Er fiel mir sofort auf, als ich in den Bus stieg, und ich setzte mich ihm gegenüber. Der dunkelhaarige junge Mann in der Jeansjacke war der attraktivste Typ, den ich jemals gesehen hatte, und auch wenn es mir absolut nicht ähnlich sah, war mir in diesem Moment klar, dass ich ihn ansprechen musste. Ich beugte mich vor, sodass meine Haare über meine nackten Schultern fielen.
»Hallo, ich bin Kim«, sagte ich lächelnd und versuchte, sexy auszusehen.
Er warf mir einen seltsamen Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Hallo, Kim«, erwiderte er. »Mein Name ist Ray. Freut mich, dich kennenzulernen.« Er streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie. Es klingt vermutlich abgedroschen, aber ich hatte wirklich das Gefühl, mich hätte der Blitz getroffen, als wir uns berührten, und ich zog meine Hand eilig zurück. Er schien nichts bemerkt zu haben, und so schob ich mir schnell die Hände unter den Po und versuchte, möglichst unbeeindruckt zu wirken, obwohl ich kaum Luft bekam. Ich zwinkerte ihm zu und hoffte, dass es sexy wirkte, obwohl ich vermutlich eher wie ein Hase aussah, der hektisch in das Licht eines herannahenden Autos blinzelt, denn das Nächste, was er sagte war: »Also … Warum sitzt du hier in diesem Bus und nicht in der Schule?«
Meine Wangen glühten, ich war kurz davor, einen Rückzieher zu machen. Ich konnte doch nicht mit einem Mann flirten, der mich für ein kleines Schulmädchen hielt!
»Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich bin schon sechzehn.«
Ich war eigentlich erst vierzehn, aber das musste er ja nicht wissen, also drückte ich stolz die Brust durch und hoffte, dadurch älter auszusehen, obwohl meine Stimme seltsam piepsig klang.
Er grinste. »Ach so. Entschuldige. Und was machst du so?«
Ich steckte mir die Haare hinters Ohr. »Gar nichts momentan. Ich bin auf der Suche nach einem Job«, schwindelte ich und deutete mit dem Kopf aus dem Busfenster, als würde gerade ein Job daran vorbeifliegen. »Ich habe heute noch ein Vorstellungsgespräch. Als Schreibhilfe.«
Ich versuchte, so auszusehen, als wäre es mir egal, ob ich die Stelle bekommen würde oder nicht. Ich wohnte bei meiner Mutter, und auch wenn wir uns ganz gut verstanden, war es nicht einfach mit ihr. Sie war ein ziemlicher Kontrollfreak. Meine Noten in der Schule waren nicht gerade herausragend, und ich plante, sobald wie möglich meinen Abschluss zu machen und als Schreibhilfe zu arbeiten, was mir genug Geld einbringen würde, eine eigene Wohnung zu mieten.
»Wow. Viel Glück!«
»Danke.« Ich sah zu den roten Backsteinhäusern hinaus, die langsam am Fenster vorbeizogen. Ich sprach nicht gern mit Fremden und wurde dabei immer ziemlich verlegen. Aber dieser dunkle, gut aussehende Kerl hatte etwas an sich, das mich anzog, und ich wollte das Gespräch noch nicht beenden. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Etwas Lustiges, Unwiderstehliches, damit er mich nie mehr vergaß. »Bist du auf dem Weg zur Arbeit?«
Das war ja brillant, Kim! Wirklich sehr originell! Ich spürte, wie ich erneut rot wurde.
»Ja. Ich arbeite in der Fabrik. Nichts Besonderes.« Sein Blick glitt über mein Gesicht, und meine Haut prickelte. »Aber ich spiele in einer Band. In Pubs und so. Du könntest ja mal vorbeikommen.«
»Das würde ich sehr gern!« Ich räusperte mich, um es zu überspielen. »Das wäre toll.« Ich verkniff mir die Worte »Wenn Mum es erlaubt«, denn das wäre vermutlich uncool gewesen.
Ray nickte und musterte mich eingehend. Ich sah ihn herausfordernd an.
»Okay. Wir spielen am Samstag im Crown. Du weißt schon, das ist der Pub in der Innenstadt.«
Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, und in meinem Bauch flatterten Dutzende Schmetterlinge. In diesem Moment bremste der Bus abrupt ab, und Ray wurde nach vorne geschleudert, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Er richtete sich hastig und ziemlich verlegen wieder auf, doch ich konnte trotzdem noch seinen warmen, männlichen Körper riechen und atmete tief ein, um den Geruch für immer zu konservieren.
»Ich muss hier raus.«
Er stand auf, blickte von oben auf mich herunter, und seine dunklen Augen bohrten sich in meine. Dann wandte er sich ab und stieg aus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich sah ihm lächelnd nach, wie er um die Ecke bog, hinter der das Fabriktor lag. Ich musste am Samstag in diesen Pub – kostete es, was es wollte.
Die Musik dröhnte, als ich mit meiner Freundin Angie das Crown betrat. Ich reckte das Kinn und tat, als würde ich ständig an Orten wie diesem herumhängen. Ich hoffte nur, dass ich mit dem Make-up, das ich im Bus aufgetragen hatte, mindestens wie achtzehn aussah.
Wir schlugen uns zur Bar durch und bestellten zwei Wodka Orange – der Barkeeper würdigte uns keines weiteren Blickes. Ich umklammerte mein Glas und nahm einen großen Schluck, damit niemand sah, wie meine Hände zitterten.
»Ist er das?«
Angie deutete auf die Bühne, und ich wandte mich um. Tatsächlich, da war er! Ray. Er stand direkt unter einem Scheinwerfer, und seine straffen, schlanken Arme glänzten vom Schweiß, während er auf der Bassgitarre spielte. Er wirkte hochkonzentriert.
»Ja, das ist er!«
Ich stand wie erstarrt da und beobachtete ihn. Kurz darauf war das Stück zu Ende, und wir applaudierten zusammen mit den anderen Gästen. Ray bedankte sich beim Publikum, sprang von der Bühne und machte sich auf den Weg an die Bar. Und plötzlich stand er direkt vor mir. Ich konnte mich nicht mehr rühren.
»Du bist gekommen!« Er wirkte ehrlich erfreut, mich zu sehen.
Ich spürte, wie mir unter dem viel zu züchtigen Kragen meiner Bluse heiß wurde, und fuhr mir mit der Hand über den Nacken.
»Ja.«
Wir sahen uns einen Augenblick in die Augen, dann wandte er sich zu Angie um. »Und wer ist das?«
»Oh, tut mir leid! Das ist Angie. Meine Freundin.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Angie«, erklärte er und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Sie grinste. »Wollt ihr zwei was trinken?«
»Nein danke. Wir haben schon.«
Wir warteten, bis er sich ein Bier und ein Glas mit einer braunen Flüssigkeit besorgt hatte, bei der es sich vermutlich um Whiskey handelte. Er legte den Kopf in den Nacken und stürzte Letzteren in einem Zug hinunter. Dann wischte er sich mit dem Ärmel über den Mund und nahm einen Schluck von seinem Pint. »Wir haben schon ein bisschen gespielt, aber wir treten später noch mal auf. Bleibt ihr länger?«
Ich nickte schweigend. Das hier war alles so seltsam und fühlte sich so erwachsen an. Ich konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich in diesem Pub war. Meiner Mutter hatte ich gesagt, ich sei bei einer Freundin. Sie hätte mich umgebracht, wenn sie gewusst hätte, dass ich mich hier mit diesem Typen unterhielt, aber das war mir egal. Wenn er mich gefragt hätte, wäre ich auf der Stelle mit ihm durchgebrannt.
Er fragte mich natürlich nicht.
Wir quatschten ein bisschen, und langsam entspannte ich mich. Es gab allerdings etwas, das ich ihn unbedingt fragen musste, also holte ich tief Luft und nahm allen Mut zusammen.
»Äh …« Ich war mir nicht sicher, wie ich es formulieren sollte. »Bist du eigentlich Single?«
Ich platzte einfach damit heraus, weil es mir am direktesten erschien. Meine Wangen glühten. Diese Vorwitzigkeit passte gar nicht zu mir. Doch er zuckte nicht mal zusammen. Vermutlich war er solche Fragen gewöhnt. Oder er hatte schon damit gerechnet. Er schüttelte bedächtig den Kopf und grinste kaum merklich.
»Nein, bin ich nicht.«
»Oh.«
»Bist du jetzt enttäuscht?«
»Ich …« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Enttäuscht war nicht das richtige Wort. Ich war am Boden zerstört. Mein Herz war gebrochen. In tausend Stücke zerborsten. Ich hatte natürlich gehofft, dass er noch Single war. Und wenn nicht, dass er mich zumindest interessant genug fand, um mich anzulügen. Es war mir egal, dass eine andere Frau zu Hause auf ihn wartete. Eine Frau, die ich nicht kannte und die ich auch nicht kennenlernen wollte. Ich wollte nur ihn. Leider schien ihm diese Frau etwas zu bedeuten, und deshalb wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich stellte mein Glas ab. »Ich gehe jetzt besser.«
Meine Stimme zitterte, aber ich glaubte nicht, dass er es bemerkte.
Er nahm sanft meinen Arm. »Tu das nicht! Bleib noch! Ich würde dich gern näher kennenlernen.«
»Aber du bist mit jemandem zusammen …«
Er zuckte mit den Schultern. »Das heißt nicht, dass ich mich nicht mit dir unterhalten darf, oder? Ich rede gern mit Menschen. Ich will ja nicht gleich mit dir durchbrennen.«
Er lächelte, und ich lächelte zurück, enttäuscht, dass es mir nicht recht gelang. Ich hatte große Hoffnungen in diesen Abend gesetzt, doch er hatte sie mit wenigen Worten zerschmettert. Trotzdem wusste ich, dass ich bleiben würde. Ich würde nehmen, was ich bekommen konnte.
»Okay.« Meine Stimme brach, ich räusperte mich eilig.
Und ich bemühte mich wirklich sehr. Wir unterhielten uns, wobei ich darauf achtete, erwachsener zu klingen, als ich mich in Gegenwart der um einiges älteren Männer tatsächlich fühlte. Als Ray schließlich auf die Bühne zurückkehrte, wandte ich mich zu Angie um.
»Können wir los?«
»Ach, komm schon! Zuerst schleppst du mich den weiten Weg hierher, und jetzt willst du gehen?« Sie sah auf die Uhr. »Es ist erst halb zehn. Bleiben wir doch noch!«
»Aber …«
»Komm schon, Kim! Wenn wir schon mal hier sind, können wir uns auch ein bisschen amüsieren.«
Ich nickte kläglich. »Okay.«
Ich war so deprimiert, dass ich die nächsten paar Songs nicht einmal hörte. Doch ich tanzte trotzdem und machte ein begeistertes Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was dieser Mann an sich hatte, aber es fühlte sich an, als hätte er mir ein Stück meines Herzens aus der Brust gerissen, und ich würde es nie wiederbekommen.
Ich hoffte, dass der Abend schnell zu Ende gehen würde, damit ich nach Hause fahren und mir an mein Kissen geschmiegt die Augen aus dem Kopf heulen konnte. Also stürzte ich einen Drink nach dem anderen hinunter, bis alles vor meinen Augen verschwamm. Rays Band spielte ihr letztes Stück, und ich hoffte, dass er danach wieder zu mir kommen würde, um sich mit mir zu unterhalten, denn dann hätte ich vielleicht die Chance gehabt, ihm klarzumachen, wie sehr er mich mochte. Doch als er dieses Mal von der Bühne stieg, ging er in die andere Richtung davon, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Kurz darauf sank er in die Arme einer anderen Frau – einer jungen, hübschen blonden Frau – und küsste sie leidenschaftlich. Sie sah glücklich aus, als er die Arme um ihre schmale Hüfte schlang und das Kinn auf ihren Scheitel legte, und als er ihren Blick erwiderte, waren seine Augen so voller Liebe, dass mein Herz ein zweites Mal brach.
Ich zog Angie am Ärmel. »Ich möchte jetzt gehen.«
»Ach, komm schon! Nur noch ein paar Minuten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Du kannst ja hierbleiben. Ich gehe nach Hause.«
Ich stand auf, taumelte aus dem Pub und machte mich auf den Weg. Ich ließ Angie, Ray und die schmächtige blonde Frau hinter mir, als würde allein die Distanz helfen, mein gebrochenes Herz zu heilen.
Es funktionierte natürlich nicht. Die nächsten Wochen, Monate, das ganze Jahr, dachte ich ständig an Ray. Er war jeden Tag bei mir und begleitete mich bis spät in die Nacht, wenn ich schlaflos an die Decke starrte. Ich war krank vor Liebe.
Und Mum wurde es langsam leid.
»Was ist bloß los mit dir? Wo bist du denn andauernd mit deinen Gedanken?«
Ich konnte es ihr natürlich nicht sagen – sie hätte es nie verstanden. Sie hätte mir gesagt, dass ich mich zusammenreißen und endlich erwachsen werden soll. Und dass sie sich nie von einem Mann hatte ablenken lassen. Dad war der Einzige gewesen, den sie je geliebt hatte, doch dann war sie schwanger geworden, und er hatte sie sitzen lassen. Sie hatte sich eine steinharte Schale zugelegt, um nicht wieder verletzt zu werden, weshalb ich unmöglich mit ihr reden konnte.
»Nichts ist los. Es ist alles okay.«
Sie glaubte mir vermutlich nicht, aber sie konnte mir auch nicht das Gegenteil beweisen, also beließ sie es dabei.
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich begann, Ray zu allen Konzerten zu folgen, die er in den Pubs in und um Norwich spielte. Zumindest, wenn ich es irgendwie einrichten konnte. Ich erzählte Mum, dass ich mit Freunden ausging oder babysittete, und sie glaubte, dass ich so gern unterwegs war, weil ich nette neue Leute kennengelernt hatte.
Es spielte keine Rolle, ob ich jemanden hatte, der mich begleitete. Manchmal verbrachte ich den ganzen Abend damit, vor der Bühne in der ersten Reihe zu stehen und Ray zu beobachten, während er sich vollkommen in seiner Musik verlor. An anderen Abend hielt ich mich lieber im Hintergrund und nippte an einem Drink. Ich wollte zwar, dass Ray mich bemerkte, aber ich wollte nicht, dass er dachte, ich würde ihn verfolgen.
Mir war klar, dass ich Rays Frau mittlerweile ebenfalls aufgefallen war. Eines Abends bemerkte sie, wie ich sie beobachtete, und sie sah mir direkt in die Augen. Sie flüsterte Ray etwas zu, der sich zu mir umdrehte und sich anschließend schulterzuckend abwandte.
Mir war klar, dass ich einen Narren aus mir machte, aber ich war machtlos. Ich musste ihn einfach sehen. So etwas war mir noch nie passiert, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Er war wie eine Droge, ich kehrte immer wieder zu ihm zurück.
Mit der Zeit fielen mir bestimmte Dinge auf. Ray trug plötzlich einen Ehering, und kurz darauf wirkte die Frau, die zu ihm gehörte, dicker als sonst. Sie kam nicht mehr so oft zu seinen Gigs, und ich ahnte, dass sie schwanger war. Es war, als hätte jemand einen Dolch in mein Herz gerammt, aber ich folgte ihm trotzdem zu allen Konzerten, auch wenn Ray sich nur noch selten mit mir unterhielt und oft nicht mal mehr in meine Richtung sah. Es war mir egal. Ich war überzeugt, dass er seine Frau eines Tages verlassen und sich für mich entscheiden würde.
Es war tragisch, aber das merkte ich damals noch nicht.
Eines Tages, seit unserer ersten Begegnung waren schon ein paar Jahre vergangen, und ich arbeitete mittlerweile tatsächlich als Schreibhilfe, stand ich erneut in einem Pub und wartete darauf, dass die Band zu spielen begann. Ich war mit Angie unterwegs, die mich immer noch ab und zu begleitete. Vermutlich hoffte sie, bei einem der anderen Bandmitglieder zu landen. Plötzlich entdeckte ich Rays Frau, die mit einem kleinen Mädchen an der Hand in den Pub kam. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst sieben, und ich sah, wie Ray vor Liebe zu strahlen begann, als sein Blick auf die beiden fiel. Tränen brannten in meinen Augen, während ich sie von meiner Ecke aus beobachtete. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er mich ebenfalls so ansah. Doch in diesem Moment wurde mir klar, dass es nie dazu kommen würde.
Es wurde Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Ich durfte mich nicht mehr selbst quälen, nur weil ich hoffte, irgendwann einmal mit ihm zusammenzukommen. Ich schwor mir, dass dieser Abend der letzte war.
Ich blieb an der Bar stehen, obwohl Rays Frau und Tochter kurz darauf verschwanden, und kippte einen Wodka Orange nach dem anderen. Langsam begann sich alles zu drehen. Ich brauchte frische Luft. Also kletterte ich umständlich vom Barhocker und klammerte mich an die Bar. Anschließend wankte ich langsam ins Freie, wo mich die Kälte wie ein Hammerschlag traf. Ich wäre beinahe in die Knie gegangen.
»Hoppla, aufgepasst!« Jemand packte mich am Arm und fing mich auf, und ich hob den Blick.
»Danke«, lallte ich. Dann betrachtete ich die Person genauer. »Warte, kennen wir uns?«
Er nickte, und sein kahl rasierter Schädel glänzte wie eine Billardkugel im Licht der Straßenlaternen. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Barry.«
Ich grinste, und dann zog ich ihn, ohne nachzudenken, näher heran und küsste ihn. Er schmeckte nach Bier, Zigaretten und nicht geputzten Zähnen, aber das war mir egal. Ich wollte endlich vergessen, dass Ray mich nicht wollte, und mir jemanden suchen, der es tat, und Barry schien genau der Richtige, denn er erwiderte meinen Kuss wie ausgehungert, weshalb ich ihn über den Parkplatz zu den Mülleimern zerrte. Mir fiel ein, dass Barry schon immer heiß auf mich gewesen war, und ich wusste, dass er mich nicht zurückweisen würde.
Als er mich schließlich mit dem Rücken gegen die Wand drückte, gab ich ihm zu verstehen, dass ich zu allem bereit war, und wir hatten billigen, schäbigen Sex. Es war mein erstes Mal, und es tat ziemlich weh, aber der Schmerz und die Schande dessen, was ich gerade tat, wurden vom Alkohol betäubt. Als er in der Dunkelheit in mich stieß, versuchte ich mir vorzustellen, es wäre Ray. Als es vorbei war, ertrug ich es kaum, ihm in die Augen zu sehen.
Er tat mir leid, weil ich ihn gar nicht haben wollte. Ich brauchte nur jemanden, der mich von dem Mann in dem Pub ablenkte, der mich nicht begehrte. Ich bereute es, sobald ich mein Höschen hochzog, und als er mich erneut küssen wollte, schob ich ihn fort.
»Danke. Ich muss jetzt gehen.«
»Kommst du nicht noch mal mit rein?«
Er versuchte, meine Hand zu packen, aber ich ertrug seine Nähe nicht mehr. Ich riss mich los, drückte die Handtasche fest an meine Brust und stolperte so schnell ich konnte die Straße entlang zur Bushaltestelle. Tränen liefen über meine Wangen, und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten mich, doch ich drehte mich nicht um, um nachzusehen, ob er mir folgte.
In den darauffolgenden Wochen versuchte ich zu vergessen, was an diesem Abend passiert war. Es war die einzige Möglichkeit, um damit fertigzuwerden. Wenn ich nicht mehr daran dachte, so hoffte ich, war es vielleicht irgendwann so, als wäre es nie geschehen. Ich hörte auf, Ray zu verfolgen, und verbrachte die Abende zu Hause, wo ich Mum langsam auf die Nerven ging. Sie fragte allerdings kein einziges Mal, warum ich plötzlich nicht mehr fortging. Ich glaube, sie wollte die Antwort gar nicht hören.
Doch eines Tages fiel mir plötzlich etwas auf. Meine Periode war ausgeblieben. Ich versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken, doch als auch die nächste auf sich warten ließ, wusste ich es.
Und der Arzt bestätigte es.
Ich war schwanger.
Ich hatte es beinahe geschafft, den hastigen, alkoholumnebelten One-Night-Stand hinter den Mülleimern zu verdrängen. Es war nicht gerade ein Moment, auf den man stolz sein konnte. Doch nun gab es einen unumstößlichen Beweis dafür, dass es tatsächlich passiert war, und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.
Zuerst versuchte ich, es zu verstecken. Ich trug weite Klamotten und zog mich so gut es ging zurück. Ich glaubte, damit durchzukommen – zumindest eine Zeit lang. Kurz darauf kündigte ich meinen Job, weil ich mich voll und ganz auf das Baby konzentrieren wollte, das in mir heranwuchs. Es spielte keine Rolle, dass ich seinen Vater am liebsten vergessen hätte. Ich liebte dieses Kind von der ersten Sekunde an, und ich wusste, dass ich es behalten wollte. Mit der Zeit wurde es allerdings zu kompliziert, es geheim zu halten, und mir wurde klar, dass ich mit meiner Mutter reden musste. Der Gedanke daran jagte mir Angst ein. Sie war zwar ziemlich klein, aber wenn sie wütend war, konnte sie echt furchteinflößend sein.
Eines Tages fasste ich mir ein Herz. »Ich muss dir etwas sagen, Mum«, begann ich. »Vielleicht möchtest du dich lieber hinsetzen?«
»Nein, ich möchte mich nicht hinsetzen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mich an. Meine Wangen glühten. »Was hast du denn angestellt, junge Dame?« Sie brach ab und warf einen Blick auf meinen leicht gewölbten Bauch, auf den ich eine schützende Hand gelegt hatte. Ihr Gesicht wurde kalkweiß, und dann setzte sie sich doch. »O nein, du hast dich schwängern lassen, oder?« Ich nickte kaum merklich. »Ach, du dummes Ding!« Sie legte den Kopf in die Hände und schüttelte ihn langsam, kurz darauf sah sie zu mir hoch. »Wer war es?«
»Es war … irgendein Junge. Barry. Wir sind uns in einem Pub über den Weg gelaufen und wir … Es war nur ein einziges Mal, Mum, aber … dabei ist es passiert. Ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir leid.«
»Einen Fehler?«, fauchte sie. »Ja, den hast du wirklich gemacht. Und zwar einen wirklich, wirklich großen Fehler!« Sie schüttelte erneut den Kopf.
»Es tut mir leid.« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät, meinst du nicht auch?« Sie warf einen weiteren Blick auf meinen Bauch, dann sah sie zu mir hoch. »Also. Wie weit bist du?«
»Ich bin im vierten Monat. Es soll irgendwann im November kommen.«
»Im vierten Monat.« Ich nickte und wartete darauf, dass sie weitersprach. »Hast du vor hierzubleiben oder willst du mit diesem … Barry zusammenziehen?«
»Ich hoffe, dass ich hier bei dir bleiben kann. Und dass du mir vielleicht ein bisschen hilfst …«
»Er will also nichts damit zu tun haben?«
»Ich habe es ihm noch gar nicht gesagt.«
»Das solltest du aber. Auch wenn er das Kind nicht will, sollte er davon erfahren.«
Ich nickte bedrückt. Sie hatte recht, der Gedanke machte mir allerdings Angst.
»Wirst du mir helfen?«
Sie nickte, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme sehr viel weicher. »Natürlich. Aber du weißt, dass diese Sache echt verdammt dumm war, oder?«
Ich konnte die Tränen kaum noch zurückhalten. »Ja. Und … ich wollte wirklich nicht, dass so etwas passiert.«
»Ist schon gut.« Sie stand auf und streckte die Arme aus. »Komm her, du dummes Ding.«
Ich trat dankbar auf sie zu, und wir umarmten einander lange Zeit. Meine Erleichterung war so groß, dass die Tränen endlich zu fließen begannen. Es würde alles gut werden.
Mum drohte, Barry ausfindig zu machen und ihm die Meinung zu sagen, doch ich konnte sie davon abhalten, indem ich mich schlichtweg weigerte, ihr zu sagen, wo er wohnte.
Abgesehen davon verliefen die nächsten Monate ziemlich gut. Ich dachte nicht mehr so oft an Ray, obwohl ich mir manchmal wünschte, ihn noch einmal spielen zu sehen. Aber ich wusste, dass ich mich von ihm fernhalten musste. Er war verheiratet und hatte ein Kind. Außerdem wollte er mich schon damals nicht, und jetzt war die Chance noch geringer.
Eines Tages machte ich mich allein auf den Weg zu Barry. Ich klopfte, und als er öffnete, war mir übel vor Angst. Doch es war, wie ich vermutet hatte. Er zeigte kein Interesse. »Ich brauche deine Hilfe nicht«, sagte ich. »Ich dachte einfach, dass du es wissen solltest.« Ich ignorierte seinen angeekelten Gesichtsausdruck und kehrte mit hocherhobenem Kopf nach Hause zurück. Da war nichts außer Erleichterung. Ich würde es allein schaffen, und es würde alles gut gehen. Ich brauchte niemanden.
Die Schwangerschaft verlief unproblematisch. Mein Bauch wuchs, und langsam war ich bereit. Die Vorfreude wurde immer größer. Ich stellte mir oft vor, wie ich den Kinderwagen die Straße entlangschob. Ich würde so wahnsinnig stolz sein – trotz allem, was passiert war. Ich kaufte eine Wiege, die ich neben mein Bett stellte, und außerdem noch Windeln, Milchpulver, Bodys und einen Teddybären. Ich war bereit.
Eines Tages fiel mein Blick auf eine Schlagzeile in der Zeitung. MANN BEI UNFALL GETÖTET. Es waren allerdings nicht die Worte, die meine Aufmerksamkeit erregten, sondern die Fotos. Ich schrie vor Entsetzen auf. Es war Ray. Ich las eilig den Artikel und hoffte verzweifelt, dass ich etwas missverstanden hatte, dass es nicht Ray war, der ums Leben gekommen war. Doch er war es – und als ich am Ende angekommen war, musste ich mich übergeben.
Ich hatte Ray nicht viel bedeutet – um genau zu sein hatte er sich überhaupt nichts aus mir gemacht –, aber er war mir sehr wichtig gewesen. In gewisser Weise war er sogar der Grund, warum ich schwanger geworden war. Ich hatte ihn eifersüchtig machen wollen und mich von der Erkenntnis ablenken, dass er mich nicht haben wollte.
Und jetzt war er tot.
Ich versuchte mir zu sagen, dass es albern war, um jemanden zu trauern, den ich kaum gekannt hatte, doch ich trauerte, und es gab niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Ich musste den Schmerz verdrängen und weitermachen. Und ich machte meine Sache ziemlich gut. Ich überlegte zwar ernsthaft, zu seiner Beerdigung zu gehen, doch am Ende schaffte ich es nicht. Ich konnte seiner Frau nicht gegenübertreten, und ich wollte auch nicht, dass sie mich sah. Also blieb ich zu Hause, auch wenn es hart war.
Mum führte meine schlechte Stimmung auf die Hormone und die Tatsache zurück, dass ich mich mit meinem dicken Bauch kaum noch bewegen konnte, und versuchte, mich aufzuheitern. Doch das Einzige, das mich dazu brachte, jeden Tag aufzustehen und weiterzumachen, war das neue Leben, das in mir heranwuchs. Ich musste stark sein für mein Baby.
Ich verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, was Rays Frau und sein Kind gerade durchmachten. Es war mir egal.
Gut zwei Monate später kam der Tag, über den ich nie mehr hinwegkommen sollte.
Ich war in den frühen Morgenstunden ins Krankenhaus gefahren, weil ich mich seltsam fühlte, und die Ärzte sagten, dass sie mich zur Beobachtung dortbehalten wollten. Und plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, setzten die Wehen ein. Der Schmerz, den ich in den nächsten Stunden erlebte, war heftiger als alles, was ich mir bis dahin vorstellen konnte. Als es endlich vorbei war und ich meinen wunderschönen kleinen Jungen in den Armen hielt, dachte ich, dass ich so etwas nie wieder ertragen würde. Doch nur wenige Minuten später blieb mir nichts anderes übrig. Denn da war noch ein zweites Baby, das auf die Welt drängte.
Ich bekam Zwillinge.
Die Schmerzen waren so groß, dass der Schock in den Hintergrund trat, und als man mir schließlich die beiden winzigen, in Krankenhausdecken gewickelten Bündel in die Arme legte, war ich zum ersten Mal seit Monaten wieder richtig glücklich. Diese beiden kleinen Menschen flickten das Loch in meinem Herzen und gaben mir wieder einen Grund zu leben. Ich rief meine Mutter an, die sich unglaublich für mich freute.
Natürlich war ich nach der Geburt schrecklich erschöpft. Die Zwillinge, die ich Samuel und Louisa nennen wollte, schliefen in zwei identischen Bettchen am Fußende meines Krankenhausbettes, und ich saß einfach so da, sah ihnen beim Schlafen zu und wäre beinahe vor Liebe geplatzt.
Nach dem Mittagessen machte ich ein Nickerchen, und als ich aufwachte, war die Station voller fremder Menschen. Es war Besuchszeit, und Mum hatte sich angekündigt. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Enkelkinder kennenzulernen.
Ich wollte unbedingt noch eine Zigarette rauchen, bevor sie kam, und so hievte ich meinen schmerzenden Körper aus dem Bett und holte die Packung aus meiner Tasche. Die Zwillinge schliefen tief und fest. Ich blieb in der Tür stehen und warf einen kurzen Blick auf die Besucher im Flur. Vor meinem Zimmer saß eine Frau mit einem Buggy, in dem ein kleines Mädchen lag, das schlief. Sie kam mir irgendwie bekannt vor, doch sie sah so traurig aus, dass ich sie nicht länger als nötig ansehen wollte. Ich ertrug den Gedanken daran nicht, was sie wohl so traurig gemacht hatte, und so wandte ich mich ab und ging hinaus.
Während ich rauchend auf der Feuertreppe stand, wurde mir klar, wie sehr sich mein Leben verändert hatte. Das Nikotin machte mich ein wenig benommen, und meine Gedanken wanderten immer wieder zu Ray. Ich vermisste ihn furchtbar, doch ich versuchte, an etwas zu denken, das nicht so wehtat, also überlegte ich, ob ich Barry von den Zwillingen erzählen sollte. Doch vermutlich interessierte es ihn gar nicht, und ich ertrug die Vorstellung nicht, dass jemand die beiden nicht so sehr lieben würde wie ich. Ich sah ihre winzigen, perfekten Gesichter vor mir und war einfach nur glücklich.
Ein Krankenwagen hielt vor dem Gebäude, und die Türen flogen auf. Ich fragte mich kurz, worum es sich bei dem Notfall wohl handelte, dann zog ich ein letztes Mal an meiner Zigarette und drückte den Stummel am Geländer aus. Er fiel fünf Stockwerke tief auf die Straße. Ich öffnete die Tür und eilte so schnell ich konnte den Flur entlang zu meinem Zimmer. Ich sehnte mich nach meinen Babys.
Auf einmal rief jemand meinen Namen. Ich wandte mich um, und mein Blick fiel auf Mum, die breit grinsend auf mich zukam. Es war ein so seltener Anblick, dass ich ebenfalls lächelte.
»Kimberley!« Sie zog mich an sich und schnupperte. »Hast du etwa geraucht?« Ich nickte, und sie musterte mich einen Moment lang. »Na ja, du bist jetzt selbst Mutter, also kann ich es dir wohl kaum verbieten, oder?«
Ich grinste. »Ich erinnere dich das nächste Mal daran!«
Sie strich mir lächelnd die Haare aus dem Gesicht. »Mir ist klar, dass ich das nicht oft genug sage, aber ich bin sehr stolz auf dich, weißt du?«
»Ja, ich weiß.«
Sie legte mir für einen Augenblick die Hand auf die Wange, und in diesem Moment war ich wieder ihr kleines Mädchen. Ich wollte, dass dieses Gefühl ewig anhielt.
»Okay, darf ich jetzt endlich meine Enkelkinder in den Arm nehmen?«
»Ja, wenn sie wach sind.«
Wir gingen die wenigen Meter zu meinem Zimmer. Ich wünschte, ich hätte damals schon gewusst, dass ich auf diesen paar Schritten das letzte Mal in meinem Leben glücklich sein würde, denn dann hätte ich versucht, noch ein bisschen länger daran festzuhalten. Doch im nächsten Augenblick war es zu spät.
Ich wusste sofort, als wir das Zimmer betraten, dass etwas nicht stimmte. Am Ende meines Bettes standen immer noch zwei Bettchen, aber nur in einem lag ein Baby. Das andere Bettchen war leer. Als hätte mein kleines Mädchen nie existiert. Die Welt stand einen Moment lang still, während ich zu verstehen versuchte, was hier vor sich ging. Meine Mutter redete immer noch, aber ich hörte kein Wort von dem, was sie sagte. Ich sah mich panisch in dem Zimmer um, aber mein Baby war nicht da. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich musste mich am Türrahmen festhalten.
»Wo ist sie?«
Ich fuhr herum, und Mum sah wohl die Panik in meinen Augen, denn sie packte mich am Arm und fragte: »Was ist denn los? Was ist passiert?«
»Mein Baby … Louisa …« Ich deutete auf das leere Bettchen.
Mum versteifte sich jäh. »Es ist sicher alles in Ordnung. Versuch, nicht gleich in Panik zu geraten. Es geht ihr ganz sicher gut. Wahrscheinlich hat eine der Krankenschwestern sie mitgenommen, weil sie geweint hat, während du draußen warst.«
Sie hastete davon und ließ mich allein zurück, um mit jemandem vom Personal zu sprechen. Doch ich wusste bereits in diesem Moment mit absoluter Sicherheit, dass Louisa nicht bei einer der Krankenschwestern war.
Sie war nicht im Babyzimmer.
Sie war fort.
Ich wusste es einfach.
Meine Beine gaben unter mir nach, und ich spürte, wie mir jemand hochhalf und mich zum Bett begleitete. Ich hörte Stimmen, die immer lauter wurden und ihren Höhepunkt fanden, als schließlich allen klar wurde, was geschehen war.
In den nächsten Stunden huschten Menschen in mein Zimmer, die mit sanften Stimmen auf mich einredeten. Ich verstand sie nicht. Irgendwann stand ich auf und holte Samuel zu mir, und ich sah meinen schlafenden kleinen Jungen an, während um mich herum Panik herrschte. Ich betrachtete sein Gesicht, die süße kleine Stupsnase und den dunklen Haarschopf, der unter der winzigen Wollmütze hervorblitzte, und versuchte, alles andere auszublenden. Ich musste die Panik in den Griff bekommen, die in mir hochstieg, und das konnte ich nur, wenn ich mich vollkommen von der Außenwelt zurückzog.
Ich weiß nicht, wie es weiterging, nachdem mir klar geworden war, dass mein kleines Mädchen verschwunden war. Irgendwann kam die Polizei und stellte eine Menge Fragen. Krankenschwestern eilten um mich herum, Mum wirkte blass und mit den Nerven am Ende. Sie schien um Jahre gealtert.
Einige Tage später brachte sie mich nach Hause und verfrachtete mich ins Bett. Der kleine Samuel schlief in der Wiege neben mir, und wenn er weinte, stillte ich ihn. Manchmal schreckte ich aus einem unruhigen Schlaf hoch und sah, dass Mum ihn in den Armen hielt und er gierig an einem Fläschchen nuckelte. Doch die meiste Zeit über versuchte ich, nicht zu schlafen. Ich durfte meinen kostbaren Jungen nicht aus den Augen lassen, damit man ihn mir nicht auch noch wegnahm.
Ich fragte mich ständig, wie das alles geschehen konnte. Warum hatte ich die beiden allein gelassen, auch wenn es nur ein paar Minuten gewesen waren? Hätte ich diese Zigarette nicht geraucht, sondern wäre im Zimmer bei ihnen geblieben, wäre das alles nicht passiert.
Die Tage versanken im Schmerz. Ich wachte schreiend auf oder fand mich schluchzend auf dem Badezimmerboden wieder, bis Mum kam und mich wieder ins Bett brachte. Darauf folgten Tage, in denen ich vollkommen lethargisch war und ins Leere starrte. Ich glaube, Mum kam mit dem Schreien und Weinen besser zurecht. Sie wusste, was es bedeutete und wie sie mir helfen konnte. Aber wenn ich mich wieder einmal in mich zurückzog, wurde sie unsicher, schien nicht zu wissen, wie sie zu mir durchdringen sollte. Und ich war zu weit fort, um ihr entgegenkommen zu können.
Ich sprach mit Reportern und mit der Polizei. Sie fragten mich, ob ich eine Ahnung hätte, wer so etwas getan haben könnte, doch mir fiel niemand ein, und das machte es noch schlimmer. Es war, als würde ich Louisa im Stich lassen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich Barrys Namen zu Protokoll gab, aber ich war mir sicher, dass er nichts zu verbergen hatte, und es war besser, die Wahrheit über den Vater der Kinder zu sagen.
Hätte man mich gefragt, hätte ich vermutlich behauptet, dass ich mir in dem Moment, als ich Louisas leeres Bettchen sah, sicher war, dass ich sie niemals wiedersehen würde. Doch in Wahrheit war da immer ein Funken Hoffnung, der zwar mit der Zeit kleiner wurde, aber nie ganz erlosch. Er blieb tief in meinem Herzen.
Es war eine schwere Reise für mich und meinen Jungen, und es gab Zeiten, in denen ich den Glauben daran verlor, dass ich es schaffen würde. Doch ich konnte mich jedes Mal aus dem Abgrund befreien. Für ihn.
Und jetzt sind wir hier – und sie steht vor mir in meiner Küche. Louisa, mein kleines Mädchen, das alle anderen schon vor so vielen Jahren aufgegeben haben.
Meine Louisa.
Der Funken beginnt nach langen, schmerzvollen Jahren endlich zu lodern, und der Glaube, dass alles gut werden wird, wächst.