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24. Oktober 2016

Der Schlüssel lässt sich mühelos drehen, und die Tür öffnet sich mit einem Klicken. Georgie sieht sich nervös um. Sie hat das Gefühl, das Vertrauen ihrer Mutter zu missbrauchen. »Ich hoffe bloß, dass Mum nicht während des Essens plötzlich einen Anfall bekommt und wir früher nach Hause müssen«, hatte Kate am Morgen am Telefon gesagt. »Falls es doch passiert, schreibe ich dir. Sonst hast du etwa zwei Stunden Zeit.«

Georgie schließt die Tür hinter sich, und die Stille im Haus umfängt sie. Nur die Heizung gibt das gewohnte Ticken von sich, während sie langsam abkühlt. Sie schlüpft aus ihrem Mantel, hängt ihn an den Haken und erschaudert, als sie an ihren Traum zurückdenkt. Jetzt hängt da wenigstens noch ein anderer Mantel an der Garderobe, und sie stellt ihre Stiefel neben ein Paar Straßen- und ein Paar Hausschuhe. Sie lauscht nach einem vertrauten Geräusch. Schritte, Atmen, das Blubbern des Wasserkochers. Irgendetwas. Doch da ist nichts. Nur Stille.

Schatten tanzen über den Holzboden im Flur, der in der Mitte ausgetreten und um einiges heller ist. Georgie tappt den Flur entlang und wendet sich der Wohnzimmertür zu. Sie steht einen Spalt breit offen, Georgie drückt sie vorsichtig auf. Auch hier herrscht Stille – abgesehen von dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims, die unbeirrt die Zeit anzeigt, obwohl niemand zu Hause ist. Das Zimmer ist ihr so vertraut und hat sich derart in ihre Erinnerungen eingebrannt, dass sie beinahe vor sich sieht, wie Kate und sie auf dem Teppich vor dem Kamin spielen, während der Dampf aus dem Bügeleisen den Raum erfüllt.

Das Zischen und Dampfen des Bügeleisens – der Soundtrack ihrer Kindheit.

Georgie geht leise zur Holzkommode an der Wand, als hätte sie Angst, dass jemand sie hört. Sie hat sich nie Gedanken darüber gemacht, was ihre Mutter in der Kommode aufbewahrt. Was sie wohl finden wird? Sie öffnet die erste Schublade, und ihr Blick fällt auf mehrere Gabeln, Löffel und Messer in verschiedenen Ausführungen, auf einen Mantelhaken, eine Rolle Klebeband, zwei Knöpfe, ein Nähkästchen, einen Flaschenöffner, einen Satz Karten und ein paar alte Quittungen.

Georgie schließt die Schublade und wendet sich der nächsten zu. Darin befinden sich mehrere Stapel alter Umschläge. Sie nimmt sie heraus und setzt sich in einen Sessel. Die blasse Wintersonne quält sich durch die Vorhänge und malt verschwommene Muster auf den Couchtisch, während Georgie die Umschläge durchgeht. Kurz darauf ist ihr klar, dass sie ihr nicht weiterhelfen werden, und sie legt sie zurück. Hinter der Doppeltür unter den Schubladen stehen Teller und Tassen für besondere Anlässe, die jedoch nie stattgefunden haben und auch nie stattfinden werden. Eine kaum merkliche Staubschicht hat sich auf dem Geschirr gebildet, und Georgie schließt die Türen eilig.

Sie lässt den Blick langsam durch das Zimmer schweifen, und überlegt, wo sie noch suchen könnte. Schließlich macht sie sich auf den Weg in die Küche. Die Tür steht offen, und der Raum dahinter ist leer – wie in ihrem Traum. Sie tappt über den Fliesenboden und legt ihre Hand auf den Wasserkocher, obwohl ihr nicht wirklich klar ist, warum sie das tut. Sie weiß ja, dass ihre Mutter nicht zu Hause ist. Der Wasserkocher ist kalt. Auf dem Tisch steht eine leere Kaffeetasse mit einem herzförmigen Lippenstiftabdruck am Rand. Auf einem Porzellanteller daneben liegt ein angebissenes Plätzchen, um den Teller liegen Krümel verstreut. Georgie durchsucht die Küchenschubladen. Nichts.

Als ihr klar wird, dass sie im Erdgeschoß nichts finden wird, steigt sie die Treppe hoch. Hier oben ist es dunkler, und sie macht das Licht an, bevor sie den Kopf in den Nacken legt und zur Dachluke hochstarrt. Sie denkt an ihren Traum und an das Geräusch, das sie auf dem Dachboden zu hören geglaubt hat, doch dann schüttelt sie energisch den Kopf. Dort oben gibt es nichts, wovor man Angst haben müsste.

Solange Georgie in diesem Haus gelebt hat, hat sie Angst vor dem Monster auf dem Dachboden gehabt. Als schließlich eine neue Treppe eingebaut wurde, hat sie den Kopf durch die Luke gesteckt und nachgesehen. Doch sie hat bloß eine Menge Kartons entdeckt, einen Wassertank und zahllose Spinnennetze. Jedenfalls nichts Beunruhigendes. Seit ihrem Auszug mit achtzehn Jahren hat sie nicht mehr über den Dachboden nachgedacht.

Heute hofft sie jedoch, dass sie dort oben genau das findet, wonach sie sucht.

Georgie nimmt den langen Stiel mit dem Haken, öffnet die Luke, klappt die schmale Holztreppe herunter und klettert hinauf. Kurz vor dem klaffenden schwarzen Loch hält sie inne. Gibt es auf dem Dachboden eigentlich Licht? Vermutlich wäre eine Taschenlampe sinnvoll …

Erst als Georgie den Kopf durch die Luke steckt, merkt sie, dass sie die ganze Zeit über den Atem angehalten hat, und lässt ihn langsam entweichen. Sie kneift die Augen zusammen, bis sie direkt auf Kopfhöhe einen Lichtschalter entdeckt, und macht das Licht an. Es erhellt nur die unmittelbare Umgebung, die Ecken des Dachbodens liegen nach wie vor im Dunkeln und werfen bedrohliche Schatten. Georgie zieht sich hoch und richtet sich auf, wobei sie den Kopf leicht einziehen muss, um sich nicht an den Dachbalken zu stoßen. Es ist eisig kalt hier oben, und sie wickelt sich ihre flauschige Jacke enger um den Körper, während sie sich langsam im Kreis dreht und sich umsieht.

Neben ihr befinden sich einige übereinandergestapelte Koffer und mehrere Plastikboxen, die sie kurz inspiziert. Im Grunde ist es egal, wo sie ihre Suche beginnt. Ein schneller Blick in die erste Kiste zeigt ihr, dass sich lediglich alte Schuhe darin befinden. Die zweite Kiste ist voller Klamotten. Georgies Blick fällt auf eine flauschige, wasserdichte Jacke, und sie fragt sich kurz, warum sie hier oben liegt und nicht benutzt wird.

Sie macht sich gebückt auf den Weg in die dunkleren Ecken des Dachbodens und versucht dabei, das Licht nicht mit ihrem Körper abzuschirmen.

»Igitt!«

Georgie schnappt nach Luft und wischt sich hektisch übers Gesicht. Sie ist direkt in ein Spinnennetz gelaufen.

Ein Blick in die Dunkelheit sagt ihr, dass es keinen Sinn hat, so fortzufahren, denn sie kann überhaupt nichts erkennen. Aber vielleicht reicht die Taschenlampe ihres Smartphones aus? Sie hält das Handy vor sich und sieht nun wenigstens, wo sie ihre Schritte hinsetzt. Abgesehen von den Staubkörnern, die im Licht tanzen und sie in der Nase jucken, entdeckt sie weitere Kartons am anderen Ende des Dachbodens. Vielleicht findet sie hier, wonach sie sucht.

Sie findet eine alte Decke, legt sie auf den Holzboden, lässt sich im Schneidersitz darauf nieder und stellt ihr Handy neben sich. Die Kartons sind nicht beschriftet, allerdings auch nicht zugeklebt, daher kann man sie mühelos öffnen. Staub wirbelt hoch, und Georgie beginnt zu husten. Dann beugt sie sich über den ersten Karton und sieht hinein.

Er enthält mit schwarzer Tinte beschriftete Ordner: Quittungen, Hausdokumente, Autoversicherung … Georgie zieht einen Ordner heraus und blättert ihn durch. Die Unterlagen sind sorgfältig sortiert und abgeheftet, doch die neuesten sind mindestens drei Jahre alt, was auch den Staub auf den Kartons erklärt. Georgie runzelt nachdenklich die Stirn. Bewahrt ihre Mutter die neueren Unterlagen irgendwo anders auf, oder hat sie in den letzten Jahren schlichtweg vergessen, sie abzuheften? Egal, darüber wird sie sich später Gedanken machen. Jetzt muss sie sich beeilen.

Der nächste Karton ist halb leer, er enthält bloß ein paar alte Küchenutensilien und alte Blechdosen. Auf einem anderen steht Weihnachtsdeko, und tatsächlich fällt Georgies Blick gleich darauf auf bunte Glitzerschlangen, Christbaumkugeln und Lichterketten. Es geht ähnlich weiter. Sie findet Haushaltsartikel, die ihre Mutter anscheinend nicht wegwerfen wollte, für den Fall, dass sie sie irgendwann noch einmal braucht.

Georgie ist kurz davor, die Geduld zu verlieren. Sie zieht den letzten Karton mit einem heftigen Ruck an sich heran. Er ist mit Klebeband verschlossen. Georgie entfernt es vorsichtig und öffnet ihn. Ganz obenauf liegen Fotoalben, und Georgies Herz schlägt schneller. Vielleicht sind es Fotos von ihrem Vater, die sie noch nicht kennt? Sie greift zitternd nach dem obersten Album und öffnet es vorsichtig. Ein Foto fällt heraus, und sie hält es ins Licht der Lampe, um es sich genauer anzusehen. Es zeigt zwei kleine Mädchen und eine Frau, die zweifelsohne ihre Mutter ist. Kates blonde Locken und rote Wangen leuchten im Sonnenlicht – das andere Mädchen hat dunklere Haare und sieht ihrer Schwester und ihrer Mutter absolut nicht ähnlich. Es trägt Zöpfe und grinst breit in die Kamera. Das ist sie selbst, Georgie, und auch wenn sie sich nicht mehr erinnern kann, wann dieses Foto aufgenommen wurde – sie war damals in etwa zwei Jahre alt –, macht es sie unglaublich glücklich. Sie will unbedingt mehr Aufnahmen sehen, also öffnet sie das Album und schnappt im nächsten Augenblick überrascht nach Luft.

Es enthält Dutzende Fotos von Georgie und Kate, die im Garten spielen, am Strand in der Sonne liegen, sich unter einem Regenschirm drängen oder mit einer Eistüte in der Hand eine Strandpromenade entlangschlendern.

Erinnerungen erwachen zum Leben, und einige davon sind so stark, dass sie Georgie beinahe übermannen. Warum sieht sie das Album heute zum ersten Mal? Warum versteckt ihre Mutter es auf dem Dachboden, wo es langsam verstaubt?

Sie hätte gern den ganzen Tag hier gesessen, hätte die Bilder betrachtet und wäre in Erinnerungen geschwelgt, doch sie hat sich etwas vorgenommen, also reißt sie ihren Blick los, schließt das Album und nimmt das nächste zur Hand. Die ersten Seiten enthalten Schwarz-Weiß-Fotos, die jedoch bald den ersten verblassten Farbfotos Platz machen. Georgie entdeckt ihre Mutter als junges Mädchen, gleich darauf auch Tante Sandy, und beginnt erneut zu lächeln. Die beiden sehen so jung und unbeschwert aus. Die Fotos sind offensichtlich einige Zeit vor Georgies Geburt entstanden, die beiden Freundinnen mit den toupierten Haaren und den Miniröcken, die kaum ihre schlanken Oberschenkel bedecken, sind fast nicht wiederzuerkennen. Die ersten Seiten zeigen ähnliche Fotos, doch dann hält Georgie plötzlich inne, und ihr Herz beginnt erneut zu rasen.

Da ist ein Foto ihrer Mutter, die mit einem jungen Mann Händchen hält. Georgie hat ihn bis jetzt nur auf dem Foto gesehen, das auf dem Kaminsims im Wohnzimmer steht, doch sie erkennt ihn sofort wieder. Das hier ist ihr Vater. Die beiden stehen vor einem Motorrad, und Jane schirmt ihre Augen mit der freien Hand vor der Sonne ab, während die freie Hand ihres Vaters schützend auf dem Bauch ihrer Mutter liegt. Georgie wird schlagartig klar, dass ihre Mum damals bereits mit Kate oder ihr schwanger war – wohl eher mit Kate, denn es gibt nirgendwo einen Hinweis auf ein anderes Kind. Das Foto ist nicht vor dem Haus entstanden, in dem sie ihr ganzes Leben lang gewohnt hat. Haben ihre Eltern vielleicht in dem Haus auf dem Foto gelebt, bevor sie hergezogen sind und ihr Vater gestorben ist?

Georgie richtet die Taschenlampe ihres Handys auf das Foto, um es besser ansehen zu können. Sie will sich später an jedes Detail erinnern, und sie will mehr über den Mann erfahren, der darauf zu sehen ist. Das Foto ist nicht besonders scharf, dennoch nimmt sie alles in sich auf. Die dunklen Haare, die hohen Wangenknochen, die Lederjacke. Sie würde das Foto gern mitnehmen, doch sie wagt es nicht. Es muss einen Grund geben, warum ihre Mutter nicht will, dass sie es in die Hände bekommt, und es ist schon schlimm genug, dass sie es überhaupt gefunden hat. Es mit zu sich nach Hause zu nehmen, wäre der ultimative Verrat an ihrer Mutter.

Sie legt das Handy wieder beiseite und blättert zögernd weiter, doch es gibt keine weiteren Fotos – nur leere Seiten ohne jegliche Erinnerungen, als hätte die Welt nach dem letzten Bild aufgehört zu existieren.

Georgie erlaubt sich einen letzten Blick auf das Gesicht ihres Vaters, dann schließt sie das Album und sieht auf die Uhr. Es ist bereits eine Stunde vergangen.

Außer den Fotoalben befinden sich lediglich ein paar Bilderrahmen in dem Karton, doch als Georgie sie herausnimmt, hält sie inne. Unten auf dem Boden liegt ein kleines, flaches Metallkästchen, das sie beinahe übersehen hätte. Sie nimmt es heraus. Es sieht irgendwie sehr persönlich aus, ihre Mutter hat es vermutlich hier versteckt, damit niemand es findet.

Georgie ist eigentlich nicht gekommen, um die Sachen ihrer Mutter zu durchwühlen, sie hat bereits ein schlechtes Gewissen wegen der Fotos, auf die sie zufällig gestoßen ist. Sie braucht doch nur ihre Geburtsurkunde! Sie will das Kästchen zurücklegen, ohne es zu öffnen, dann überlegt sie, was ist, wenn sich ihre Geburtsurkunde ausgerechnet darin befindet? Wenn sie nicht wenigstens einen schnellen Blick hineinwirft, wird sie das Dokument vielleicht nie finden. Was ist schon dabei?

Sie wischt den Staub vom Deckel. Es ist wirklich erstaunlich, wie er es immer wieder schafft, selbst durch die kleinsten Ritzen zu dringen. Sie öffnet das Kästchen behutsam und sieht hinein. Ihr Blick fällt auf einen nicht beschrifteten weißen Umschlag. Sie nimmt ihn heraus und ertastet, dass er keine Dokumente, sondern einen kleinen Gegenstand enthält. Also sicher nicht das, wonach sie sucht.

Trotzdem wäre es vermutlich besser, einfach nachzusehen. Nur für den Fall. Georgie öffnet den Umschlag und späht hinein. Darin liegt ein Kunststoffarmbändchen, wie es Babys auf den Geburtsstationen tragen.

Kathryn Susan Wood, 12. März 1977.

Es gehörte also Kate. Georgie lässt die Finger über den Schriftzug gleiten und versucht sich vorzustellen, wie klein ihre Schwester gewesen sein muss, dass ihre Hand hindurchgepasst hat. Dann legt sie das Bändchen vorsichtig zur Seite und wirft einen weiteren Blick in den Umschlag – in der Erwartung, ein zweites Armbändchen mit dem Namen Georgina Rae Wood und ihrem Geburtsdatum, 23. November 1979, zu ertasten.

Doch da ist nichts.

Seltsam. Sie runzelt die Stirn und schaut erneut in den Umschlag.

Nichts.

Georgie lässt die Hände mit dem Umschlag in den Schoß sinken. Warum hat ihre Mutter Kates Bändchen aufbewahrt und ihres nicht? Das ergibt doch keinen Sinn. Es sei denn, es gibt noch einen zweiten Umschlag. Ja, das muss es sein!

Georgie wirft einen letzten hoffnungsvollen Blick in das Metallkästchen, doch da ist nichts mehr. Es folgt ein weiterer schneller Blick in den Umschlag, und da ist tatsächlich noch etwas: ein sorgfältig in der Mitte gefaltetes Stück Papier. Georgies Herz setzt einen Augenblick aus. Ist das ihre Geburtsurkunde?

Sie hat plötzlich ein seltsames, unheilvolles Gefühl. Was ist, wenn das hier absolut nicht das ist, wonach sie sucht? Will sie wirklich einen Beweis dafür, dass ihre Mutter keine Erinnerungen an ihre Geburt aufbewahrt hat, als hätte sie keinerlei Bedeutung? Als würde sie gar nicht existieren?

Georgie hält hin- und hergerissen inne, doch sie weiß, dass ihr nichts anderes übrigbleibt, als nachzusehen. Das Papier ist so dünn, dass sie Angst hat, es würde jeden Moment zu Staub zerfallen, als sie es aus dem Umschlag zieht. Sie faltet es schließlich vorsichtig auseinander. Dann betrachtet sie es im Dämmerlicht des Dachbodens. Die Ecken sind bereits vergilbt, und die Schrift ist verblasst, aber man kann sie immer noch lesen. Es ist eine Geburtsurkunde, und der Name des Kindes lautet Kathryn Susan Wood.

Georgie schafft es einfach nicht, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Sie stellt ein letztes Mal sicher, dass sie nichts übersehen hat. Es muss doch eine Erklärung dafür geben, warum ihre Mutter Kates Sachen aufbewahrt hat und ihre nicht. Vielleicht hat sie Georgies Umschlag verloren? Oder sie bewahrt ihn an einem anderen Ort auf.

Doch Georgie hat das Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Sie muss in Ruhe nachdenken und dann versuchen, den Grund herauszufinden.

Sie denkt an ihre Kindheit zurück und daran, wie nah Kate und sie sich gestanden haben. Sie erinnert sich, dass Kate anfing zu reisen und irgendwann heiratete, und sie denkt an ihr eigenes Leben: Matt und sie konnten sich nie dazu durchringen, endlich zu heiraten, weshalb sie keinen Reisepass beantragt hat.

Ein Gedanke drängt an die Oberfläche, und Georgie versucht, ihn zu fassen und festzuhalten. Erinnerungen blitzen auf und verschwinden gleich darauf wieder. Ihre Mutter, die meint, dass eine Eheschließung nicht das Richtige für sie ist … Ihre Mutter, die sich bei Georgie über ihre Flugangst beklagt und ihr furchteinflößende Geschichten von Flugzeugabstürzen, Explosionen und Entführungen erzählt … Ihre Mutter, die ihr verspricht, ihre Geburtsurkunde zu suchen, und dann nie wieder darauf zurückkommt … Ihre Mutter, die Kate die Welt erkunden lässt und Georgie gleichzeitig gesteht, wie froh sie ist, dass ihre zweite Tochter bei ihr bleibt und sich um sie kümmert.

Die Erlebnisbruchstücke laufen wie ein Film vor Georgies innerem Auge ab. Sie muss sie nur zusammensetzen und herausfinden, was sie ihr sagen wollen. Obwohl sie es im Grunde bereits weiß. Sie weiß, dass keine Geburtsurkunde von ihr existiert und dass ihre Mutter nicht wollte, dass sie das entdeckt. Deshalb sollte sie keinen Reisepass beantragen und nicht heiraten. Ihre Mutter hatte vor irgendetwas Angst.

Aber vor was?

Georgie wird bewusst, dass sie es herausfinden muss.

Plötzlich bekommt sie auf dem stickigen Dachboden keine Luft mehr. Sie krabbelt auf Händen und Knien zur Luke und klettert eilig die Dachbodentreppe hinunter. Der Wunsch, von ihrem Elternhaus fortzukommen, ist beinahe übermächtig.

Sie stolpert die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, läuft in die Küche zur Hintertür und dreht den Schlüssel herum, der im Schloss steckt. Die Tür schwingt auf, und die kalte Herbstluft umfängt Georgie. Sie atmet tief ein und wieder aus und versucht gleichzeitig, ihr pochendes Herz zu beruhigen und den Schmerz, der in ihrem Inneren tobt, unter Kontrolle zu bringen.

Langsam hockt sie sich hin, wippt auf den Fußballen vor und zurück und starrt auf die Grashalme zwischen ihren Beinen. Georgie drückt sie mit der Hand nieder, doch sie trotzen dem Angriff und richten sich schon nach kurzer Zeit wieder auf. Also schlägt sie so lange darauf ein, bis sie leblos auf dem feuchten Boden liegen bleiben.

Dann stemmt sie sich schwankend hoch und geht zu dem kleinen Rasenstück hinter dem Haus, wo Kate und sie so viele Stunden miteinander gespielt, in der Sonne gelegen und sich unterhalten haben. Um diese Jahreszeit wirkt der Garten wie im Dornröschenschlaf. Die Pflanzen scheinen nur noch darauf zu warten, dass der Frühling wiederkehrt, dass sie wieder zu blühen beginnen und alles in bunte Farben tauchen können. Im Moment sind die vorherrschenden Farben Braun, Schwarz und das Dunkelgrün der winterharten Stauden und Sträucher.

Georgies Blick fällt auf den Schuppen, der grau und verlassen am Rand des Gartens steht, und sie erschaudert, als sie an ihren Traum zurückdenkt. An die aufgewühlte Erde und das seltsame Gefühl, das sie bei ihrem Anblick hatte.

Die Kälte dringt langsam in ihre Beine, weshalb sie eilig ins Haus zurückkehrt und sich an den Küchentisch setzt. Sie vergräbt den Kopf in den Händen und bleibt mehrere Minuten vollkommen regungslos sitzen, während sie darauf wartet, dass ihr Atem sich beruhigt und ihr Herz in seinen vertrauten Rhythmus zurückfindet. Schließlich hebt sie langsam und benommen den Kopf.

Sie kann nicht glauben, dass sie über all das noch nie nachgedacht hat – obwohl ihr natürlich bewusst ist, dass sie es im Grunde gar nicht wollte. Es ist faszinierend, wie viel man verdrängen kann, wenn man will.

Doch jetzt lassen die Erinnerungen sich nicht mehr verdrängen. Ihre Mutter hat ihr ganzes Leben lang ein Geheimnis vor ihr verborgen. Es gibt da etwas … einen unheimlichen Vorfall, der mit ihrem Start ins Leben zu tun hat.

Georgies Handy vibriert, und sie zieht es aus der Tasche. Kate.

Sind in 20 Minuten da. Hoffe, du hast alles gefunden. K

O Gott, sie sind bereits auf dem Heimweg! Georgie hat zwar keine Ahnung, wann ihre Mutter zum letzten Mal auf dem Dachboden war, aber sie darf kein Risiko eingehen. Sie muss wieder nach oben und aufräumen. Es muss so aussehen, als wäre sie nie dort gewesen.

Sie steht auf, kehrt ins Obergeschoss zurück und steigt die Dachbodentreppe wieder hoch. Die Taschenlampe ihres Smartphones leuchtet ihr den Weg in den hintersten Winkel, wo die Fotos und der Umschlag noch auf dem Boden liegen.

Georgie versucht, möglichst ruhig zu bleiben, während sie aufräumt. Als sie fertig ist, tritt sie einen Schritt zurück und betrachtet ihr Werk. Es sieht genauso aus wie vorher. Bevor sie wusste, welche Geheimnisse sich hier verbergen.

Sie klettert die Dachbodentreppe hinunter, klappt sie zusammen, schließt die Luke und wirft einen Blick auf ihr Handy. Noch zehn Minuten. Es ist wohl besser, wenn sie verschwindet. Sie will ihrer Mutter jetzt nicht begegnen. Und Kate auch nicht. Sie hat keine Idee, wie sie sich den beiden gegenüber verhalten soll. Sie muss zuerst weitere Nachforschungen anstellen.

Also tippt sie eine Antwort an ihre Schwester:

Danke. Alles erledigt. Bis später. G

Sie wartet, bis die Nachricht gesendet wird, dann macht sie sich auf den Weg in die Küche und schließt die Tür in den Garten. Anschließend schlüpft sie in ihre Stiefel und den Mantel und tritt durch die Eingangstür, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie knallt die Tür zu und lässt das Haus so schnell wie möglich hinter sich.

Erst nach ein paar Metern merkt sie, wie angespannt ihr ganzer Körper ist. Dann beschleunigt sie ihre Schritte und lässt die kühle Luft tief in ihre Lunge dringen, bis sie vor Anstrengung keucht und ihre Beine schmerzen.

Es sind nur ein Stück Papier und ein winziges Armbändchen – trotzdem kann sie nicht aufhören, über die wahre Bedeutung dessen nachzudenken, was sie gerade auf dem Dachboden ihrer Mutter gefunden hat – oder besser: was sie nicht gefunden hat.

Sie hat keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, und sie ist sich nicht einmal sicher, ob sie die Wahrheit überhaupt wissen will. Aber sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat als weiterzusuchen.