Es dauert beinahe eine Woche, bis Georgie den ersehnten Anruf erhält. Sie hat schon nicht mehr daran geglaubt und befürchtet, dass sie Kate, ihre Mutter und auch alles andere für nichts und wieder nichts aufs Spiel gesetzt hat. Seit sie ihre Mutter und ihren Bruder kennengelernt hat, kann sie an nichts anderes mehr denken. Da ist einfach kein Platz in ihrem Kopf.
Das schrille Klingeln ihres Handys hallt durch das Café in der Nähe der Bibliothek, in dem sie gerade ihre Mittagspause verbringt, und sie nimmt das Gespräch eilig an.
Es ist eine unbekannte Nummer, ihr Herz klopft wie verrückt. Ihr Atem geht stockend.
»Hallo?«
Einen Moment lang herrscht Stille, und Georgie glaubt bereits, dass sie sich falsche Hoffnungen gemacht, dass sich der Anrufer nur verwählt hat. Doch dann hört sie jemanden tief Luft holen, und eine vertraute Stimme sagt: »Georgie? Hier ist Sam!«
»Sam«, haucht sie. »Danke, dass du anrufst.«
»Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Die letzten Tage waren echt hart.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie hält sich mit der freien Hand das Ohr zu, um den Lärm im Café auszublenden. Sie will kein einziges Wort versäumen. »Also … äh … Wie geht es dir?« Das ist eine lächerliche Frage, aber mehr fällt ihr im Moment nicht ein.
»Ganz gut.« Samuel schluckt geräuschvoll. »Ich wollte fragen … Wir wollten fragen, ob du vielleicht noch einmal vorbeikommen möchtest? Wir könnten uns auch irgendwo treffen. Wenn du dich damit wohler fühlen würdest.«
Georgie schüttelt den Kopf. »Nein, nein. Ich würde gern vorbeikommen. Wann?«
»Schaffst du es heute Abend?«
»Ja, heute Abend passt.«
»Okay. Sagen wir um sieben? Nach dem Abendessen?«
»In Ordnung. Danke, Sam.«
»Bis später. Und … Georgie?«
»Ja?«
»Mach dir keine Gedanken wegen Grandma. Sie macht ihrem Ärger gern lautstark Luft, aber sonst ist sie harmlos. Sie will niemandem etwas Böses.«
Dann ist die Leitung tot, und Georgie steckt das Handy in ihre Tasche. Sie merkt erst jetzt, wie ihre Hände zittern. Ihr Blick fällt auf ihr halb gegessenes Sandwich, doch sie hat keinen Appetit mehr. Sie steht auf, wirft das Sandwich in den Müll und tritt hinaus in den kalten, sonnigen Tag. Der Himmel ist wolkenlos, doch die Sonne hat kaum Kraft. Georgie zittert vor Kälte, als sie sich eilig auf den Weg zurück in die Bibliothek macht. Sie hat keine Ahnung, wie sie sich den Rest des Tages konzentrieren soll, aber vielleicht ist die Arbeit auch eine willkommene Ablenkung, bis es endlich sieben Uhr ist.
Zumindest hofft sie das.
Es war ein langer, qualvoller Tag, doch jetzt ist es endlich so weit. Matt hat erneut angeboten, sie zu begleiten, aber Georgie weiß, dass sie es allein durchziehen muss. Hoffentlich versteht er es und denkt nicht, dass sie ihn ausschließt. Obwohl sie in gewisser Weise genau das tut.
Sie fährt die dunklen, unbeleuchteten Straßen entlang in Richtung Norwich, ihre Gedanken rasen. Sie hat so viele Fragen an die Menschen, die in gewisser Weise ein Teil von ihr sind. Ihr ist bereits bei dem letzten Treffen klar gewesen, dass Kimberleys Zustand nicht gerade stabil und der Grat zwischen der Normalität und einer Depression für sie sehr schmal ist. Wie oft hat sie die Grenze wohl schon überschritten, bevor man sie wieder auf die helle Seite gezerrt hat? Und haben die schrecklichen Erlebnisse die Krankheit ausgelöst, oder hat sie immer schon in ihr geschlummert?
Georgie denkt an Margaret und den Zorn, der sich in ihrem schmächtigen Körper festgesetzt hat, wo er sich über die Jahre verhärtet hat. Und an Sam, ihren Zwillingsbruder, mit dem sie sich auf so unerklärliche Weise verbunden fühlt wie mit niemandem sonst – nicht einmal mit Kate. Es hat sich so richtig und gut angefühlt, in seiner Nähe zu sein, und sie will ihn unbedingt richtig kennenlernen. Erfahren, was er mag und was nicht, und was er sich erhofft und erträumt. Sie will wissen, wie es war, so viele Jahre im Schatten einer verloren geglaubten Schwester zu leben.
Georgie erschaudert, obwohl die Heizung voll aufgedreht ist, denn ihr ist gerade klar geworden, dass ihre Familie vermutlich auch mehr über sie erfahren will. Was, wenn sie sich als Enttäuschung entpuppt?
Sie parkt in der Straße vor dem Haus, bleibt aber noch einen Augenblick im Auto sitzen und atmet tief durch. Sie schafft das! Sie hat gar keine andere Wahl.
Langsam steigt sie aus, geht mit wackeligen Knien zur Haustür und klingelt. Sie hat das Gefühl, als würde sie neben sich stehen. Als wäre sie gar nicht hier, sondern würde sich nur von der Ferne aus beobachten. Ein Schatten erscheint hinter dem marmorierten Glas, und sie kneift die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, um wen es sich handelt.
Die Tür schwingt auf, und sie steht vor ihrem männlichen Ebenbild. Ihr Bruder lächelt, er sieht ihr noch ähnlicher, als sie es in Erinnerung hat. Wie ist es möglich, dass er sie damals nicht gleich erkannt hat? Andererseits hatte er ja auch nicht mit ihr gerechnet.
Sie starren einander einen Augenblick an, dann macht Sam plötzlich einen Schritt auf sie zu, schlingt die Arme um ihre Schultern und zieht sie ungelenk an sich. Es kommt vollkommen unerwartet, doch es fühlt sich richtig an, weshalb sie seine Umarmung erwidert. Als er sich von ihr löst, ist sein Gesicht knallrot, und er hat den Blick gesenkt.
»Komm rein!« Sie folgt ihm in die enge Küche an der Hinterseite des Hauses. »Setz dich doch! Ich sage Mum und Grandma Bescheid, dass du da bist.«
Georgie lässt sich nervös am Tisch nieder und sieht sich um. Viele Details sind ihr beim letzten Mal gar nicht aufgefallen. Die Küchenmöbel sind ziemlich alt, in den Ecken ist die Wandfarbe abgeblättert, einige Fliesen sind gesprungen, doch es sieht heute sauberer aus. Als hätte sich jemand eigens für sie Mühe gegeben. Sie ist irgendwie gerührt. Auf der Arbeitsplatte steht ein Teller mit Plätzchen, und Georgie lächelt. Man kauft keine Plätzchen für ungebetene Gäste.
Sie nimmt eine Bewegung hinter sich wahr und dreht sich um. Es sind Sam und Kimberley. Kimberley hat die Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengefasst, sodass ihr Gesicht noch schmäler wirkt und die Falten auf ihrer Stirn und um die Lippen betont werden. Trotzdem sieht man deutlich, dass sie sich bemüht hat. Sie trägt ausgeblichene schwarze Jeans und einen grauen Pullover, der sich an ihren schlanken Körper schmiegt. Sie wirkt jünger als bei Georgies erstem Besuch. Sie lächelt unsicher.
Georgie steht auf und streckt Kimberley die Hand entgegen. Es ist eine viel zu formelle Begrüßung, aber ihre leibliche Mutter ist noch eine Fremde für sie. Sie hat im Grunde keine Ahnung, wie sie sich verhalten soll. Kimberley nimmt Georgies Hand und umklammert sie zitternd. Ihre Hände sind eiskalt und trocken.
»Danke, dass du noch einmal gekommen bist. Es tut gut, dich zu sehen.«
Kimberley geht zum Herd, stellt den Wasserkessel auf und trägt den Teller mit den Plätzchen zum Tisch. »Bitte, bediene dich. Möchtest du Tee?« Sie spricht langsam und bedacht, und Georgie fragt sich, ob sie vielleicht etwas zur Beruhigung genommen hat.
»Tee wäre wunderbar, danke.«
»Oder lieber Kaffee? Ich habe auch Kaffee.« Kimberley greift nach einer Dose mit Instantkaffee, doch Georgie schüttelt den Kopf. »Tee ist in Ordnung, danke.« Sie klingt schrecklich geziert. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis sie sich entspannt.
Sie setzt sich wieder und wippt unter dem Tisch nervös mit den Beinen, während Kimberley durch die Küche huscht und Tee zubereitet. Seltsamerweise erinnert Kimberley Georgie an ihre Mutter. An Jane. Sie ist genauso nervös, und es fällt ihr offenbar schwer stillzuhalten, wenn sie unsicher ist.
Georgie hätte Kimberley am liebsten gesagt, dass sie sich beruhigen soll. Dass sie es ihr nicht unnötig schwermachen und ihr keine Fragen stellen wird, die sie nicht beantworten will. Sie will Kimberley nur besser kennenlernen. Doch sie bringt kein Wort heraus, weshalb sie geduldig wartet und zusieht, wie Sam sich ihr gegenüber niederlässt und sich ein ganzes Plätzchen auf einmal in den Mund stopft. Er wischt die Krümel vom Tisch und hebt entschuldigend die Augenbrauen.
Endlich setzt sich auch Kimberley zu ihnen. Sie verschüttet etwas Tee, als sie die Becher auf dem Tisch abstellt. Sie sitzen einander eine Weile schweigend gegenüber und nippen an dem brühend heißen Getränk. Georgie hebt den Becher und lässt ihre Wangen von dem aufsteigenden Dampf wärmen, sodass ihr Gesicht wie im Nebel verschwindet.
Sam ergreift als Erster das Wort. »Also … Seit du das letzte Mal hier warst, reden wir von nichts anderem mehr. Dürfen wir … Wäre es okay, wenn wir dir ein paar Fragen stellen?« Seine Stimme zittert, und er wirft Kimberley einen fragenden Blick zu, die kaum merklich nickt.
»Ja, natürlich. Aber ich weiß im Grunde nicht viel darüber, was damals passiert ist. Ich habe es ja erst vor Kurzem herausgefunden.«
Sam schüttelt den Kopf. »Nein, darum geht es nicht. Wir wollen einfach mehr über dich erfahren. Du weißt schon, wie dein Leben bis jetzt verlaufen ist. Wie du so bist. Ich würde zum Beispiel gern wissen, ob wir etwas gemeinsam haben. Ich habe ja außer dir keine Geschwister.« Er bricht ab, und die Worte bleiben ihm im Hals stecken, als er sich ihrer Bedeutung plötzlich bewusst wird. »Entschuldige. Ich sollte nicht so viel reden …«
»Ist schon okay. Das tust du nicht. Ehrlich gesagt gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin mit Mum und meiner Schwester Kate aufgewachsen.« Georgies Herz wird schwer, als sie ihre Schwester erwähnt. Sie vermisst sie. »Sie ist zweieinhalb Jahre älter als ich und war lange Zeit meine einzige Freundin. Und dann gab es da auch noch Tante Sandy, die nicht wirklich meine Tante ist, sondern eine Freundin unserer Mutter. Sie war immer für mich da. Für uns, meine ich. Mum …« Georgie wirft einen Blick auf Kimberley, um zu sehen, wie sie auf dieses Wort reagiert, doch Kimberleys Gesicht gleicht einer Maske. Sie starrt auf einen Punkt an der Wand hinter Georgie. Vielleicht hört sie gar nicht zu, sondern ist an einem vollkommen anderen Ort, an dem sie sich nicht mit der Tochter herumschlagen muss, die sie vor so vielen Jahren verloren hat. An einem Ort, an dem es keine Probleme gibt. Georgie spricht trotzdem weiter, denn sie spürt, dass Sam sie ganz genau beobachtet. »Mum wollte nicht, dass wir unsere freie Zeit mit anderen Kindern verbrachten, also waren Kate und ich meistens allein. Wir sind nie fortgefahren oder haben etwas unternommen. Tatsächlich war ich noch nie im Ausland oder weiter weg im Urlaub – deshalb habe ich ja überhaupt erst nach meiner Geburtsurkunde gesucht. Ich wollte einen Reisepass beantragen. Meinen Dad habe ich nie kennengelernt. Er starb vor meiner Geburt, und es gibt nur wenige Fotos von ihm. Aber jetzt habe ich Matt – wir sind nicht verheiratet, jedoch seit der Schulzeit zusammen. Wir haben eine Tochter. Clementine. Sie ist elf.«
Georgie verstummt. Ihr wird klar, dass sie gar nicht lange geredet hat. Trotzdem ist sie beinahe mit ihrem Leben durch. Ist es wirklich so langweilig?
Sie hebt den Blick und sieht, dass Sam sie mustert. Was sieht er wohl in ihr, wenn er sie ansieht? Sie fährt sich verlegen durch die Haare.
»Dann habe ich also eine Nichte?« Sam lächelt, und Georgie nickt. »Ja. Sie ist … sie ist toll. Sie weiß allerdings nichts von alldem. Noch nicht. Ich bin noch nicht bereit, mit ihr zu reden. Aber ich werde es tun – jetzt, da ich euch gefunden habe.« Sam nickt. »Und was ist mit dir? Hast du jemanden? Wo arbeitest du?« Sie will auch alles über ihn erfahren.
Sam schüttelt den Kopf. »Ich bin allein. Abgesehen von Mum und Grandma natürlich.« Er lächelt müde. »Ich bin nie ausgezogen, und die Frauen mögen es nicht sonderlich, wenn ein Mann noch bei seiner Mutter wohnt.« Sein Lächeln ist nun traurig, und er presst die Handflächen aufeinander, sodass die Knöchel weiß hervortreten. »Ich arbeite an der Tankstelle die Straße hinunter. Das bringt mich über die Runden.« Er atmet tief durch. »Ehrlich gesagt war es hart. Ziemlich hart sogar. Mum ist nie darüber hinweggekommen, dass sie ihr Baby verloren hat. Dich, meine ich.« Er wirft einen Blick auf Kimberley. Sie hat die Lippen zusammengepresst, als könnte sie ihre Gefühle nur mit Mühe zurückhalten. Doch der Schmerz in ihren Augen ist nicht zu übersehen, und Georgies Herz wird schwer. Wie konnte ihre Mum – Jane – einer anderen Frau so viel Leid zufügen und gleichzeitig so wenig Reue zeigen? Sie versteht es einfach nicht. »Mum hat nichts dagegen, dass ich dir die Wahrheit sage. Sie hat die meiste Zeit meines Lebens unter schweren Depressionen gelitten. Deshalb gab es oft nur mich und Grandma.« Er legt seine Hand auf Kimberleys zur Faust geballte. »Ich weiß, dass Mum mich liebt, aber es ist, als wäre ein Teil ihres Herzens damals mit dir verschwunden, und sie hat ihn nie wiedergefunden. Diese fürchterliche Geschichte hat einen Schatten auf unser ganzes Leben geworfen. Und das hier« – er deutet auf sie alle –, »dass du hierhergekommen bist, dass es dich überhaupt gibt – das hat uns irgendwie aus der Bahn geworfen.« Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht und atmet tief durch. »Wem mache ich hier eigentlich etwas vor? Es hat unsere Familie tief erschüttert, um ehrlich zu sein.«
»Mein Gott, es tut mir so leid! Ich wollte nicht …«
»Es ist nicht deine Schuld. Nichts davon. Jedoch auch nicht unsere. Und unsere Familie hat am meisten gelitten.« Er bricht ab und starrt an die Wand. »Ich habe meinen Dad auch nie kennengelernt. Er hat sich davongemacht. Die meiste Zeit hatte ich allerdings auch keine Mutter. Wegen dem, was deine Mutter getan hat. Und das ist nur schwer zu verkraften. Ich weiß nicht, ob ich es jemals schaffe.«
Georgie seufzt leise. »Ich versuche zu verstehen, was du durchgemacht hast. Ich fühle mich total verloren und entwurzelt, seit ich es herausgefunden habe. Es ist erst gut eine Woche her, dennoch habe ich das Gefühl, als wäre seit damals ein ganzes Leben vergangen. Ich habe versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden, aber … ich habe nicht viel aus ihr herausgebracht.«
Kimberleys Kopf fährt hoch. »Warum nicht? Meiner Meinung nach hat sie uns eine Menge zu erklären!«
Ihre Stimme klingt unerwartet hartherzig, und Georgie fragt sich, was sich wohl hinter der ruhigen, emotionslosen Fassade verbirgt. Wut, ein gebrochenes Herz – und was noch? Eine schwere psychische Erkrankung vermutlich.
Sie atmet tief durch. »Es ist kompliziert. Meiner Mutter geht es nicht gut. In den letzten Wochen – oder besser gesagt Monaten – wurde sie immer verwirrter. Sie vergisst viel und wird oft grundlos zornig. Wir warten noch auf die offizielle Diagnose, aber es ist ziemlich sicher Alzheimer. Wir machen uns große Sorgen um sie. Ich kann im Moment nicht mit ihr reden, zumindest nicht, wenn ich mir auch Antworten erhoffe. Außerdem ertrage ich es nicht, ihr gegenüberzutreten. Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll. Es ist, als hätte man mir meine Kindheit gestohlen – und sie ist schuld daran. Viel schlimmer ist jedoch, dass ich auch meine Schwester Kate verloren habe.« Ihre Stimme bricht, und sie senkt den Blick.
»Und ich habe meine Schwester wiedergefunden«, erklärt Sam sanft. Als Georgie aufsieht, lächelt er verlegen. »Ich kann nichts dagegen tun, aber ich bin irgendwie froh, dass es deiner Mutter schlecht geht. Wir haben so lange gelitten – und meine Kindheit wurde mir ebenfalls gestohlen. Noch bevor sie überhaupt begonnen hatte.« Er zuckt mit den Schultern. »Tut mir leid, wenn das zu hart klingt.«
»Nein, ich verstehe das. Wirklich.« Georgie spielt nervös mit dem Gurt ihrer Handtasche.
Auf einmal dringt ein Klappern aus dem Obergeschoss und Bodendielen knarren. Georgie fällt erst jetzt auf, dass Margaret nicht da ist.
Sam merkt ihren fragenden Blick und sieht zur Tür. »Grandma war sich nicht sicher, ob sie dich sehen will. Aber sie wird sich irgendwann beruhigen. Sie hat Angst, dass sie ihren Zorn nicht unter Kontrolle hat. Noch nicht.«
Laut der Uhr auf dem Küchenherd ist es erst halb acht, doch Georgie hat das Gefühl, schon eine Ewigkeit in dieser Küche zu sitzen. Sie hat keine Ahnung, wie lange sie es noch aushalten wird. Ihr wird ein wenig übel. Die Wände scheinen immer näher zu kommen, und die Decke senkt sich ab, während ihre Lunge sich zusammenzieht, bis sie keine Luft mehr bekommt. Sie stemmt die Füße in den Boden, aber es ist sinnlos. Die Welt kippt, und Georgie klammert sich am Tisch fest. Im nächsten Augenblick sackt sie vornüber und fällt. Immer tiefer und tiefer …
Georgie öffnet die Augen und blinzelt. Das helle Licht der Neonröhre über ihrem Kopf blendet sie. Sie liegt auf dem Rücken auf einem kalten Fliesenboden und hat einen Moment lang keine Ahnung, wo sie ist. Doch da taucht ein vertrautes Gesicht auf, und alles ist wieder da. Das Entsetzen packt sie von Neuem, und sie versucht panisch, sich aufzusetzen.
»Was ist passiert?«
»Mach lieber langsamer!« Sam kniet neben ihr, seine Hand liegt auf ihrem Arm. »Du bist in Ohnmacht gefallen. Jetzt ist alles wieder gut.«
Georgie legt sich eine Hand auf die Stirn. Sie schwitzt, obwohl es ziemlich kalt ist. »Mein Gott, das ist mir ja noch nie passiert. Ich … ich habe keine Luft mehr bekommen.«
»Du hattest eine Panikattacke. Ich kenne das.«
Kimberley steht auf der anderen Seite des Zimmers und lehnt sich an die Arbeitsplatte. Ihre Stimme klingt so ausdruckslos, als wäre sie ein Roboter und würde die Worte irgendwo ablesen. Georgie fragt sich erneut, was sie wohl genommen hat. Und wie viel.
Sie stemmt sich hoch und steht verlegen mitten in der Küche.
»Es tut mir wirklich leid. Ich glaube, es war wohl alles zu viel.« Sie nimmt ihre Tasche.
»Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen.« Sam zuckt mit den Schultern. »Wir könnten uns das nächste Mal woanders treffen. An einem neutralen Ort. Das klingt wie im Krieg, aber ich glaube, du weißt, was ich meine.«
Georgie nickt. »Ja, ich sollte jetzt wirklich gehen. Wie wär’s mit morgen?«
Sie sieht Kimberley und Sam fragend an, doch Kimberley starrt aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus.
»Tut mir leid wegen Mum. Sie hat etwas zur Beruhigung genommen, dadurch wirkt sie so abwesend. Wir können uns gern morgen treffen.« Sam sieht zu seiner Mutter hinüber, die immer noch nicht reagiert. »Sie wird sicher mitkommen.«
»Okay. Wollt ihr vielleicht zu mir kommen?«
Sam schüttelt den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin. Es gibt da ganz in der Nähe ein kleines italienisches Restaurant. Mario’s.« Er deutet aus dem Fenster. »Es ist nichts Besonderes, aber wir könnten uns zum Mittagessen treffen. Vielleicht ist es einfacher, wenn wir während des Gespräches noch etwas anderes zu tun haben …«
Er lächelt matt, und Georgie erwidert sein Lächeln. Es gefällt ihr, dass er immer sagt, was er denkt. Sie weiß gern, woran sie ist.
»Okay.« Sie streckt die Hand aus, und er ergreift sie verlegen, bevor er sich an seine Mutter wendet. »Mum, Georgie geht jetzt. Willst du dich verabschieden?«
Kimberley dreht langsam den Kopf und runzelt die Stirn. »Du willst schon wieder los?«
»Ja, tut mir leid. Ich fühle mich nicht so gut. Aber vielleicht … sehen wir uns morgen.«
Kimberley legt den Kopf schief und zuckt kaum merklich mit den Schultern. »Ja, vielleicht. Danke, dass du gekommen bist.«
Ihre emotionslosen Augen sehen direkt durch Georgie hindurch, ihre Stimme klingt, als würde sie absichtlich Abstand halten, um sich zu schützen.
Georgie ist froh, als sie schon wenige Minuten später den schmalen Weg vom Haus zum Auto entlanggeht und schließlich einsteigt. Sie hat sich darauf gefreut, ihre Familie besser kennenzulernen und mehr über ihre Mutter, ihren Bruder und ihre Großmutter zu erfahren, doch mittlerweile ist ihr klar geworden, dass es nicht so einfach werden wird, wie sie es sich erhofft hat. Ihre Familie ist am Boden zerstört. Sam scheint – zumindest auf den ersten Blick – okay, aber Kimberley balanciert am Abgrund, und Margaret ist so wütend, dass sie ihre Enkelin nicht einmal sehen will. Vielleicht hat sie tatsächlich einen Fehler gemacht. Kate hatte recht. Vielleicht hätte sie sich von ihnen fernhalten sollen.
Nein, das wäre unmöglich gewesen. Sie kann nicht den Rest ihres Lebens in dem Wissen verbringen, dass es da eine Familie gibt, in die sie in Wahrheit gehört. Es wäre, als würde sie eine Lüge leben, und sie würde sich bei jeder Begegnung mit anderen fragen, ob diese Frau vielleicht ihre Mutter und dieser Mann ihr Bruder ist.
Georgie wirft noch einen letzten Blick auf das Haus, bevor sie losfährt. Am Schlafzimmerfenster steht eine Gestalt und beobachtet sie. Margaret. Die Alte zuckt nicht zurück, als sie merkt, dass Georgie sie entdeckt hat, und die beiden Frauen mustern einander herausfordernd. Dann wendet Georgie den Blick ab, startet den Motor und fährt los. Es fühlt sich an, als würde die alte Frau ein Loch in ihren Rücken starren.
Es wird nicht einfach werden, Margaret für sich zu gewinnen.
Georgie ist etwas zu früh dran und entscheidet sich für einen Vierertisch, obwohl sie keine Ahnung hat, wer kommen wird. Sie nippt an ihrem Wasser und lässt die Tür nicht aus den Augen. Jedes Mal, wenn sie sich öffnet, zuckt sie zusammen, und ihr Herz pocht, bis ihr klar wird, dass es sich nicht um ihre Familie handelt. Sie hat Angst, und ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Sie will nur, dass irgendjemand kommt. Damit das Warten endlich ein Ende hat.
Sie hat lange über den vergangenen Abend nachgedacht und ist fest entschlossen, dass es heute besser laufen wird. Sie will herausfinden, was für Menschen Samuel, Kimberley und Margaret sind und was hinter der Tragödie steckt, die vor so vielen Jahren über sie hereinbrach. Und sie gibt unumwunden zu, dass sie sich wünscht, dass ihre Familie sie mag. Vor allem Sam.
Sie fällt beinahe vom Stuhl, als das Glöckchen über der Tür erneut klingelt und Sam mit hängenden Schultern das Restaurant betritt. Sie stellt enttäuscht fest, dass er allein gekommen ist. Der Kellner deutet auf ihren Tisch, und Georgie nutzt die wenigen Sekunden, in denen Sam auf sie zukommt, um ihn zu mustern. Er trägt eine Mütze und eine dicke Jacke und hat sein Gesicht tief im Mantelkragen vergraben. Sein Blick wirkt unsicher. Er lässt sich ihr gegenüber nieder.
»Hi!«
»Hallo!« Sie sieht zur Tür. »Du bist allein?«
Er zieht seine Mütze vom Kopf, steckt sie sich in die Tasche und schlüpft aus seinem Mantel. »Nein, Grandma kommt nach.« Ein ungutes Gefühl steigt in Georgie hoch, als sie an die alte Frau denkt. »Ich habe mich gestern Abend lange mit ihr unterhalten und ihr erklärt, dass du uns einfach besser kennenlernen willst, und da hat sie sich ein wenig beruhigt. Du musst nachsichtig sein. Sie war die letzten Jahre so fruchtbar erbittert, das lässt sich nicht von einem Moment auf den anderen abstellen.«
»Ich weiß. Das verstehe ich. Wirklich.«
»Mum kommt nicht, tut mir leid. Sie hat eine ihrer Phasen. So nennt es Grandma immer. Sie hat sich vollkommen in sich zurückgezogen, will mit niemandem reden und auch niemanden sehen. Nicht mal mich. Es ist vermutlich der Schock.«
»O Gott, ich bedaure das so sehr, Sam! Ich wollte keinen Ärger machen. Das verstehst du doch, oder?«
Er nickt. »Ja. Es gibt keine bessere Art, eine solche Situation zu klären. Nicht wirklich. Ich hätte es genauso gemacht.«
Georgie ist dankbar für Sams Verständnis, auch wenn es ihre Schuldgefühle nicht mindert. Sam fährt fort: »Aber Mum wird wieder. In ein paar Tagen hat sie es überstanden. Das ist jedes Mal so. Sie will dann sicher noch mal mit dir reden.«
Georgie nickt und faltet ihre Serviette zweimal, bevor sie sie auf dem Tisch glattstreicht. Sie hebt den Blick und sieht ihrem Bruder in die Augen.
Ihrem Bruder. Sie hat dieses Wort ihm gegenüber noch nie ausgesprochen. Es fühlt sich immer noch seltsam an.
»Also, worüber willst du dich heute unterhalten? Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Ich weiß, was du meinst. Es gibt so viel zu sagen, dass es irgendwie einfacher wäre zu schweigen, oder?«
Georgie nickt. »Genau! Aber du hast da bei unserem ersten Treffen etwas gesagt. Nämlich, dass du dir manchmal gewünscht hast, ich wäre nie geboren worden …«
»O Gott, Georgie! Das hat sicher schrecklich geklungen.«
»Nein, hat es nicht. Ich meine, zuerst schon. Ich habe jedoch lange darüber nachgedacht, und es ist verständlich, dass du manchmal dieses Gefühl hattest. Das hätte jeder. Ein verschwundenes Kind nimmt einfach mehr emotionalen Raum ein als das Kind, das zurückbleibt.«
Sam nickt. »Ja, genau so ist es. Wenn es Mum gut genug ging, dass sie sich auch wirklich wie eine Mum verhielt, war sie trotzdem mehr als die Hälfte der Zeit in Gedanken bei ihrer verschwundenen Tochter – bei dir –, und für mich blieb kaum etwas übrig. Als wäre ich weniger wichtig gewesen, weil ich da war. Und wenn sie eine ihrer Phasen hatte, wäre es ihr nicht mal aufgefallen, wenn ich ebenfalls verschwunden wäre.« Er bricht ab und fährt mit dem Finger über den Rand des leeren Glases. »Trotzdem habe ich es nicht ernst gemeint. Ich habe mich ständig gefragt, ob du wohl noch am Leben bist und falls ja, ob wir uns ähneln. Und jetzt, da wir uns kennengelernt haben, ist es echt unglaublich, Georgie! Es fühlt sich so richtig an, mit dir zusammen zu sein. Klingt das verrückt?«
Das Licht im Restaurant ist gedämpft, aber Georgie sieht, dass Sam rot geworden ist.
»Nein, überhaupt nicht«, erklärt sie leise. »Mir geht es genauso.«
Einen Moment lang sitzen sie einfach da und hängen ihren Gedanken nach, ohne einander anzusehen. Eine Bewegung reißt sie schließlich aus ihrer Starre. Es ist der Kellner.
Sie bestellen eine Karaffe Hauswein und einen Korb Brot. »Hoffentlich kommt Grandma bald. Ich bin am Verhungern.«
»Ich auch.« Georgie hebt den Blick. »Erzähl mir doch von deinem Vater. Von unserem Vater. Was weißt du über ihn?«
Sams Gesichtszüge verhärten sich einen Moment lang, doch dann ist der Ausdruck auch schon wieder verschwunden. Seine Stimme klingt jetzt allerdings kühler. »Wir reden nicht über ihn. Das haben wir nie. Mum weigert sich kategorisch, und Grandma meint, er sei es nicht wert.«
»Du weißt also überhaupt nichts über ihn?«
Sam schüttelt den Kopf. »Nur dass es ein One-Night-Stand war. Und als er erfuhr, dass Mum schwanger ist, wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Grandma nennt ihn einen Loser. Er war noch sehr jung damals. Er ist vermutlich untergetaucht, weil er höllische Angst hatte.« Sam hält einen Moment lang inne und denkt nach. »Es war irgendwie seltsam. Denn als du entführt wurdest, hat die Polizei zunächst die Schwester unseres Vaters verdächtigt. Sie ist wohl etwas älter als er und ein wenig verrückt. Man hat auf jeden Fall keine Beweise gefunden, und irgendwann wurde der Fall zu den Akten gelegt. Nur in unserer Familie nahm die Geschichte kein Ende. Mum hat wohl nie die Hoffnung aufgegeben, dass sie dich eines Tages wiedersehen wird.«
»Hast du jemals darüber nachgedacht, dich auf die Suche nach deinem Dad zu machen?«
»O Gott, nein! Sicher nicht!«
»Oh.«
Sams Kopf fährt hoch. »Was soll das heißen?«
Georgie sieht ihm in die Augen. »Nichts, ich glaube nur, dass …«
»Was?«
»Ich glaube, ich würde wissen wollen, wer mein Dad ist.« Sie hält inne, denn ihr ist durchaus bewusst, dass sie sich hier auf gefährliches Terrain begibt. »Ich habe meinen Dad nie kennengelernt – oder besser den Mann, von dem ich dachte, er wäre mein Dad. Er starb vor meiner Geburt. Aber ich hätte alles getan, um meinen Vater ausfindig zu machen, wenn ich gewusst hätte, er lebt noch.«
»Und du glaubst, weil unser Vater am Leben ist, ist er es wert, ihn kennenzulernen?«, fragt Sam höhnisch.
Georgie hätte am liebsten alles zurückgenommen und noch einmal von vorne begonnen. Dann hätte sie sich vielleicht besser ausgedrückt.
»Na ja, vielleicht …«
»Nein! Auf keinen Fall! Er wollte nichts mit uns zu tun haben. So einfach ist das. Ich habe Mum und Grandma, und mehr brauche ich nicht. Mehr habe ich nie gebraucht.« Sams Stimme wird weicher und sein Blick wärmer. »Und jetzt habe ich auch noch dich. Ich habe eine Schwester. Wozu brauche ich einen Vater?«
Georgie muss unwillkürlich an Kate denken. Wäre sie doch nur hier, würde sich mit Sam unterhalten! Aber Georgie ist sich bewusst, dass sie sich durch die Nähe zu ihrer neuen Familie von den Menschen entfernt hat, die sie liebt und die sie bisher geliebt haben. Sie kann nur hoffen, dass Kate ihr eines Tages verzeihen wird. Dass sie versteht, warum sie das alles tun musste, und sie wieder an sich heranlässt. Georgie will Kate nicht verlieren, denn auch wenn sie nicht blutsverwandt sind, wird sie immer ihre große Schwester bleiben.
»Georgie? Alles okay? Du bist so blass.«
»Tut mir leid, ich habe nur an Kate gedacht.«
»An deine Schwester?« Georgie nickt. »Sie ist nicht glücklich damit, dass du uns ausfindig gemacht hast.«
»Nein, das ist sie nicht. Sie meint, ich solle mich besser von euch fernhalten und … egal. Sie wird sich schon beruhigen.« Georgie hat natürlich keine Ahnung, ob sich alles zum Guten wenden wird, sie kann es nur hoffen. »Reden wir von etwas anderem.«
Der Wein wird serviert, und Sam schenkt ihnen beiden ein. Georgie nimmt einen großen Schluck. Sie tupft sich mit der Serviette den Mund ab und lacht. »Das tut gut.« Sam macht es ihr nach. Anschließend stellt er sein Glas schwungvoll wieder ab.
»Ganz deiner Meinung!«, sagt er.
Sie lächeln sich an und entspannen endlich ein wenig.
»Ist hier noch Platz für eine alte Frau?«
Eine raue Stimme reißt Georgie aus ihren Gedanken, und ihr Blick fällt auf Margaret, die sich auf den Stuhl neben Sam sinken lässt.
»Hi, Grandma.« Sam drückt ihr einen Kuss auf die Wange, doch Margaret hat nur Augen für Georgie.
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme. Habe ich viel verpasst?«
Sie ist ein wenig außer Atem, obwohl das Restaurant gleich um die Ecke von ihrem Zuhause ist. Der Kellner bringt ein weiteres Glas und schenkt ihr ein. Sie nimmt einen großen Schluck.
»Vorsichtig, Grandma!« Sam wendet sich an Georgie. »Sie trinkt nicht viel. Alkohol verträgt sich nicht mit ihren Herztabletten.« Margaret wirft ihm einen Blick zu, und er verdreht die Augen. »Aber sie hört nie auf mich.«
»Ich trinke nur ein Glas, Sam. Mach kein Drama.«
Sam betrachtet das mittlerweile bereits halb leere Glas und zuckt hilflos mit den Schultern.
»Redet ruhig weiter, ihr zwei. Ich sitze einfach da und höre zu.«
Doch Margarets Ankunft hat Georgie aus dem Konzept gebracht, und die Leichtigkeit, die langsam in dem Gespräch Einzug gehalten hat, verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist.
Georgie nippt ebenfalls an ihrem Glas, um die Verlegenheit zu überspielen.
»Wir haben über … alles Mögliche gesprochen.«
»Und das heißt?«
»Na ja, über die Familie. Es gibt ja einiges zu erzählen.«
»Was du nicht sagst.«
Margaret steckt sich ein Stück Brot in den Mund, und Georgie nutzt die paar Sekunden, um tief durchzuatmen. Sie wird sich von dieser Frau nicht einschüchtern lassen.
»Wir haben gerade von unseren Vätern gesprochen«, erklärt sie mit hoch erhobenem Kopf und sieht Margaret direkt in die Augen. »Ich meinte, ich hätte meinen gern kennengelernt, und habe Sam gefragt, ob er sich eigentlich einmal auf die Suche nach seinem Dad gemacht hat. Immerhin ist er ja auch mein Dad, deshalb dachte ich …«
Sie bricht ab. Ihr Mut schwindet, als sie den Gesichtsausdruck der alten Frau sieht.
Margaret lässt das Stück Brot fallen, das sie gerade essen wollte, und stellt das Weinglas heftig auf dem Tisch ab.
»Nein, das hat er nicht! Und das wird er auch nie, nicht wahr, Sam?«, zischt sie, und obwohl Sam ähnlich reagiert hat, ist Georgie überrascht, wie viel Unmut dieses Thema in Margaret auslöst. Die alte Frau wendet sich an sie. »Und du, junge Dame, kommst besser gar nicht erst auf die Idee, dich auf die Suche nach ihm zu machen! Die Tatsache, dass du plötzlich wieder da bist, hat Kimberley erneut zurückgeworfen. Ich komme damit klar. Trotzdem kannst du nicht alles noch schlimmer machen, indem du drohst, nach diesem … Abschaum zu suchen!« Sie speit Georgie die Worte regelrecht entgegen. »Ich will diesen Kerl nie wiedersehen. Niemals!«
Sie leert ihr Glas und schenkt sich nach. Georgie beobachtet sie schweigend, und niemand erhebt Einwand, als Margaret den Kellner an den Tisch winkt und noch eine Karaffe Hauswein bestellt.
Die Unterhaltung, die auf diesen Ausbruch folgt, wirkt seltsam gezwungen. Auch als das Essen kommt, und sie ein wenig abgelenkt sind. Georgie versucht, höflich zu sein, obwohl sie sich maßlos darüber ärgert, wie Margaret mit ihr gesprochen hat. Und zwar vollkommen grundlos. Sie will einfach mehr über ihre Familie herausfinden. Erst als Margaret auf die Toilette verschwindet, entspannen Sam und Georgie sich wieder ein wenig.
»Georgie, Grandma ist nicht absichtlich so … aggressiv. Sie hat halt eine Menge durchgemacht. Das haben wir alle. Sie würde alles dafür tun, um uns zu beschützen.«
»Ich weiß. Aber … ich habe es nicht verdient, dass man so mit mir redet.«
»Nein, das hast du nicht, und ich werde sie noch darauf ansprechen. Sie trinkt eigentlich nie, wie ich schon sagte, und hatte zu viel Wein, weshalb jetzt vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist.« Er wirft einen Blick auf die Uhr. »Ich sollte sie nach Hause bringen, damit sie ihren Rausch ausschlafen kann. Mum bringt mich um, wenn ich zulasse, dass sie noch mehr trinkt.«
»Okay.« Georgie schiebt den Rest ihres Essens von einem Tellerrand zum anderen. Sie hat keinen Appetit mehr.
»Ich werde mit ihr reden. Und sie wird sich beruhigen. Versprochen. Gib ihr bitte etwas Zeit.«
Sie verstummen, als Margaret zurück an den Tisch kommt, die Stimmung wird schlagartig düsterer.
»Wir sollten zahlen und dich nach Hause bringen«, meint Sam.
»Ich will aber nicht nach Hause! Ich will noch hierbleiben und mich mit Georgie unterhalten.« Margaret lallt ein wenig, und Sam runzelt die Stirn.
»Du hattest schon viel zu viel Wein, Grandma.«
Georgie wendet den Blick ab, sie tut, als würde sie nicht zuhören.
»Ach, das waren doch nur ein paar Gläser.« Margaret nimmt einen weiteren Schluck. »Also … Wir sind zum Reden hier. Dann lasst uns auch reden.«
Sam zuckt hilflos mit den Schultern und lässt sich in seinen Stuhl zurücksinken. Es ist offensichtlich, dass Margaret noch nicht gehen will, und niemand kann ihre Meinung ändern.
»Dann sollten wir vielleicht ein Dessert bestellen«, schlägt Georgie vor. »Und Kaffee?« Sie sieht Sam an.
»Ja, Kaffee ist eine gute Idee!«
Margaret verdreht die Augen. »Ich will keinen verdammten Kaffee. Heute muss gefeiert werden. Ich meine, es ist immerhin schon fast vierzig Jahre her, dass wir dich zuletzt gesehen haben, Louisa …«
»Sie heißt jetzt Georgie, Grandma.«
»Georgie. Louisa. Das ist doch dasselbe.« Margaret nimmt schon wieder einen Schluck und winkt ab. »Es ist jedenfalls verdammt lange her. Und ich will keine Ausflüchte hören. Wir wollen uns näher kennenlernen, also lernen wir uns näher kennen.« Sie knallt das Glas auf den Tisch, und etwas Rotwein schwappt auf das weiße Tischtuch. Georgie wirft Sam einen Blick zu. Er schämt sich in Grund und Boden, doch er sagt nichts, er lässt lieber zu, dass Margaret den Frust loswird, der sich über die Jahre angestaut hat. Georgie fühlt sich unwohl – als würde gleich etwas Schlimmes geschehen. Das hier geht auf keinen Fall gut aus, denkt sie.
Wenn Margaret nicht gehen will, sollte sie es vielleicht tun?
Georgie steht auf, doch Margaret will davon nichts wissen. »Warte! Was hast du vor?«
»Ich wollte nur …« Georgie bricht ab und setzt sich wieder.
»Komm schon. Ich wette, er hat dir noch nicht von Kims Depressionen erzählt, oder? Dass er und ich wochenlang auf uns allein gestellt waren, wenn es ihr wieder mal schlecht ging. Dass sie versucht hat, sich umzubringen. Und dass sie sich jahrelang in den Schlaf geweint hat.« Margarets Blick wandert von Georgie zu Sam. »Nein? Seht ihr, es gibt wirklich viel zu besprechen!« Sie leert ihr Glas und füllt es wieder auf. »Und du« – sie deutet auf Georgie –, »weißt du, warum wir nicht über seinen Vater sprechen? Tut mir leid, über euren Vater? Weil er ein nichtsnutziger Schuft ist, deshalb! Er wollte nichts mehr von Kimberley wissen, als sie schwanger war, und noch weniger, als du entführt wurdest und Kim höllisch litt. Er hat uns allein gelassen. Obwohl … Im Nachhinein betrachtet war es vermutlich das Beste.« Margaret hält inne, und Georgie fragt sich, ob sie bereits genug Dampf abgelassen hat. Doch dann beginnt sie von Neuem, ihre Stimme klingt wutentbrannt. »Und was deine verdammte Mutter betrifft: Ich kann nicht glauben, dass sie tatsächlich die Frechheit besitzt, sich so zu nennen! Es ist schon schlimm genug, das Baby einer anderen Frau zu klauen. Es auch noch zu behalten und sich keine Sekunde lang Gedanken darüber zu machen, welchen Schmerz man damit verursacht, das … Mein Gott …« Die Worte sind wie Schüsse, die vom Tisch abprallen und Georgie mitten ins Herz treffen. »Sie muss dafür bestraft werden.«
»Wie bitte? Was meinst du damit, Grandma?«
Margarets Kopf fährt zu ihrem Enkelsohn herum, bevor sie erneut Georgie fixiert. Ihre Augen sind nur noch schmale Schlitze.
»Ich meine, dass ich zur Polizei gehen werde.«
Georgie schnappt nach Luft.
»Aber Grandma! Wir waren uns doch einig. Du hast gesagt, dass du das nicht tun wirst.«
Margaret richtet den Blick erneut auf ihn, sie schwankt ein wenig. »Ja, das habe ich. Aber mittlerweile habe ich meine Meinung geändert. Warum sollte diese Frau« – sie macht eine ausladende Handbewegung und wirft dabei beinahe ihr Weinglas um – »damit davonkommen? Sie hat unsere Familie zerstört.« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, wir müssen etwas unternehmen.«
Margaret lallt nun richtig, und ihre Augenlider werden schwer. Sie ist müde. Trotzdem kann Georgie nicht einfach ignorieren, was die alte Frau gerade gesagt hat. Ihre Worte sind wie ein Monstertruck, der alles niederwalzen wird.
»Sam? Wird sie wirklich zur Polizei gehen?«, flüstert Georgie, während Margaret in ihrer Handtasche kramt.
Sam schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht.« Er steht auf und schlüpft in seinen Mantel. »Ich muss sie jetzt nach Hause bringen, damit sie ihren Rausch ausschlafen kann. Mum wird mich umbringen, wenn sie herausfindet, wie viel sie getrunken hat.« Er hilft Margaret auf die Beine. »Komm, Grandma! Gehen wir!«
Er dreht sich zu Georgie um. »Es tut mir leid, Georgie. Das war nicht geplant. Ich werde das regeln, versprochen.« Er legt ein paar Geldscheine auf den Tisch, nimmt Margarets Arm und zieht sie mit sich. Georgie sieht ihnen zu, wie sie schwankend auf die Tür zugehen und sie öffnen. Ein kalter Luftzug weht herein, und Sam winkt Georgie ein letztes Mal zu. Sie hebt die Hand, um ihm zu danken, und merkt erst jetzt, dass sie zittert. Im nächsten Augenblick fällt die Tür ins Schloss, und Georgie bleibt allein zurück.