella und Ernesto anzurufen, stand Matt auf und zog seine Hose an. Er wusch sich das Gesicht und kämmte sich die Haare. Eden erinnerte sich, dass er gesagt hatte, seine Mutter lege viel Wert auf Äußerlichkeiten. Er saß auf der Bettkante, die eine Hand um Edens Hüfte gelegt, die sich an ihn schmiegte. Dann rief er an.
Enthusiastisch verkündete er, dass er geheiratet habe, aber das anschließende Gespräch bestand aus nicht viel mehr als »Nein, Mama«, »Ach komm, Mama« und Bekundungen seiner Liebe zu Mutter und Onkel. Als er auflegte, blickte er Eden entschuldigend an. »Bis wir nach Hause kommen, haben sie es verkraftet.«
Zum ersten Mal wurde Eden klar, dass sie mit Stella und Ernesto zusammenleben würde. So weit hatte sie noch gar nicht gedacht, und auch jetzt verdrängte sie den Gedanken erst einmal wieder.
Eden rief Annie an, deren Freude sie für die gedämpfte Reaktion in Matts Familie entschädigte. »Sagst du es Ma?«, fragte Eden sie. »Sie will bestimmt alles ganz genau wissen und hört dann nicht mehr auf zu reden. Ich kann es im Moment nicht ertragen, mit ihr zu sprechen.«
»Okay, ich sage es ihr, mach dir keine Sorgen. Das wird sie aufmuntern.« Annie lachte. »Aber das mit Ernest March erzählst du ihr. Das mache ich nicht.«
»Ja, aber später. Das mache ich später. Und kannst du auch Afton anrufen?«
»Ach du lieber Himmel, Afton!« Annie schrie leise auf. »Ja, klar, das mache ich schon. Vergiss du erst einmal dieses ganze Familienzeug. Geht an den Strand tanzen. Und sag Matt, er ist ein glücklicher Mann!«
Das Hochzeitsfoto von Mr. und Mrs. Matt March hätte Winifred Merton nicht gefallen, und auch Matts Mutter war nicht besonders glücklich darüber. Aber Eden brachte es immer zum Lächeln. Auf einer Straße in Ensenada posierten Matt und Eden in Sombreros und Ponchos. Eden saß auf dem Rücken eines geduldigen Esels, und Matt stand stolz daneben. Der Esel trug ein Geschirr mit Glöckchen und Bändern und einem Spruchband, auf dem VIVA MEXICO! stand. Das Foto war zwar in Schwarz-Weiß, aber Eden kam es immer so vor, als sei es voller Farben, Duft und Lachen. Ihre Lippen waren ein wenig blau vom Blue Eden, ihre Finger klebrig von den bunten Tieren aus Zucker, die sie gerade gegessen hatte. In ihrer verschwitzten Hand waren sie zu einer farbigen Masse zusammengeschmolzen, die aussah, als hielte sie einen tropischen Sonnenuntergang in der Hand.
Blue Eden
Den Rand eines Kelchglases mit einer Zitronenscheibe anfeuchten. In Salz drehen, sodass der Rand damit bedeckt ist. Ein paar Eiswürfel hineingeben, einen Schuss guten Tequila und zwei Schuss Blue Curaçao. Mit Tonicwater aufgießen. Gut umrühren und eine ganze Zitronenscheibe hineingeben.
Schmeckt immer gut, aber am besten an einem heißen Sommerabend in Gesellschaft von jemandem, der dich auch küsst, wenn deine Lippen ein bisschen blau sind.

MOMENTAUFNAHME

Eine katholische Erziehung

Im Gegensatz zu ihrem leichtfüßigen Sohn war Stella March die Schwerkraft. Der Schmerz gehörte für sie zum Leben dazu, und Veränderungen betrachtete sie mit düsteren Blicken. Sie war eine kleine, kugelrunde Frau mit dunklen Schatten um die Augen, die ihr Sohn von ihr geerbt hatte. Sie schminkte sich nie und benutzte noch nicht einmal Lippenstift. Ihr Mangel an Eitelkeit war ein Akt der Buße. Stella trug immer Schwarz oder Grau, seit sie 1944 Witwe geworden war. Eigentlich hatte sie erwartet, mehr zu leiden, als Nico starb. Und natürlich trauerte sie auch um ihn, aber da sie sowieso eine gläubige, ernste Person war, machte es kaum einen Unterschied.
Sie hatte Nico Marchiani und seinen Bruder Ernesto in der Wohnung ihrer Familie in New York Citys Little Italy kennengelernt. Ihr Bruder Alberto hatte sie eines Abends zum Essen mitgebracht. Sie aßen mit Appetit. Sie redeten und lachten. Sie arbeiteten auf der gleichen Baustelle wie Alberto und waren alle Sozialisten. Stellas Mutter machte eine Bemerkung über Ernestos Schönheit.
Aber trotz seines guten Aussehens fühlte Stella sich nicht zu Ernesto hingezogen. Für sie kam vom ersten Augenblick an nur Nico infrage. Und als Nico ihre marmorweiße Haut, ihre dunklen Augen mit den schweren Lidern und ihre üppigen Haare sah, war es um ihn geschehen. Als gutes katholisches Mädchen ließ sich Stella nur einen winzigen Kuss abringen, damit Nico Marchiani wusste, wie ernst es ihr war. Schon damals nahm sie alles ernst. Aber sie war auch schüchtern und nachdenklich.
Als der Winter kam, war es den Brüdern Marchiani in New York zu kalt, und das Gespräch kam auf einen Cousin oder Nachbarn aus Poggibonsi in Los Angeles, der ihnen Arbeit besorgen konnte. Er hatte eine Wohnung über seiner Garage. Sie warteten bis zum Frühjahr, dann fuhren die Marchianis mit dem Zug nach Wichita und von dort per Anhalter weiter nach Los Angeles.
Nico schrieb oft aus Kalifornien. Stella antwortete. Er und sein Bruder hatten eine gute Arbeit bei Lesley Markowitz gefunden. Hatte Stella jemals ein Bild von Lesley Markowitz gesehen?
Daraufhin ging Stella extra ins Kino, um sich eine Kulisse von Lesley Markowitz anzuschauen. Sie schrieb Nico zurück, sie habe weder ihn noch Ernesto in dem Film gesehen.
Nico antwortete, sie seien keine Schauspieler. Sie bauten die Kulissen für Markowitz. Ob sie nicht bitte mit dem Zug nach Los Angeles kommen und ihn heiraten wolle? Er liebte sie. Er würde ihr ein guter Ehemann sein. Sollte er an ihren Vater schreiben?
Stella dachte darüber nach, während sie in der Nähe der elterlichen Wohnung Wäsche faltete und bügelte. Wenn es nicht zu heiß war, wie im Sommer, dann bügelte Stella gerne. Sie fand es beruhigend, und man sah immer, was man geschafft hatte. Das Bügeleisen war eindeutig. Sie würde ihn heiraten.
Als sie mit Nico verheiratet war, dachte Stella, Ernesto würde ausziehen, aber davon war nie die Rede. Als Ernesto als Schauspieler gutes Geld verdiente, zogen sie alle drei in eine Villa an die Wets Adams. Stella, die in New York City geboren und aufgewachsen war, blieb immer ein Stadtmädchen und liebte dieses Haus. Sie konnte zu Fuß in die Kirche gehen. Agua Verde liebte sie nicht. Dort war es zu ruhig, und es gab keine Kirche in der Nähe. Keine Straßengeräusche. Sie litt.
Aber Leiden gehörte zu ihrem Leben, und Stella akzeptierte es. Damit kannte sie sich aus. 1922 kam eine Nachricht von ihrem Priester in New York. In dem Haus, in dem ihre Familie lebte, hatte eine Gasexplosion stattgefunden, und alle waren umgekommen. Von ihren drei Schwangerschaften waren zwei Totgeburten, aber das dritte Kind, Matteo, lebte. Sie sagte zu Gott, sie sei mit einem Kind zufrieden und würde nicht um mehr bitten. Sie wolle Seine Geduld nicht zu sehr auf die Probe stellen. Sie versprach Gott, wenn Matteo am Leben bliebe, wolle sie sich ganz der Kirche widmen und auch ihren Sohn der Kirche schenken. Und das tat sie, indem sie Matt mit sechs Jahren nach St. Ignatius schickte.
Ohne den Jungen hielten sich die drei Erwachsenen in Agua Verde in streng getrennten Bereichen auf. Stella war eine tief gläubige Katholikin. Ernesto kochte und spielte dabei auf dem Grammofon, das er in der Küche aufgebaut hatte, Opernplatten ab. Nico spekulierte mit Ernestos Geld, solange es da war, an der Börse. Dann kamen fast gleichzeitig der Börsenkrach und die Tonfilme. Aber ganz gleich, wie knapp sie waren, Stella bestand darauf, dass auf jeden Fall das Schulgeld für Matteo in St. Ignatius gezahlt werden musste. Er durfte nicht mit Bauern zur Schule gehen. Er musste eine katholische Erziehung haben.
Aber trotz der Erziehung bei den Jesuiten wurde aus Matt kein guter Katholik. Er entdeckte früh und mit großer Begeisterung, dass es Mädchen gab. Als Junge ging er gern zur Beichte, um den Priester zu schockieren. Als Mann hatte er zahlreiche Freundinnen, war auch mit verheirateten Frauen zusammen. Er brachte diese Frauen jedoch nicht mit auf die Hacienda, die spärlich möbliert war und vor Leere hallte. Er stellte sie nicht den alten Herrschaften vor, seinem schweigenden, übergewichtigen Onkel Ernesto, seiner grimmigen, leidenden, verwitweten Mutter. Manchmal sahen Stella und Ernesto Matt tagelang nicht. Oder er kam nur nach Hause, um sich umzuziehen, rasch mit ihnen etwas zu essen, charmant zu plaudern, und dann war er wieder weg.
Wohin geht er bloß?, fragte Stella dann immer Ernesto, der nur mit den Schultern zuckte.
Stella wusch für Matt, bügelte seine Hemden, und mit der Hitze des Bügeleisens stieg der Duft der Frauen auf, die Ausdünstung von Sex, verrauchten Restaurants und Cafés, von Jazzclubs und albernem Gelächter auf den Rücksitzen der Autos. Manchmal hatte er Wettscheine von verlorenen Pferderennen in der Tasche und gelegentlich Sand von unbekannten Stränden, Streichholzschachteln von Restaurants und Clubs mit unbekannten Namen. Stella hätte Matts Buße nur zu gerne übernommen, aber er beichtete ihr nichts, und sie konnte sich seine Sünden nicht einmal vorstellen.

4

Vom Büro aus rief Annie Douglass bei den Marchs an und gratulierte Ernesto zur Hochzeit seines Neffen mit Eden Douglass. Sie rief auch an, um Stella und Ernesto zu einem Empfang für das Brautpaar bei ihrer Rückkehr aus Mexiko einzuladen. Annie wollte in ihrem Haus in Encino eine kleine Party geben. Ernesto lauschte, entschuldigte sich und gab den Hörer an Stella weiter.
Stella war höflich, aber bestimmt. Ja, gut, der Empfang für das Brautpaar - Annie bemerkte, dass sie über das Wort ein wenig stolperte -, das aus Mexiko zurückkäme - eine weitere traurige, vielsagende Pause -, aber er müsste bei ihnen stattfinden, auf Agua Verde, Matts Familiensitz. »Sie sind doch Annie Douglass von Oasis, den Caterern?«, fragte Stella. »Dann macht es Ihnen doch sicher nichts aus, alles hierherzubringen. Daran sind Sie doch gewöhnt. Wir gehen nicht mehr aus, Ernesto und ich. Unsere Gesundheit, wissen Sie?«
Der Frieden in der Familie war Annie wichtig, deshalb unterwarf sie sich Stellas Wünschen, die natürlich überhaupt nichts mit ihrer Gesundheit zu tun hatten. Stella und Ernesto wollten nur auf ihrem eigenen Gebiet sein, wenn sie diesen Schock verdauen mussten. Vor allem Stella war fassungslos. Ihr einziger Sohn, ihr einziges Kind, hatte eine nicht katholische Frau geheiratet, die Stella niemals kennengelernt hatte, und noch nicht einmal in der Kirche. Schlimmer sogar, eine zivile Trauung in Mexiko.
Früh am Morgen des Empfangs, noch lange vor dem Caravan von Oasis, machte sich Annie allein nach Greenwater auf. Hinter dem Tor bog sie nicht wie gewöhnlich links zum Kochschuppen und dem Picknickgelände ab, sondern fuhr mit ihrem Kombi den langen, ungepflasterten Weg zur Hacienda entlang.
Annie hatte zwar schon oft auf Greenwater gearbeitet, aber die 1928 erbaute Hacienda hatte sie noch nie gesehen. Das Haus wirkte verlassen, obwohl es opulent war, von Palmen, Magnolien, Zitronen- und Avocado-Bäumen umstanden, zweistöckig, hellgelb gestrichen, mit rotem Ziegeldach, einem umlaufenden Arkadengang im Parterre und einem Holzbalkon im ersten Stock. An der Balustrade rankte eine üppige Bougainvillea. Alle Fenster und die Terrassentüren starrten vor Schmutz; die Fensterläden waren trocken und gesprungen, die Vorhänge verschlissen und von der Sonne ausgebleicht. Die breite Auffahrt endete auf einem gepflasterten Weg, der von Unkraut überwuchert war, und an den Seiten der breiten, flachen Stufen zur Veranda standen ungepflegte Hortensien, die in der grellen Sonne ebenfalls völlig farblos geworden waren.
Ernesto öffnete Annie die Tür. Er sagte nur wenig. Er trug eine weiße Schürze über seinem Anzug. Sein riesiger Bauch wölbte sich über seinen Gürtel, und sein Doppelkinn wabbelte über Kragen und Fliege. Geblieben von seiner jugendlichen Schönheit war lediglich seine schmale gerade Nase, ähnlich wie die von Matt. Sein Mund war unter einem grauen, buschigen Schnurrbart verborgen, und die einst so fein geschwungenen Augenbrauen wucherten wild. Er war beinahe kahl. Zumindest ist es unwahrscheinlich, dachte Annie, dass Kitty ihr altes Leinwandidol erkennt. Vielleicht weckte nicht einmal der Name Erinnerungen, zumal Kitty meistens in ihrer eigenen, gingetränkten Fantasiewelt lebte.
Er führte sie durchs Haus in die Küche. Ihre Schritte hallten auf den Teakböden in den fast leeren Räumen. Annie war überrascht, dass das Haus so gut wie unmöbliert war, und erneut stiegen Zweifel an Edens Heirat in ihr auf. Das erste Mal hatte sie sie empfunden, als sie mit Afton geredet hatte, die die Nachricht von der mexikanischen Zivilhochzeit mit einem Katholiken noch kühler aufgenommen hatte, als Annie befürchtet hatte.
»Die Küche gehört Ihnen. Ich bin fertig.« Ernesto lächelte sie an und legte die Schürze ab. Er war tadellos gekleidet.
Die Küche der Marchs war riesig, mit Fenstern über der Spüle, die auf einen wunderschönen Garten gingen. Durch die Hintertür gelangte man auf einen geschützten Innenhof mit einem Brunnen. Annie verschlug es die Sprache, als sie sah, dass der große Tisch in der Mitte des Raums bereits mit einer Überfülle an Essen beladen war. Fünf weiße Ricotta-Torten standen dort, jede mit einem schwungvollen M in Himbeergelee verziert, neben zwei Erdbeerkäsekuchen. Ernesto hatte auch Schüsseln mit Portobello-Salat und eine Auberginen-Oliven-Caponata gemacht. Es gab marinierte Pilze und Bohnen mit Artischockensauce überbacken. Auf einer großen Platte lagen mit Käse gefüllte, gebratene rote Paprikaschoten. »Ich koche ganz gerne«, sagte Ernesto bescheiden, »aber die Caponata hat Stella gemacht.«
 
Um drei Uhr stand Stella im Garten neben ihrem Schwager. Sie warteten im Schatten einer rosafarbenen Rose. Stella sah so aus, als wolle man sie an den Baum binden und erschießen. Sie trug ein graues Voilekleid, das immer noch nach den Mottenkugeln roch, von denen sie es gestern befreit hatte. Ihr goldenes Kreuz glänzte auf dem Stoff neben dem weißen Rosenbukett, das Annie ihr an der Schulter befestigt hatte.
»Sie sind die Mutter des Bräutigams«, sagte Annie, als sie es am Voile feststeckte, aber ihre Schmeicheleien nützten nichts. Stella verzog keine Miene.
Ernesto hingegen schien sich über sein Sträußchen aus weißen Rosen zu freuen. Seine Fliege war korrekt gebunden; er trug eine Weste, ein Jackett, ein weißes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen.
Aber ebenso wie Stella war er entsetzt, als ganze Heerscharen einfielen. Auto um Auto fuhr vor, und Familien mit unruhigen Kindern, schreienden Babys, verlegenen Matronen und Männer, die sich in ihren Sonntagsanzügen sichtlich unwohl fühlten, stiegen aus. Bei der Vorstellung lächelten Stella und Ernesto standhaft. Danach starrten sie die Ankömmlinge einfach nur noch missbilligend an.
Stella murmelte auf Italienisch: »Sie sehen so aus, als kämen sie hauptsächlich, weil es umsonst etwas zu essen gibt.«
»Schau sie dir an«, flüsterte Ernesto. »Die reinsten Promenadenmischungen.«
Natürlich waren nicht nur Vertreter der Familie Douglass da. Auch Annies Eltern waren gekommen, Vartan und Shushan Agajanian; ihre Enkelkinder sahen alle aus wie Annie, dunkel, mit intensiven Augen, schwarzen Haaren und scharfen Gesichtszügen. Vartan und Shushan waren nur Eden zuliebe gekommen und weil sie wussten, dass ihre Tochter Verbündete gegen die Douglass-Sippe brauchte.
Es war ein gemischtes Völkchen, manche Heilige, manche Sünder. Sie hatten sich versammelt, um Braut und Bräutigam willkommen zu heißen, das fremde Essen zu probieren und sich ein Urteil zu bilden. Zumindest für einen Nachmittag würden sie ihre internen Streitigkeiten vergessen.
Tom Lance Junior und seine französische Frau trugen ihre gegenseitige Unzufriedenheit so offen zur Schau wie Kriegsorden; wie müde Soldaten rauchten sie schweigend. Ihre drei ungezogenen Töchter stritten sich ständig oder bewarfen die anderen Kinder mit Tomaten von Ernestos sorgfältig gehegten und gepflegten Pflanzen im Garten.
Der Gemüsekrieg endete mit Tränen und schmutzigen Kleidern, und einer der Epps-Jungen wurde in den Brunnen geschubst. Seine Mutter versohlte ihm den Hintern und schickte ihn auf die Veranda, bis er wieder trocken war.
Samuel Lance und seine Frau beruhigten ein schreiendes Baby, während ihre anderen Kinder lärmend zwischen den Palmen und Magnolien spielten.
Connie Levy hielt die Hand ihres Jüngsten, Aaron, fest umklammert, während sich die anderen drei Kinder außerhalb ihrer Reichweite stritten. Leah streckte ihrer Mutter die Zunge heraus und rannte weg. Victor warf seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu, woraufhin sie ihm spitz vorhielt, zwei der Kinder seien ja nicht einmal ihre. Trotz des Tohuwabohus jedoch erinnerte sie sich an ihre eigene Hochzeit, dachte daran, wie viel Liebe sie empfunden hatte und wie stolz sie gewesen war, Mrs. Victor Levy zu sein. Mitleid für Stella und Ernesto stieg in ihr auf. Die Mormonen waren zahlenmäßig bei Weitem überlegen. Massen von Kindern, große und kleine, bevölkerten den Garten wie beim Sturm der Goten auf Rom.
Matts Freunde standen unbehaglich in kleinen Grüppchen zusammen und klammerten sich an ihr Bier- oder Weinglas. Die Mormonen warfen ihnen missbilligende Blicke zu. Monogram und Signature Pictures waren ebenfalls gut vertreten, aber unter den Heiligen wirkten sie geradezu verloren.
 
Die Kellner boten auf großen Tabletts Wein und Limonade an. Alma und Walter Epps lehnten den Wein mit großer Geste ab, aber ihrem ältesten Sohn gelang es, sich selber zu bedienen. Seine Vettern Micah und Jonah Lance, ebenfalls Teenager, nahmen sich verstohlen jeder ein Glas Wein und kamen sich vor wie Weltmänner, jedenfalls solange sie sich hinter den Magnolien vor Afton verstecken konnten.
Afton, flankiert von Tom und Lil und in großem Abstand zu Ernesto und Stella, umklammerte mit einer Hand ihre Limonade, mit der anderen ihr Taschentuch. Tom Lance kaute langsam auf den fremden Horsd’œuvres und fragte, was die Ausländer eigentlich gegen richtiges Essen hätten. Lil dachte laut darüber nach, ob mexikanische Hochzeiten überhaupt rechtmäßig seien.
Afton drängte tapfer die Tränen zurück. »Eden hat mir das Herz gebrochen. Ich habe dieses Mädchen geliebt wie meine eigene Tochter. Und jetzt hat sie in Mexiko einen Katholiken geheiratet.«
»Komm, Mutter.« Tom legte Afton den Arm um die Schultern. »Wir wollen glücklich für sie sein. Wenigstens ist sie jetzt verheiratet. Du hast dir doch immer Sorgen gemacht, dass sie nie heiraten würde.«
»Denk einfach an das himmlische Königreich.« Lil tätschelte ihr die Hand. »Zumindest kommt sie jetzt dorthin.« Lil schwieg und setzte dann hinzu: »Vielleicht.«
Auf einmal sahen sie, wie Kitty am Arm ihres Sohnes den Garten betrat. Ernest trug einen Anzug, in dem er sich jedoch unwohl zu fühlen schien. Kitty flatterte an seinem Arm dahin, wenn man bei jemandem, der so dick war wie Kitty, überhaupt von Flattern reden konnte.
Afton und Lil machten Bemerkungen über Kittys geblümtes Kleid und das weiße Rosenbukett an ihrer Schulter. Sie trug lachsfarbene Handschuhe und einen kleinen Hut mit Schleier. Afton und Lil kritisierten und bedauerten sie zugleich, eine schwierige Aufgabe, die sie perfekt beherrschten.
Annie hatte ihrem Mann gesagt, dass Matts Mutter ebenfalls ein Rosenbukett tragen würde, und so trat Ernest jetzt auf sie zu und sagte: »Mrs. March, das ist meine Mutter, Edens Mutter, Kitty.«
Kitty streckte ihre behandschuhte Hand aus. »Als Mutter der Braut bin ich entzückt, Ihre geschätzte Bekanntschaft zu machen.«
Stella nickte knapp.
»Ich bin Edens Bruder Ernest.«
Ernesto blickte interessiert auf. »Ich heiße Ernesto.«
»Ich weiß«, erwiderte Ernest müde.
»Verehrte Dame«, sagte Ernesto und ergriff Kittys Hand. »Mutter der Braut. Und wie heißen Sie?«
»Was?«
»Ihr Name, verehrte Dame. Wie heißen Sie?«
Kitty blickte ihn verwirrt an, deshalb sprang Ernest ihr bei und wiederholte: »Das ist meine Mutter, Edens Mutter Kitty Douglass. Gib ihm die Hand, Ma.«
»Entzückt, Ihre geschätzte Bekanntschaft zu machen.«
Ernest ergriff Kitty am Ellbogen und steuerte sie in den Schatten des überdachten Innenhofs. Als er Annie aus der Küche kommen sah, zwinkerte er ihr zu, um ihr mitzuteilen, dass Kitty Ernest March nicht erkannt hatte. Noch nicht.
In diesem Moment brandete Jubel auf. Eden und Matt waren nach Hause gekommen.
Mr. und Mrs. Matt March traten in den Garten. Eden trug einen goldenen Ehering an der linken Hand und die Kette mit dem Smaragdanhänger um den Hals. Ein breitkrempiger Hut schützte ihr Gesicht vor der Sonne. Sie strahlte vor Glück. Die tief ausgeschnittene mexikanische Spitzenbluse betonte ihre gebräunte Haut und ihre schönen Brüste. Sie hatten einen weiten Rock an und Sandalen an den bloßen Füßen, als ob sie gerade vom Strand käme. Matt grinste und hatte ihr den Arm um die Taille gelegt. Mit der anderen Hand hielt er sein Jackett fest, das er sich über eine Schulter gehängt hatte. Er war sichtlich überrascht, auf eine so große Menschenmenge zu treffen.
Er trat auf Stella zu, nahm seine Mutter in die Arme und hielt sie fest. Stella streichelte weinend sein Gesicht und murmelte etwas auf Italienisch. »Englisch, Mama«, forderte Matt sie lächelnd auf.
»Ich weiß, Liebling«, schniefte Stella. »Das ist nur die Rührung.«
»Mama, das ist meine Frau Eden.« Matt strahlte.
Stella zog auch Eden in eine tränenreiche Umarmung, küsste sie auf beide Wangen und sagte: »Oh, meine Liebe, du bist viel hübscher als seine erste Frau.«
»Mama!«
»Es stimmt doch.« Stella nickte Matt zu. »Sie ist doch hübscher.«
Stellas Bemerkung verbreitete sich in Windeseile unter den Gästen, während Eden zusammenzuckte, als sei sie geschlagen worden. Sie empfand den gleichen Schock wie damals, als der junge Stuntman sie aufs Hinterteil geschlagen hatte, nur dass sie dieses Mal nicht bäuchlings im Dreck lag. Matt wurde knallrot, und um sie herum schwiegen alle erwartungsvoll. Ihre Zunge fühlte sich ungewohnt schwer an, als sie hervorstieß: »Was soll das heißen, Matt?«
»Ach, Prinzessin, es ist nichts!«
»Hast du mich angelogen?«
»Hey! Es war wirklich nichts. Nichts! Du bist die Einzige, die ich jemals heiraten wollte. Das ist die Wahrheit! Gott ist mein Zeuge, dass du die Einzige bist, die ich jemals heiraten wollte!«
»Aber nicht die Einzige, die du geheiratet hast?«
Er lachte verlegen. »Ach, Eden!«
Ein Kellner von Oasis trat mit einem Tablett voller Champagnergläser auf sie zu, aber Eden stieß ihn beiseite.
»Matt? Warst du schon einmal verheiratet?«
»Ich wollte es dir ja erzählen«, wehrte er ab. »Es tut mir leid, ich hätte es dir schon längst erzählen müssen. Ach, Mama, warum musstest du auch...«
»Ich wusste ja nicht, dass du es ihr noch nicht gesagt hast«, erwiderte Stella unschuldig.
»Sind wir überhaupt verheiratet?«, fragte Eden. »Oder bist du...«
»Ich bin geschieden. Das ist die Wahrheit. Jetzt ist es heraus. Ich hatte Angst, du würdest mich nicht heiraten wollen, wenn ich dir die Wahrheit sagte. Ich liebe dich, Eden.« Er drehte sich zu der Menge um und schrie: »Ich liebe sie!«
»Aber du hast mich angelogen, Matt. O Matt.«
Er blickte sie eindringlich an. »Ich kann es dir erklären«, sagte er und ergriff sie am Arm. »Aber nicht hier.«
Er zog sie über den Innenhof in die Küche und über die breite Treppe in ein unmöbliertes Schlafzimmer. In der Ecke lagen zusammengerollte Teppiche. Im Raum war es stickig, die Fenster waren offensichtlich schon lange nicht mehr geöffnet worden.
»Es hat kein Jahr gedauert«, sagte er. »Es hatte was mit dem Krieg zu tun. Ich habe dir doch erzählt, dass ich Captain Propaganda war. Sie war Sekretärin. Ich dachte, ich müsse nach Europa und würde dort sterben, aber dann starb ich gar nicht. Ich musste noch nicht einmal nach Europa. Sie verliebte sich in jemand anderen, und ich habe praktisch gar nicht mit ihr zusammengelebt. Sie hat sich in Reno scheiden lassen und ihn geheiratet. Es war ein blöder Fehler, mehr nicht.«
Eden dachte daran, wie oft sie sich vorgestellt hatte, dass Logans Frau sich in Reno scheiden lassen würde. »Du hättest es wenigstens erwähnen können.«
»Ja, das hätte ich tun sollen. Es tut mir leid. Es ging alles so schnell.«
»Das stimmt nicht. Wir sind seit Monaten zusammen.« Aber in diesen Monaten hatte Eden auch Logan Smith nicht erwähnt, an den sie sich zwar noch erinnerte, den sie sich aber nicht mehr vorstellen konnte. Selbst die Erinnerung war seltsam statisch; seit die unruhigen Kriegsjahre vorbei waren, schien Logan in der Vergangenheit eingefroren zu sein. Matt war Edens Zukunft, und im Herzen wusste sie das, aber die Demütigung machte ihr trotzdem zu schaffen. »Haben wir deshalb in Baja geheiratet, weil du noch mit einer anderen verheiratet bist?«
»Nein! Die Scheidungsunterlagen müssen hier irgendwo herumliegen. Hör zu, Eden. Ich wollte in Mexiko heiraten, weil man in Kalifornien drei Tage warten muss. Ich wollte aber nicht warten, ich wollte dich heiraten. Auf der Stelle. Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Es tut mir leid.«
»Auf der Heiratsurkunde hast du auch gelogen. Du hast nicht erwähnt, dass du geschieden bist.«
»Die Formulare waren auf Spanisch, Süße. Den Mexikanern ist das doch egal.«
»Sie sind trotzdem offiziell. Du hast sie unterschrieben.«
»Ich habe es vergessen, Eden. Es tut mir leid. Wirklich, Baby, es hatte nichts zu bedeuten. Es ist doch schon acht oder neun Jahre her. Du weißt doch, was der Krieg mit den Menschen gemacht hat. Es war doch alles ziemlich verrückt. Wir dachten doch alle, wir müssten sterben.«
Logan Smith hatte Frances auch geheiratet, weil er glaubte, er würde in Europa sterben, und als er dort war, hatte er Eden kennengelernt, und alles war ziemlich verrückt gewesen. Aber verrückt oder nicht, Logan Smith hätte sie nie angelogen. Oder? Hatte er sie nicht eigentlich doch belogen? Wie sonst sollte man es denn nennen? Er hatte nie geschrieben und war auch nicht zu ihr gekommen. Und so jemanden wie Matt March würde sie nie wieder finden.
Eden trat ans Fenster und öffnete es. Stimmen drangen aus dem Garten zu ihnen herauf.
Matt trat hinter sie, berührte sie aber nicht. »Ich habe natürlich andere Frauen gehabt, das habe ich dir nie verschwiegen. Aber als ich dich kennenlernte, als ich mich in dich verliebte, habe ich alle anderen vergessen. Als ich dich an jenem Tag in den Armen gehalten habe, verblasste alles andere daneben, das habe ich dir so oft gesagt. Du musst mir einfach glauben.«
Eden drehte sich um. »Ich glaube dir. Mir geht es bei dir genauso. Aber jetzt...«
»Jetzt sind wir verheiratet. Wir werden auf immer zusammen sein. Es tut mir leid, dass ich dir nichts von der Scheidung gesagt habe. Ich verspreche dir, dass ich dir nie wieder etwas verschweige. Ich liebe dich, nur dich.«
»Und du hältst mir die Treue?«
»Was?«
»Gehört das nicht dazu? Dass du mir die Treue hältst, bis dass der Tod uns scheidet?«
Matt lachte. »Wer weiß schon, was der Friedensrichter auf Spanisch gesagt hat! Ich hätte wahrscheinlich auch einer Portion Tamales zugestimmt, um dich zu heiraten.«
»Spanisch oder nicht, Matt, ich habe genau das gelobt. Dass ich dir die Treue halte.«
»Ja, Eden, ja.«
»In guten wie in schlechten Tagen, in Reichtum und Armut, in Krankheit wie in Gesundheit?«
»Ja, all das gelobe ich. Du bist meine Frau. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben, ganz gleich, was uns passiert. Das kannst du mir glauben.«
»Wird es noch mehr Überraschungen geben?«
»Natürlich! Das muss doch so sein! Das Leben sollte voller Überraschungen sein. Ich möchte nicht vorher wissen, was jeden Tag passiert. Wenn ich so leben könnte, ohne Pläne und Träume oder Überraschungen, dann wäre ich Bankangestellter.«
»Ich rede von unehelichen Kindern. Alten Freundinnen, die plötzlich auftauchen und ihre Unterwäsche wiederhaben wollen. Ehemalige Geliebte unter dem Bett?«
»Keine Einzige, ich schwöre es dir. Du kannst ja nachgucken, Eden. Ich habe meine Freundinnen nie mit nach Hause gebracht. Du bist die Erste, die ich hierhergebracht habe. Das einzige Mädchen, das ich jemals heiraten wollte. Jemals!« Er schlang die Arme um sie und küsste sie auf den Nacken, so wie nur er es konnte, und ihr wurden die Knie weich. »Komm, meine Süße, gib mir noch eine Chance. Ich habe doch gesagt, es tut mir leid. Hey, was willst du denn machen, Eden? Wieder nach Mexiko fahren und dich von mir scheiden lassen?«
»Ich werde mich nie von dir scheiden lassen, Matt. Ich werde dich nie verlassen, ich werde dich nie aufgeben.« Und das meinte sie ernst.
Torte Liza
Kreiert von Ernesto March anlässlich der Hochzeit von Eden Douglass und Matt March, 1952. Benannt nach Liza Ruth March, zu ihrer Taufe im Juli 1953. Sie stand auch im Café Eden, Skagit County, Washington, auf der Speisekarte.
Bereiten Sie Teig aus zerkrümelten Butterkeksen zu, fügen Sie jedoch ¼ Tasse fein gemahlene, geröstete Mandeln hinzu. Mischen Sie alles mit 1 Esslöffel Zucker und 4 Esslöffeln geschmolzener Butter. Oder Sie verwenden Amaretto Plätzchen und vergessen den Zucker. Eine Springform damit auslegen und 8 Minuten bei 180 °C backen. Aus dem Backofen nehmen und abkühlen lassen. 6 Eier trennen und das Eigelb mit ¾ Tasse Zucker und einer Prise Salz schaumig schlagen. 1 Pfund Ricotta hinzugeben, 3 Esslöffel saure Sahne, 1 Esslöffel Mehl und 3 oder 4 Teelöffel Orangenblütenwasser.
Das Eiweiß steif schlagen und vorsichtig unter die Creme heben.
Die Masse in die Springform füllen und bei 180 °C etwa 35 bis 45 Minuten lang backen. Den Rand mit einem Messer lösen. Vor dem Servieren abkühlen lassen.
Auf einer Kuchenplatte mit einem Ring aus frischen Himbeeren oder Blaubeeren anrichten. Für die Buchstaben auf der Creme hat Ernesto Himbeergelee geschmolzen, bis er es aufspritzen konnte.

MOMENTAUFNAHME

Die Mitgift

Eden March brachte Leben in ein Haus, das zu still gewesen war. Sie brachte Greenwater wieder in Schwung. Durch sie war Matt in seinem Element, und sie holte Stella und Ernesto aus ihrer langen Erstarrung heraus. An Feiertagen war das Haus voll von ihren zahlreichen Vettern und Cousinen und deren Kindern. Connie und Victor kamen häufig mit ihren Kindern und blieben über Nacht. Annie und Ernest liebten es, mit Matt durch Greenwater zu fahren, und selbst Afton kam gegen Edens Glück und Matts Charme nicht an.
Nicht ganz so glücklich war die Atmosphäre, als Eden ihre verwitwete Mutter im November 1952 nach Greenwater holte.
Eden holte auch den Fernseher aus ihrer alten Wohnung. Ernesto und Stella wollten kein Fernsehen. Ernesto hatte seine Opernplatten, Stella ihre Gebete, und Matt ging mit Begeisterung ins Kino. Aber Eden schloss ihr altes Gerät an, und ihr Bruder setzte ihr eine Antenne aufs Dach.
Seltsame Dinge begannen zu passieren. Matt schaute sich Westernserien für Kinder im Fernsehen an und begann nachzudenken. Warum waren die Western im Fernsehen eigentlich alle nur für Kinder?, fragte er Eden. Warum konnte denn nicht etwas in John-Ford-Qualität im Fernsehen gesendet werden, das man hier in Lariat aufnehmen konnte?
Auch Ernesto schaute sich auf einmal Western an. Und sogar Stella musste bei manchen Sendungen lachen.
Die erste Zeit von Edens Ehe verlief ungetrübt glücklich, die Tage waren lang und erfüllt, und die Nächte ebenso. Sie lachten und redeten, und jeder neue Tag lag wie eine Verheißung vor ihnen.
Und im Sommer 1953 kam Eden mit einem sieben Pfund schweren Baby aus dem Krankenhaus, mit Liza Ruth March.
Mit Lizas Geburt legte Stella March ihre feindselige Grimmigkeit und ihre dunklen Kleider ab. Sie trug helle Farben und freute sich über jedes Lächeln des Kindes. Der kinderlose Ernesto wurde ein hingebungsvoller Großvater. Er nahm Liza mit in den Garten und sagte ihr die Namen aller Pflanzen, als wolle er sie ihnen vorstellen. Ihr Laufstall stand bei ihm in der Küche, und er spielte ihr Verdi und Puccini vor. Liza nannte sie Nana und Babbo.
Ihre Großmutter Kitty nannte Liza Dadie, aus Gründen, die nur sie selber kannte. Kitty war nicht besonders vernarrt in das Baby. Es wäre sicher anders gewesen, wenn Eden und Matt sie Victorine genannt hätten, aber das taten sie nicht.
Eden March stand den Emotionen, die die Mutterschaft mit sich brachte, völlig unvorbereitet gegenüber. Sie fühlte sich kosmisch mit der Zukunft, der Vergangenheit, der Welt und dem ganzen Universum verbunden. Sie genoss die völlig unkritische Liebe des kleinen Mädchens, das aus der Zweisamkeit der Eltern eine innige Dreierbeziehung machte.
Matt redete ständig in der Babysprache mit Liza, zeigte unaufgefordert die neuesten Fotos, die er von ihr gemacht hatte, und erzählte jedem von ihren jüngsten Errungenschaften - wie zum Beispiel einen neuen Zahn. Gute Freunde, wie Les und Ginny Doyle oder Frankie Pierino, waren tolerant, andere hingegen absolut gelangweilt, aber Matt bemerkte es gar nicht.
Wenn Liza nachts weinte, ging Matt mit ihr auf und ab und sang ihr vor. Er erzählte ihr, was sie für großartige Dinge tun würde. Sie würde auf englische Art reiten, sie würde Klavier spielen lernen. Sie würde die Beste sein. Sie würde nach Stanford gehen. Ihr Daddy würde dafür sorgen, dass sie ein eigenes Pferd bekäme. Das beste Pferd. Den besten Lehrer. Er würde das beste Klavier kaufen. Er würde Stanford bezahlen. Liza würde alles bekommen, was sie wollte.
Stella wollte, dass sie katholisch getauft würde, mit Stella und Ernesto als Paten.
Eden fühlte sich den Mormonen nicht verpflichtet. Ihre drei Kinder wurden alle katholisch getauft. Liza 1953. Stellina 1955. Und zuletzt, 1960, ihr Sohn, Nicolas Ernesto, das Überraschungskind. Bei jeder katholischen Taufe wappnete Eden sich gegen Aftons wortreichen Widerstand, da sie wusste, dass Afton Lance empört sein würde. Eden irrte sich nicht. Afton gab nie auf, und Eden gab nie nach. Schließlich waren sie beide Douglass-Frauen.

5

Das Cottage, in dem noch nie ein Gast gewohnt hatte, wieder herzurichten, war eine von Edens ersten Unternehmungen, als sie nach Greenwater gezogen war. Sie öffnete die Fenster, kehrte Mäuse und Spinnen hinaus und putzte den Staub eines Vierteljahrhunderts weg. Dann strich sie die Wände an und kaufte neue Möbel. Im Herbst 1952 war alles bereit für Kitty Douglass, und Eden konnte Ernest und Annie von der unerträglichen Last befreien. Sie versuchte Matt auf Kittys Verhalten und ihre Forderungen vorzubereiten, ohne jedoch zuzugeben, dass Kitty eigentlich die Ehe ihres Bruders zerstört hatte, weil sie Annie und Ernest so weit gebracht hatte, dass sie nur noch miteinander stritten. Kitty meinte es nicht böse, aber sie war gedankenlos, selbstsüchtig, schwach und nörglerisch. O Gott, dachte Eden, als sie drei Monate nach ihrer Eheschließung Kitty abholte, gib mir Kraft.
Sie fuhr allein nach Encino, um Kitty zu holen. Kitty hatte schlechte Laune, Annie war einsilbig und Ernest schwieg das ganze Mittagessen über. Selbst die Stimmung der drei Kinder, Linda, Susan und David, war gedrückt. Eden tat ihr Bestes, um die Atmosphäre aufzulockern, sprach von ihren und Matts Plänen, von dem Bankkredit und der Hoffnung, bald das mexikanische Dorf fertigstellen zu können und ein Tonstudio einzurichten.
»Ich behalte Pas Zeittafeln und die genealogischen Listen einfach, Ma, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Ernest, als er ihre Koffer zu Edens Auto brachte. »Sie sind für dich ja sowieso nicht von Nutzen.«
»Das waren sie für ihn auch nicht«, erwiderte Kitty unfreundlich. Sie setzte sich ihren Hut auf, schlug die Aufschläge ihres Mantels hoch und marschierte zum Wagen, ohne auf den Regen zu achten.
Als sie losfuhren, sagte Eden: »Hier ist ein Handtuch, Ma. Du musst die Feuchtigkeit am Dach damit aufwischen. Das Verdeck ist nicht mehr dicht. Wahrscheinlich sollte ich mir langsam mal ein neues Auto kaufen, sosehr ich auch an Annies altem Cabrio hänge. Irgendetwas Erwachseneres.«
Kitty brach in Tränen aus und wischte sich mit dem Handtuch das Gesicht ab. »Du weißt ja nicht, wie ich in diesem Haus gelitten habe. Ich war so unglücklich! Ein ganzes Jahr lang!«
»Nun, Ma«, Eden sah starr auf die Straße, »dann seid ihr ja schon sechs.«
»Was?« Kitty sah auf.
»Annie, Ernest, Linda, Susan und David, das sind fünf weitere Personen, die ebenfalls nicht glücklich waren.«
»Diese Kinder sind verzogene Gören. Annie liebt sie noch nicht einmal. Sie kümmert sich nur um ihr Geschäft, um Oasis. Sie ist auch nicht besser als ihr Vater, der Teppichhändler.«
»Er ist kein Teppichhändler.«
»Dir würden die Ohren klingen, wenn ich dir alle Geschichten von dieser Familie erzählen würde. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht.«
»Ma, sie haben dir kistenweise Cola und Chesterfield in Stangen gekauft. Sie haben dir ein Gebiss machen lassen, sodass du jetzt wieder Zähne hast. Sie haben dir Geld gegeben, damit du dir jeden Tag Süßigkeiten kaufen konntest. Den Gin haben sie zwar rationiert, aber sie haben ihn dir nicht weggenommen, oder? Seit Pa vor einem Jahr gestorben ist, waren sie gut zu dir, oder?«
»Du verstehst das nicht. Sie haben einfach ständig gemeine Sachen gesagt. Und Ernest, mein eigener Sohn, hat mir nie beigestanden. Er ist einfach gegangen, um in seinem Fernsehreparaturdienst zu arbeiten. Ständig schaut er fern, statt sich um mein Leiden zu kümmern.«
»Ma, du übertreibst!«
»Na, du weißt es ja mal wieder besser.« Schmollend blickte Kitty aus dem Fenster.
Eine Zeit lang fuhren sie schweigend weiter. »Bitte, Ma, wisch das Dach ab. Es regnet herein.« Eden holte tief Luft. Sie hatte seit Wochen geübt, um die richtigen Worte zu finden. »Wir müssen über ein paar Regeln im Haus sprechen.«
»Wessen Haus?«
»Meins. Unseres. Matts und meins.« Und das unseres Babys, dachte sie mit einem kleinen innerlichen Freudenhüpfer. Das Kind, das sie trug, erfüllte sie und Matt mit Hoffnung, Freude und Gewissheit. »Du hast deine eigenen Räume, Ma, ein Gästehaus mit deinem eigenen Fernseher, getrennt vom übrigen Haus. Alles ist sauber, schön und neu. Ich möchte, dass du gerne dort wohnst, aber es gibt Regeln. Und du musst sie einhalten. Zuerst einmal: Im Bett wird nicht geraucht.«
»Ach, du liebe Güte! Nur weil du nicht rauchst, darf es niemand, was? Du klingst genau wie Gideon!«
»Pa hat dir nie vorgeschrieben, dass du nicht im Bett rauchen sollst, aber wenn du es bei uns machst, nehme ich dir die Zigaretten weg.«
»Spielverderber. Du erinnerst mich an Ruth. Schlimmer noch, an Afton. Würdest denn auch du mir die kleinste Freude im Leben nicht gönnen? Nach allem, was ich durchgemacht habe. Dein armer Pa ist doch erst vor einem Jahr von uns gegangen. Und 1919 ist Tootsie gestorben. Er starb am selben Tag wie Teddy Roosevelt, und außer mir hat das keinen gekümmert.«
»Im Bett wird nicht geraucht. Keine Aschenbecher im Schlafzimmer. Keine übervollen Aschenbecher. Und vor allem«, fügte Eden vorsichtig hinzu, »erwarte ich von dir, dass du dich mit Matts Familie, mit seiner Mutter und seinem Onkel, verträgst. Sie leben auch dort, und ich möchte, dass du sie mit Respekt behandelst. Du weißt genau, was ich meine, oder?«
»Nein, ganz sicher nicht.«
»Du weißt, dass Matts Onkel vor langer Zeit einmal Ernest March war.«
»O ja! Ach, Eden, warum hast du mir das nicht vorher gesagt! Ich habe ja kaum meinen Augen getraut, als ich ihn kennengelernt habe. Natürlich hat er sich verändert, aber seit ich ihm damals im Pilgrim’s begegnet bin, habe ich all die Jahre gedacht, dass wir uns bestimmt wiedersehen werden. O Eden, ich weiß, warum der allwissende Gott dich dazu geführt hat, Matt zu heiraten. Auf diese Weise erfüllt sich endlich die Liebe zwischen Ernest March und mir.«
»Das ist nicht der Grund, warum ich Matt geheiratet habe. Ich verbiete dir, Ernesto zu belästigen.«
»Ich liebe ihn!«
»O Gott, Ma! Bitte wisch das Dach ab, ja?«
Gehorsam fuhr Kitty mit dem Lappen über das Verdeck. »Das hat nichts mit dem Gedenken an deinen lieben Pa zu tun, Eden, obwohl Gideon manchmal eine harte Prüfung für eine Frau sein konnte. Ich weiß, dass du deinen Pa für einen Heiligen und einen wundervollen Mann gehalten hast - und das war er natürlich auch. Aber manchmal wäre es mir lieber gewesen, er wäre ein ganz gewöhnlicher Mann gewesen. All diese verdammten Zeittafeln, die Tinte, das Lineal und was er sonst noch alles brauchte! Und als er das endlich hinter sich gelassen hatte, da hat er sich nur noch um seine Vorfahren und die Genealogie gekümmert, damit er die Toten taufen konnte! Mir tun die Toten leid. Lass sie doch in Frieden, habe ich immer zu Gideon gesagt, aber für die Mormonen ist Frieden ja ein Fremdwort. Dauernd diese Gebete und der ganze Mist. Pa hat auch ständig gebetet.«
»Wir sprechen nicht von Pa. Wir reden von Ernesto. Du darfst nicht...«
»Ernesto...«, trällerte Kitty.
Offensichtlich musste Eden anders vorgehen. »Ernesto lebt ein einfaches Leben, und du sollst ihm nicht nachstellen oder...«
»Das habe ich noch nie getan!«
»Er ist nur ein dicker, alter Mann.«
»Oh, wie grausam du bist, Eden.« Kitty seufzte. »Die Zeit hat Ernest March schwer zugesetzt.«
»Ja, ungefähr dreihundert Pfund Lebendgewicht.«
»Ich hingegen bin nur reifer geworden. Ich habe mein gutes Aussehen nie verloren.«
Eden hielt ihren Blick starr auf die Straße gerichtet. Kittys gefärbte Haare leuchteten Hennarot, und ihr weites Hauskleid spannte über ihrem dicken Bauch. Sie hatte ein neues Gebiss, und auf ihren runden Wangen saßen Rougeflecken. Unter ihren Augen hingen Tränensäcke, und tiefe Falten rahmten ihren Mund und ihr Kinn ein.
»Ma, er ist kein Leinwandliebhaber mehr. Er hat seit 1929 in keinem Film mehr mitgespielt.«
»Aber er ist trotzdem mein Seelenpartner.«
»Ma, denk an deine Manieren.«
»Ich war immer eine Dame. Was macht Ernesto denn jetzt so?« Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen.
»Er kocht. Er hat einen Plattenspieler in der Küche, hört sich Opern an und kocht. Er hat einen Garten. Er ist ein lieber Mann, und ich möchte nicht, dass du ihn belästigst.«
»Ich war immer eine Dame«, wiederholte Kitty.
»Und Stella. Komm ihr bloß nicht in die Quere. Du kannst es dir nicht leisten, sie dir zum Feind zu machen.«
»Ich wusste gar nicht mehr, dass Greenwater so weit draußen liegt«, sagte Kitty zweifelnd, während sie über die gewundene Straße durch die hügelige Landschaft fuhren. »Hier kommt der Eismann sicher nicht jeden Tag vorbei, oder?«
Eden bog in das große Tor von Greenwater ein. »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.«
Kitty mochte ungebildet, eitel, oberflächlich und schwach sein, aber sie war nicht dumm. Der Weg zu Ernestos Herz führte offensichtlich über die Küche. Sie band sich eine Schürze um und erklärte, sie wolle seine Schülerin sein. Eine fleißige Schülerin. Ihr Enthusiasmus war nicht gespielt, und sie lauschte ihm aufmerksam.
Ernesto erlaubte ihr, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Manchmal wies er sie an, letzte Handgriffe zu tun. War das Gericht fertig, verdrehte Kitty die Augen und erklärte, noch nie, nie hätte sie so etwas Köstliches gegessen. Ernesto hatte noch nie ein so begeistertes Publikum gehabt wie Kitty Douglass. Und es war lange her, dass ihn jemand so angebetet hatte.
Mit Kitty als Schülerin brauchte Ernesto nie wieder die Ärmel hochzukrempeln und sich die Hände in fettigem Wasser schmutzig zu machen. Ernst saß er da, die Finger über dem mächtigen Bauch verschränkt, und hörte Kitty zu, während sie den Abwasch machte. Sie erzählte ihm von ihrer Theater-Vergangenheit. Ernesto, der an so viel Unterhaltung gar nicht mehr gewöhnt war, begnügte sich mit einem gelegentlichen Nicken, während er seinen Lieblingsopern lauschte. Die Musik vermischte sich mit ihrer Stimme. Er trank Wein. Manchmal schlief er ein, und dann fuhr er mit einem Ruck wieder hoch und stellte erstaunt fest, dass sie immer noch da war. Sie war ein Traum, zwar nicht von der Ehefrau, die er ja nie haben wollte, aber ihre Bewunderung stillte einen Hunger in ihm, den er fast vergessen hatte.
Ernesto und sie saßen auf der Hollywoodschaukel, ihr Kopf auf seiner Schulter und Kitty beschrieb ihm die Kolibri-Crème. »Ich bin fast sicher, dass ich irgendwo darüber gelesen habe«, sagte sie, obwohl sie eigentlich wusste, dass sie sie erfunden hatte. »O Ernesto, es war das wunderbarste Dessert überhaupt. So köstlich! Und so fantasievoll!«
»Was ist darin?«
Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass es rosa und grün und köstlich gewesen war.
»Dann werde ich es für dich zubereiten.«
»O Ernesto, hast du tatsächlich ein Rezept für Kolibri-Crème?«
»Ich brauche keine Rezepte. Ich werde es für dich kreieren. Meine Rezepte, all mein Wissen steckt hier oben.« Er tippte sich an den Kopf. »Ich schreibe nichts auf.«
»Aber das solltest du, das solltest du wirklich, Ernesto.«
Er tätschelte ihr stumm die Hand und erwähnte nicht, dass sein geschriebenes Englisch sogar noch schlechter war als sein gesprochenes.
Kitty war noch keine zwei Monate auf Greenwater, da hielten sie und Ernesto schon lange Mittagsschläfchen in dem kleinen Gästehaus. Ernesto verbrachte nie die ganze Nacht bei Kitty, ignorierte jedoch Stellas Zorn. Stella nannte es Inzest, und Kitty achtete darauf, dass sie sich nie mit Stella allein in einem Zimmer aufhielt.
Stella verlangte von Eden, sie solle der Affäre ein Ende machen, aber Eden, hochschwanger mit Liza, weigerte sich. Sie sagte, Kitty und Ernest seien alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
Stella wandte sich hilfesuchend an Matt, aber auch er wich ihr aus. Unter vier Augen sagte sie zu ihm: »Du scheinst nicht zu verstehen, was hier auf dem Spiel steht. Es geht um Ernestos unsterbliche Seele. Von Eden erwarte ich ja gar kein Verständnis, aber du hast eine katholische Erziehung genossen. Unzucht ist eine Sünde. Edens Mutter wird Ernestos Verderben sein.«
»So schlimm ist Kitty gar nicht, Mama. Sie tut Ernesto gut. Sieh ihn dir doch an. Er ist glücklich.«
»Und was ist mit der Todsünde? Mit der ewigen Verdammnis?«, sagte Stella. »Kitty hat einen schlechten Einfluss auf ihn. Sie infiziert Ernesto mit... mit...« Ihr fehlten die Worte.
»Mit Frivolität? Nun, ein bisschen Frivolität kann ihm nicht schaden. Es wird schon alles gut, du wirst sehen. Ein kleines Mittagsschläfchen ist nichts Schlimmes, Mama.«
Ernst verkündete Stella: »Ich werde für Ernesto beten. Mit Kitty kann Gott tun, was er will.«
Kitty lernte nie, Wein so zu lieben wie Ernesto, und er konvertierte auch nicht zu Gin. Da jedoch Ernesto der Ansicht war, dass Rauchen die Fähigkeit zerstörte, gutes Essen zu genießen, gab Kitty ihre Chesterfields auf, auch wenn sie vor Verlangen nach einer Zigarette beinahe umkam. Aber die Liebe besiegt alles. Selbst Chesterfields. In den Jahren, in denen sie auf Greenwater lebte, besserte sich Kittys Gesundheitszustand. Sie trank weniger Gin und las weniger Schundromane. Ihre ewige Unzufriedenheit wich, und ihre angeborene gute Laune kam wieder zum Vorschein. Selbst Annie, die immer bereit war, das Schlechteste von Kitty anzunehmen, musste zugeben, dass sie in Ernestos Gegenwart aufblühte. Liebe ist verräterisch.
Sie verbrachten jede freie Minute miteinander. Sie machten lange Spaziergänge. Kitty half Ernesto im Garten, eine Premiere für sie, da ihre einzige Bewegung in der frischen Luft bisher darin bestanden hatte, dass sie Wäsche aufhängte. Erstaunt stellte sie fest, dass es ihr gefiel. Als es wärmer wurde, brachten sie das kleine Ruderboot aus dem Bootshaus auf den See und ruderten, Kitty mit einem Sonnenschirm und Ernesto an den Rudern. Manchmal saßen sie auch einfach nur am Steg, zogen sich die Schuhe aus und ließen die nackten Füße ins grüne Wasser baumeln, ihr Kopf an seine Schulter gelehnt.
Zu seinem vierundsechzigsten Geburtstag im Februar 1953 schenkte Kitty Ernesto ein schönes, in Leder gebundenes Notizbuch und einen verchromten Füller. Sie hatte ihr gesamtes Taschengeld gespart und sogar auf ihren Gin verzichtet, um ihm dieses Geschenk kaufen zu können.
»Damit du alle deine Rezepte aufschreiben kannst, Ernesto«, erklärte sie, als er das Buch aufschlug und die leeren Seiten sah. Sie waren allein im Gästehaus, Ernesto korrekt angezogen nach ihrem Mittagsschläfchen, Kitty in dem wallenden Negligé, das sie am liebsten trug. »Dann hast du sie immer vorliegen.«
»Aber ich habe sie doch sowieso immer.« Er tippte sich an den Kopf.
»Möchtest du sie denn nicht aufschreiben?«
»Nein.«
Sie wirkte so niedergeschlagen, dass er beruhigend murmelte, er kenne zu viele Rezepte, und es würde viel zu lange dauern.
»Du könntest sie ja mir erzählen, und ich schreibe alles auf. Genauso, wie du es mir sagst. Wort für Wort.«
»Ein solches Opfer könnte ich doch nie von dir verlangen.«
Kitty lachte und setzte sich auf den Boden neben ihm, den Kopf an sein Knie gelehnt. »Für dich würde ich jedes Opfer auf mich nehmen, Liebster. Ich bin doch deine Geliebte. Ich wollte dieses Wort immer schon zu jemandem sagen«, sagte Kitty. »Findest du nicht auch, dass es einfach prachtvoll klingt?«
Das Projekt nahm Jahre in Anspruch. Ein paar Tage in der Woche saßen sie am Tisch in der Küche, und Kitty schrieb auf, was Ernesto ihr aus dem Kopf diktierte. In ihrer runden Kinderschrift notierte sie gewissenhaft Wort für Wort. Für sie war es eine Leistung in der Größenordnung der Großen Zeittafel oder genealogischer Listen, die die Lebenden mit den Toten verbanden.
Und in gewisser Weise spielte das kleine Buch auch eine ähnliche Rolle in Edens Leben. Als Eden es Jahre nach dem Tod der beiden fand, drückte sie es weinend ans Herz. Sie wusste, dass Kitty und Ernesto sich irgendwie zusammengetan hatten, um ihr die Anweisungen zu geben, wie sie ihr Leben neu beginnen könnte. Mit ihrem handschriftlichen Testament hatten sie Ernestos Können an Eden weitergegeben.
Paprika Ernesto
Ein beliebtes Wintergericht im Café Eden
Rote und gelbe Paprika auf einem Grill oder direkt auf der Herdplatte rösten, bis die Haut aufplatzt. Mehr rote als gelbe Paprika nehmen, weil sie die Farbe besser halten. In eine Tüte packen und eine Weile in einem Sieb oder einer Schüssel in die Spüle stellen.
Die verbrannte Haut abziehen und die Paprikas vorsichtig halbieren.
In einer großen Schüssel Ricotta, ein wenig frisch geriebenen Parmesan, Pfeffer und eine Prise Salz mischen. Gehackte Petersilie, ganz wenig Rosmarin und ein paar gehackte, geröstete Knoblauchzehen dazu geben. Im Sommer können Sie statt Rosmarin frisches Basilikum nehmen.
Einen Klecks von dieser Creme auf jedes Paprikastück setzen, aufrollen und auf ein Backblech legen. Mit Olivenöl beträufeln und bei 180 °C etwa 30 Minuten lang backen. Heiß servieren.
Wunderbar!

MOMENTAUFNAHME

Trauer

In der Dämmerung eines Abends im April sah Matt das Ruderboot, das auf den Wellen des Sees gekentert war und kieloben trieb. Er schrie laut auf, sprang aus seinem Jeep und zog sich noch im Laufen die Stiefel aus. Er sprang vom Ende des langen Stegs und tauchte in dem schlammigen Wasser so lange, bis er auf ihre Leichen stieß.
An jenem Abend richteten sich die Scheinwerfer von etwa einem Dutzend Autos aus dem Sheriffbüro auf den See. Taucher sprangen ins Wasser, Winden wurden eingesetzt, und dann zog man die Leichen von Ernest March und seiner Geliebten Kitty Douglass aus dem grünen Wasser. Eden und Matt standen am Ufer und schauten zu.
Ernesto wurde gemäß den Riten und Ritualen der katholischen Kirche beerdigt, aber Kittys Leiche rissen sich die Mormonen unter den Nagel. Afton bestand darauf: Kitty sei in der mormonischen Kirche getauft worden, und auch wenn sie nicht als Heilige gelebt habe, so gehöre sie ihnen.
Edens Schwester Ada gab Eden die Schuld an Kittys Tod. Wenn Eden nicht einen Katholiken geheiratet hätte, wäre das alles nie passiert. Ada weinte am Telefon und machte Eden heftige Vorwürfe.
Der Staatsanwalt gab niemandem die Schuld. Im Mai 1956 wurde Tod durch Unfall festgestellt. Möglicherweise war einer der beiden im Boot zu schnell aufgestanden, und das Boot war durch die plötzliche Gewichtsverschiebung gekentert. Ein weiterer möglicher Faktor war Alkohol.
Matt gab Kitty die Schuld an Ernestos Tod. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, begann er zu grübeln.
Kittys Trinken hatte Ernesto getötet. Ernesto hatte die Hand nach ihr ausgestreckt, und sie hatte ihn getötet. Wenn Kitty nicht nach Greenwater gezogen wäre, wäre Ernesto noch am Leben. Wie verborgene Roststellen fraß sich Matts Verbitterung gegen Kitty Douglass in seine Ehe mit Eden.
Edens Trauer wich mit der Zeit liebevoller Erinnerung an Kitty und Ernesto. Zumindest hatten sie einander geliebt, und Kitty hatte die Erfüllung ihrer großen Liebe zu Ernest March erfahren. Eden vermisste Ernesto, aber er war nie besonders lebhaft gewesen, und am meisten fehlte ihr seine Kochkunst. Aber Kitty? Kitty vermisste sie wirklich. Ohne Kitty Douglass schien die Welt grauer. Eden fehlte Kittys Papperlapapp, ihre Sentimentalität, ihre Schlager, ihr romantischer Enthusiasmus und all ihre irritierenden Eitelkeiten, an die sie sich zeit ihres Lebens geklammert hatte.
Stellas Trauer wurde durch ihren katholischen Glauben gemildert, obwohl sie für Ernesto erneut schwarze Kleidung anlegte und sie auch für den Rest ihres Lebens nicht mehr ablegte.
Monate vergingen, aber Matts Trauer ließ nicht nach. Er hatte keinen Appetit, weder auf Arbeit, noch auf Essen oder auf Sex, die drei Lebenselemente, die ihn immer angetrieben hatten. Stundenlang saß er allein am See. Manchmal nahm er Ernestos Chrysler und fuhr davon, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Die dunklen Schatten unter seinen Augen wurden tiefer. Er stritt sich mit seiner Frau, und noch nicht einmal seine Töchter, die dreijährige Liza und das Baby Stellina, konnten ihn aus seiner Verzweiflung herausholen. Manchmal ging es ihm ein bisschen besser, dann spielte er mit den Kindern, aber wenn sie dann ins Bett gebracht wurden, ging Matt hinauf, schlug die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und weigerte sich, mit Eden zu reden.
Seine Frau flatterte wie eine Motte um die Flammen seiner Trauer herum.
Stella tat sich mit Eden zusammen, um Matt zu beruhigen.
Sie sagte ihm, er müsse sich für Ernesto freuen. Er sei jetzt im Himmel bei Nico, aber Matt erinnerte sie nur daran, dass sie seinerzeit gesagt hatte, Kitty sei Ernestos Verderben. Er bestand darauf, dass Ernesto im Zustand der Sünde gestorben und jetzt in der Hölle sei.
Eden konnte seiner unermesslichen Trauer nichts entgegensetzen. Sie verlor an Gewicht, lag nachts wach und versuchte, Matts Stimmungen zu ergründen, und trug die Verantwortung, die ihr Mann nicht mehr wahrnahm. In ihrer Not wandte sie sich an Afton. Auf ihre Stärke konnte sie sich immer verlassen.
Im Sommer 1956 kam Afton nach Greenwater und blieb zwei Wochen. Dem Chaos im Haus setzte sie ihre üblichen Heilmittel entgegen, Energie und Glaube. Afton nahm Matt ins Gebet, der ihr jedoch nicht zuhörte. Sie kochte riesige Mahlzeiten, putzte, wusch, bügelte und gewann damit Stellas widerwilligen Respekt. Afton kümmerte sich um die Kinder. Sie engagierte einen Mann aus der Gegend, der sich um Ernestos vernachlässigten Garten kümmerte, und sie stellte Matts Freundin Marinda Reynolds als Haushälterin ein. Juan war 1954 an Lungenkrebs gestorben, und Marinda zog in das leerstehende Gästehaus ein.
Afton Lance brachte alles in Ordnung. Außer Matt. Vor Matts Jammer musste selbst Afton kapitulieren. Sie konnte ihn aus seinem Elend nicht befreien.
Als sie am Tag ihrer Rückreise nach St. Elmo neben Eden auf dem Bahnsteig stand, sagte sie zu ihrer Nichte: »Denk daran, dass Gott uns nichts aufbürdet, was wir nicht tragen können.«
»Gott muss wohl sehr optimistisch sein«, erwiderte Eden.
Afton war ungewöhnlich nachdenklich. Sie sagte: »Sei vorsichtig, Eden. Ein so leidenschaftlicher Mann macht mir Angst. Ich habe Angst vor seiner Trauer. So tiefe Trauer ist nicht normal. Matt muss schwächer sein, als wir gedacht haben. Irgendetwas Dunkles muss in ihm sein. Ich will damit nichts Kritisches oder Gemeines sagen. Ich tue nur meine Pflicht, wenn ich dich warne. Matt hat dich verlassen, Eden.«
»Nein, das stimmt nicht. Er hat mich nicht verlassen.«
»Er schwelgt in seinem Kummer, ohne an dich, die Kinder oder seine Mutter zu denken. Er denkt nur an sich. Wenn es so weitergeht, wirst du dir die Gesundheit ruinieren.«
»Ich weiß nicht, wie ich ihn aufhalten soll.«
»Ich auch nicht. Es tut mir leid. Du hast mich gebeten, hierherzukommen und euch zu helfen, und ich habe versagt.«
»In meinen Augen hast du noch nie versagt.«
Afton Lance schwieg.
Sechs Monate nach dem Unfall tauchte Matt aus der Verzweiflung auf wie Phönix aus der Asche. Als ob nichts gewesen wäre, kehrte sein altes Strahlen zurück, und aller Jammer war vorbei, als die Marchs erfuhren, dass ihre gemeinsame Produktion, The Lariat Lawman, auf ABC in ganz Amerika ausgestrahlt werden würde. Mit Unterstützung von Scoop Erdnussbutter: Scoop - der beste Freund des Brotes.
Es war vielleicht nicht der tolle Western, von dem Matt geträumt hatte, aber die Serie, die von 1957 bis 1961 im Fernsehen lief, zeugt noch heute von Matt Marchs Ehrgeiz, über die Pferdeopern, die in den fünfziger Jahren das Programm bestimmten, hinauszugehen. Es ging zwar sicher nicht über das Genre hinaus, aber Drehbuch und Besetzung waren hervorragend und das Städtchen Lariat eine lebensechte Kulisse. Auch Schwarze, Mexikaner und Asiaten spielten Rollen, die sich entwickelten, und ihre Dialoge waren nicht allein auf Klischees und Lacher ausgerichtet. Matt March nannte es authentisch.
Er wollte einen Western schaffen, in dem man den Schweiß und Schmutz des Alltags riechen konnte. Die Pferdeäpfel wurden nicht sofort von der Straße gefegt. Matt begnügte sich nicht damit, Klischees zu bedienen, er war der Ansicht, sein Publikum müsse die Fliegen auf den Hinterteilen der Pferde sehen. Der Wind sollte den Männern die Hüte vom Kopf blasen. In der Schmiede war es so heiß, dass dem Hufschmied der Schweiß auf der Stirn stand, und echte Funken flogen, als er mit dem Hammer auf den Amboss schlug und damit den authentischen Rhythmus des Westens erschuf, den Matt so liebte.