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25.–27. Oktober 2016

Die kopierten Zeitungsartikel liegen glattgestrichen auf dem Küchentisch, Kimberleys dunkle Augen starren Georgie verzweifelt entgegen. Georgies Blick ruht auf dem Foto, das sie vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen hat. Sie versucht, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen und die neuen Informationen richtig einzuordnen.

Sie heißt Louisa und nicht Georgie.

Ihre leibliche Mutter Kimberley Foster hat Zwillinge zur Welt gebracht.

Sie hat einen Zwillingsbruder namens Samuel.

Kimberley wurde ungewollt schwanger.

Georgie wurde ihr weggenommen, als sie gerade einmal ein paar Stunden alt war.

Ihre Mutter Jane …

Georgie weiß nicht, ob sie es überhaupt noch erträgt, diese Frau als Mutter zu bezeichnen, also wird sie sie nur noch Jane nennen …

Jane hat sie entführt.

Sie hat Georgie belogen.

Kate ist gar nicht ihre Schwester.

Jane ist nicht ihre Mutter.

Ihr ganzes Leben ist eine Lüge.

Wie konnte Jane so etwas nur tun? Falls sie im Affekt gehandelt hat, warum hat sie ihren Fehler dann nie zugegeben und das Baby – heimlich – zurückgebracht, bevor es zu spät war? Wie wäre Georgies beziehungsweise Louisas Leben verlaufen? Und Kimberleys?

Doch Jane hat sie nicht zurückgebracht, sondern einfach behalten. Sie hat zugelassen, dass sich Kimberley all die Jahre fragen musste, ob ihre Tochter irgendwo dort draußen lebt. Oder ob sie vielleicht tot ist. Sie hat Kimberley das Herz gebrochen.

»Wie konntest du das nur tun?«, murmelt Georgie leise.

Das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss dreht, reißt sie schließlich aus ihren düsteren Gedanken, und sie rafft die Zeitungsausschnitte eilig zusammen, bevor sie einen schnellen Blick auf die Uhr wirft. Ihr ist gar nicht aufgefallen, dass es draußen bereits dämmert und die Küche in graues Licht getaucht ist. Georgie hebt den Blick. Sie hat ihre Tochter erwartet, aber es ist Matt.

Er tritt durch die Tür und bleibt wie angewurzelt stehen. »Was ist los? Warum sitzt du hier im Dunkeln?« Er macht das Licht an, und Georgie kneift geblendet die Augen zusammen. Eilig steht sie auf und hastet zur Spüle. Ihr ist bewusst, dass man ihr ihre Gefühle ganz genau ansieht, sie hat jedoch keine Ahnung, wie sie sie in Worte fassen soll. Also befeuchtet sie ein Küchentuch und wischt energisch die ohnehin bereits makellose Arbeitsplatte sauber. »Bitte hör auf damit!«

Matts Stimme ist lauter und schriller als sonst, und Georgie hält inne und dreht sich zu ihm um. Er mustert sie besorgt, und ihr ist klar, dass sie ihm sofort alles erzählen muss. Er wird wissen, was zu tun ist. Und wenn nicht, dann hört er ihr wenigstens zu. Sie braucht jemanden, mit dem sie reden kann.

Sie lässt das Küchentuch seufzend in die Spüle fallen und tritt vors Fenster, starrt in den beinahe in vollkommener Dunkelheit liegenden Garten hinaus. Die Bäume heben sich als schwarze Silhouetten vom grauen Himmel ab, der Tisch und die Stühle auf der Veranda scheinen sich ängstlich aneinanderzudrängen.

»Ich …«

Georgie spürt Matts Hand auf ihrer Schulter und zuckt zusammen. Langsam wendet sie sich zu ihm um. Er legt ihr auch die zweite Hand auf die Schulter und sieht ihr tief in die Augen.

»Bitte, Georgie! Sag mir, was passiert ist. Und sag nicht, dass nichts ist.«

Sie zögert, dann beginnt sie zu sprechen. »Ich habe etwas auf Mums Dachboden gefunden. Oder besser gesagt: Ich habe nichts gefunden.« Matt reagiert nicht, er wartet ab. »Da war … ein Umschlag. Mit einem Krankenhausarmbändchen, wie es neugeborene Babys tragen. Es gehört Kate. Außerdem war da auch noch ihre Geburtsurkunde.« Georgie verzieht das Gesicht. »Aber da war nichts von mir, Matt.«

Matt sieht ihr ernst in die Augen, und Georgie fragt sich, ob er womöglich bereits ahnt, was sie damit sagen will. Ob er versteht, wie groß ihre Angst ist.

»Das hat dich vollkommen aus der Fassung gebracht, richtig?« Georgie nickt. »Und wie geht die Geschichte weiter? Denn hier geht es doch offensichtlich um mehr, als um eine verschwundene Geburtsurkunde, oder?«

Sie nickt erneut und deutet auf den Küchentisch. »Lies das.«

Matt tritt näher, legt die Ausdrucke nebeneinander und beginnt zu lesen. Georgie beobachtet ihren Lebensgefährten. Sie will sehen, wie er reagiert. Matt hebt den Blick, er wirkt sorgenvoll. Dieses Gesicht, das sie vom ersten Augenblick an geliebt hat. Seit er damals mit dreizehn als neuer Schüler durch die Tür ihres Klassenzimmers getreten ist.

»Ich verstehe nicht ganz. Du glaubst doch nicht … Oder etwa doch? Du glaubst, dass du das warst? Das Baby, das entführt wurde?«

»Ja«, erwidert sie leise.

»Aber Georgie! Deine Mum würde so etwas nie tun. Das ist vollkommen unmöglich. Dazu wäre sie nicht fähig. Vermutlich hast du da etwas falsch verstanden. Ja, das muss es sein!«

Er klingt, als müsste er nicht nur Georgie, sondern auch sich selbst überzeugen.

Georgie schüttelt den Kopf. »Sieh dir doch mal das Foto näher an, Matt!«, sagt sie und gibt ihm die Kopie des Zeitungsausschnittes. »Ihr Gesicht. Findest du nicht, dass sie aussieht wie ich?«

Matt betrachtet das unscharfe Foto und schüttelt den Kopf. »Die Frau ist kaum zu erkennen, Liebes. Das könnte irgendjemand sein.«

Georgie spürt Frustration in sich hochsteigen. Sie stößt mit dem Finger auf den Artikel. »Das hier bin ich, Matt! Louisa Foster. Ich bin mir absolut sicher. Warum hat Mum denn sonst keine Geburtsurkunde von mir?« Matt schüttelt den Kopf und setzt sich, während Georgie in der Küche auf und ab wandert. »Und das ist noch nicht alles, Matt. Ich war vorhin in der Bibliothek – dort bin ich ja erst auf diese Artikel gestoßen. Aber ich habe noch etwas anderes herausgefunden: An meinem angeblichen Geburtstag kam niemand mit meinem Namen auf die Welt. Und auch nicht kurz davor oder danach. Den Aufzeichnungen zufolge existiere ich gar nicht. Ich wurde nie geboren. Da war nur dieses kleine Mädchen. Es kam an meinem Geburtstag zur Welt und wurde kurz nach der Geburt entführt. Das ist doch mehr als ein verdammter Zufall, meinst du nicht auch?« Plötzlich dreht sich alles, und Georgie lässt sich auf den Küchenstuhl Matt gegenüber sinken. Sie stützt das Kinn in den Händen ab. Matt sagt nichts, also fährt sie fort. »Denk doch mal nach, Matt. Das würde so vieles erklären. Ich meine, sieh mich an! Ich habe dunkle Haut, dunkles Haar, dunkle Augen, Mum und Kate sind hellhäutig und blond. Mum hat immer behauptet, ich käme nach Dad, aber im Grunde konnte ich das nie wirklich glauben. Ich sehe ihm doch sonst überhaupt nicht ähnlich!« Matt scheint nicht wirklich überzeugt, weshalb Georgie unbeirrt weiterredet. »Außerdem erklärt es einiges aus meiner Kindheit. Denk doch mal nach! Sie hatte vielleicht Angst, dass mich jemand wiedererkennt oder so. Ich weiß auch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, was im Kopf eines Menschen vorgeht, der so etwas tut. Sie muss verrückt gewesen sein …« Georgie bricht ab. Ihr Herz hämmert, sie hat die Hände zu Fäusten geballt. »Es würde einige der seltsamen Dinge erklären, die Mum in letzter Zeit von sich gibt. Sie hat anscheinend Angst, dass irgendeine Frau irgendetwas herausfindet. Ich dachte, sie redet wirres Zeug, aber es steckt wohl mehr dahinter.«

Matt liest die Zeitungsartikel noch einmal. Genau wie es Georgie schon Dutzende Male getan hat, seit sie darauf gestoßen ist. Sie wartet, bis er fertig ist und den Blick hebt.

»Ich habe recht, oder?«

»Ich … ich weiß es nicht, Georgie. Ich meine, ja, es wäre durchaus möglich. Theoretisch. Aber mal ehrlich. Deine Mum? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen! Es wäre zu weit hergeholt.«

Georgie zuckt mit den Schultern. »Das glaube ich nicht. Meiner Meinung nach würde es so viele Dinge erklären, dass es einfach nicht nicht wahr sein kann. Ich habe dir zwar erzählt, wie ich aufgewachsen bin. Dass Jane mich beinahe erstickt hat mit ihrer Liebe. Dass ich nirgendwohin durfte. Aber du warst nicht dabei. Du kannst es vermutlich kaum nachvollziehen. Das kann nur Kate. Es erklärt zudem, warum Mum nie wollte, dass ich ins Ausland oder sonst wohin reise. Ich dachte immer, sie hätte etwas dagegen, weil Kate so oft unterwegs war und sie nicht längere Zeit allein bleiben wollte. Also bin ich Idiotin bei ihr geblieben. Für sie. Und erinnerst du dich, dass sie uns ständig von einer Hochzeit abgeraten hat? Weißt du noch, was sie immer gesagt hat, wenn wir mit dem Gedanken spielten?«

Matt nickt. »Sie meinte, eine Ehe sei sinnlos und wir würden damit bloß unsere gute Beziehung aufs Spiel setzen.«

»Genau. Ich dachte mir nie viel dabei, weil wir sowieso nicht wirklich vorhatten zu heiraten. Aber du weißt, was ich meine, oder? Sie war nicht dagegen, weil sie nicht wollte, dass wir heiraten, sondern weil sie keine Geburtsurkunde von mir hat. Und sie wollte nicht, dass ich dahinterkomme.« Georgie verstummt und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Sie hat alles gesagt, was es zu sagen gibt.

»Hast du deine Mum schon darauf angesprochen?« Georgie schüttelt den Kopf. »Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht, Matt. Ich war noch nicht bereit, mit jemandem darüber zu sprechen. Diese Sache ist viel zu wichtig. Es würde alles ändern, auch für Mum.«

»Das muss es nicht.«

»Wie meinst du das? Natürlich ändert es alles! Es bedeutet, dass unsere ganze Kindheit eine Lüge war. Es bedeutet, dass ich nicht mehr ich selbst bin.« Tränen kullern über ihre Wangen, und sie wischt sie fort. Matt kommt zu ihr und streicht sanft mit dem Daumen über ihre feuchte Wange.

»Du bleibst immer du selbst, Georgie. Daran kann niemand etwas ändern.«

Sie schüttelt den Kopf und schmiegt sich an seine Brust. »Es ist zu spät. Ich bin bereits eine andere. Ich meine … ich habe einen Bruder, Matt. Stell dir das mal vor!«

Matt zieht sie näher an sich heran, und Georgie versinkt in seiner Umarmung. »Ich finde, du solltest mit Kate reden.«

»Worüber soll sie mit Tante Kate reden?« Clementine hat unbemerkt die Küche betreten und beißt gerade in einen Apfel aus der Obstschale neben der Tür. Georgie löst sich von Matt und rafft eilig die Ausdrucke zusammen, bevor ihre Tochter einen Blick darauf werfen kann.

»Nichts. Es geht nur um Grandma.«

Ihre Stimme zittert, und sie hofft, dass Clem es nicht bemerkt. Clem vergöttert ihre Großmutter, Georgie kann sich nicht vorstellen, wie verletzt sie reagieren wird, wenn sie ihr irgendwann erzählt, was sie herausgefunden hat. Clems Blick wandert von Georgie zu ihrem Dad und wieder zurück, und sie runzelt die Stirn.

»Warum weinst du denn, Mum? Was ist los? Ist Grandma krank?«

»Nein, Süße. Ich bin heute bloß ein bisschen daneben.« Georgies Finger ruhen auf den Ausdrucken am Küchentisch, und sie erschaudert. Sie hasst es, ihre Tochter anzulügen, aber Clem darf nichts von dieser Sache erfahren. Zumindest noch nicht.

Georgie muss zuerst mit ihrer Schwester sprechen.

Clem mustert ihre Mum noch einen Augenblick länger, dann zuckt sie mit den Schultern, lässt sich aufs Sofa im Wohnzimmer fallen und holt ihr Handy heraus.

Georgie senkt ihre Stimme zu einem Flüstern: »Ich werde mit Kate reden. Gleich morgen, versprochen.«

Sie drückt Matt einen Kuss auf die Nase und geht in ihr Schlafzimmer. Sie hat das Bedürfnis zu schlafen. Nur noch zu schlafen.

Georgie hatte noch nie Hemmungen, mit Kate über etwas zu reden, doch als sie sich am Morgen auf den Weg zum Haus ihrer Schwester macht, klopft ihr Herz bis zum Hals. Ihre schweißnassen Hände rutschen beinahe vom Lenkrad. Sie ist total erschöpft, und ihre Augen sind gerötet, weil sie fast die ganze Nacht wach gelegen hat, aber es gibt kein Zurück.

Kate war überrascht, als Georgie sie am Morgen angerufen hat. »Ja, ich bin zu Hause«, hat sie gesagt, »ich muss mich allerdings auf den Unterricht vorbereiten. Eine halbe Stunde hätte ich Zeit, falls du auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen willst.«

Das ist zwar nicht viel, aber es muss reichen. Georgie hat sich für elf Uhr angekündigt. Bis dahin hat sie in der Küche gesessen und ängstlich zugesehen, wie die Zeiger der Uhr immer weiter vorgerückt sind.

Jetzt sitzt sie im Auto und versucht, nicht daran zu denken, wie ihre Schwester auf die Neuigkeiten reagieren wird. Sie geht nicht davon aus, dass das Gespräch gut verläuft, bemüht sich jedoch, sich keine Gedanken darüber zu machen, was bald geschehen wird. Stattdessen denkt sie an die Vergangenheit – und natürlich vor allem an ihre Zeit mit Kate.

Ihre Kindheit ist nicht gerade konventionell verlaufen. Mit der Zeit haben sie und Kate sich zwar daran gewöhnt, ohne einen Dad zu leben, die Situation haben sie trotzdem hinterfragt. Schon damals war Georgie klar, dass ihr Zuhause nicht so war wie das der anderen Kinder, doch es ist ihr nicht gelungen, ihre Vermutung an einem bestimmten Beispiel festzumachen. Manchmal kam ihr vor, als würde sie regelrecht in der Falle sitzen.

Nur Kate war immer für sie da, und sie haben alles zusammen gemacht. Sie waren die besten Freundinnen – zum Teil, weil sie es so wollten, und zum Teil, weil sie keine andere Wahl hatten.

Georgie fährt die regennasse Straße entlang, und während die Scheibenwischer quietschend versuchen, der Regenschauer Herr zu werden, denkt sie an einen bestimmten Tag zurück. Sie war damals vierzehn Jahre alt, und abgesehen vom heutigen Tag war es das einzige Mal, dass sie Angst davor hatte, mit ihrer Schwester zu reden.

Jane bat Georgie und Kate, das Abendessen vorzubereiten, weil sie noch die Wäsche fertigbügeln musste, doch sobald sie die Küche verlassen hatte, drehte Georgie sich zum Küchenfenster über der Spüle herum. Die Sonne drang durch die Jalousie und malte Muster auf die Arbeitsplatte, den Fußboden und die gegenüberliegende Wand.

»Wir müssen doch nicht gleich anfangen, oder? Wir könnten noch kurz in den Garten und uns in die Sonne legen.« Georgie schirmte ihre Augen mit der Hand ab und sah sehnsüchtig aus dem Fenster.

Kate wagte einen eiligen Blick ins Wohnzimmer, aus dem das Fauchen des neuen Dampfbügeleisens drang. Sie hörten Gelächter. Offenbar sah ihre Mutter sich eine der schrecklichen Serien an, die um diese Uhrzeit im Fernsehen liefen.

»Wenn wir uns die Arbeit einteilen, brauchen wir nicht länger als zehn Minuten, und dann gehen wir raus, okay?«

»Okay, Boss.«

»Gut.«

Kate holte eine Zwiebel und ein paar Möhren aus dem Kühlschrank und legte sie auf die Arbeitsplatte.

»Du schneidest die Zwiebel, und ich schäle die Möhren.«

»Ich muss beim Zwiebelschneiden doch immer weinen.«

»Jammerlappen!«

»Stimmt doch gar nicht! Ich muss nur andauernd die Zwiebel schneiden!«

»Klar. Mum hat nun mal mir das Kommando übertragen.«

»Hat sie nicht!«

»Doch, hat sie. Sie hat mich gebeten, das Abendessen vorzubereiten, und du sollst mir helfen. Und das bedeutet, dass ich hier das Sagen habe und du die Zwiebel schneidest.«

»Na gut, du Wichtigtuerin.«

Sie arbeiteten schweigend, und eine Zeit lang war lediglich das Kratzen der Messer auf den Holzbrettern zu hören. Georgie warf ihrer Schwester immer wieder verstohlene Blicke zu, als wollte sie etwas Wichtiges loswerden. Doch im letzten Moment schien sie es sich anders zu überlegen und sagte nichts.

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. »Kann ich dir ein Geheimnis verraten?« Ihre Wangen waren gerötet, und ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Immer«, erwiderte Kate. Sie musterte Georgie und wartete schweigend darauf, dass sie weitersprach.

»Es geht um Matt. Und mich.« Kate sagte immer noch nichts. »Wir … wir wollen miteinander schlafen.« Kates Wangen begannen zu glühen, und sie wandte eilig den Blick ab. »Kate? Hast du mich gehört?«

Kate nickte, nahm die nächste Möhre zur Hand und begann regelrecht, sie zu zerhacken.

»Ja.« Ihre Stimme klang rau, und sie räusperte sich.

»Und? Was sagst du dazu?«

Kate schüttelte den Kopf. Sie sah Georgie, ihre kleine Schwester, erneut an, sehr ernst dieses Mal.

»Tut mir leid, Georgie, ich bin nur …« Sie brach ab und schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte.

Georgie fand die Reaktion ihrer Schwester seltsam. Oder war Kate eifersüchtig? Nicht unbedingt darauf, dass Georgie mit Matt zusammen war, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass sie überhaupt einen Freund hatte. Die arme Kate war immerhin älter als sie und hatte noch nicht mal einen Jungen geküsst.

Eine Träne lief über Kates Wange. Sie wischte sie eilig fort, doch Georgie hatte sie bereits gesehen.

»Alles in Ordnung?« Georgie musterte ihre Schwester genauer. »Weinst du etwa?«

Kate schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Tut mir leid. Das ist vermutlich die Zwiebel.« Georgie runzelte zweifelnd die Stirn, und in diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne, sodass es mit einem Mal dunkel in der Küche wurde. Dann war der Augenblick auch schon wieder vorüber, und Kate rang sich ein Lächeln ab. Sie warf erneut einen Blick ins Wohnzimmer, wo der Fernseher immer noch plärrte und das Bügeleisen sanft über den Stoff glitt. »Komm, wir werfen alles in den Topf, dann gehen wir raus und reden.«

Sie brieten Zwiebel und Möhren an, gaben etwas Minze und eine Dose Tomaten dazu und legten den Deckel auf den Topf.

»Das können wir jetzt eine Weile schmoren lassen.«

Kate schloss die Hintertür auf, und sie traten ins warme Sonnenlicht hinaus. Anschließend schlossen sie die Tür hinter sich, damit ihre Mutter sie nicht hören konnte.

Die Sonne hatte noch einige Kraft, doch es zog auch immer wieder ein kalter Wind durch den Garten, sodass die Blätter in den Bäumen tanzten und die Härchen auf ihren Armen zu Berge standen.

Sie und Kate ließen sich auf dem einzigen Rasenstück nieder, das nicht im Schatten der Mauer, des Zaunes oder der Bäume lag und hörten dem Klappern von Mr. Pritchards Schere zu. Ihr Nachbar zwei Grundstücke weiter schnitt die Hecke, obwohl sie gar nicht geschnitten werden musste. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund, und ein kleines Kind kreischte voller Freude. Georgie legte sich ins Gras und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, Kate blieb sitzen und hielt lediglich ihr Gesicht in die Sonne. Ein Flugzeug glitt träge über den blassblauen Himmel und zog einen weißen Streifen hinter sich her.

»Okay, schieß los. Aber sag bloß nicht, dass ihr es bereits getan habt!« Georgie sah besorgt zur Hintertür. »Keine Sorge, Mum kann uns hier draußen nicht hören«, beruhigte Kate sie.

Sie wandte sich erleichtert zu Kate um und grinste verlegen, ihre Wangen glühten.

»Ich weiß, dass es seltsam ist, Katie, aber ich … Na ja, ich kann wohl kaum mit Mum darüber reden, oder? Sie ist sowieso nicht wirklich begeistert, dass Matt und ich miteinander gehen. Und deshalb … deshalb brauche ich deine Hilfe.«

»Meine Hilfe? Wobei denn?« Georgie richtete sich auf, und in diesem Moment fuhr der Wind unter ihren Rock und entblößte ihre schlanken gebräunten Beine. Kate starrte auf ihre eigenen käsigen und ziemlich stämmigen Schenkel, die unter dem zweckmäßigen Rock ihrer Schuluniform hervorragten. »Ich brauche …« Georgie brach ab und wurde noch roter.

»Du willst, dass ich Kondome besorge, oder?«

Georgie nickte und blickte auf ihre Schuhspitzen.

»Aber Georgie, du bist doch erst vierzehn!«

»Ich bin fast fünfzehn! Und eigentlich ist das ja auch der Grund, warum ich dich darum bitte. Du bist alt genug, um welche zu kaufen.«

»Du bist vierzehneinhalb, und ich glaube, du hast dir das alles nicht wirklich gut überlegt, Georgie.«

»Bitte, Kate! Ich würde dasselbe für dich tun, das weißt du doch!«

Kates Blick wurde weicher, und Georgie wusste, dass sie sie herumbekommen hatte, sie hätte alles für ihre kleine Schwester getan. Jetzt blähte sie die Wangen auf und seufzte ergeben.

»Na gut.«

»Danke, Kate! Du bist ein Engel.« Georgie beugte sich zu ihr hinüber und schlang die Arme um ihren Hals.

»Aber …« Kate löste sich ungelenk von ihr. »Ich mache es nur unter einer Bedingung.« Georgie nickte. »Versprich mir, dass du aufpasst und es niemandem erzählst.«

»Das sind zwei Bedingungen.«

»Georgie!«, fauchte Kate.

»Okay. Versprochen! Ich will nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst.«

»Und ich will nicht, dass Mum es herausfindet. Sie bringt mich um, wenn sie es erfährt.«

»Ich schweige wie ein Grab. Danke, Katie! Du bist einfach die Beste.«

»Ich weiß.«

In diesem Moment durchschnitt ein gellender Schrei die Stille, und die Hintertür flog auf. »Um Himmels willen, Mädchen! Da bittet man euch um eine Sache, und nicht einmal das bekommt ihr hin!«

Die beiden sprangen schuldbewusst auf.

»Wir haben doch schon gekocht. Wir machen bloß eine kleine Pause.«

»Ihr solltet euch lieber mal ansehen, was aus dem Abendessen geworden ist. Es ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.«

Georgie und Kate zogen sich kleinlaut ins Haus zurück. Sie schämten sich in Grund und Boden.

Georgie muss unwillkürlich lächeln, als sie an diesen Tag zurückdenkt. Es ist ein wehmütiges Lächeln. Normalerweise erinnert sie sich gern an die Dinge, die Kate und sie gemeinsam unternommen und erlebt haben, doch heute ist da auch ein ungewohnter Schmerz. Es kommt ihr so vor, als wären diese Dinge eigentlich jemand anderem passiert und als würden sie langsam verblassen wie die Farben eines alten Fotos.

Als Georgie vor dem Haus ihrer Schwester ankommt und ihr Blick über die sorgfältig geschnittenen Rosen im Vorgarten, die schwere Eingangstür und die makellos sauberen Fenster gleitet, zittern ihre Hände. Sie hat ihrer Schwester etwas zu sagen, das ihr ganzes bisheriges Leben aus den Fugen heben wird.

Sie schließt kurz die Augen, um gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen, das sie überkommt, dann wirft sie erneut einen Blick in ihre Tasche, um sicherzugehen, dass sie die Kopien der Zeitungsartikel dabeihat. Sie nimmt den ersten heraus. Mittlerweile kennt sie ihn auswendig, doch sie will ihn so lesen, wie ihre Schwester es in wenigen Minuten tun wird. Es gelingt ihr nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat Georgie keine Ahnung, wie Kate reagieren wird.

Sie atmet tief durch, dann wird ihr klar, dass sie es nicht mehr länger hinauszögern kann.

Rasch verstaut sie die Artikel wieder in ihrer Tasche, öffnet den Sicherheitsgurt und steigt aus. Ihr Herz hämmert, während sie den schmalen Pfad zur Haustür entlanggeht, und sie schüttelt den Kopf. Das ist doch lächerlich! Hier geht es immerhin um Kate – also um jenen Menschen, den Georgie auf dieser Welt am allermeisten liebt. Abgesehen von Matt und Clem natürlich. Kate, mit der sie ihre dunkelsten Geheimnisse und Befürchtungen teilt. Es gibt nichts, wovor sie Angst haben muss.

Sie drückt die Klingel, und Sekunden später hört sie Schritte. Panik steigt in ihr hoch, und sie schnappt eilig nach Luft, bevor Kate die Tür mit einem freundlichen Lächeln öffnet, das jedoch sofort verblasst, als sie Georgies Gesicht sieht. Kate runzelt die Stirn, und Georgie packt die Angst.

»Georgie! Was ist denn los, um Himmels willen? Du siehst aus, als müsstest du dich gleich übergeben.«

»Nein, es ist alles okay.«

Georgie weiß, dass sie nicht sehr überzeugend klingt, aber sie muss sich etwas Zeit verschaffen. Sie kann die Bombe doch nicht hier zwischen Tür und Angel platzen lassen. Das wäre unfair.

Kate tritt mit gerunzelter Stirn beiseite, und Georgie schlüpft aus ihren Schuhen. Sie macht sich auf den Weg in die Küche. Die Verandatüren stehen offen, kühle Luft zieht durchs Haus. Es hat zwar aufgehört zu regnen, aber die Glastüren sind noch voller Wassertropfen. Es riecht nach Kaffee, und tatsächlich stehen bereits zwei volle Tassen neben der teuren Kaffeemaschine auf der glänzenden Arbeitsplatte. Es ist picobello sauber, auf dem Küchentisch liegt lediglich ein ordentlicher Stapel Hefte, die Kate anscheinend gerade durchgesehen hat. Georgie zieht einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzt sich, Kate steht noch in der Tür und beobachtet sie verwirrt.

Georgie nimmt sich die Zeit, ihre Schwester zu betrachten. Die blonden, zu einem Bob geschnittenen Haare, die schmalen Lippen, die sie so fest aufeinanderpresst, dass sie kaum zu erkennen sind. Sie ist mollig, ihre zweckmäßigen Klamotten tragen auch nicht gerade dazu bei, ihre unförmige Taille und den ausladenden Busen zu kaschieren. Kates Haut ist so blass, dass sie fast durchsichtig wirkt.

Georgie ist viel dunkler. Ihr Haar schimmert schwarz, ihre Haut ist beinahe olivfarben. Sie ist auch viel kleiner und zarter als die stämmige Kate, sodass sie neben ihr manchmal wie ein Zwerg wirkt. Es ist so offensichtlich, dass sie nicht miteinander verwandt sind, dass Georgie sich fragt, warum es ihr nicht schon viel früher aufgefallen ist. Georgie und Kate haben immer angenommen, dass Georgie nach ihrem Vater geraten ist, der auf dem einzigen Foto, das sie von ihm kennen, ziemlich dunkel und mysteriös wirkt. Offenbar haben sie sich geirrt.

Aber wem sieht sie dann ähnlich? Der Frau auf dem Foto, die der Kummer vorzeitig hat altern lassen? Dem Mann, mit dem ihre leibliche Mutter eine kurze, folgenschwere Affäre hatte? Georgie hat keine Ahnung.

Sie zwingt sich, den Blick von ihrer Schwester abzuwenden. Kate war ihr immer so vertraut – jetzt ist sie eine Fremde. Die unübersehbaren Unterschiede zwischen ihnen scheinen Georgie zu verhöhnen, und sie senkt den Blick auf ihre Hände. Sie zittern, deshalb schiebt sie sie eilig unter die Oberschenkel.

»Also …« Kates Stimme hallt durch die Küche, und Georgie hebt überrascht den Kopf, als hätte sie vergessen, warum sie hergekommen ist. Ihre Schwester starrt sie immer noch an, ihr Gesichtsausdruck lässt sich nicht deuten. Da Georgie kein Wort herausbringt, spricht Kate weiter: »Sagst du mir jetzt endlich, was passiert ist? Oder muss ich raten? Geht es um Matt?« Sie schnappt entsetzt nach Luft. »Es ist Clem, oder? Geht es ihr nicht gut?«

»Doch, es geht ihr gut.« Georgies Stimme klingt lauter als beabsichtigt, und sie zuckt zusammen. Sie schüttelt den Kopf, um endlich einen klaren Gedanken zu fassen. »Tut mir leid, ich …« Sie bricht ab. »Ich muss mit dir reden. Über … Mum.«

»Über Mum?«

Kate klingt überrascht, und das ist ihr gutes Recht. Immerhin besucht sie ihre Mutter sehr viel öfter als Georgie. Sie ist es auch, die alles daransetzt, endlich herauszufinden, was mit Jane los ist, und die mit ihr von einem Arzt zum nächsten fährt. Kate ist diejenige, die die Gedächtnisausfälle ihrer Mutter vor Sorge beinahe um den Verstand bringen.

Georgie nickt kaum merklich und überlegt, wie sie beginnen soll. Schließlich holt sie einfach die Zeitungsausschnitte aus ihrer Tasche und legt sie auf den Tisch. Endlich kommt Kate näher. Ihr Blick wandert von den Artikeln zu Georgie und wieder zurück. Sie liest ein paar Zeilen, dann sieht sie Georgie fragend an.

»Warum zeigst du mir das?«

»Lies alles!«

Georgie will es nicht näher erklären. Sie will es nicht laut aussprechen. Sie will, dass ihre Schwester selbst dahinterkommt, obwohl sie natürlich weiß, wie unfair das ist. Kate ahnt ja nicht einmal, was sie auf dem Dachboden gefunden hat.

»Na gut.«

Dieses Mal beugt Kate sich hinunter, um zu lesen, als würde sie sich verbrennen, wenn sie die Artikel noch einmal anfasst. Am Ende ist ihr Gesicht kalkweiß. Sie sieht Georgie an und wartet anscheinend auf eine Erklärung.

»In dem Artikel geht es um mich, verstehst du?«

Georgie wollte nicht einfach so damit herausplatzen, aber jetzt ist es nun mal passiert. Vielleicht ist es ohnehin besser, als zu lange um den heißen Brei herumzureden.

»Wie bitte? Wovon sprichst du, um Himmels willen?«, faucht Kate.

Georgie deutet mit dem Kopf auf den Artikel. »Das Mädchen. Das bin ich.« Ihre Stimme zittert, es ist ihr egal.

Kate starrt sie an, und das Blut schießt ihr ins Gesicht. »Das ist verdammt noch mal nicht witzig, Georgie!« Sie klingt so wütend, dass Georgie zum ersten Mal in ihrem Leben Angst vor ihrer großen Schwester bekommt.

»Es ist kein Scherz, Kate.« Sie deutet auf den Zeitungsausschnitt. »Das hier bin ich. Das Baby. Mum hat mich entführt.«

»Aber …« Kate bricht ab, reibt sich den Nacken und hebt den Blick. Sie bewegt sich ungelenk, als würde die Wut ihren Körper lähmen. »Mach dich doch nicht lächerlich! Wovon sprichst du, zum Teufel noch mal?«

Georgie hat Kate noch nie so wütend erlebt. Sie ist froh, dass sie sitzt, weil sie Angst hat, dass ihre Beine sonst unter ihr nachgeben würden.

»Ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Na dann fang doch irgendwo an! Komm schon, was ist hier los?«

Die Worte klingen seltsam abgehackt, und Georgie hat mit einem Mal Angst, dass Kate die Beherrschung verliert.

»Okay … Als ich vor ein paar Tagen auf Mums Dachboden war, habe ich dort bloß deine Geburtsurkunde und ein Krankenhausarmbändchen mit deinem Namen gefunden. Von mir nichts.« Kate nickt knapp und wartet. »Ich war verwirrt, denn es ergab keinen Sinn. Doch irgendetwas sagte mir, dass mehr dahintersteckt, Kate.«

Kate trommelt mit den Fingern auf dem Tisch und hebt eine Augenbraue. »Es soll also mehr dahinterstecken?« Ihre Worte triefen vor Verachtung. Georgie nickt schwach. Sie hat sich genau überlegt, mit welchen Argumenten sie ihre Schwester überzeugen will, doch Kates Reaktion bringt sie vollkommen aus der Fassung. »Nur weil Mum deine Geburtsurkunde nicht gleich aus dem Hut zaubert, gehst du davon aus, dass du das entführte Baby bist? Dass Mum so etwas Schreckliches getan hat? Was für ein Mensch muss man sein, um derartige Schlüsse zu ziehen? Bist du vollkommen verrückt geworden?«

Die Worte treffen Georgie wie Ohrfeigen, und ihr wird übel. Im Grunde hat sie bereits geahnt, dass Kate so reagieren wird. Und es ist ja auch verständlich. Es klingt tatsächlich, als hätte sie den Verstand verloren. Trotzdem muss sie Kate dazu bringen, ihr zu glauben, denn sie weiß, dass sie es ohne ihre Schwester nicht schaffen wird.

»Hör zu, Kate, bitte! Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich verspreche dir, dass ich geistig vollkommen gesund bin. Denk doch mal nach, was Mum alles getan hat, um mich von der Suche nach meiner Geburtsurkunde abzuhalten. Sie hat mich mit ihrer Flugangst angesteckt, sodass ich nicht ins Ausland wollte, denn dann hätte ich die Urkunde gebraucht, um einen Pass zu beantragen. Sie hat mich emotional erpresst, damit ich bei ihr blieb, als du schließlich die Welt erkundet hast. Sie hat mich regelrecht angefleht, nicht auch noch fortzugehen. Sie meinte, sie bräuchte mich …«

»Hey, jetzt warte mal!«

»Nein, Kate! Genau so war es! Du warst ja nicht dabei. Sie fühlte sich vollkommen verlassen, wann immer du fort warst, und ich war für sie da. Und auch danach hatte ich ständig das Gefühl, als dürfte ich sie nicht allein lassen und müsste sie beschützen. Und jetzt dieses ständige Gemurmel über diese Unbekannte, die was auch immer auf keinen Fall herausfinden darf. Vielleicht bringt ihre Krankheit etwas ans Tageslicht, das sie jahrelang verdrängt hat. Und das ist noch nicht alles. Ich war in der Rechercheabteilung der Bibliothek, um eine Kopie meiner Geburtsurkunde auszudrucken, aber da war nichts.«

»Wie meinst du das?«

»Meine Geburtsurkunde existiert nicht. Ich wurde nicht am 23. November 1979 im Krankenhaus von Norwich geboren, wie Mum immer behauptet hat. Es gibt keine Eintragung mit meinem Namen.«

Georgie wartet, bis Kate die neuen Informationen verarbeitet hat. Sie beobachtet ihre Schwester genau.

»Aber …« Kate hält inne, ihr Blick huscht durchs Zimmer. »Vielleicht war es bloß ein Eingabefehler? Natürlich wurdest du an diesem Tag geboren! Warum sollte Mum lügen?«

Georgie deutet auf die Zeitungsartikel. »Das könnte der Grund dafür sein, Kate«, erwidert sie sanft. Sie will, dass ihre Schwester sie versteht, dennoch möchte sie sie nicht unnötig verletzen. Sie sieht zu, wie Kate den Artikel noch einmal liest und die Details auf sich wirken lässt. Das Datum, den Ort … genau wie Georgie es viele Male getan hat, seit sie darauf gestoßen ist. Sie hat versucht, eine andere Erklärung zu finden, hat verzweifelt nach einem Hinweis Ausschau gehalten, den sie übersehen hat. Doch es gibt nichts, was ihre Mutter entlasten könnte.

Kate hebt den Blick und mustert verzweifelt Georgies Gesicht. »Könnte es nicht doch irgendjemand anders sein, Georgie?« Ihr Blick springt zwischen dem Ausschnitt und ihrer Schwester hin und her.

»Ja, schon. Aber du glaubst auch nicht daran, oder?«

Kates Körper scheint in sich zusammenzufallen, als hätte sie den Kampf aufgegeben. »Trotzdem kannst du nicht sicher sein, dass du das bist! Und dass Mum so etwas Schreckliches getan hat. Im Grunde kann sie es unmöglich getan haben! Ich meine, wir sprechen hier von unserer Mum. Das ist doch lächerlich«, sagt Kate.

Doch sie klingt nicht mehr so überzeugt. Georgie weiß, dass ihre Schwester langsam Zweifel hegt, dass sie zu glauben beginnt, was sie gerade gelesen hat.

»Was soll es denn sonst bedeuten, Katie?«

Kate zuckt mit den Schultern. »Es könnte alles Mögliche bedeuten. Sicher gibt es eine Menge Erklärungen – Dinge, die uns nicht im Traum einfallen würden. Du kannst doch nicht einfach davon ausgehen, dass Mum ein Baby entführt hat, Georgie. Ich meine, hör dir doch mal zu. Sie würde so etwas nie tun!«

Georgie nickt. »Ich weiß. Das habe ich zuerst auch gedacht.«

Kate setzt sich auf den gegenüberliegenden Stuhl, stützt die Ellbogen den Tisch und lässt den Kopf in die Hände sinken.

»O Gott!« Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern. »Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passiert.«

Georgie will nichts lieber, als zu ihr zu gehen, sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, dass alles gut wird. Doch das ist unmöglich, denn im Grunde glaubt sie selbst nicht daran. Also sitzt sie regungslos da und wartet, dass Kate etwas sagt.

Endlich hebt ihre Schwester den Kopf und sieht ihr in die Augen. »Du hast Mum doch noch nicht darauf angesprochen, oder?«

»Nein. Ich habe es erst gestern herausgefunden.«

»Gott sei Dank! Sie würde einen solchen Schock im Moment sicher nicht verkraften.«

»Ich kann aber nicht so tun, als wäre nichts passiert, Kate. Ich brauche Antworten, und Mum ist die Einzige, die sie mir geben kann.«

»Wag es ja nicht!«, faucht Kate, und Georgie zuckt entsetzt zusammen. »Der Schock würde ihren Zustand drastisch verschlechtern. Und er ist doch jetzt schon sehr bedenklich, Georgie. Du weißt, was ein solches Gespräch mit ihr anstellen könnte.«

»Ich muss es trotzdem tun, Kate. Verstehst du das denn nicht? Was ich entdeckt habe, erklärt so vieles. Unsere Kindheit und warum Mum immer so überfürsorglich war. Aber vor allem erklärt es, wer ich wirklich bin. Ich meine, sieh uns doch mal an. Wir sehen einander überhaupt nicht ähnlich, und wir sind auch charakterlich vollkommen verschieden. Ich liebe dich, Kate, und daran wird sich nie etwas ändern, aber ich muss trotzdem die Wahrheit erfahren. Ich muss sie aus Mums Mund hören.«

Sämtliche Farbe ist aus Kates Gesicht gewichen, sie zittert am ganzen Körper. »Das alles ist doch irre, Georgie! Absolut irre! Aber wenn es tatsächlich stimmt, bedeutet das, dass du …«, ihre Stimme bricht, »… dass du nicht mehr meine Schwester bist.«

Dieser Gedanke ist Georgie natürlich auch schon gekommen. Sie steht auf, geht zu ihrer Schwester und nimmt sie in die Arme. Kates Herz schlägt viel zu schnell – genau wie ihr eigenes. Georgie löst sich von ihr und sieht den Schmerz in ihren Augen.

»Ach Kate, du wirst immer meine Schwester bleiben«, sagt sie wehmütig. »Daran wird sich nie etwas ändern. Dennoch kann ich nicht so tun, als hätte ich diese Artikel nicht gelesen. Ich muss mehr darüber herausfinden, verstehst du?«

»Ja, ich glaube schon«, erwidert Kate schwach. »Nur …« Sie hält inne, steckt sich eine Haarsträhne hinters Ohr und sieht ihrer Schwester in die Augen. »Ich kann dir nicht helfen, Georgie. Mit Mum, meine ich … und falls du dich irgendwann entschließt, dich auf die Suche nach deiner richtigen Familie zu machen … Ich kann es einfach nicht.«

Georgie nickt mit aufeinandergepressten Lippen. »Verstehe.«

»Wirklich? Denn es ist nicht so, dass ich dir nicht helfen will. Ich glaube lediglich, dass du einen riesigen Fehler machst. Natürlich verstehe ich, warum du das Bedürfnis hast, deine leiblichen Verwandten ausfindig zu machen, aber du hast doch keine Ahnung, wer diese Leute sind. Es macht mich traurig, wenn ich nur daran denke, und ich kann dir nicht dabei zusehen. Das kann ich Mum nicht antun. Selbst wenn sie dir Unrecht angetan hat. Es tut mir leid.« Kate senkt den Blick erneut auf den Tisch.

Georgie sammelt die Zeitungsausschnitte ein und steckt sie vorsichtig zurück in ihre Tasche. Sie fühlt sich kraftlos, als wären ihre Beine und Arme aus Blei.

»Ich muss trotzdem mit Mum reden, auch wenn du nicht dabei sein willst. Vielleicht kann Tante Sandy kommen, um mir beizustehen? Ganz ehrlich … bin ich mir nicht mal sicher, ob ich das, was Mum mir eventuell zu sagen hat, hören will. Soll ich dich trotzdem auf dem Laufenden halten?«

Kate schüttelt den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Noch nicht.«

Georgie nickt und blinzelt die Tränen fort. »Okay.« Sie nimmt ihre Tasche. »Dann gehe ich jetzt wohl besser. Wir sehen uns.«

Kate nickt und blickt ins Leere. »Bis bald, Georgie.«

Georgie wendet sich ab und verlässt die Küche ihrer Schwester – und zum ersten Mal in ihrem Leben weiß sie nicht, ob und wann sie zurückkehren wird. Sie fühlt sich Kate so fremd wie nie zuvor, und es ist ein schreckliches Gefühl.

Trotzdem muss sie herausfinden, wer sie wirklich ist. Auch wenn es bedeutet, ihre Mum und ihre Schwester zu verlieren.

Wieder wird sie von einer Erinnerung übermannt.

Es war eine ziemlich seltsame Familienzusammenkunft: Jane, Tante Sandy, Georgie und Matt, die alle geduldig auf Kate warteten, die als Einzige noch fehlte. Die glorreichen Fünf. Oder etwas in der Art. Georgie fragte sich, wo Kate blieb. Es war extrem untypisch für sie, dass sie zu spät kam. Tatsächlich empfand Kate Unpünktlichkeit als grobe Unhöflichkeit – im Gegensatz zu ihr selbst, die ihre Zeiteinteilung immer schon ein wenig freier interpretiert hatte. Genau wie alles andere, wenn man es genau nahm. Und trotzdem saßen sie nun hier und warteten auf Kate.

Georgie drehte die Gabel herum, sodass sich die Zacken in das gestärkte weiße Tischtuch bohrten, immer wieder, bis die ersten kleinen Löcher zu sehen waren. Die anderen Gäste unterhielten sich leise murmelnd. Es war ein vornehmes Restaurant, in dem gedämpfte Gespräche geführt wurden und die Damen hübsche Frisuren trugen.

Georgie rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her und rückte ihren BH-Träger zurecht, der in die zarte Haut an ihrer Schulter schnitt. Langsam wurde sie ungeduldig. Matt und sie hatten eine wichtige Ankündigung zu machen, und sie wollte es endlich hinter sich bringen. Allerdings nicht ohne Kate. Sie seufzte übertrieben.

Ihre Mutter riss abrupt den Kopf hoch, die Falte zwischen ihren Augenbrauen wirkte noch tiefer als sonst. »Alles in Ordnung, mein Liebling?«

Georgie nickte. »Klar. Ich bin bloß hungrig.«

Sie lächelte, und Matt griff unter dem Tisch nach ihrer Hand. Natürlich war alles in Ordnung. Sie war lediglich ungeduldig.

In diesem Moment kam Kate zur Eingangstür herein. Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und gab ihn dem Kellner. Kate sah an diesem Tag anders aus als sonst. Zuallererst fiel Georgie ihr ungewohntes Lächeln auf. Außerdem hatte sie die Lippen mit einem dunkelroten Lippenstift nachgezogen, was sie sonst fast nie tat. Ihre Schwester kam durch das Restaurant auf sie zu, und Georgie merkte, dass sie von innen heraus strahlte. Ihre Haut schimmerte, ihre Haare waren leicht zerzaust, und sie lächelte glücklich. Georgie warf einen schnellen Blick auf ihre Mutter, die den Auftritt ihrer älteren Tochter mit ernstem Blick verfolgte. Später wusste keiner mehr genau, wann ihnen eigentlich aufgefallen war, dass der Mann, der hinter Kate herging, ihr nicht zufällig folgte, sondern sie vielmehr an den Tisch begleitete. Doch irgendwann war wohl allen klar, was los war – Kate war verliebt.

Sie trat verlegen an den Tisch, und auch der Mann hielt abrupt inne.

»Hallo, zusammen! Entschuldigt, dass ich zu spät komme!« Kate drehte sich grinsend um. »Entschuldigt, dass wir zu spät kommen.« Ihr Begleiter trat einen Schritt vor, nickte knapp und lächelte verlegen.

»Leute, das ist Joe. Joe, das ist meine Familie.«

»Hallo, Joe!« Es war Matt, der als Erster aufstand und Joe die Hand schüttelte. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Joe entspannte sich kaum merklich, und so schob auch Georgie ihren Stuhl zurück, stand auf und drückte dem neuen Freund ihrer Schwester einen schnellen Kuss auf die Wange.

Schließlich wurden alle einander vorgestellt, und während heftig durcheinandergeredet wurde, beobachtete Georgie ihre Mutter, deren starrer Blick auf Kate und Joe ruhte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, doch ihr Blick wirkte ernst. Georgie fragte sich, was wohl in ihrem Kopf vorging.

Erst einige Zeit später schaffte Georgie es schließlich, ihre Schwester allein zu erwischen, und obwohl sie hinter den Topfpflanzen am Toiletteneingang vor neugierigen Blicken geschützt waren, senkte sie die Stimme zu einem Flüstern.

»Wie kommt es eigentlich, dass ich noch rein gar nichts von ihm weiß?«

Kate starrte auf den Boden. »Ich wollte es einfach eine Weile für mich behalten.«

»Mhm.« Georgie verschränkte mürrisch die Arme vor der Brust.

Kate sah auf. »Magst du ihn?« Es war offensichtlich, dass sie auf Georgies Zustimmung hoffte.

»Natürlich mag ich ihn! Er scheint sehr nett zu sein.« Georgie sah zum Tisch hinüber. »Und er ist ebenfalls Lehrer?«

»Ja. Er hat letzten Monat angefangen. Er unterrichtet Mathe.«

»Dann seid ihr also in der Besenkammer übereinander hergefallen? Hat er dich zwischen den Putzmitteln leidenschaftlich an die Wand gedrückt?«

»Georgie!«

»Ach, komm schon, Kate! War doch nur ein Scherz. Ist es …«, sie steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »… ist es was Ernstes?«

Kate wurde rot. »Ja«, hauchte sie. »Ich glaube schon.«

Georgie hatte ihre Schwester noch nie so erlebt. Sie war Mitte zwanzig und hatte noch keine richtige Beziehung gehabt. Nun stand sie vor ihr und war zum ersten Mal verliebt. Damals wusste noch niemand, dass Kate und Joe zwei Jahre später heiraten und anschließend fünf Jahre lang erfolglos versuchen würden, ein Baby zu bekommen. In diesem Moment war alles perfekt.

»Hör mal, ich habe auch Neuigkeiten, aber ich will jetzt nicht davon anfangen, da du uns heute deinen Freund vorgestellt hast.«

»Was ist denn los, Georgie?«

Nun wurde Georgie rot. Seit sie es herausgefunden hatte, sehnte sie sich danach, ihrer Schwester davon zu erzählen.

»Ich bin schwanger.«

»Schwanger?«, kreischte Kate.

Georgie nickte kaum merklich, und bevor sie etwas sagen konnte, hatte Kate sie in die Arme geschlossen. Sie erdrückte sie beinahe. Georgie hatte zwar gehofft, dass Kate sich für sie freuen würde, sie hatte jedoch auch befürchtet, dass sie eifersüchtig sein könnte. Anscheinend hatte sie ihre Schwester falsch eingeschätzt.

»Ist das hier eine Privatveranstaltung oder darf sich eure arme alte Mutter zu euch gesellen?«

Die beiden Schwestern wandten sich um, und da stand Jane, deren blondes Haar ihr Gesicht wie ein Heiligenschein umgab.

»Oh! Hi, Mum!«

Jane musterte ihre beiden Töchter eingehend.

»Also, sagt ihr mir, was hier los ist, oder muss ich raten?«

Kate und Georgie warfen sich einen schnellen Blick zu, dann begannen beide zu grinsen.

»Ich … ich bekomme ein Baby.«

Georgie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Eine Umarmung vielleicht. Ein ausgelassenes Lachen. Oder wenigstens ein Lächeln. Sie hatte jedenfalls nicht mit diesem abgrundtiefen, endlosen Schweigen gerechnet.

Schließlich fasste Kate sich ein Herz.

»Mum? Sagst du denn gar nichts dazu?«

»Ich …« Jane brach ab und sah ihre Töchter an, als hätte sie erst jetzt erkannt, wo sie war und was von ihr erwartet wurde. »Ich … Es tut mir leid, Georgie! Es kam nur so überraschend. Ich …« Sie fuhr sich mit der Hand über das kalkweiße Gesicht. »Ich freue mich sehr für dich.«

Sie trat einen Schritt vor und schlang die Arme um ihre jüngere Tochter, doch da war nichts von Kates Wärme und ehrlicher Freude zu spüren. Es wirkte eher, als hätte ihre Mutter Angst, ihr wehzutun. Kurz darauf löste sich Jane von Georgie, wischte sich eine Träne von der Wange und verschwand auf der Toilette.

Georgie wandte sich an Kate. »War das nicht seltsam?«

Kate nickte. »Ja, schon irgendwie. Aber vermutlich war sie lediglich total überrascht.« Sie klang, als wäre sie sich alles andere als sicher.

»Ja. Es steckt sicher nicht mehr dahinter.«

Die beiden kehrten ohne ein weiteres Wort an den Tisch zurück, um das Abendessen fortzusetzen. Janes seltsame Reaktion wurde nie wieder erwähnt.

Georgie hat eine unruhige Nacht gehabt. Sie hat ihre Mutter seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Sie geht ins Bad, zieht sich an und kämmt sich die Haare, während sie sich vorstellt, wie es wäre, Clem zu verlieren. Doch sie schafft es nicht.

Als sie klein war, ist Clem ihr wie ein Schatten überallhin gefolgt. Sie wollte immer in der Nähe ihrer Mutter bleiben. Mittlerweile ist da ein zumindest kleiner Teil ihres Lebens, der Georgie vollkommen fremd ist. Der Gedanke daran fühlt sich an, als hätte ihr jemand ein Stück ihres Herzens herausgerissen.

Als Clem auf die Welt gekommen ist, hat Georgie sich geschworen, dass die Kindheit ihrer Tochter niemals so sein würde wie ihre eigene. Sie wollte, dass ihr kleines Mädchen völlig frei aufwuchs, so wie sie selbst es nie gekannt hatte. Natürlich wollte Georgie ihre Tochter in Watte packen und am liebsten den ganzen Tag bei sich im Haus halten, damit ihr nichts zustieß, aber das hätte sie nie getan.

Georgie wirft einen letzten Blick in den Spiegel, bevor sie nach unten geht und ihren Autoschlüssel vom Regal nimmt.

Es ist nur eine kurze Fahrt zum Haus ihrer Mutter, sie kennt die Strecke auswendig, doch als sie schließlich in der Auffahrt hält, fällt die Angst wie ein Schleier über sie. Die Luft im Auto ist plötzlich so zäh wie Sirup. Sie atmet keuchend ein und zwingt sich, ruhig zu bleiben.

Rasch steigt sie aus, geht den kurzen Weg zur Eingangstür hoch und klopft. Sie hat natürlich einen Schlüssel, aber heute wäre es nicht richtig, sich selbst ins Haus zu lassen. Wenige Sekunden später schwingt die Tür auf, und Sandy steht freundlich lächelnd vor ihr. Sie ist tatsächlich gekommen, um ihr beizustehen.

»Hallo, Georgie! Schön dich zu sehen!«, sagt sie.

Sie umarmen sich kurz, und Georgie atmet den vertrauten Geruch ein, bevor die älteste Freundin ihrer Mum beiseitetritt, um sie vorbeizulassen.

Im Wohnzimmer angekommen, hält Georgie abrupt inne und schnappt nach Luft. Jane sitzt kerzengerade auf der Sofakante. Ihr ganzer Körper wirkt verkrampft, ihre Hände umklammern einander im Schoß, und ihr Gesicht ist ernst. Sie wirkt klein und zerbrechlich. Georgie wirft Sandy einen fragenden Blick zu, doch diese zuckt nur mit den Schultern. Also wendet sich Georgie wieder an ihre Mutter. Sie muss es hinter sich bringen – egal, wie hart es ist.

»Mum, ich muss mit dir reden«, erklärt Georgie sanft und hält den Blick auf das Gesicht ihrer Mutter gerichtet.

Doch Jane weigert sich standhaft, ihr in die Augen zu sehen. Georgie fragt sich, ob sie ahnt, was ihre Tochter ihr zu sagen hat. Obwohl sie unmöglich wissen kann, dass Georgie ausgerechnet an diesem Tag hergekommen ist, um endlich die Wahrheit zu erfahren.

»Deine Mum ist ungehalten, weil sie heute eigentlich etwas anderes vorhatte«, murmelt Sandy leise.

»Lass das, Sandy! Du musst ihr nichts erklären, ich kann für mich selbst sprechen.«

»Das weiß ich doch, Jany! Aber Georgie wirkt verwirrt. Warum erzählst du ihr nicht, warum du so unglücklich bist?«

Jane wendet sich an ihre Tochter, sieht ihr allerdings noch immer nicht in die Augen. Sie richtet den Blick auf einen Punkt an der Wand hinter Georgie.

»Du hast den ganzen Tag ruiniert, junge Dame! Ich wollte mit deinem Vater ausgehen, stattdessen musste ich hierherkommen, weil du dich unbedingt mit mir treffen wolltest.« Sie speit Georgie die Worte entgegen, als wäre ein Treffen mit ihr das Schlimmste überhaupt.

Georgie sieht ihre Mutter schockiert an. Was soll sie erwidern? Natürlich weiß sie, dass sich Janes Zustand in letzter Zeit dramatisch verschlechtert hat – Kate hat ihr ja erzählt, wie sich ihre Mutter manchmal verhält. Trotzdem ist es etwas anderes, es mit eigenen Augen zu sehen. Georgie ist entsetzt, wie sehr sich Jane verändert hat, seit sie das letzte Mal bei ihr war.

Sandy legt ihrer Freundin sanft eine Hand auf den Arm. »Aber du kannst dich doch gar nicht mit dem Vater der Mädchen treffen, Jane. Er ist längst tot. Weißt du denn nicht mehr? Wir haben vorhin darüber gesprochen.«

Jane dreht sich wutentbrannt zu Sandy um, die sich neben ihr auf dem Sofa niedergelassen hat. »Er ist doch nicht tot – mach dich nicht lächerlich! Ich habe ihn erst heute Morgen gesehen. Wie kannst du nur so etwas Furchtbares sagen?« Sie zieht ruckartig ihren Arm zurück, verschränkt die Hände erneut im Schoß und fährt zu Georgie herum. »Also, worüber willst du mit mir reden? Bringen wir es hinter uns!«

Georgie wirft Sandy einen verzweifelten Blick zu. Sie hat keine Ahnung, wie sie ihre Mutter in deren jetzigem Zustand zur Rede stellen soll. Janes Unruhe scheint sich von Sekunde zu Sekunde zu steigern, ihre Hände bewegen sich unablässig.

Sandy zuckt mit den Schultern. »Vermutlich ist es das Beste, wenn du einfach sagst, was du auf dem Herzen hast, Schätzchen. Deshalb bist du doch hier, oder?«

»Okay.«

Georgie atmet tief durch und überlegt, wie sie ihre Frage am besten formulieren soll. Auf der Hinfahrt war sie so zornig gewesen. Sie hatte vor, ihrer Mutter sämtliche Vorwürfe ins Gesicht zu schleudern, um sie so dazu zu bringen, ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Doch jetzt steht sie ihrer Mutter – steht sie Jane zum ersten Mal seit ihren Entdeckungen wieder gegenüber, und ihre Wut ist verraucht. Sie hat sich in etwas anderes verwandelt. Georgie ist sich allerdings nicht sicher, ob sie dieses neue Gefühl ans Ziel bringen wird.

Also sagt sie gar nichts, sondern holt stattdessen einen der Zeitungsausschnitte aus der Tasche, faltet ihn auseinander und legt ihn vor Jane auf den Tisch. Genau so, wie sie es bei Kate und Matt getan hat. Es ist besser, wenn die Leute ihre eigenen Schlüsse ziehen.

Janes Blick wandert zu dem Artikel, sie beugt sich vor, um ihn zu lesen. Ihre Augen weiten sich erschrocken, und ihr Gesicht wird kalkweiß. Georgie sieht von Jane zu Sandy, die mehr oder weniger dieselbe Reaktion zeigt. Die beiden Frauen sitzen wie erstarrt nebeneinander.

»Woher hast du das?«, kreischt Jane, bevor sie nach dem Artikel greift, ihn zerknüllt und durchs Zimmer schleudert.

Georgie schnappt erschrocken nach Luft und reißt dadurch auch Sandy aus ihrer Starre. Die Freundin ihrer Mutter schaut sie entsetzt an.

»Ich … ich habe diesen und weitere Artikel in der Bibliothek gefunden.«

Jane springt auf. Ihre Beine zittern so stark, als würde sie jeden Moment zu Boden gehen. »Warum? Was gibt dir das Recht, deine Nase in Angelegenheiten zu stecken, die dich absolut nichts angehen?«

Sandy legt eine Hand auf Janes Unterarm und zieht sie sanft zurück aufs Sofa. Jane lässt es mit sich geschehen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob heute der richtige Zeitpunkt ist, um mit deiner Mum über das hier zu reden«, bemerkt Sandy mit zitternder Stimme. »Sie hat einen ziemlich schlechten Tag.« Sie wirft Georgie einen flehenden Blick zu.

»Dafür gibt es nie einen richtigen Zeitpunkt«, faucht Georgie. »Ich will unbedingt wissen, was meine Mutter zu dieser Sache zu sagen hat.«

Sie wirft Sandy einen trotzigen Blick zu und wendet sich dann an Jane, die ihre Arme um die Mitte geschlungen hat und einen Punkt auf dem Fußboden fixiert. Sie wirkt apathisch. Georgie wird klar, dass sie hier nur ihre Zeit verschwendet.

Doch plötzlich sieht sie, dass ihre Mutter kaum merklich die Lippen bewegt, und sie beugt sich zu ihr vor, um sie besser zu verstehen.

»Ich habe dich geliebt«, murmelt sie. »So sehr geliebt. Du hast nur mir gehört.«