TEIL II
Brotlaibe und Fische
1959
1
Eine kleine, finster blickende Gruppe von Männern und Frauen, einige davon mit Babys in den Armen, hatte sich vor dem Sheriffbüro, einem soliden Backsteinbau, versammelt. Ein bewaffneter Mann stand breitbeinig auf der Holzveranda und versperrte den Einwohnern von Lariat die Tür.
»In Ordnung! Tretet zurück!«, sagte der bewaffnete Mann, Deputy Spud Babbitt mit rauer Stimme. Er hielt sein Gewehr hoch. »Wir haben seit zwanzig Jahren niemanden mehr in Lariat gelyncht, und das werden wir auch jetzt nicht tun.«
Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Sheriff von Lariat trat heraus. Er hob die Arme, die mit Handschellen an zwei Gefangene gefesselt waren. »In meiner Stadt wird niemand gelyncht«, erklärte Sheriff Lance Kidd. Er trug hochhackige Stiefel, war aber trotzdem nicht annähernd so groß wie Spud. Trotzdem wirkte er beeindruckend und durchtrainiert. Die beiden Gefangenen warfen ihm unterwürfige Blicke zu. »Diese Männer werden einen gerechten Prozess in Lariat bekommen«, fuhr der Sheriff fort. »Ich habe einen Eid darauf abgelegt.«
»Er hat meinen Daddy erschossen«, schrie Liza unaufgefordert aus der Menge. Mit ihren sieben Jahren spielte sie oft kleine Mädchen in der Kleidung der Zeit. Stellina, die neben ihr stand, schwieg.
Der Sheriff kündigte an, dass jeder, der die Gefangenen lynchen wollte, auch ihn aufhängen müsse, und dann ging er mit ihnen in der glühenden Julihitze mitten durch die Menge, die sich teilte wie das Rote Meer. Der Deputy deckte mit entsicherter Flinte ihren Rückzug.
»Schnitt!«, schrie Matt. »Fünf Minuten Pause für alle.« Er wandte sich zu seiner Frau um, die mit dem Klemmbrett neben ihm saß, und legte ihr den Arm um die Schultern. »Wo sind wir?«
»Wir hinken hinterher«, erwiderte Eden. The Lariat Lawman und andere Western erinnerten Eden an Schwester Thorsens hundertjährigen Sauerteig, der in Aftons Küche immer in einem zugedeckten Steinguttopf gestanden hatte. Wenn Afton backen wollte, hatte sie ein wenig herausgenommen, Mehl, Salz, ein wenig Fett oder Butter hinzugefügt und alles verknetet. Brot oder Kuchen entstanden aus der Mischung, und auch bei einem Western zählte das Grundrezept mehr als der geschriebene Text.
Und das war das Rezept: Der Gute war ein meisterhafter Reiter, Kämpfer und Schütze. Da The Lariat Lawman abends ausgestrahlt wurde, durfte der gute Cowboy trinken, sogar rauchen, aber er war nie betrunken oder grausam. Loyal seinem Pferd und seinem Gefährten gegenüber, respektvoll zu Frauen, aber nie anzüglich. Seine Schwächen waren zugleich seine Stärken. Obwohl er sich manchmal außerhalb des Gesetzes bewegte, schützte der Gute die Rechte der Bürger. Der Sheriff von Lariat, Lance Kidd, hatte eine geheime Vergangenheit: Er war früher ein Gesetzloser gewesen. Das änderte das Rezept zwar nicht grundlegend, fügte aber einiges an Würze hinzu. Jeder, der Lance Kidd von früher kannte, konnte seine gegenwärtige Position als geachteter, sogar gefürchteter Gesetzesvertreter bedrohen. Diese Vergangenheit war Matts Idee. Der Name, Lance Kidd, kam von Eden, zu Ehren von Tom und Afton.
Wenn man sich an die Zutaten hielt, musste jeder Gute sein Pferd und seinen Gefährten haben. Der Name des Pferdes war unauflöslich mit dem guten Cowboy verbunden. Lance Kidds Pferd hieß Cheyenne. Das war Les Doyles Idee. Der Gefährte war immer loyal und ein bisschen dumm; er war immer für einen Lacher gut und brachte den Guten manchmal in Schwierigkeiten. Spud Babbitt, der Deputy, bildete da keine Ausnahme, und selbst sein Name war mit Absicht komisch gewählt.
Der Gute, sein Gefährte und sein Pferd kamen mit den Bösen in Konflikt. Diese waren häufig in der Überzahl, hatten Schnurrbärte und waren dumm wie Bohnenstroh. Jeder, der auf dem Bildschirm sein Pferd schlecht behandelte, war ein Böser. Manchmal wurden sie angeführt von einem richtigen Schurken, der häufig Anzug und Krawatte trug, um anzudeuten, dass er kein echter Sohn der Prärie war. Und natürlich gab es das Mädchen.
Das Mädchen des Lariat Lawman war die Lehrerin, Carrie Dunne, die von Lois Bonner gespielt wurde. Eigentlich musste sie fantastisch reiten können, aber das war nicht der Fall. Als passionierte Reiterin hatten sie Ginny Doyle. Sie war ein Genie. Sie konnte fallen, während des Galopps vom Pferd abspringen oder sich um seinen Hals hängen. Sie konnte auf einem Bein auf dem Sattel stehen, während das Pferd weiterrannte, und dann einen Handstand machen. Ginny Brothers Doyle hatte ein trauriges, zimtfarbenes Gesicht; sie trug ihre Haare so kurz wie ein Mann, damit sie problemlos die jeweiligen Perücken darüberziehen konnte. Sie bestand nur aus Sehnen und Muskeln und war quasi alterslos. Neben Annie Douglass war sie Edens beste Freundin; und in Lariat sogar ihre einzige Freundin, weil Edens Aufgabe auf dem Set Freundschaften nicht gerade förderte.
Sie gab die direkten Anweisungen: wer und was wo und wann zu sein hatte. Und wenn irgendjemand nicht da war, wo er hingehörte, musste er sich vor ihr rechtfertigen, und Eden sorgte dann dafür, dass es nie wieder vorkam. Takt, Feingefühl oder Charme waren Matts Aufgabe, und Eden war oft der Meinung, dass er seinen Charme an Leute verschwendete, die ihn nicht verdient hatten.
Eden schlenderte zur Veranda der Bank von Lariat, wo Liza gerade einem Pferd, das dort angebunden war, die Nase tätschelte. Stellina saß neben ihr und spielte mit ihrer Stoffpuppe. »Hey, wollt ihr zwei ein bisschen Wasser trinken?«, fragte sie ihre Töchter.
»Nein, wir haben keinen Durst«, erwiderte Liza, und ihre kleine Schwester widersprach nicht.
Eden hockte sich hin und fuhr Liza zärtlich über die dunklen Haare. Liza sah aus wie ihr Vater. »Hey, Schätzchen, du hast heute schon wieder dazwischengeredet. Du sollst doch nichts sagen, sondern einfach nur dastehen und wie ein kleines Mädchen aussehen. Und das bist du ja auch.«
»Entschuldigung«, sagte Liza, obwohl Eden ihr ansah, dass es ihr nicht im Geringsten leidtat. »In der Gerichtsszene bin ich ganz still. Und heute Abend ist die große Party, oder?«
»Ja, aber du kannst nicht so lange aufbleiben.«
»Ich bin ein Cowgirl«, sagte Liza. »Ich kann wohl aufbleiben.«
»Ich auch«, piepste Stellina.
»Du bist kein Cowgirl«, korrigierte Liza sie. »Daddy hat mir ein eigenes Pferd geschenkt, Dasher, und Ginny bringt mir Reiten bei. Du kannst noch nicht reiten.«
»Ach, Liza«, schalt Eden sie liebevoll, »warum musst du immer gewinnen?«
Eden nahm Stellina auf den Arm, ergriff Lizas Hand und ging mit ihnen zum Set zurück. In ihren kleinen Töchtern erkannte sie sich und Matt. Stellina war weniger energisch als Liza, aber sie war lieb und süß. So musste Matt als kleiner Junge gewesen sein: gehorsam, vertrauensvoll, sonnig und charmant. In Liza hingegen sah Eden sich selber: willensstark, selbstbewusst, die Älteste, die die Bewunderung der anderen als selbstverständlich betrachtete.
Alle nahmen ihre Plätze ein, Liza und Stellina neben den Schauspielerinnen, die ihre Mütter darstellten. Carrie Dunne rannte auf den Sheriff und Spud zu, die die Menge in Schach hielten. Der Richter, ein alter, erfahrener Schauspieler, wandte sich an Lance Kidd und sagte seinen Text.
Matt fuhr mit der Kamera nahe an ihn heran, und dann sollte eigentlich Lois Bonner als Carrie vortreten und sich an den Richter wenden. Stattdessen jedoch drehte sich Lois zu Matt um. »Was denkt Carrie sich? Was ist ihre Motivation?«
»Sag einfach deinen Text«, warf Eden ein. »Das ist hier nicht Endstation Sehnsucht, das ist ein TV-Western.«
»Ich habe eine Schauspielausbildung, und ich muss die Figur, die ich spielen soll, verstehen.«
Eden wollte gerade antworten, als Matt unterbrach: »Komm, wir reden kurz drüber, Lois.«
Er führte sie ein Stück beiseite, und Eden und alle anderen standen schwitzend in der Hitze und warteten, während er Lois Carrie Dunnes Motivation erklärte.
Eden fand es unerträglich, wie Lois sich gebärdete, und hätte sie am liebsten nach Hause geschickt. Jeder hier wollte doch nur sein Auskommen haben. Das Fernsehen mochte schlecht bezahlen, aber es war ein regelmäßiges Einkommen, und die Schauspieler verhielten sich größtenteils professionell. Wer das nicht tat, blieb nicht lange, außer Lois. Matt schien sie für unglaublich begabt und wichtig zu halten, aber Eden fand sie einfach nur unerträglich.
Schließlich kehrte Matt mit Lois ans Set zurück, nickte ihr ermutigend zu, und sie sagte ihren Text. Der Richter antwortete. Die Schurken warfen feige Blicke in die Kamera, und der Sheriff hielt seine gefesselten Hände hoch und sagte ein paar Worte über einen fairen Prozess.
Gott sei Dank, dachte Eden, als die Szene endlich im Kasten war und sie Mittagspause machen konnten. Alle eilten zu den Jeeps und Pick-ups, die sie zum gleichen Picknickgelände bringen würden, wo vor sieben Jahren ein übereifriger Stuntman Eden einen Klaps aufs Hinterteil versetzt hatte. Bei der Erinnerung daran musste sie heute noch lächeln. Die Ehe mit Matt hatte sich als Glücksgriff erwiesen; selbst nach sieben Jahren noch konnte er sie mit einem Blick, einer Berührung oder einem Grinsen zum Erröten bringen. Sie waren ein unschlagbares Paar, Matts Charme, Edens Energie, Matts Vision, Edens Aufmerksamkeit für die Details.
Eden stellte sich am Wasserspeier an, um sich kaltes Wasser über die kurzen Haare laufen zu lassen. Sie trug eine ärmellose Bluse, in der Taille geknotet, eine Caprihose und Turnschuhe an den Füßen. Als sie sich abgekühlt hatte, rief sie nach ihren Töchtern, damit sie mit ihr zum Essen fuhren.
»Du bist zu streng mit Lois«, sagte Matt zu Eden. Er lenkte sein Pferd, Dancer, neben den Jeep. »Wenn du netter zu ihr wärst, bekämen wir in kürzerer Zeit mehr aus ihr heraus.«
»Vielleicht sollten wir uns einfach jemand anderen suchen«, entgegnete Eden. »So toll ist sie nun auch wieder nicht.«
»Sie ist schön.«
»Ach ja?« Eden zuckte mit den Schultern und dirigierte die Kinder auf den Rücksitz. »Such dir doch eine andere Prinzessin auf der Erbse. Hübsche Mädchen gibt es wie Sand am Meer, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest«, fügte sie hinzu.
Matt mochte Frauen. Trotz seiner Begeisterung für Western fühlte er sich in der Gesellschaft von Frauen wohler als mit Männern. Er hatte gerne seine Frau, seine Mutter und seine Töchter um sich; er genoss Ginny Doyles Lebhaftigkeit, und er war gleichermaßen charmant zur Haushälterin Marinda wie zu den jungen Schauspielerinnen am Set.
»Ich will mit Daddy reiten«, schrie Liza.
In diesem Moment kam Ginny auf einem Cody, einem falben Palomino mit silbernem Schweif angaloppiert, einem lebhaften, schnellen Pferd, das nur von ihr geritten werden konnte. »Willst du mit mir zum Picknickgelände reiten, Kleines?«, sagte sie zu Liza, die bereits mit ausgestreckten Armen auf dem Rücksitz stand. Ginny hatte keine Kinder, und ihr sonnenverbranntes Gesicht hellte sich immer auf, wenn sie Liza erblickte, die sie wie eine Tochter liebte.
»Ich weiß, dass du Liza Westernreiten beibringen willst«, sagte Matt zu ihr. »Aber sie soll auf englische Art reiten lernen. Das ist eleganter.«
»Warum soll sie denn unbedingt elegant sein?« Lachend hob Ginny Liza vor sich in den Sattel. »Willst du, dass sie einen Besenstiel im Kreuz hat?«
»Sie soll nach Stanford gehen, und dort sind die Mädchen elegant.«
»Liza ist ein Wildfang, und so reitet sie auch.«
»Genau wie Annie Oakley«, warf Liza ein.
»Nie kann ich mich bei meinen Frauen durchsetzen!« Matt lachte, als Ginny mit Liza davongaloppierte.
»Kann ich mit dir reiten, Daddy?«, fragte Stellina.
»Ja, klar, Baby. Komm her. Kommst du zum Essen, Eden?«
»Ich muss kurz zum Haus fahren und nachschauen, ob alles für die Party heute Abend vorbereitet ist.« Matt umschlang Stellina mit den Armen. »Heute Abend wird Lariat Geschichte machen.«
• Ginny Doyles Cowgirl-Chili •
2 Pfund getrocknete rote Bohnen, gewaschen und gekocht, oder 2 Dosen rote Bohnen.
2 Pfund Schweinefleisch oder Rind, in kleine Würfel geschnitten. In einer gusseisernen Pfanne scharf anbraten und dann in einen großen Schmortopf füllen.
2 Zwiebeln, 1 weiße, 1 rote, hacken; ein paar gehackte Knoblauchzehen hinzugeben, grüne entkernte und klein geschnittene Chilischoten sowie gehackte Jalapeños, mindestens 3 oder 4, für besonders Hartgesottene auch mehr. Anbraten und alles zum Fleisch geben.
1 große Dose Tomaten abgießen, den Saft beiseitestellen und die Tomaten ebenfalls in den großen Topf geben.
Den Tomatensaft in der Pfanne mit 1 oder 1½ Tassen Rinderfond zum Kochen bringen, und wenn sich alle Rückstände in der Pfanne gelöst haben, je 1 Esslöffel Kreuzkümmel, Chilipulver und Salz hinzugeben. Abschmecken. Die Hartgesottenen fügen noch etwas Cayennepfeffer hinzu. Eine Weile bei reduzierter Hitze köcheln lassen und ab und zu umrühren.
Zum Fleisch hinzugeben. Gut durchrühren und bei leicht geöffnetem Deckel ungefähr eine Stunde lang köcheln lassen. Bohnen hinzugeben und noch einmal eine Stunde köcheln lassen. Vom Feuer nehmen. Zwei Riegel dunkle Schokolade hinzugeben. Den Deckel aufsetzen und die Schokolade schmelzen lassen. Anschließend gründlich umrühren. 24 Stunden lang stehen lassen, und danach ganz langsam erhitzen. Mit diesem Chili, Mama, werden alle deine Babys zu Cowgirls.
MOMENTAUFNAHME
Der Champion
In ihren Sturm- und Drang-Jahren suchte Ginny Brothers sich ihre Pferde sorgfältiger aus als ihre Männer. Sie nannte alle ihre Pferde Cody, sodass sie alle aus ein und derselben Zucht zu stammen schienen, und ihre Männer nannte sie allesamt Bucko, damit sie sich nicht auf ihre individuellen Merkmale einlassen musste. Ginnys natürliches Gleichgewicht und ihre Sportlichkeit machten sie zu einer perfekten Rodeoreiterin; sie war wesentlich besser als die meisten Cowboys, die sie mit einer Mischung aus Eifersucht und Verlangen anschauten. Ginny ließ sich davon jedoch nicht irritieren. Sie war furchtlos, geradlinig und immun dem Zufall gegenüber. Fast immun.
Von 1937 an gewann Ginny Brothers jedes Jahr mindestens einen der großen Rodeowettkämpfe, und sie erfand atemberaubende Stunts. Sie reiste von Boston nach San Francisco, von London nach Oregon, von Houston nach Calgary, und wurde überall mit frenetischem Jubel empfangen. Während des Krieges, als die meisten jungen Männer zur Army eingezogen wurden, sahnte sie richtig ab und war die unangefochtene Königin in der Arena.
Die Hälfte ihres Preisgelds und alle ihre Pokale schickte sie zu ihrer Mutter nach Butte, Montana, wo auch die zahlreichen blauen Bänder aufbewahrt wurden, die sie schon als Kind errungen hatte.
Der Rodeogeruch wirkte auf Ginny Brothers wie ein Tonikum: Sie brauchte den Duft nach Pferden, Heu und Hafer, nach Stroh, Pferdemist, Staub und Regen. Das Wiehern der Pferde, das Donnern der Hufe, der Geruch nach Bier, Schweiß und Kaffee belebte sie.
Ginny ritt in der dritten Generation Rodeo. Ihre Eltern, Prairie Fern und Bill Brothers, waren echte Amerikaner, wenn auch keine echten Indianer. Sie waren beide in London geboren, wo Buffalo Bills Wildwestshow jeden Abend im Earl’s Court gastiert hatte. Bill Brothers und Prairie Fern wuchsen sozusagen vor Publikum auf und agierten als das, was sie tatsächlich waren, als Sioux. Prairie Fern führte als Kind sogar einmal einen zeremoniellen indianischen Stammestanz vor König Edward VII. auf.
Prairie Fern und Bill Brothers, der nach Buffalo Bill Cody benannt war, heirateten jung, 1914 in South Dakota. Sie schlossen sich den Tex Jones Wild West All-Stars an, wo Prairie Fern ihre Indianertänze aufführte und Bill wilde Mustangs zuritt. Sie tranken beide. Ihr Sohn kam mit zwanzig Monaten ums Leben, als er von Bills Pferd fiel - er gehörte zur Vorführung seines Vaters. Sie hatten zwei Töchter, Kathleen und Virginia, die auch beide zu den Nummern der Eltern gehörten. Ginny konnte kaum laufen, da war sie schon als Little Miss Wrangler bekannt.
Im August 1924 traten die Tex Jones Wild West All-Stars in Butte auf. Eines Abends nahm Bill Brothers das Familienauto und fuhr Zigaretten kaufen. Er kam nie zurück. Bill und seine Wutausbrüche waren kein großer Verlust, aber das Auto? Ohne das Auto konnte der Wohnwagen nicht gezogen werden, und so blieben Prairie Fern und ihre Töchter zurück, als die Schaustellertruppe Butte verließ. Ginny war fast sieben, Kathleen war acht. Sie waren noch nie länger als zwei Monate am Stück in der Schule gewesen.
Prairie Fern stellte das Pferd, Cody, unter und verkaufte den Wohnwagen. Sie zog mit den beiden Mädchen in eine kleine Wohnung hinter dem Raymond’s Hotel. In den nächsten zehn Jahren machten die drei die Wäsche, bezogen Betten und putzten Zimmer für Geschäftsreisende. Manchmal standen sie auch an der Rezeption. Raymond zog weg.
Little Miss Wrangler gewann jeden Wettbewerb, an dem sie teilnahm, und Prairie Fern heftete alle blauen Bänder an die Wand. Dort hingen sie und bleichten in der Sonne aus, nachdem Ginny sich mit siebzehn erneut Tex und seinen Wild West All-Stars angeschlossen hatte. Prairie Fern versuchte erst gar nicht, sie aufzuhalten. Ginny versprach ihrer Mutter zurückzukehren, und sie versprach ihr, dass sie eines Tages ihr eigenes Haus haben würde und nie wieder Bettwäsche für Fremde wechseln müsste.
Ginny Brothers - die spätere Ginny Doyle, die größte Stuntwoman in der Geschichte des Western - machte Tex Jones unsterblich. Sie war eine Legende, die Herzen brach und Trophäen sammelte, ohne sich dabei jemals zu verletzen. Bis zu jenem Tag im Jahr 1947 im Madison Square Garden.
Aufrecht stand sie auf dem Sattel, mit ausgestreckten Armen, während sie im Kreis galoppierte. Gerade bereitete sie sich auf ihrer spektakulärste Nummer vor, als plötzlich der Geist ihres Großvaters in die Arena geflogen kam. White Ghost Dog kam auf sie zu und erschreckte Cody. Er blieb abrupt stehen, und Ginny wurde zur Seite gerissen, wo sie hilflos am Sattel baumelte, während Cody herumschwang und sie mit dem Kopf gegen die Betonwand schleuderte. Er zog sie eine ganze Runde hinter sich her, bevor zwei beherzte Reiter ihn zum Stehen brachten. White Ghost Dog allerdings hatte sich nicht materialisiert. Ein Bewunderer hatte einen weißen Nerzmantel über die Reling geworfen.
Zwei Wochen nach dem Unfall wachte Ginny in der Wohnung ihrer Mutter in Raymond’s Hotel in Butte auf. Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war. Ihr Kiefer war verdrahtet, sie hatte ein paar Wirbel, acht Rippen und die Schulter gebrochen, ein Fuß war zerschmettert und ein Bein ebenfalls gebrochen. Außer Prairie Fern hatte niemand daran geglaubt, dass sie überleben würde. Wenn sie nicht stürbe, meinten sie, würde sie nie wieder laufen können; und wenn sie wieder laufen könne, dann könne sie bestimmt nicht mehr reiten. In Ginnys Sprachschatz kam das Wort nie nicht vor, und der Unfall und ihre Genesung nährten ihre Legende noch.
Der Unfall blieb jedoch nicht folgenlos. Zwischen ihren gebrochenen Wirbeln bildeten sich kleine Hohlräume, die in den kalten Wintern in Montana einfroren und nicht auftauten. Sie würde keine Kinder bekommen können. Ihre Genesung dauerte fast drei Jahre, in denen sie häufig an der Rezeption saß, damit ihre Knochen in Ruhe heilen konnten. Sie war jetzt dreißig und betrachtete mit Verbitterung ihre ungewissen Zukunftsaussichten.
Im Herbst 1949 brannte Raymond’s Hotel bis auf die Grundmauern nieder. Das Geschäft war schon lange schlecht gegangen; das Gebäude war versichert, und Brandstiftung konnte nicht nachgewiesen werden. Raymond strich das ganze Geld ein, während Prairie Fern und Ginny mittellos dastanden. Zum Glück hatte Ginny ihren berühmten, mit Silber bestickten Sattel, ihre Gürtelschnalle aus Sterlingsilber, ihre Pistole und ein paar perlenbestickte Westernkostüme retten können, weil sie sie in der Garage aufbewahrt hatte. Sattel und Gürtelschnalle tauschte sie für einen zwanzig Jahre alten Dodge ein, der einem Cowboy gehörte. Sie nannte ihn Bucko und wälzte sich noch schnell mit ihm im Heu, weil sie am nächsten Tag sowieso aufbrechen wollte.
Ginny und Prairie Fern fuhren gemächlich quer durch das Land bis nach Tumwater in der Nähe von Seattle, wo Kathleen und ihr Mann lebten. Er arbeitete in einer Fischräucherfabrik, roch nach Rauch und rauchte Pall Mall. Ginny bevorzugte Lucky Strikes.
An einem Abend saßen Kathleen, ihr Mann, Ginny und Prairie Fern beim Abendessen, als Kathleen sagte, wie schön sie es fände, wenn Mutter in Tumwater bliebe. Kathleen hatte keine Kinder und tagsüber keine Gesellschaft. Das Essen, das sie auf den Tisch stellte, war eine dicke, bleiche Puddingmasse, ein Krug mit Sirup, eine gebackene Kartoffel für jeden und eine Tasse Kaffee. Sie erklärte, ihr Mann litte an Verdauungsstörungen und könne nur wenig essen.
Ginny lauschte dem Klirren der Gabeln und Löffel, den Essensgeräuschen und den stumpfsinnigen Gesprächen. Wie ertrug Kathleen das nur? Konnte Ginny ihrer Mutter ein Leben hier zumuten? Aber sie hatte keine andere Wahl, ohne Geld, ohne Aussichten, ohne Pferd, ohne Sattel.
Kathleen räumte den Tisch ab und sagte, sie hätten hoffentlich alle noch etwas Platz für den Nachtisch gelassen. Ihr Mann entschuldigte sich und ging ins Wohnzimmer. Kathleen erklärte, sein empfindlicher Magen vertrüge keinen Kuchen.
Sie trug einen Brombeerkuchen auf, den sie erst am Morgen gebacken hatte. Durch den goldbraunen Teig schimmerten kleine dunkle Brombeertümpel, und der Kuchen duftete nach Septembersonne. Kathleen schnitt ihn an und legte ihrer Mutter, ihrer Schwester und sich selber so vorsichtig ein Stück auf den Teller, als sei es ein sorgfältig eingepacktes Geschenk.
Und das war es auch. Prairie Fern begann zu weinen, und Ginny und Kathleen brachen ebenfalls in Tränen aus. All diese Jahre, so viel Mühen und Schweiß, so viele Männer und Pferde, so viel Arbeit im Hotel, und mehr war ihnen nicht geblieben.
Ginny erklärte, so einen leckeren Brombeerkuchen habe sie noch nie in ihrem Leben gegessen, und Kathleen errötete vor Freude über das Kompliment. Sie sagte, das Geheimnis bestehe darin, den Kuchen zu backen, wenn die Beeren noch warm von der Sonne waren.
Am nächsten Tag verkaufte Ginny den Dodge. Sie behielt genug Geld für den Bus, ein wenig Verpflegung und Zigaretten und gab den Rest ihrer Mutter. »Ich lasse dich nachkommen«, versprach sie ihr. »Du musst nicht hierbleiben. Wir werden ein eigenes Haus haben.«
Sie fuhr mit dem Bus nach Stockton, California, und suchte nach den Rodeoreitern. Fast hätte sie sich ihnen angeschlossen, aber sie besaß kein eigenes Pferd. In einer Bar lernte sie einen Cowboy namens Les Doyle kennen. Sie sagte ihm ihren Namen nicht und bezahlte auch ihr Bier selber. Aber er bot ihr eine Lucky Strike an.
Les Doyle besuchte in Stockton einen alten Kumpel aus der Army. Ursprünglich stammte er aus Texas, hatte aber eine Pferdeherde für Howard Hawks’ Red River überführt und seitdem für fast alle gut aussehenden Westernschauspieler als Double gearbeitet.
Les selber sah nicht so besonders gut aus. Er hatte aschblonde Haare und ein faltiges, sonnengegerbtes Gesicht. Aber Ginny gefielen seine blauen Augen und seine sauberen Hände. »Ich bin Ginny Brothers«, sagte sie.
Les Doyle starrte sie an. »Es hat geheißen, Sie könnten nie wieder laufen.«
Ginny zuckte mit den Schultern. »Es wird viel geredet. Ich habe zwar kein eigenes Pferd mehr, aber Sie werden sehen, ich werde wieder reiten. Ich möchte wieder zum Rodeo.«
Les erklärte ihr, dass Rodeo etwas für Versager sei, und wenn sie schon vom Pferd fallen müsse, dann doch lieber in einem Film oder fürs Fernsehen.
Nachdenklich hörte Ginny ihm zu. Les bot ihr an, sie nach Los Angeles mitzunehmen, wo sie sich am nächsten Tag bei der Filmproduktion vorstellen könne. Und er versprach ihr, ihr ein Pferd zu besorgen. Ein gutes Pferd, das sie Cody nennen könne.
Ginnys Interesse war geweckt. Sie dankte Les Doyle und erklärte, sie nähme sein Angebot, sie mit nach Los Angeles zu nehmen und ihr ein Pferd zu kaufen, an, aber sie würde schlafen, mit wem sie wollte. Er erwiderte, das könne er gut verstehen. Sie nannte ihn nicht Bucko.
Niemals.
2
In der Küche der Marchs liefen die Vorbereitungen für das traditionelle Saisonfest auf Hochtouren. Es wurden ungefähr hundert Gäste erwartet.
Die Marchs hatten ganze Schränke voll mit Erdnussbutter. Auf den Gläsern war Rex Hogan abgebildet, gut aussehend, sauber rasiert, mit strahlendem Lächeln in seiner Rolle als Lariat Lawman. Manchmal war auch noch Spud Babbitt im Hintergrund zu sehen. Sein Konterfei zierte auch Lunchdosen, Handtücher, Nachttischlampen und alle möglichen Kleidungsstücke, und wie der Steuerberater den Marchs erklärte, gab es ein Wort dafür: Merchandising. Ein Wort, das Millionen wert war.
Und Eden, die in bitterer Armut aufgewachsen war, fand den Geldregen faszinierend. Sie investierten in Greenwater, renovierten Gebäude und bauten neue Kulissen. Weihnachten 1958 bekam Liza ihr erstes Pferd, Dasher, eine hübsche kleine Stute. Matt kaufte sich ebenfalls ein eigenes Pferd, Dancer. Sie pflasterten den Weg, der vom Haupttor zur Hacienda führte, und legten einen Pool an, zwar nicht an der Stelle, die Ernesto dafür vorgesehen hatte, aber so nahe am Haus, dass Matt und Eden bis weit in den Abend schwimmen gehen konnten.
Sie stellten Personal ein, sodass Marinda Reynolds, die sich mit Stella angefreundet hatte, sich nur noch um die Küche kümmern musste.
Marindas berühmte ¡Olé!-Mole war die Hauptattraktion des heutigen Festes: Sie schmeckte nach Chili, Schokolade und Erdnüssen. Marinda briet die Hühnchen langsam in ¡Olé!-Mole und hatte immer noch eine Extraportion für den Reis bereitstehen. Es würde ganze Berge von lockerem, weißem Reis geben, und Kessel voll mit Ginnys Cowgirlchili, das sie schon vor zwei Tagen in der Küche der Marchs vorbereitet hatte. Zu diesen Greenwater-Spezialitäten lieferte Oasis Schinken, Roastbeef und Lammkeule nach Annies geheimem Spezialrezept, eine Lammkeule, als ob sie einen Seidenschal aus Minze, Zitrone und Knoblauch trüge.
Als Eden ins Haus kam, wimmelte es dort bereits von Oasis-Angestellten, die Platten voller Vorspeisen anrichteten und auf der Terrasse und im Garten Tische und Stühle aufstellten.
»Und?«, fragte Eden. »Ist alles bereit?«
Marinda scheuchte Eden vom Herd weg. »Du stehst im Weg. Nimm dir etwas zu essen und geh nach draußen. Hier.« Sie reichte Eden einen Teller mit Annies Teufelseiern, die sie mit scharfem Pfefferessig, Salami- und Gurkenscheiben anrichtete, und etwas Baguette dazu.
Gehorsam ging Eden nach draußen. Im Innenhof dienten lange Tische als Büfett und auch als Bar. Überall auf dem Rasen standen kleine runde Tische mit Windlichtern, umgeben von Stühlen. Eden hockte sich an den Rand und betrachtete zufrieden ihr Reich.
Als Matt nach Hause kam, stand Eden unter der Dusche. Er schloss ihre Schlafzimmertür ab und gesellte sich zu ihr. Als sie schließlich zur Party herunterkamen, lächelte Eden March. Sie sah bezaubernd aus in ihrem dunkelblauen Kleid mit weit schwingendem Rock und hochhackigen Sandalen. Sie trug keine Strümpfe, und ihre kurzen Haare waren noch feucht. Smaragdohrringe, ein Überraschungsgeschenk zu ihrem fünften Hochzeitstag, passten zu ihrem Smaragdanhänger und ihren Augen.
Eden trat an die Tür, um die Gäste willkommen zu heißen. Alle parkten am Tor und wurden dann in einer echten Westernkutsche zur Hacienda gebracht.
»Ich sehe die Pioniere jetzt mit ganz anderen Augen«, sagte einer der Gäste, als er steifbeinig aus der Kutsche stieg. Er reckte seinen Hals. »Kaum vorstellbar, dass sie damit quer durch die Wüste gefahren sind.«
Eden fiel auf einmal ein, dass die lange Auffahrt zum Haus größtenteils unbeleuchtet war, und wenn die Leute wieder gingen, würde es dunkel sein. Vielleicht war der authentische Touch doch nicht so eine gute Idee. Sie musste Matt unbedingt darauf ansprechen.
»Carrie Dunne muss ganz schön blöd gewesen sein, sich in so einem Gefährt durchschaukeln zu lassen«, warf Lois Bonner ein, die gerade hinzukam.
»Sie sind doch Lois Bonner!«, schrie eine Frau.
Lois sonnte sich in der Bewunderung und signierte auf der Stelle ein Autogramm. Ohne Perücke und Korsett wirkte sie noch üppiger und strahlte eine betörende Sinnlichkeit aus. Ihr langjähriger Freund, Joey irgendwas, Eden konnte sich nie an seinen Namen erinnern, fragte nach einem Aschenbecher. Eden wedelte den Rauch seiner Zigarette weg und machte eine Bemerkung über die Hitze.
»Was erwarten Sie?« Lois lachte. »Es ist Juli. Und, was machen Sie jetzt, Eden, wo Lariat abgedreht ist?«
»Meine Arbeit hört nie auf. Zum Glück wollen alle TV-Western, und ich muss die neuen Drehorte vorbereiten.«
»Ja, klar, irgendjemand muss sich ja um das Klemmbrett und die Kuhfladen kümmern«, erwiderte Lois.
Der Satz klang so sehr nach Matt, dass Eden einen Moment lang ganz irritiert war, aber in diesem Moment trat Stella zu ihr und sagte, sie solle zu Matt in den Innenhof kommen.
Langsam bahnte sie sich ihren Weg durch die Gäste, die sie zu dem schönen Fest und der gelungenen Dekoration beglückwünschten. Matt war im Innenhof, wo Oasis eine Bar aufgebaut hatte. Er reichte ihr ein Glas. »Gin Tonic, so wie du ihn am liebsten magst, Schatz.« Er legte ihr den Arm um die Taille und zog sie an sich. Eden schmiegte sich an ihn.
»Das sind die Baxters, Schatz. Gus, Beverly, meine Frau, Eden. Sie sind Investoren und glauben fest an das, was wir hier machen.«
Eden begrüßte sie. Sie waren ein elegantes Paar. Gus Baxter, vielleicht vierzig, war ein großer, blasser Mann in einem Tweedjackett. Er trug teure Schuhe und eine Seidenkrawatte. Sein blondes Haar lichtete sich bereits, und er hatte kalte blaue Augen. Seine wesentlich jüngere Frau wirkte kühl. Ihr perfekt frisierter Bob schmiegte sich um ihr gebräuntes Gesicht mit Augenbrauen, die meisterhaft geschwungen waren.
»Herzlichen Glückwunsch zur dritten Staffel von Lariat Lawman«, sagte Beverly.
Gus bot Zigaretten an.
»Danke, für mich nicht«, sagte Matt und zog Eden liebevoll an sich. »Sie hat es mir abgewöhnt. Es war zwar hart, aber ich habe es geschafft.«
»Ab und zu rauchst du noch Pfeife«, erinnerte Eden ihn.
»Hey, irgendein Laster muss ein Mann ja schließlich haben.«
Als die Dämmerung hereinbrach, aßen sie im Schein der Lichterketten und Fackeln im Garten. Es wurden Reden gehalten, und alle Schauspieler, auch Lois, meldeten sich zu Wort, um Matt zu danken. Nach einer Weile machte Eden sich auf die Suche nach Liza und Stellina und fand sie beide eng an ihre Großmutter geschmiegt auf der Hollywoodschaukel.
Stella nickte zu Lois Bonner herüber und hob beide Hände mit gekreuzten Fingern. Stella glaubte fest daran, dass man das Böse abwehren müsse. Eden lachte über ihren strengen Gesichtsausdruck, aber als sie sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie Lois Matt auf die Wange küsste und einen leuchtend roten Lippenstiftabdruck dort hinterließ.
Später holten die Sons of the Sagebrush ihre Instrumente und machten Musik, aber die wirkliche Attraktion war Ginny Doyle, die im Pool auf dem Surfbrett stand und Lassotricks vorführte. Matt hatte Liza auf dem Arm, und Stellina saß auf Les Doyles Schultern. Alle applaudierten hingerissen, und Eden dachte, wie sehr sie doch vom Glück begünstigt war. Ihre Ehe, ihre Kinder. Freunde. Ein Platz zum Leben und Arbeit, die erfolgreich war. Ich will diesen Moment bewahren, gelobte sie sich im Stillen, und auch wenn andere Zeiten kommen, werde ich immer daran denken.
Marinda berührte sie am Ellbogen. »Der Kuchen ist da.«
»Was für ein Kuchen?«
»Das habe ich auch gefragt. Wir haben keinen Kuchen bestellt, aber am Haus sind zwei Männer, die ihn gebracht haben. Er ist riesig. Sie wollen ihr Geld haben. Vielleicht weiß ja Matt Bescheid.«
»Ach, wir wollen ihn jetzt nicht stören.« Eden legte Marinda den Arm um die Schultern. »Komm, wir schauen mal nach.«
In der Küche warteten zwei junge Schwarze, die Gesichter feucht von Schweiß. Sie trugen weiße Uniformen mit dem Logo einer Bäckerei in Beverly Hills. Die Kuchenschachtel war ungefähr einen Meter fünfzig lang, und als Eden sie öffnen wollte, hielt einer der Männer sie zurück und präsentierte ihr einen Lieferschein.
»Wir wären schon früher hier gewesen, aber wir haben es nicht gefunden. Wir waren stundenlang unterwegs. Mir kam es vor wie Tage. Wir dürfen keine Schecks nehmen, Ma’am, nur Bargeld. Der Kuchen wurde telefonisch bestellt, und deshalb muss er bar bezahlt werden.«
»Das muss wohl ein Irrtum sein«, erwiderte Eden, aber der Schwarze zeigte ihr den Namen auf der Bestellung: Matt March, Greenwater.
Eden nahm den Deckel von der Schachtel. Der Kuchen war die naturgetreue Nachbildung einer alten Lokomotive, die einen Zug hinter sich herzog. Jedes Detail war wunderbar ausgearbeitet bis hin zum Rauch aus geschwärztem Baiser, der aus dem Schornstein aufstieg.
»Heute schreiben wir Geschichte!«, rief Matt. Er stand neben dem Kuchen, der von vier Männern in den Innenhof getragen worden war. Er küsste Eden auf die Wange und hob das silberne Kuchenmesser. Alle jubelten. »Was habe ich dir gesagt?«, flüsterte Matt Eden mit vor Erregung heiserer Stimme zu. »Heute Abend schreiben wir Geschichte!«
Eden verzog keine Miene, als ihr Mann fortfuhr: »Es wird ein Eisenbahndepot in Lariat geben, hundertmal besser als das in High Noon. Ich verhandle gerade mit der Santa Fe wegen des Marisol Depots, und wenn alles klappt, lasse ich es abbauen und hier wieder aufbauen.« Strahlend vor Glück wandte er sich an Eden. »Das ist eine Überraschung, was, Schatz? Herzlichen Glückwunsch zum Hochzeitstag.«
»Ja, das ist tatsächlich eine Überraschung«, erwiderte Eden.
»Es ist vielleicht ein bisschen zu früh, schließlich ist unser Hochzeitstag ja erst nächsten Monat, aber was soll’s. Hey«, rief er den Sons of the Sagebrush zu, »wie wäre es denn mit einem kleinen Hochzeitstagswalzer für sieben Jahre Ehe, zwei Kinder, einen TV-Western und jetzt...« Er zeigte mit dem Messer auf den Eisenbahnkuchen, »...auch noch ein Neuanfang! Mit diesem Zug wird Lariat in die Geschichte eingehen!«
»Wie der Zug in Disneyland«, piepste Liza.
Ihr Vater strahlte sie an und nahm sie auf den Arm. »Ja, nur besser. Das hier wird eine richtige Eisenbahn sein. Und bald haben wir auch Büffelherden und wilde Mustangs. Die Leute werden nach Lariat kommen, um den Wilden Westen zu erleben, und die Eisenbahn wird die Stadt mit der Welt verbinden!« Er drückte Liza das Messer in die kleine Hand und sie schnitt ein Stück Kuchen ab. Mit dem Finger fuhr sie in den Rauch, der aus dem Schornstein quoll, und als sie ihn ableckte, wurden ihre Lippen schwarz.
Als in den frühen Morgenstunden endlich alle weg waren, gingen Matt und Eden die Treppe hinauf. Er ließ seine Hand an ihrem Oberschenkel hinaufgleiten, aber dieses Mal war Eden nicht in Stimmung. Sie blieb stehen und lehnte sich ans Geländer. »Wie konntest du diese Pläne machen und mir nichts davon erzählen? Wie konntest du das alles nur hinter meinem Rücken machen?«
»Was soll das heißen, hinter deinem Rücken? Es war eine Überraschung, Baby! Hey, ich dachte, du freust dich! Der Kuchen und das alles! Unser Hochzeitstag!«
»Unser Hochzeitstag ist erst nächsten Monat.«
Wortlos stieg Matt weiter die Treppe hinauf.
Eden folgte ihm. Er leugnete einfach alles. Sie traten in ihr Schlafzimmer und schlossen die Tür hinter sich. Die Balkontüren standen offen, es war eine warme Nacht. Matt ging ins Badezimmer und Eden folgte ihm.
»Kann ich nicht mal in Ruhe pinkeln?«, sagte er.
»Ich stelle dir Fragen, und ich habe ein Recht darauf, dass du mir antwortest.«
»Frag später, ich bin verdammt müde.« Er schlug ihr die Badezimmertür vor der Nase zu und betätigte die Toilettenspülung, um sie zum Schweigen zu bringen.
Eden konnte sich nicht erinnern, dass er ihr jemals diese Tür - und auch keine andere - vor der Nase zugeschlagen hatte. Sie hatte einen Kloß im Hals. Langsam trat sie an den Spiegel, legte ihre Smaragdohrringe und die Kette mit dem Anhänger ab. Matt war der Mensch, dem sie rückhaltlos vertraute, mit dem sie ihr Leben teilte, Beruf, Kinder, Zuhause, eine unzerstörbare Verbindung. Eine Ehe, eine starke, dauerhafte Gemeinschaft. Natürlich hatte er manchmal allein Entscheidungen getroffen, hatte sie nicht in alles einbezogen und ihr sicherlich auch nicht alles erzählt, aber eine Lokomotive? Wie konnte er eine Eisenbahn kaufen, ohne seiner Frau ein einziges Wort davon zu sagen?
Endlich kam er aus dem Bad und setzte sich aufs Bett. Er zog seine Cowboystiefel aus und warf sie quer durchs Zimmer. »Das ist dein Problem, Eden, du machst nie etwas Spontanes.«
»Das war nicht spontan, Matt. Du musst seit Monaten daran gearbeitet haben. Vielleicht sogar schon seit Jahren, ohne mir einen Ton zu sagen.«
Er ignorierte ihren Einwand, zog Hose und Hemd aus und warf sich rücklings auf das Bett. Unablässig schwadronierte er weiter darüber, dass er die Eisenbahn nach Lariat bringen wolle, und dann könnten sie auch endlich Zugüberfälle filmen. Er würde Chinesen engagieren, die die Schienen verlegten, und er würde sie in Kostüme stecken und sie bei der Arbeit filmen, sodass er die Szenen in The Lariat Lawman einbauen könne.
»Matt«, unterbrach Eden ihn schließlich. »Du brauchst Lariat nicht in die Zukunft zu bringen. Es ist keine echte Stadt. Spud, Rex und Lois sind Schauspieler, sie sind nicht wirklich Sheriff, Deputy oder Lehrer. Niemand wird auf dem Friedhof beerdigt, und niemand wird am See gehängt. Niemand dreht Hühnern den Hals um, pumpt Wasser in den Trog, stirbt an Tetanus oder Schussverletzungen. Die Leute in Lariat sind nur Darsteller. Es ist kein wirklicher Ort, und er braucht keine Eisenbahn. In Lariat gibt es keinen Fortschritt. Es ist statisch und existiert nur im Film. Und anschließend bekommt jeder sein Geld und geht nach Hause. Niemand lebt dort.«
»Ich lebe dort! Sieh mir in die Augen.« Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und zog sie an sich. »Ich wollte immer schon eine Eisenbahn haben! Du weißt doch, was es für mich bedeutet! Oder?«
»Ich weiß von deinem Traum, eine Eisenbahn zu haben...«
»Nein, es ist kein Traum. Es ist eine echte Dampflok von 1887.«
»Wie konntest du das alles nur im Geheimen planen? Du hast mir nichts gesagt. Und was kommt als Nächstes? Eine Büffelherde?«
»Wo bleibt dein Vertrauen in mich?«
»Mit welchem Geld hast du sie bezahlt?«
Er lachte kurz auf und ließ sie los. »Mit dem Geld aus einer Million Lunchboxen, Baby! Mit Rex’ Gesicht auf einer Million Gläsern mit Erdnussbutter! Das elfte Gebot: Kontrollier deine eigenen Lizenzen.« Erneut lachte Matt rau auf. »Scoop liebt uns. Durch uns haben sie mehr von ihrer blöden Erdnussbutter verkauft, als sie sich je erträumt haben. Verstehst du denn nicht, Eden? Du denkst zu klein. Ich hingegen habe Visionen!«
»Du hast mir einmal versprochen, es gäbe keine Überraschungen mehr.«
»Das habe ich nie behauptet«, fuhr er sie an. »Ich habe nur gesagt, du seiest das einzige Mädchen, das ich jemals heiraten wollte. Hör zu, Eden.« Sein Tonfall wurde weicher. »Ich kann nicht leben wie ein blöder Büroangestellter, bei dem jeder Tag so aussieht wie der nächste oder der davor. Wenn du dich nicht entwickelst, stirbst du. Das weißt du doch. Du kennst mich doch.«
»Du erzählst mir ständig, wie gut ich dich kenne, Matt, und dann hältst du dieses große Geheimnis vor mir zurück.«
»Okay, und jetzt ist es kein Geheimnis mehr. Na und?«
»Vielleicht kenne ich dich überhaupt nicht.«
»Komm her.« Er zog sie an sich, »Du und ich...«
»Wo ist die Lokomotive jetzt?«
Er rollte sich wieder auf den Rücken, schob die Hände unter den Kopf und grinste. »Warte erst mal, bis du sie siehst, Schatz! Die süßeste kleine Lokomotive, die du dir vorstellen kannst. Sie muss nur noch ein bisschen repariert und saubergemacht werden. Sie ist in einem Schuppen in San Diego County vergessen worden. Stell dir das vor, sie haben sie einfach vergessen! Und das hat sie davor bewahrt, zerstört zu werden.«
»Hast du sie gesehen?«
»Natürlich habe ich sie gesehen! Ich würde doch einen Zug nicht unbesehen kaufen!«
»Aber du würdest es mir nicht erzählen?«
»Es war eine Überraschung.«
»Wer weiß noch von dieser Überraschung?«
Matt setzte sich auf und nahm seine Pfeife vom Nachttisch. »Niemand.«
Er stopfte die Pfeife. »Na ja, ich habe es Gus und Beverly Baxter erzählt.«
»Du hast es den Baxters gesagt und mir nicht? Wer sind sie überhaupt? Du hast sie doch gerade erst kennengelernt, oder? Wo denn eigentlich?«
»In Santa Anita, beim Pferderennen.«
»Du hast es wildfremden Leuten erzählt, die du in Santa Anita kennengelernt hast, und mir nicht?«
»Es sind keine wildfremden Leute. Sie sind Investoren, und sie halten das mit der Eisenbahn für eine großartige Idee.«
»Wer sonst noch? Wusste Lois Bonner Bescheid?«
»Lois? Warum sollte sie es wissen?«
»Weil du mit ihr schläfst«, rutschte es Eden heraus.
»Wie kommst du denn darauf? Sie hat einen Freund.«
»Und du eine Frau und zwei Kinder.«
»Du bist zu hart bei ihr.«
»Du wahrscheinlich auch.«
Das musste er erst einmal verdauen. »Du bist meine Frau. Ich liebe dich.«
»Du leugnest es also nicht?«
»Was leugnen? Du bist mein Mädchen. Hey, Süße, ich liebe dich.«
»Aber von dem Zug habe ich das erste Mal vor Hunderten von Leuten, die du nicht liebst, gehört. Du erschütterst mein Vertrauen in dich, Matt.«
»Und du beschuldigst mich, wegen des Zugs mit Lois zu schlafen? Ist wirklich stark. Was kommt als Nächstes?«
Mit dieser Frage wollte Eden sich lieber nicht auseinandersetzen. Sie hatte schon lange vermutet, dass Matt eine Affäre mit Lois hatte, aber es auszusprechen, gab dem Ganzen eine neue Dimension. Sie durfte nicht zulassen, dass der Verdacht ihr ganzes Leben zerstörte. Wenn sie heute Nacht mit ihm wegen Lois stritt, dann würde sie den Kampf gegen die Lokomotive wahrscheinlich verlieren. Aber vielleicht hatte sie ihn ja schon verloren.
»Es ist Wahnsinn, Matt. Wir können keine Schienen legen. Wir brauchen keinen Zug.«
»Doch. Verstehst du denn nicht, dass er uns Geld bringen wird? Massenweise Geld. Der Greenwater Movie Ranch Park! Liza hat ganz recht, wie Disneyland!« Er zündete ein Streichholz an und fügte verträumt hinzu: »An den Wochenenden öffnen wir das Gelände für Besucher, und sie können vom Zug aus alle Filmsets besichtigen, und in Lariat können wir Schießereien und so was organisieren. Ginny und Les können ihre Stunts vorführen. Und bei der Einfahrt pfeift die Dampflok - es ist 1887, und wir befinden uns im originalen Wilden Westen. Die Leute können durch die Vergangenheit fahren!«
»Du hast den Verstand verloren! Lariat ist nicht Disneyland!«
»Aber es kann sein wie Disneyland! Disneyland gibt es erst seit vier Jahren, seit 1955, und sieh dir bloß an, wie viel Geld da umgesetzt wird. Wir könnten ja auch Aufführungen machen. Hat nicht Prairie Fern so eine Art Stammestanz beim Rodeo aufgeführt?«
»O Gott, Matt! Bist du verrückt?«
Matts Miene verfinsterte sich. »Ihr blöden Mormonen habt so lange von nichts gelebt, dass ihr schon zufrieden seid, wenn ihr hinter einem Maultier hergeht und den Acker pflügt.«
»Was? Redest du von meiner Familie?«
»Ich habe gesehen, wie Tom und Afton leben. Ich kann mich an deine verkommene Mutter erinnern!«
»Meine Familie hat damit überhaupt nichts zu tun!«, schrie Eden und sprang auf. »Wie kannst du es wagen, so über meine Familie zu reden? Es geht hier gar nicht um meine Familie.«
»Nein, das stimmt. Mein Vater und mein Onkel haben das hier aufgebaut.«
»Ich habe dir den Kredit verschafft.«
»Du hast den Papierkram erledigt, aber das Land gehört mir.«
Eden erstarrte. Ihre Wangen brannten, als ob er sie geohrfeigt hätte. Leise und beherrscht erwiderte sie: »Du hast mich in einer Angelegenheit angelogen, die du mit mir hättest besprechen sollen. Wenn du mich gefragt hättest, hätte ich dir gesagt, dass ich weder den Zug noch das Depot will.«
»Gott! Du bist blind, was? Du siehst den Fortschritt einfach nicht. Du hast keine Ahnung!«
»Du kannst nicht einfach tun, was du willst. Wir sind Partner. Wir arbeiten zusammen. Wir müssen einander vertrauen können. Du hättest mich fragen müssen, und ich hätte Nein gesagt.«
Sie hörten ein Kind weinen, und dann tappten nackte Füße über den Flur. Als Eden die Tür öffnete, stand Liza in ihrem Pyjama da und rieb sich die Tränen aus den Augen. »Warum streitet ihr euch denn?«, fragte sie.
»Wir streiten doch nicht, Baby.« Eden hockte sich hin und streichelte ihr süßes Gesicht.
Matt setzte sich auf. »Diese kleine Lokomotive ist das letzte authentische Überbleibsel des Wilden Westens. Eines Tages wirst du es genauso sehen wie ich, Eden.«
»Ich will es nicht sehen. Niemals.« Eden ergriff Lizas Hand und wandte sich zum Gehen.
»Ich will aber bei Daddy bleiben!«, sagte Liza heulend.
Matt stand auf und zog seine Hose und seine Stiefel an. Dann schlüpfte er in ein T-Shirt und nahm Liza auf den Arm. Zärtlich murmelte er auf sie ein, als er sie zurück in ihr Bett trug. Eden machte die Schlafzimmertür zu. Zwanzig Minuten später hörte sie, wie er das Haus verließ. Als er seinen Cadillac startete, rannte sie auf den Balkon und blickte ihm nach, wie er in der Morgendämmerung verschwand.
Er kam zwei Tage lang nicht nach Hause. Und als er wiederkam, roch er nach Lois Bonners Parfüm und Zigaretten.
• Stellas Austernsandwiches •
Austern waschen und trocken tupfen. Die Austern in Mehl wälzen, das leicht mit Salz und Pfeffer gewürzt ist. In heißem Öl oder Butter scharf anbraten und mit dem Saft einer halben Zitrone beträufeln.
Man braucht kräftige, dicke Brotscheiben für diese Sandwiches oder feste Brötchen. Das Brot im Backofen anwärmen, während die Austern braten. Das Brot mit Olivenöl und ein paar Tropfen Zitronensaft beträufeln und ein wenig Pfeffer darübergeben. Die heißen Austern darauflegen und mit gehackter Petersilie bestreuen. Sofort servieren. Die Brote halten jedoch auch eine Zeit lang, wenn man sie zu einem Picknick mitnehmen möchte. Besonders gut schmecken sie zu Stellas Kartoffelsalat.
Man kann sie auch mit Hühnchen belegen. Dazu nimmt man Hühnerbrust, legt Wachspapier darüber und rollt sie mit einem Nudelholz aus, bis die Scheiben dünn sind. So schnell anbraten wie die Austern und auch genauso würzen.
MOMENTAUFNAHME
Das Phantom des Depots
Die Strecke verlief von Los Angeles nach San Diego: einhundertsechsundzwanzig Meilen Gleise durch Ölfelder und Orangenhaine. Bei San Juan Capistrano erreichte sie die Küste, und dort ratterte der Zug an Klippen und Stränden vorbei.
In der Blütezeit des Stummfilms fuhren Schauspieler wie Ernest March und Blanche Randall im Sommer mit diesem Zug zum Pferderennen nach Del Mar.
Bevor der Tonfilm entstand, fuhr auch der junge Matt March jeden Sommer mit diesem Zug, um seinen Vater und seinen Onkel zur Pferderennbahn zu begleiten. Stella fuhr nie mit, sie hielt nichts von Wetten. Aber sie packte ihnen Austernsandwiches für die Fahrt ein.
Für Matt war dieser Zug unauflöslich mit seiner Kindheit verbunden: der Duft nach Parfüm und Zigarettenrauch in der ersten Klasse, die Kartenspiele, mit denen sich sein Vater, Ernesto und die anderen Fahrgäste die Zeit vertrieben, das Rattern und Rumpeln des Zuges und die leckeren Sandwiches, die seine Mutter ihnen mitgegeben hatte. Der Junge saß am Fenster, aß langsam und ließ die dürre, strenge Landschaft an sich vorbeiziehen. Er kam sich vor wie in einem Kino, in dem der Film niemals endete.
Für gewöhnlich stiegen Ernesto, Nico und Matt für ein paar Tage im Stratford Hotel in Del Mar ab. Danach fuhren sie mit dem Zug noch ein wenig weiter südlich, nach San Diego, wo sie im Hotel del Coronado wohnten. Geld hatte Ernesto damals genug, was machte es also, wenn Nico zahlreiche Pferdewetten verlor? Sie genossen ihre Ausflüge zu dritt immer und kamen glücklich und guter Dinge wieder zu Hause an.
Der Zug nach San Diego hielt nicht an jeder kleinen Station, wie zum Beispiel in dem kleinen Badeort Marisol, nördlich von Del Mar. Trotzdem gab es in Marisol einen Bahnhof, ein solides Gebäude, das zwar erst 1900 gebaut worden war, aber mit seinem spitzen Dach und den langen schmalen Fenstern viel älter aussah.
Draußen am Bahnhof stand auf einer Tafel, wann die Züge nach Norden und nach Süden vorbeifuhren. Daneben hing an einem Haken eine weiße Fahne an einem Stock. Wenn ein Fahrgast in Marisol zusteigen wollte, lauschte er auf die Geräusche des näher kommenden Zuges, ergriff die weiße Fahne, stellte sich auf die Gleise und schwenkte sie heftig. Es wird nicht berichtet, wie viele Personen im letzten Moment zur Seite springen musste, weil der Zug einfach durchfuhr, ohne auf den winkenden Möchtegernpassagier zu achten. Manch einer kullerte die Böschung herunter, aber soweit man weiß, kam nie jemand ums Leben.
Als Matt, sein Vater und sein Onkel diese Reise im September 1929 zum letzten Mal machten, lag der Bahnhof von Marisol verlassen da, verriegelt und verrammelt. Und doch hob der kleine Matt March grüßend die Hand, als ob ein Phantom auf den Gleisen stünde und die weiße Fahne schwenkte.
3
In einem hatte Matt March recht: Überall, wo die Eisenbahn hinkam, brachte sie Fortschritt und Wohlstand. Und den festen Glauben daran setzte Matt unbeirrt Edens Einwänden entgegen. Und dann schickte die Santa Fe Greenwater Pictures 1960 eine Rechnung über achtzehnhundert Dollar.
Der Steuerberater der Marchs bezahlte die Rechnung und schickte den beiliegenden Brief an Matt und Eden weiter, die sich immer noch wegen der Eisenbahn auf Greenwater stritten. Er markierte den Absatz, in dem stand, die Santa Fe würde so lange monatlich zweihundert Dollar Miete verlangen, bis die Lokomotive aus dem Schuppen, in dem sie seit 1916 stand, entfernt würde. Die Rechnung und die Aussicht, jeden Monat zweihundert Dollar bezahlen zu müssen, lösten bei Eden beinahe vorzeitige Wehen aus.
Eden hatte zuerst gar nicht gemerkt, dass sie schwanger war. Den ganzen September über hatte sie geglaubt, sie habe die Grippe. Mit ihren vierzig Jahren war sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie noch einmal schwanger werden könnte. Tagsüber stritten sie sich zwar immer noch über die Eisenbahn, aber nachts hatten sie sich wieder einander zugewandt, und ihr körperliches Verlangen war aufs Neue entflammt, als wollten sie einander versichern, dass ihre ungelösten Differenzen ihre Liebe nicht berührten. Eden hatte nicht vergessen, wie er nach der Party gegangen und zwei Tage lang nicht wiedergekommen war. Er hatte sich zwar entschuldigt, aber sein Verhalten nie erklärt. Eden war entschlossen, ihn nicht zu verlieren, aber mit einem weiteren Kind hatte sie nicht gerechnet.
Matt freute sich auf das neue Baby. Eden ebenfalls. Sie hofften beide auf einen Jungen. Falls es ein Mädchen würde, wollte Eden es Katherine Afton nennen, aber eigentlich wollte sie den Namen Kitty vermeiden. Also sollte es besser ein Junge werden. Stellina, die gerade in den Kindergarten gekommen war, hatte kein Interesse an einem Geschwisterchen, und Liza war pferdenärrisch und viel zu beschäftigt mit ihren zahlreichen Aktivitäten, um sich um irgendetwas anderes zu kümmern.
Es war eine unruhige Schwangerschaft. Von Anfang an war es Eden schrecklich übel, sie übergab sich ständig und war völlig erschöpft. Sie litt unter Rücken- und Kopfschmerzen, hatte Wasseransammlungen in den Gliedmaßen und brach leicht in Tränen aus.
Seit einiger Zeit schon arbeitete sie nicht mehr mit, und Matt war ohne sie unterwegs. Sie stellte sich alle möglichen schlimmen Dinge vor, und manchmal überwältigten sie ihre Ängste. Sie fragte sich, wie Afton Lance acht Kinder geboren hatte und dabei so gelassen geblieben war. Aber ihr Mann war wahrscheinlich auch nicht ständig aus den Betten anderer Frauen nach Hause gekommen.
Im Lokomotivenstreit blieb Matt der Sieger. Da sie nicht jeden Monat zweihundert Dollar bezahlen wollten, wurde die Lok Mitte Mai 1960 nach Lariat geliefert, wo noch keine einzige Schiene lag.
Wo die Gleise verlaufen sollten, wusste Matt noch nicht genau, diskutierte es jedoch mit jedem, der sich im Esszimmer das teure Modell anschaute, das er maßstabsgetreu von Greenwater hatte anfertigen lassen. Vorläufig wurde der Zug auf der Platte noch mit elektrischem Strom betrieben, aber bald schon hoffte er, eine echte Eisenbahn zu besitzen, die besser war als alles, was man bisher in Filmen gesehen hatte.
Liza hatte nicht damit gerechnet, dass die ganze Familie vor Begeisterung Kopf stand, als im April 1960 Nicolas Ernesto March zur Welt kam. Ihr Vater, ihre Mutter, ihre Großmutter,
Ginny und Les, ja selbst Marinda konnten von dem entzückenden Baby nicht genug bekommen. Am schlimmsten traf Liza, dass sich ihr Vater von ihr abwendete. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen beim Reiten, beim Klavierspielen, beim Tauchen, ja sogar in der Schule, aber nichts davon löste solche Begeisterungsstürme aus wie die Tatsache, dass Nicky sich jetzt schon drehen konnte. Wie ein kleiner Hund, dachte Liza. Sie war jetzt sieben, hatte vorne eine Zahnlücke, wo ihr die Milchzähne ausgefallen waren, lange, dünne Beine und immer schmutzige Knie und Ellbogen.
»Liza ist einfach ein Energiebündel«, sagte Ginny eines Nachmittags, als sie zum Tor von Greenwater spazierten, zu Eden. »Ich habe noch nie ein Kind gesehen, das so unbedingt überall Erste sein will.« Ginny führte Dasher und Cody, beide mit Westernsätteln. Matt bestand nicht mehr darauf, dass Liza in englischem Stil reiten sollte, weil in der Gegend keine Turniere stattfanden. Auf Rodeos hingegen hatte Liza schon zweimal das blaue Band gewonnen.
»Niemand muss überall der Erste sein«, erwiderte Eden. »Liza sollte es ein wenig langsamer angehen lassen und alles mehr genießen.« Eden schob Nicky im Buggy. Sie waren auf dem Weg zum Schulbus. »Dieses dauernde Streben nach Applaus, das kommt mir vor wie bei...« Sie brach ab, weil sie nicht sagen wollte, dass es sie an Kitty erinnerte. Liza hatte eigentlich mehr von Ruth, Afton und Eden in sich, aber diese Sucht nach öffentlicher Anerkennung kam direkt von der Lerche von Liverpool.
»Nun, der Applaus ihres Vaters bedeutet ihr wirklich etwas.«
»Und deiner«, sagte Eden.
»Beim Reiten, klar. Aber wenn Matt ihr zuschaut, dann sorgt Liza sogar beim Kartoffelschälen dafür, dass sie die Beste ist.«
»Matt applaudiert ihr zwar, gibt ihr aber keine Chance, sich an dem Erreichten auch zu freuen.«
»Na ja, bis jetzt scheint ihr das noch nicht geschadet zu haben.«
»Vielleicht nicht. Aber immer wenn Liza etwas wirklich gut gemacht hat, setzt Daddy die Messlatte höher. Sie konnte schon lesen, als sie in die Schule kam, deshalb möchte er jetzt, dass sie so liest wie im fünften Schuljahr. Und mit der Klavierlehrerin hat er sich auch schon angelegt. Sie hat sich seine Einmischung verbeten.«
»Tatsächlich? Mrs. Klein?«
»Ja.« Eden lächelte bei der Erinnerung. Die Frau hatte es wirklich geschafft, dass Matt sich zurückhielt.
Der gelbe Schulbus hielt vor dem Tor; die Türen öffneten sich zischend, und Kinder hüpften heraus und liefen in alle Richtungen davon.
»Hey, Ginny! Hey, Mom!« Liza kam auf sie zugerannt, reichte Eden ihre Brotdose und streichelte Dasher über die Nase. »Ich möchte gerne Cody reiten«, erklärte Liza, als Ginny sie auf Dasher hob.
»Du lernst zwar schnell, Cowgirl, aber so schnell nun auch wieder nicht«, erwiderte Ginny und stieg auf ihr Pferd.
»Willst du dich nicht noch umziehen, Liza?«, rief Eden hinter ihnen her, aber sie galoppierten bereits davon. Nicky wurde unruhig, und Eden hob ihn aus dem Kinderwagen und drückte ihn an sich. Er war erst sechs Wochen, aber ein liebes, entzückendes Baby. Eden küsste ihn zärtlich auf die Wange.
Der Schulbus fuhr weiter, und Stellina, die ihm noch nachwinkte, bis er nicht mehr zu sehen war, drehte sich zu ihrer Mutter um.
»Ich habe alle zur Choo-Choo-Party am Samstag eingeladen. Rebecca Gomez und Miss Oglethorpe sind die Einzigen, die mir glauben, dass ich einen eigenen Zug bekomme.«
»Rebecca ist schließlich deine beste Freundin. Natürlich glaubt sie dir.«
»Miss Oglethorpe glaubt mir, weil sie Rex Hogan liebt. Sie guckt jeden Dienstagabend Lariat. Miss Oglethorpe ist furchtbar hübsch. Vielleicht würde sich der Sheriff von Lariat ja in sie verlieben. Vielleicht könnte sie anstelle von Lois die Lehrerin sein.«
»Ja, das fände ich auch gut. Sie ist wenigstens eine echte Lehrerin.«
Eden legte Nick wieder in den Kinderwagen, und sie machten sich auf den Weg zum Haus. Stellina hüpfte voraus, kam aber noch einmal zurück, um ihrer Mutter ein Bild zu zeigen, das sie in der Schule gemalt hatte. Ein Zug. »Ich finde ja, dass die Greenwater Railway einen gelben Streifen haben sollte, aber Liza meint, er müsse blau sein. Was findest du denn besser, Mommy?«
»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Eden. Sie würde keine der in Frage kommenden Farben bevorzugen, weil sie die Eisenbahn gar nicht wollte. Die Idee, eine Filmranch zu einer öffentlichen Attraktion zu machen und Eintritt zu verlangen, war lächerlich. Für den Bau der Eisenbahn mussten sie mit der Filmproduktion mindestens ein Jahr lang aussetzen, und die Kosten wuchsen ihnen jetzt schon über den Kopf. Mit der Lokomotive auf Greenwater und der Party hatte Eden sich ja abgefunden, aber dem Bau von Gleisen würde sie nie zustimmen.
»Liza sagt, wenn ich eine Woche lang Euer Hoheit zu ihr sage, darf ich im Sattel vor ihr sitzen.«
»Dazu brauchst du Liza nicht Euer Hoheit zu nennen.«
Ein Auto hielt neben ihnen, ein Lincoln Cabrio. Am Steuer saß Gus Baxter mit Panamahut. Beverly winkte und fragte, ob sie sie zum Haus mitnehmen sollten, aber Eden lehnte dankend ab. Beim Weiterfahren stieß der Lincoln eine solche Wolke von Abgasen aus, dass Stellina hustete.
Als sie im Haus Nicky frisch gewickelt und zu seinem Mittagsschlaf hingelegt hatte, ging sie ins Esszimmer, in dem Matt mit den Baxters vor der Modelleisenbahn stand.
»Die Leute sprangen schreiend auf, so mitreißend war diese Lawinenszene. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mir fast in die Hose gemacht!« Lächelnd blickte Matt auf, als Eden ins Zimmer trat. »Ich habe Beverly gerade von Gold of the Yukon erzählt.«
»War das nicht das Zugunglück, bei dem der Schauspieler ums Leben gekommen ist?«, fragte Gus.
»Nicht der Schauspieler«, erwiderte Matt. »Das Stuntdouble starb. Er ist ausgerutscht und zwischen zwei Waggons geraten.«
»Ich kann mich an den Film erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Dabei war ich damals noch ein Kind«, sagte Gus. »Hast du den Film auch gesehen, Eden?«
»Ja, aber ich erinnere mich nur noch an die Lawine und das Zugunglück.«
»Ich wünschte, ich hätte den Film gesehen«, sinnierte Beverly. »Aber 1931 war ich noch nicht einmal geboren.«
Eden ging instinktiv näher zu Matt. Sie teilte seinen Enthusiasmus für die Baxters zwar nicht, aber sie hatten natürlich viel Zeit und Geld, das sie bereitwillig in Greenwater investierten.
»Kommt ihr zu der Party?«, fragte sie die beiden. »Nächsten Samstag.«
»Wir würden sie um nichts in der Welt verpassen«, erwiderte Gus. »Um wie viel Uhr fängt sie an?«
»Nachmittags«, sagte Eden. »So gegen zwei. Und kommt hungrig. Es gibt Unmengen zu essen.«
»Das wird ein großer Tag für Lariat.« Matt strahlte. »Ich habe den Mädchen gesagt, sie dürfen alle ihre Klassenkameraden und Lehrer einladen. An diesen Tag werden sich die Leute hier ihr Leben lang erinnern. Es wird ein historisches Ereignis werden. Die Eisenbahn wird Lariat mit der Welt verbinden.«
»Wie viele Schienen hast du schon verlegt?«, fragte Gus.
»Gerade so viel, dass die Lokomotive darauf stehen kann.« Matt warf Eden einen vorwurfsvollen Blick zu. Das Thema war noch nicht ausgestanden. Bis jetzt hatte sie nicht nachgegeben, aber Matt hatte auch noch nicht aufgegeben.
»Habt ihr Lust, heute Abend mit zu Pierino zu kommen?«, fragte Gus.
»Ja, tolle Idee!«
»Nein, es geht nicht, Matt. Liza hat heute Abend ihr Klavier-Vorspiel. Du bist schließlich derjenige gewesen, der darauf bestanden hat, dass sie Für Elise lernt. Du kannst das Vorspiel heute Abend auf keinen Fall verpassen. Du hast es versprochen.«
Matt legte Eden den Arm um die Schultern und zwinkerte Gus zu. »Meine kleine Liza ist wie ihre Mama. Wenn ich mein Versprechen breche, wird sie es mir nie verzeihen.«
»Na, wir werden euch beim Abendessen vermissen«, sagte Gus und ergriff Beverlys Arm. »Ach, übrigens, habe ich dir schon einmal gesagt, was das für ein schönes Modell ist? Wirklich das perfekte Abbild von Greenwater.«
»Ja.« Matt blickte stolz auf die Platte, auf der nichts fehlte und alles mit viel Liebe zum Detail nachgebaut worden war.
• Kartoffeln Gold of the Yukon •
Etwas Öl auf ein Backblech geben und gleichmäßig verteilen. In den Backofen schieben und auf 180 °C erhitzen.
Yukon Gold Kartoffeln oder kleine rote Kartoffeln waschen und in dünne Scheiben schneiden. Wenn das Backblech heiß ist, die Kartoffelscheiben darauf ausbreiten. Es macht nichts, wenn sie zum Teil übereinander liegen, sie schnurren sowieso zusammen. Salzen und pfeffern.
In den Backofen schieben und nach etwa 15 Minuten das erste Mal mit einem Spatel wenden. Danach etwa so oft wenden, wie Sie das Hühnchen begießen. Diese Kartoffeln schmecken besonders gut zu Edens Wochentag-Hühnchen, das knusprig braun gebraten und mit einer Mischung aus Sojasauce, Öl und ein paar Spritzern Tabasco gereicht wird. Kartoffeln und Hühnchen brauchen etwa gleich lang zum Garwerden, ungefähr anderthalb Stunden.
Diese Kartoffeln sollte man am besten nur für die Familie machen, weil sie sehr viel weniger ergeben, als man ursprünglich annimmt.
MOMENTAUFNAHME
Blick und Ausblick
Matt liebte das Knarren des Sattels, Hitze und Wind auf der Haut, den Geschmack nach Staub im Mund. Er saß auf Dancer, Liza auf Dasher, und sie ritten über Greenwater, galoppierten über die goldenen Hügel. Häufig brachen sie schon früh am Morgen auf. Manchmal nahmen sie ein Picknick mit, manchmal aber auch nur Wasserflaschen.
Am Hügel über dem See hielten sie an und stiegen ab. Der ausladende Baum spendete Schatten. Liza trank durstig aus ihrer Feldflache. Den letzten Schluck spuckte sie aus, wie sie es Spud Babbitt abgeschaut hatte: aus dem Mundwinkel. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen. Dann reichte sie ihrem Vater die Feldflasche.
Matt erzählte Liza von seinen Jugendstreichen, von seinen Träumen, seiner Liebe zu uralten Mythen. Die amerikanischen Geschichten: Männer und Frauen, die ihre Vergangenheit zurückließen und in riesigen Trecks nach Westen zogen, um ein neues Leben zu beginnen. Menschen die hart arbeiteten und jeden Tag mit neuem Mut dem Unbekannten trotzten. All das erzählte Matt seiner Tochter, und er teilte mit ihr die Hoffnung, dass er diese Mythen und Geschichten mit dem Land verbinden konnte.
Liza lauschte ihm unkritisch; sie sah alles mit den Augen ihres Vaters.
Um das jedoch zu erreichen, brauchte er Geld. Matt nahm die Feldflasche von seiner Tochter entgegen und bedankte sich. Er legte den Kopf zurück und nahm einen tiefen Zug. Dann ließ er die Flasche wieder sinken und blickte nach Osten zu den nahe gelegenen Hügeln, den fernen Bergen, die zerklüftet und felsig in den blauen Himmel ragten. Er sagte zu Liza, er könne sich schon gar nicht mehr erinnern, wie oft hier im Film jemand aufgehängt worden sei, aber es laufe ihm dabei immer noch kalt den Rücken herunter. Das Opfer auf dem Pferderücken, der dicke Strick um seinen Hals, und während der Todgeweihte noch verzweifelt zum Horizont blickt und auf Rettung hofft, der Schlag auf das Hinterteil des Pferdes, und er baumelt am Ast.
Schnitt.
4
Ein blaues Babymützchen schützte den kleinen Nicky vor der Sonne. Neben Eden standen Stellina und Rebecca Gomez Hand in Hand in der Menschenmenge, die sich am Tor von Greenwater versammelt hatte. Jeden Moment wurde die Ankunft der Lokomotive erwartet.
»Ich kann sie schon hören!«, schrie Liza und galoppierte in einer Staubwolke auf das Tor zu. »Sie kommen!«
»Bleib hier, Liza!«, schrie Eden. »Bleib bei Ginny. Du hast es versprochen!«
Von fern hörte man das Heulen der Sirenen, und die Angestellten von Greenwater forderten die Gäste auf, vom Tor zurückzutreten. Und dann bog der Schwertransporter um die Ecke, der die Lokomotive brachte, eskortiert von zwei Polizeiwagen. Ihnen folgten mehrere Pick-ups mit den Leuten, die die Lokomotive aufstellen würden. Die Reise hatte im Morgengrauen im Temecula Canyon begonnen, und jetzt, am späten Nachmittag, waren sie in Greenwater angekommen.
Der Lkw-Fahrer drückte ausgiebig auf seine Hupe. Liza galoppierte in Kreisen vor dem riesigen Fahrzeug auf und ab, schwenkte ihren Cowboyhut und stieß laute Jubelschreie aus. Matt, der in der Fahrerkabine saß, winkte so heftig, dass er beinahe aus dem Fenster gefallen wäre.
»Da ist sie also«, sagte Eden zu Afton. Die allgemeine Erregung riss auch sie mit. »Seit letztem Juli gibt es bei uns kein anderes Thema mehr. Diese Lokomotive und dieses Baby.«
»Vielleicht habe ich Matt ja unterschätzt«, sagte Afton. »Ich bin stolz auf ihn. Auf dich natürlich auch, Eden. Auf euch alle. Ihr seid eine Familie von Machern, nicht wie deine arme Mutter oder der arme Gideon. Was hat er denn schon wirklich erreicht in seinem Leben? Nichts. Aber du und Matt, ihr erfüllt mich mit Stolz.«
Eden dankte ihr. Sie hatte noch nie erlebt, dass Afton zugegeben hatte, jemanden falsch eingeschätzt zu haben.
Erneut hupte der Lkw und riss sie aus ihren Gedanken. Matt sprang aus der Fahrerkabine auf Eden zu, nahm sie in die Arme und küsste sie auf den Mund. Er küsste auch das Baby und Stellina, dann drehte er sich zu den anderen um. »Ihr alle, vor allem ihr Kinder«, rief er, »werdet jetzt sicher verstehen, was der Ausdruck bedeutet: ein Festmahl für die Augen!« Er warf seinen Cowboyhut in die Luft.
Matt sah seine Lokomotive so prachtvoll, wie sie 1887 gewesen war, dreitausend Pfund glänzender Stahl, schimmerndes Kupfer, gefettetes Metall, die Lampe, Messingglocke und die Nummer 646 in der Sonne glänzend. Er sah sie schnaufend einen Hügel hinauffahren und konnte beinahe ihren grellen Pfiff hören. Einen Moment lang sahen vielleicht auch die anderen sie so. Sogar Eden.
Er hob Stellina auf den Hänger neben die Lokomotive.
»Nein!«, schrie Eden. »Das ist doch gefährlich!«
»Halt dich gut fest, Stellina«, sagte Matt. »Es passiert ihr nichts«, fügte er an Eden gewandt hinzu.
Auch Rebecca Gomez, die flehend an seinem Hosenbein zupfte, wurde hinaufgehoben, und die beiden kleinen Mädchen fuhren winkend wie Schönheitsköniginnen mit dem Lkw mit, der die 646 an ihren Platz brachte. Alle anderen folgten.
Es dämmerte schon, als die Lokomotive endlich da stand, wo sie hingehörte. Matt rief den Gästen zu: »Ich bitte euch alle, die Gläser oder Flaschen zu erheben und auf die 646 zu trinken! Die letzte authentische Dampflokomotive im Westen! Und der Beginn einer großartigen neuen Zeit!«
Matt wandte sich zu Eden, und sie stießen mit ihren Bierflaschen an. So glücklich hatte er zuletzt an dem Tag ausgesehen, als Liza geboren wurde, dachte Eden. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie. »Sie ist eine Schönheit.«
»Gefällt sie dir wirklich, Eden?« Sein Gesicht leuchtete auf.
»Ja, wirklich. Und du hast sie gerettet.«
»Ja, sie wäre entweder kaputtgegangen oder vergessen worden. Was ist schlimmer?«
»Das spielt keine Rolle. Du hast sie gerettet.« Eden gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Und das war gut.«
Matt strahlte. Er stellte seine Bierflasche ab und ging zum Bahnsteig, wo sich die Kinder versammelt hatten. Er suchte einen kleinen Jungen aus, gab ihm einen Silberdollar und wies ihn an, auf die Lokomotive zu klettern und die Glocke zu läuten, die noch unter Sackleinen verborgen war. Alle sahen gespannt zu, wie der Junge hinaufkletterte und die Hülle entfernte. »Und jetzt läute die Glocke«, rief Matt. »Läute sie so, als ob die Bahn eben erst in die Stadt eingefahren wäre. Als ob dein Leben davon abhinge!«
Eden stimmte in die Jubelrufe der anderen mit ein, als der Junge die Glocke läutete, aber sie spürte zugleich, wie ihr die Kehle eng wurde, als ob sie ungeweinte Tränen zurückhielte.
Matt und Eden bezahlten zwar Oasis für den Auf- und Abbau des Büfetts, Gewürze, Schinken und Brot, aber die Gerichte wurden von den Gästen beigesteuert.
Alma Epps brachte eine Unmenge Chicken Wings in ihrer berühmten Barbecuesauce mit. Ginny hatte selbstverständlich ihren scharfen Cowgirl-Chili gekocht, und auch Connies 7-up-Salat schmurgelte in der Hitze vor sich hin. Afton hatte tonnenweise Reissalat zubereitet, der noch schneller alle war als Stellas Auberginen-Caponata, die nichts für schwache Herzen war, weil das Dressing zum größten Teil aus Wein bestand. Annies Mutter, Shushan Agajanian, bot mit Reis, Fleisch und Tomaten gefüllte Weinblätter an, und Frankie Pierino hatte seine begehrte Drei-Käse-Lasagne gemacht. Marinda schaufelte in ihre goldbraunen Tortillas Fischstücke, auf die sie einen Klecks ihrer orangerot schimmernden Mais-Salsa setzte. Miss Oglethorpe hatte den berühmten Erdbeerkuchen ihrer Mutter mitgebracht. Ihre Mutter hatte sie allerdings zu Hause gelassen.
Ebenfalls dabei hatte sie jedoch ihre Kamera. »Ich mache ein Foto von Ihnen«, sagte sie zu Eden. »Vor dem Zug. Von Ihnen und Mr. March.«
Eden drückte Nicky Prairie Fern in die Arme und stellte sich lächelnd neben Matt.
»Einen Moment!«, rief Matt. »Liza, Stellina, Mama, kommt mal her!« Als sie sich alle um ihn versammelt hatten, straffte er die Schultern und hob das Kinn. »Okay, und jetzt machen Sie Ihr Foto. Ich und meine bemerkenswerten Frauen. Na komm, Mama, lächle mal, ich weiß doch, dass du es kannst.«
Stella lächelte, und Matt und Eden lachten, als Miss Oglethorpe auf den Auslöser drückte.
»Machen Sie auch eins von mir und Ginny auf unseren Pferden?«, fragte Liza.
»Ja, sicher«, antwortete Miss Oglethorpe. Ich habe extra noch einen Film mitgebracht. Ich wusste ja, dass dies ein ganz besonderer Tag wird.«
Sie machte an diesem Tag noch unzählige Fotos, und alle ließen sich vor der geretteten Lokomotive fotografieren. Ginny und Liza. Rex, Spud und Lois. Afton, Tom, Eden und die Kinder. Stella, Marinda und Prairie Fern. Ginny, Les, Prairie Fern, Matt und Eden. Annie, ihre Eltern, ihre Kinder und Ernest. Die Douglass-Frauen: Afton, Alma, Connie und ihre Töchter, Annie und ihre Töchter, Eden mit Liza und Stellina.
Nach diesem Foto hörte Eden ein Baby schreien. Prairie Fern kam ihr mit Nicky auf dem Arm entgegen.
»Ich war schon auf der Suche nach dir«, sagte sie. »Er hat Hunger.«
Eden nahm ihr Nicky ab und ging mit ihm die Straße hinunter, ein wenig abseits vom Fest. Sie beruhigte ihren Sohn, setzte sich mit ihm auf den Schaukelstuhl, der auf der Holzveranda des Barbierladens stand. Dort knöpfte sie sich die Bluse auf und legte ihn an die Brust.
Verträumt blickte sie auf die Straße, auf die Gäste, die in Grüppchen zusammenstanden und plauderten, und schloss einen Moment lang die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie sich vorstellen, dass es vor langer Zeit in einer Stadt wie Lariat tatsächlich so zugegangen war. Matt hatte die Gabe, seine Visionen anderen mitzuteilen, sie daran teilhaben zu lassen. Wenn er es wollte, wurde die Vergangenheit lebendig.
»Oh, Nicky«, flüsterte sie und fuhr mit den Lippen über den Flaum auf dem Köpfchen ihres kleinen Sohnes, »dein Vater hat wirklich Visionen.«
Eine rote Zwiebel und zwei Knoblauchzehen fein hacken und in eine große Schüssel geben. Zwei große, frische Orangen schälen und die weiße Haut sorgfältig entfernen. Klein schneiden und ebenfalls in die Schüssel geben. Zwei Tomaten, ein Bund Koriander, eine rote oder grüne Paprika fein hacken. Ein oder zwei gewaschene, entkernte Jalapeños ohne Haut und Chilis hinzufügen. Die Körner von zwei gekochten Maiskolben hinzugeben. Salzen und pfeffern, den Saft einer frischen Limone darübergeben. Zugedeckt mindestens eine Stunde lang stehen lassen.
Diese Salsa schmeckt besonders gut zu Fisch-Tacos, ganz außergewöhnlich lecker ist sie jedoch zu gebackenem Fisch.
Bedecken Sie den Boden einer Auflaufform mit dieser Salsa und legen sie einen kräftigen Fisch darauf, zum Beispiel Heilbutt-Steaks. Bedecken Sie ihn mit einer weiteren Schicht Salsa und decken Sie das Ganze mit Folie ab. Bei 180 °C backen, bis der Fisch gar ist. In der Zwischenzeit können Sie Reis und schwarze Bohnen kochen.
Nehmen Sie den Fisch und die Salsa vorsichtig aus der Auflaufform, und richten Sie alles auf einer großen ovalen oder runden Platte an. Darum herum geben Sie frisch gekochten weißen Reis und einen Ring schwarze Bohnen. Stellen Sie noch zusätzliche Salsa auf den Tisch.
MOMENTAUFNAHME
Der Wettbewerb
Liza Ruth March, die ihr Studium in Vassar, der London School of Economics und in Stanford mit einem Doktortitel abgeschlossen hatte und schließlich Professorin an der University of Southern California in Los Angeles wurde, mied mexikanisches und italienisches Essen. Das erinnerte sie viel zu sehr an zu Hause, an ihr ehemaliges Zuhause und ihr früheres Leben. Die erwachsene Liza bevorzugte Tofu, Sojabohnensprossen und Miso-Suppe. Sie aß nie Nachtisch, jedenfalls wurde sie nie dabei gesehen.
Die erwachsene Liza blieb fit. Sie trainierte täglich und hob zu Hause in ihrem eigenen Studio Gewichte. Aber es befriedigte sie nicht wirklich, weil sie ihr ganzes Leben lang gewinnen wollte. Golf oder Tennis konnte sie jedoch nicht spielen, weil sie von einem Unfall in ihrer Kindheit körperliche Einschränkungen zurückbehalten hatte. Nach 1960 setzte sie sich nie wieder auf ein Pferd.
In jenem Sommer war Liza so eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder, der die Aufmerksamkeit der ganzen Familie auf sich zog, dass sie allen beweisen wollte, wie gut sie reiten konnte. Sie würde es Daddy und auch Ginny schon zeigen. Sie würde ihnen zeigen, dass sie die Beste war, besser als jeder Junge. Liza würde Cody, Ginny Doyles willensstarken Palomino-Hengst, reiten.
Nach ungefähr zehn Minuten warf Cody Liza ab.
Diese zehn Minuten jedoch waren die denkwürdigsten Minuten in ihrem Leben. Sie schenkten ihr mehr Ruhm, Freude und Entzücken als alles andere, was das Leben ihr später bot. Mehr sogar als ihre Liebhaber, ihre zwei Ehemänner, ihre Kinder. Diese zehn Minuten waren physisch intensiver als Sex oder die Geburten ihrer Kinder.
Nichts kam diesen zehn Minuten gleich, als sie sich an die Mähne des goldenen Palomino klammerte und die Landschaft in einem Rausch von Farben an ihr vorbeiflog. Schließlich stieg Cody auf, und Liza stürzte zu Boden. Das Pferd galoppierte davon.
Sie brach sich den Knöchel, den Ellbogen und das Schlüsselbein. Monatelang musste sie in einem Gipsbett liegen und konnte noch nicht einmal die Treppe hinaufgehen. Sie stellten ihr Bett ins Esszimmer, neben das Modell von Greenwater. Alle hatten Mitleid mit ihr, und niemand, noch nicht einmal Ginny, schimpfte sie wegen ihres Leichtsinns aus.
Ginny besuchte sie jeden Tag; als Liza wieder laufen lernte, machte sie stundenlang Übungen mit ihr, brachte ihr bei, an Krücken zu gehen, und tröstete sie mit Geschichten von ihrer eigenen Genesung, wenn Liza weinte. Marinda kochte ihr alles, was sie essen wollte. Stella war ständig um sie herum und las ihr vor. Stellina schenkte ihr ihre Lieblingspuppe. Mom war unendlich liebevoll und aufmerksam, aber sie sagte auch, dass Liza ihre Lektion auf die schmerzhafte Art gelernt hatte. Liza wusste nicht ganz genau, worin diese Lektion bestand, und sie traute sich auch nicht zu fragen. Nur Daddy wirkte abwesend, und als er erfuhr, dass Liza wieder völlig gesund werden würde, besuchte er sie nur noch sporadisch. Manchmal brachte er auch ein Geschenk mit, aber das war es eigentlich nicht, was Liza wollte.
Eines Abends erwachte Liza von heftigem Schluchzen, das aus der Küche drang. Sie konnte nicht leise hinschleichen, um nachzuschauen, weil man ihr Gipsbein auf dem Holzboden gehört hätte. Deshalb blieb sie ganz still liegen und lauschte.
Es war ihr Vater, der schluchzte und stammelte. Aber auch die Stimme ihrer Mutter bebte, und sie fragte ständig: »Was haben sie gesagt? Was? Wann?«
So erfuhr Liza als Erste, dass die goldene Ära des TV-Westerns vorüber war. Western liefen nicht mehr, und der Sender hatte The Lariat Lawman aus dem Programm genommen.
1964, vier Jahre, nachdem die Lokomotive im Triumphzug nach Greenwater geschafft worden war, kaufte die Eisenbahngesellschaft sie zurück. Matt March hatte sie zwar vor der Schrottpresse bewahrt, aber sie hatte nie mehr unter Dampf gestanden, nie mehr gepfiffen und war nie mehr auf Schienen gefahren. Als die Santa Fe die Lokomotive abholte, schaute niemand von Greenwater zu. Es gab keine Getränke, kein Essen, keine Reden und kein Fest.