Die nächsten sechs Monate waren das pure Glück. Ich begleitete Ray auf seine Konzerte, und wir hatten Doppeldates mit Sandy und Mal, die immer mehr Zeit miteinander verbrachten. Ich war froh, dass Sandy nun ebenfalls verliebt war, ich fühlte mich so auch weniger schuldig, wenn ich Zeit mit Ray verbrachte. Wir machten Ausflüge mit Rays Motorrad, gingen auf Partys, tranken Bier und aßen Pommes frites am Strand. Ich dachte, es würde ewig so weitergehen.
Natürlich kam es anders. Das ist doch immer so.
Ich hatte Neuigkeiten für Ray, und ich hatte keine Ahnung, wie er sie aufnehmen würde. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal, was ich selbst davon hielt, und ich war vollkommen ratlos, wie ich es ihm beibringen sollte. Ich nahm mir ein paar Tage frei, und eines Tages während des Frühstücks platzte ich einfach damit heraus.
»Ray, ich bin schwanger.«
Er starrte mich über den Resopaltisch voller Frühstückskrümel hinweg an, als suchte er nach einer anderen Bedeutung in dem, was ich ihm gerade gesagt hatte. Mein Herz pochte, und meine Hände zitterten. Ich wagte es nicht, ihm weiter in die Augen zu sehen, denn ich hatte Angst vor dem, was ich womöglich in ihnen entdecken würde. Ich befürchtete, dass uns diese drei kurzen Worte für immer entfremden würden. Ein Baby passte wohl kaum in das Leben, das Ray derzeit führte. Oder besser gesagt: in unser Leben. Ich hatte mich selbst noch nicht an den Gedanken gewöhnt. Immerhin wurde ich in diesem Jahr erst zwanzig.
Ich wartete, während er den Rauch durch die Nase ausstieß und die Zigarette schließlich auf dem Tellerrand ausdrückte. Sein Gesicht glich einer Maske.
»Bist du dir sicher?« Er sprach langsam und bedacht, seine Stimme war ausdruckslos.
Ich nickte. »Ja, ziemlich sicher.«
»Wie sicher?«
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, weil ich auf keinen Fall vor Ray weinen wollte. »Ganz sicher.« Er nickte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie standen ihm kreuz und quer vom Kopf ab, sodass er irgendwie irre wirkte. Sein Blick sprang durch das Zimmer und blieb überall hängen, außer an mir. Er schwieg so lange, dass ich mich langsam fragte, ob er überhaupt noch etwas sagen würde. Schließlich ergriff ich noch einmal selbst das Wort. »Ray? Ray, ist das … okay für dich?« Meine Stimme zitterte, und ich hoffte, dass er es nicht bemerkte.
Endlich hielt sein Blick irgendwo über meiner linken Schulter inne, er starrte durch das Fenster hinaus aufs Meer. Ray sagte immer noch nichts, und ich fragte mich, ob er mich überhaupt gehört hatte.
Als er mir schließlich in die Augen sah, schnappte ich entsetzt nach Luft. Diesen Blick kannte ich nicht. Er wirkte verletzt, verwirrt und … wütend. Ich erkannte ihn kaum wieder, hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.
Ich hatte von Anfang an Angst gehabt, dass Ray irgendwann einmal erkennen würde, dass ich nichts Besonderes war, sondern bloß die alte Jane aus Cromer, und dass er mich daraufhin verlassen würde. In diesem Moment hatte ich zum ersten Mal tatsächlich das Gefühl, dass genau das passieren würde.
Mein Herz setzte aus, als er ruckartig seinen Stuhl zurückschob und aufstand. Er schien den kleinen Raum beinahe auszufüllen, die Luft war plötzlich zu schwer zum Atmen.
»Ich …« Er brach ab und senkte den Blick. Ich wartete darauf, dass er weitersprach. »Es tut mir leid, Jane. Das ist … es ist ein ziemlicher Schock. Ich …« Er hielt erneut inne und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er schien es kaum zu ertragen, mich anzusehen.
»Es ist auch für mich ein Schock«, erwiderte ich leise und hasste mich dafür, dass ich so erbärmlich klang. Ich musste ihm klarmachen, dass er mich in seinem Leben brauchte. Er durfte nicht denken, dass ich nicht auch allein zurechtkam. »Können wir … darüber reden?«
Ray atmete scharf ein, ließ die Luft ruckartig entweichen und stützte sich mit den Händen am Tisch ab. Er wirkte geschlagen.
»Macht es dir etwas aus, wenn wir das auf später verschieben? Ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Allein.«
»Okay. Ja, sicher.«
»Danke, Jane. Wir sehen uns.«
Ray warf mir noch einen letzten Blick zu, bevor er sich abwandte und verschwand. Er polterte die Treppe hinunter, und wenig später fiel die Tür ins Schloss. Ich stand auf und trat ans Fenster. Er stieg gerade auf sein Motorrad, startete und raste davon, hatte sich nicht mal mehr umgewandt. Und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen, spürte ich jetzt, wie mir die Tränen in die Augen schossen und schließlich über meine Wangen liefen.
Das war total schiefgelaufen.
Ich setzte mich wieder an den Tisch und ließ den Tränen freien Lauf. Was, wenn ich ihn nun für immer verloren hatte? Wenn er mich verließ und ich allein klarkommen musste? Würde ich das überhaupt schaffen? Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, der – das bildete ich mir jedenfalls ein – bereits eine leichte Wölbung erkennen ließ. Abgesehen davon deutete nichts darauf hin, dass sich darin ein kleiner Mensch befand.
Aber ich wusste es. Ich spürte es einfach.
»Dann sieht es wohl so aus, als müssten wir beide allein klarkommen, mein Kleines«, flüsterte ich.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und ich lag angezogen auf dem Bett. Es roch nach Rays Shampoo und nach Zigarettenrauch, doch da war auch noch ein anderer vertrauter Geruch, den ich allerdings nicht beschreiben konnte. Ich streckte mich und spürte, wie die Spannung langsam nachließ. Im nächsten Moment kam die Erinnerung zurück und raubte mir beinahe den Atem.
Ich richtete mich auf und sah mich um. War Ray zurückgekommen, während ich geschlafen hatte? Nein, da war nichts. In der Wohnung herrschte absolute Stille. Sandy war im Laden, und ich wollte zu ihr und über alles reden. Ich hatte ihr noch nicht gesagt, dass ich schwanger war, denn ich hatte es unbedingt zuerst Ray erzählen wollen.
Sandy wusste sicher, was jetzt zu tun war. Das tat sie immer. Ich musste warten, bis sie von der Arbeit nach Hause kam.
Ich stand auf, ging in die Küche, kochte mir eine Tasse Tee und setzte mich ans Fenster, starrte hinaus aufs Meer, das im Sonnenlicht funkelte. Normalerweise hätte mich dieser Anblick mit Freude erfüllt, an diesem Tag schien es mir jedoch, als wollte es mich verhöhnen.
Ich ließ den Blick immer wieder auf die schmale Gasse wandern und hoffte, Ray auf seinem Motorrad zu entdecken, der zurückkam, um mir zu sagen, dass es ihm leidtat und dass alles gut werden würde. Dass er bei mir bleiben würde und wir für den Rest unseres Lebens glücklich sein würden.
Doch da war keine Spur von ihm.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nicht raus, für den Fall, dass Ray wiederkam, und in der Wohnung gab es kaum etwas zu tun. Also saß ich einfach so da, hörte Radio, trank Tee und rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis die Küche von blauem Dunst erfüllt war. Ich starrte aus dem Fenster, bis die Sonne schließlich durch das Glas brannte und das Zimmer in einen Backofen verwandelte.
Als sie schließlich langsam hinter den gegenüberliegenden Gebäuden verschwand und lange Schatten in die Gasse und unsere Küche warf, geschah plötzlich ein Wunder.
Jemand klopfte an die Tür. Es war mehr ein Hämmern, und ich lief mit pochendem Herzen die Treppe hinunter, um zu öffnen. Meine Gebete waren erhört worden, denn vor der Tür stand Ray.
Ich hatte sein Motorrad gar nicht gehört, und als ich einen Blick auf die Gasse warf, sah ich, dass es nicht da war. Er merkte mir meine Verwirrung wohl an.
»Ich hatte ein paar Gläser zu viel.« Er lallte kaum merklich, seine Augen glänzten. »Da hab ich mich herfahren lassen.«
Er stolperte auf mich zu, und ich nahm ihn am Arm und führte ihn nach oben in die Küche. Jetzt roch ich den Alkohol in seinem Atem und den abgestandenen Rauch, der sich mit dem Geruch von fremdem Parfüm mischte. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, wo er gewesen war und mit wem. Wichtig war nur, dass er zu mir zurückgekommen war.
Wir ließen uns auf den beiden Stühlen nieder, auf denen wir ein paar Stunden zuvor schon gesessen hatten. Er schwieg und starrte mich nur mit einem verlegenen Lächeln an, bis ich begann, mich unwohl zu fühlen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also wartete ich darauf, dass er den Anfang machte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er schließlich etwas vor sich hinmurmelte.
»Wie bitte?«
Er versuchte es noch einmal. »Es tut mir schrecklich leid, Jane. Ich … ich liebe dich.«
Es mag erbärmlich klingen, aber das war alles, was ich hören musste. Ich sprang auf, schlang meine Arme um ihn und warf ihn dabei beinahe vom Stuhl. Er hielt mich fest und saß eine Weile leicht schwankend da, bis mir klar wurde, dass er langsam einschlief. Also kletterte ich von seinem Schoß, half ihm vom Stuhl und schleppte ihn in mein Zimmer. Ich zog ihm die Lederjacke, das T-Shirt und die Jeans aus, drückte ihn aufs Bett und deckte ihn zu. Mittlerweile war mir klar geworden, dass ich Sandy noch nicht gegenübertreten und ihr erzählen wollte, was vorgefallen war, also legte ich mich neben Ray, obwohl es noch sehr früh war. Ich schmiegte mich an seinen warmen Rücken und schlief ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich die Sonne verzogen. Ein grauer Himmel blickte trostlos auf mich herab. Die düstere Stimmung passte zu Ray, dem der letzte Tag einen ordentlichen Brummschädel eingebracht hatte. Ich holte ihm eine Tasse Kaffee und setzte mich neben ihn aufs Bett – gespannt, wie er im nüchternen Zustand reagieren würde. Ich hatte keine Ahnung.
»Mir geht’s echt beschissen.« Er wischte sich mit dem Arm über den Mund und verzog das Gesicht. »Mein Hals ist staubtrocken.«
Er nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den Nachttisch und stopfte sich ein Kissen hinter den Rücken.
»Danke.« Es war mehr ein Grunzen als ein richtiges Wort, aber ich ließ es ihm durchgehen.
Wir schwiegen und lauschten dem Wind, der durch die Gasse pfiff, und dem Klappern der alten Fenster. Der Regen schlug beinahe waagrecht an das trübe Glas.
Ich hörte, wie Sandy ihr Zimmer verließ und in der Küche mit dem Frühstücksgeschirr hantierte. Im Radio lief Save Your Kisses for Me von Brotherhood of Man, und Sandy sang lautstark mit. Ich versuchte, sie auszublenden und mich nur darauf zu konzentrieren, was gerade in diesem Zimmer geschah, holte tief Luft.
»Okay.«
Ray sah mich an und lächelte unsicher. Dann zuckte er mit den Schultern. »Okay.« Ich wollte ihn nicht drängen, also wartete ich, bis er weitersprach. »Hör zu, es tut mir wirklich leid. Es tut mir leid, dass ich betrunken nach Hause gekommen bin. Und dass ich überhaupt erst fort bin und dich allein gelassen habe. Es ist nur …« Er brach ab und seufzte. »Ich war einfach nicht darauf vorbereitet. Und ich bringe es immer noch nicht auf die Reihe. Es ist ein ziemlicher Schock.«
»Schon klar. Aber da bist du nicht der Einzige, Ray. Es ist auch nicht gerade das, was ich erwartet habe.«
»Ich weiß.«
Er sah aus dem Fenster. Ich musste ihn fragen, auch wenn ich die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte.
»Und hast du es dir mittlerweile überlegt? Bleibst du bei mir?«
Sein Kopf fuhr hoch, und er umfasste meine Oberarme.
»Natürlich bleibe ich bei dir, Jany! Etwas anderes darfst du gar nicht denken. Ich war nur …« Er seufzte erneut und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Es tut mir leid, dass du dachtest, es wäre darum gegangen. Überhaupt nicht. Es ist bloß eine riesengroße Sache. Ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen, das ist alles.«
»Wem sagst du das …« Ich grinste schief, und er lächelte. »Hör zu, Ray, ich wollte nicht, dass so etwas passiert. Das wollten wir beide nicht. Wir genießen unser Leben, wir sind beide noch so jung. Aber um ehrlich zu sein, macht es mich auch irgendwie glücklich, dass es jetzt so ist.«
Er runzelte die Stirn. »Glücklich?«
Ich nickte. »Ja. Es ist immerhin ein Baby, Ray. Unser Baby. Und das ist doch eine gute Sache, oder?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ja, ich denke schon.«
»Es wird alles gut, das verspreche ich dir.«
Ray starrte einen Moment lang ausdruckslos in die Ferne, dann nickte er. »Du hast recht. Es ist bestimmt eine gute Sache. Für uns beide.«
Er klang unsicher, aber das war bestimmt nur der Schock. Ich hoffte, dass er sich bald an den Gedanken gewöhnen und erkennen würde, dass es uns bestimmt gewesen war. Damit wir einander noch näherkamen. Und für immer zusammenblieben.
Er schlug die Decke zurück, und mein Blick fiel auf seinen schlanken, gebräunten Körper. Er trug lediglich eine Unterhose, und ich erschauderte unwillkürlich.
»Warum grinst du so?«
Ich zwang mich, den Blick abzuwenden, und lächelte verlegen. »Ach, nichts.« Ich spürte, wie ich rot wurde, und ärgerte mich, weil ich plötzlich so schüchtern war.
»Komm her, du.« Er zog mich an sich, und ich legte mich zu ihm und sog seinen Duft ein. Ich war so glücklich, dass er wieder bei mir war, dass ich mir keine weiteren Gedanken darüber machte, was die Zukunft für uns bereithielt.
Denn wenn wir beieinanderblieben, dann würde auch alles andere gut werden. Das wusste ich bestimmt.
Und es wurde auch gut. Zumindest am Anfang.
Irgendwann standen wir auf und gingen am Strand spazieren. Wir zogen uns die Kapuzen tief ins Gesicht, um uns gegen den Wind und den Nieselregen zu schützen, standen an der Ufermauer und blickten auf die düstere Nordsee hinaus. Die weißen Schaumkronen der Wellen vereinten sich zu einem wütenden Strudel, der kurz darauf mit voller Wucht auf den Strand traf. Es war schwer zu sagen, wo das Meer endete und der Himmel begann, denn alles war in einem Nebel aus Grau gefangen, und die Wolken zogen so schnell über den Himmel, dass sie kaum auszumachen waren. Wir hielten uns an den Händen, und irgendwie schien dieser Tag wie der Beginn eines neuen Kapitels.
Als wir schließlich nass bis auf die Knochen waren, flohen wir in ein Café. Die Fenster waren beschlagen, sodass das Leben draußen nur noch durch einen dichten Schleier erkennbar war. Wir bestellten heiße Schokolade und Scones, und während wir warteten, hielten wir über den Tisch hinweg Händchen. Ich grinste glücklich, und Ray lächelte, doch das Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen.
»Was ist denn?«
»Nichts.«
Er ließ mich los und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. Dann sah er mich ernst an.
»Wir sollten heiraten.«
»Wie bitte?«
»Du und ich. Wir sollten heiraten. Das wäre jetzt wohl das Richtige.«
Das war zwar nicht der romantischste Antrag, den man sich vorstellen konnte, aber nach allem, was passiert war, würde ich ihm sicher keine Abfuhr erteilen.
»Ist das dein Ernst?«
Er nickte. »Versteh mich nicht falsch. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen zu heiraten, wenn du nicht … du weißt schon.« Er deutete auf meinen Bauch, und ich legte instinktiv eine Hand darauf. »Zumindest noch nicht. Trotzdem … Ich will das Richtige tun. Ich muss das Richtige tun. Also … was meinst du dazu?«
Ich wollte schreien vor Freude. Okay, er war nicht mit einem glitzernden Diamantring vor mir auf die Knie gefallen, aber er wollte mich heiraten, und das reichte mir, denn es bedeutete, dass er für immer bei mir bleiben würde.
»Ja!« Ich wischte mir eine Träne von der Wange und räusperte mich. »Ich würde dich sehr gern heiraten, Ray.«
»Okay. Gut.« Er steckte eine Hand in seine Hosentasche, und mir kam der alberne Gedanke, dass er vielleicht doch einen Ring gekauft hatte. Aber er zog bloß eine Zigarettenpackung heraus, öffnete sie und hielt sie mir entgegen. »Willst du eine?«
Ich griff mit zitternden Fingern nach einer Zigarette und wartete, bis er mir Feuer gab. Dann saßen wir beide schweigend und rauchend da, bis der bereits vollkommen überhitzte Raum auch noch von blauem Dunst erfüllt war. Ich wusste, dass es unmöglich war, dennoch war ich überzeugt, dass ich das Baby bereits in mir spüren konnte. Es schlug Purzelbäume und versicherte mir, dass alles gut werden würde. Ich legte erneut eine Hand auf meinen Bauch und seufzte. Vielleicht hatte das Baby recht. Vielleicht würde wirklich alles gut werden.
Und so stießen Ray und ich an einem regnerischen Septembertag in einem überhitzten Café mit heißer Schokolade auf unsere Verlobung an, und ich fühlte mich trotz allem so glücklich wie schon lange nicht mehr. Das hier war meine Zukunft. Das spürte ich genau.
Die Tage vergingen, und ich begann endlich wieder zu arbeiten, obwohl ich mir nicht sicher war, wie lange ich meinen Job noch behalten würde, wenn ich mir weiterhin einfach so freinahm. Ich gab mir wirklich Mühe, mir über diese Dinge Gedanken zu machen, in Wahrheit drehte sich alles nur um Ray und darum, dass er mich liebte. Ich war ein dummer, verliebter Teenager.
Sandy freute sich, dass sie mich wiederhatte – sowohl im Laden als auch zu Hause. Eines Morgens war Ray unterwegs, um sich für einen neuen Job zu bewerben, und wir saßen gerade beim Frühstück, als ich ihr alles erzählte. Sie hob die Augenbrauen, als ich ihr von seinem Heiratsantrag berichtete.
»Eine Zweckehe. Wie romantisch.«
»Ach, Sandy, sei doch nicht so! Ich bin wirklich glücklich.«
»Ich weiß. Entschuldige, Jany, es ist nur so, dass … Ich mache mir Sorgen um dich, das ist alles. Ray ist total nett, das ist er wirklich. Aber ich will nicht, dass du verletzt wirst, und es geht alles so wahnsinnig schnell.«
»Ich lasse mich schon nicht verletzen. Ich weiß, was ich tue.«
»Ja, das sagen alle.«
Sie lächelte, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen, doch ich war trotzdem wütend. Sandy war meine beste Freundin, warum verstand sie nicht, dass mich diese Beziehung glücklich machte?
Wir nippten schweigend an unserem Tee, im Radio spielte Dolly Partons Love Is Like a Butterfly, und das, was wir einander nicht sagten, lastete schwer auf uns. Zumindest auf mir. Sandy sagte sowieso immer, was sie dachte.
Sie war es auch, die schließlich das Schweigen brach und damit die Spannung löste. »Aber die Sache mit dem Baby ist toll! Bedeutet das, dass ich bald Tante Sandy werde?«
»Natürlich! Ich will, dass dieses Baby dich fast genauso liebt wie mich. Und seinen Daddy natürlich.«
Sie schwieg einen Moment lang. »Das heißt dann wohl, dass du ausziehst, oder? Ziehst du mit Ray zusammen?«
»Ich … darüber habe ich mir eigentlich noch keine Gedanken gemacht.«
Es klang seltsam, aber es stimmte. Ich war unbewusst davon ausgegangen, dass wir hierbleiben und mit Sandy gemeinsam in unserer hübschen kleinen Seifenblase weiterleben würden. Wir würden mit Sandy und Mal ausgehen, wie wir es bisher getan hatten, nur dass dann auch noch unser Baby dabei wäre.
Natürlich war es ziemlich unwahrscheinlich, dass alles beim Alten bleiben würde, wenn das Baby erst mal da war.
»Also, ich schätze, du solltest dir besser mal ein paar Gedanken darüber machen. Ray wird sicher nicht mit dir und mir und dem Baby in dieser Wohnung bleiben wollen. Und um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht, ob ich das will. Es wäre vermutlich etwas … seltsam.«
Ich nickte. Sie hatte recht. Es wäre wirklich seltsam. Ich musste unbedingt mit Ray darüber sprechen. Doch letztlich blieb es mir erspart, denn er sprach das Thema zuerst an. Die Sonne ging bereits unter, als er mit strahlendem Gesicht nach Hause kam.
»Ray, was ist denn los?« Er stolperte durch die Tür und roch wieder einmal nach Alkohol. »Oh, Ray, bist du wieder betrunken?«
Er grinste verlegen. »Ich hatte nur ein paar Pints. Ich musste unbedingt mit den Jungs anstoßen, Baby«, erwiderte er und legte seine Arme an meine Taille. Er ließ sich auf Höhe meines Bauches nieder und flüsterte: »Daddy sorgt ab jetzt für dich, das verspreche ich dir.«
Ich schob ihn lachend fort. »Sei nicht albern, es kann dich doch nicht hören!«
Obwohl ich insgeheim froh war, dass er nun endlich akzeptierte, dass das hier real war. Dass er bald Vater werden würde.
»Kann sie wohl!«
»Wie kommst du darauf, dass es weiblichen Geschlechts ist?«, fragte ich lächelnd.
»Ich weiß es einfach. Sie wird Daddys kleines Mädchen. Und selbst wenn sie mich nicht hören kann, gehe ich lieber auf Nummer sicher.« Er drückte mir einen schnellen Kuss auf die Nase.
Ich schloss die Eingangstür und folgte ihm. Sandy saß im Wohnzimmer, doch Ray ignorierte sie und ging sofort in mein Zimmer. Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern, als ich an ihr vorbeikam.
Schnell drückte ich die Tür zu und ging zu Ray, der auf der Bettkante saß und mich mit ernstem Blick ansah.
»Ray, was ist passiert?«
Er betrachtete mich noch einen Moment länger, dann begann er plötzlich zu grinsen.
»Nichts ist passiert – ich habe ein paar tolle Neuigkeiten!«
»Was denn?«
»Ich habe ein Zuhause für uns gefunden.«
Ich sah mich in dem kleinen Zimmer um, in dem ich vier Jahre lang gewohnt hatte.
»Ich hab doch schon ein Zuhause.«
»Ja, aber wir können doch nicht hierbleiben, wenn das Baby erst mal da ist. Wenn unser Baby da ist. Und wenn wir verheiratet sind, wollen wir doch sicher in eine eigene Wohnung ziehen, oder?« Er lächelte, und auch wenn ich eigentlich wollte, dass er solche Entscheidungen nicht über meinen Kopf hinweg fällte, musste ich es unwillkürlich erwidern.
»Ja, ich schätze schon.«
Er nickte. »Gut. Wunderbar. Denn ich habe schon alles in die Wege geleitet. Ich habe uns ein kleines Haus mit zwei Schlafzimmern und einem Garten gemietet, einen Bungalow, damit unser Kind im Freien spielen kann. Und da ist noch etwas.« Er hielt inne, und ich wartete darauf, dass er weitersprach. »Ich habe einen Job!«
»Einen Job? Du hast doch einen Job … im Prinzip.«
»Ja, ja. Ich weiß, aber auf die Sache mit der Band können wir uns nicht verlassen. Und ich kann nicht für den Rest meines Lebens Kleinkram kaufen und wieder verkaufen. Also habe ich mir einen Job in einer netten kleinen Fabrik in der Stadt besorgt.«
»In einer Fabrik?« Ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich wusste natürlich, dass er es nur gut meinte, aber das war nicht richtig. »Das willst du doch gar nicht! Überhaupt nicht. Was ist mit deinem Traum, mit der Band groß rauszukommen? Du wirst es niemals schaffen, wenn du den ganzen Tag in einer Fabrik herumsitzt.«
Er schüttelte den Kopf. »Du übersiehst etwas ganz Wesentliches, Jany. Ich muss endlich erwachsen werden. Es geht hier nicht mehr nur um mich und das, was ich will. Es geht um mich, dich und das Kleine.« Er legte seine Hand auf meinen Bauch. »Ich muss mich um euch beide kümmern. Das ist mein Job.«
Ich lächelte. »Ach, Ray, sei nicht albern! Ich liebe dich, weil du so bist, wie du bist. Du musst dich nicht ändern. Ich will nicht, dass du einen Job machst, den du im Grunde hasst, nur um genug Geld nach Hause zu bringen. Wir werden es schaffen, wenn wir beide arbeiten, und ich ertrage es nicht, wenn du deinen Traum dafür aufgeben musst. Die Musik ist ein Teil von dir. Sie ist das, was dich ausmacht.«
Ich setzte mich neben ihn aufs Bett.
»Das stimmt nicht«, erwiderte er. »Die Musik ist nicht mehr das, was mich ausmacht. Das war vielleicht früher so, jetzt ist es anders. Ich werde bald Vater. Und das bedeutet, dass sich alles ändern muss.«
Ich liebte ihn dafür, dass er so viel Begeisterung zeigte und so fest entschlossen war, alles richtig zu machen. Aber diese drastische Kehrtwende bereitete mir auch Sorgen. Es kam so plötzlich und unerwartet. Als ich in sein Gesicht sah, erkannte ich jedoch, dass er es wirklich ernst meinte, und ich durfte ihm das nicht nehmen. Also nickte ich.
»Okay. Danke.«
Ich drückte ihm einen Kuss auf die raue Wange.
»Versprich mir nur eines.«
»Was?«
»Dass du die Band nicht ganz aufgibst. Dafür liebst du die Musik viel zu sehr. Ich will nicht, dass die Entscheidung für oder gegen die Musik einmal zwischen uns steht.«
Er nickte. »Versprochen.«
»Gut. Also, wo ziehen wir hin? Und wann geht es los?«
»Na ja, das ist die andere Sache.« Er senkte den Blick und musterte eingehend den Teppich, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. »Wir ziehen nach Norwich.«
»Nach Norwich?« Er nickte stumm, sah mich immer noch nicht an. »Aber ich wohne doch hier. In Cromer. Ich mag es hier am Meer. Es ist mein Zuhause. Ich … ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Stadt wohnen möchte. Vor allem nicht mit einem Baby.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest.«
»Hast du das Haus gemietet, ohne mich vorher zu fragen, weil du Angst hattest, dass ich etwas dagegen haben würde?«
»Nein.« Er hob abrupt den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Ich … ich wollte nur ein einziges Mal die Verantwortung für etwas übernehmen. Ich wollte alles richtig machen. Für dich. Und für das Baby. Ich glaube, dass es in der Stadt einfacher sein wird, weil das Krankenhaus gleich in der Nähe ist. Und meine Arbeit. Ich will, dass wir zusammen sind, Jany. Spielt es da wirklich eine Rolle, wo wir wohnen?«
Ich wollte bereits fauchen, dass es für mich sehr wohl eine Rolle spiele. Hier war mein Zuhause, ich wollte nicht, dass er die Kontrolle an sich riss und sämtliche Entscheidungen allein traf. Und das Haus war zwar in der Nähe seiner neuen Arbeitsstelle, dagegen viel zu weit entfernt von dem Laden, in dem ich arbeitete …
Doch irgendetwas in seinem Blick hielt mich davon ab, ihm all das an den Kopf zu werfen. Er wirkte nicht mehr so selbstsicher und großspurig wie sonst. Es schien, als hätte er dieses Mal tatsächlich etwas zu verlieren. Also schluckte ich das, was ich eigentlich sagen wollte, hinunter.
»Nein, vermutlich spielt es keine Rolle. Danke, Ray«, erwiderte ich.
Und das war der Tag, an dem sich mein Leben erneut von Grund auf änderte. Für immer.