9. Kapitel
»Wir fangen hier an und arbeiten uns dann ums ganze Haus herum«, sagt Patrick. »Die Regenrinnen müssen wahrscheinlich erneuert werden – sie sehen ziemlich übel aus.« Er lehnt eine Leiter an die Rückseite des Hauses und steigt hinauf.
Ich stehe neben der Leiter und habe den Stift gezückt, um jeden seiner Sätze mitzuschreiben. Nicht gerade mein Traum von einem Ferientag, aber ich bin froh, draußen in der Sonne zu sein und nicht noch einen zweiten Tag drinnen am Esstisch verbringen zu müssen, um die endlosen Beileidsbekundungen der Streuselkuchenbäckerinnen von Red Falls entgegenzunehmen.
»Tut mir leid wegen gestern Abend«, sage ich und blinzle in die Sonne, in der ich ihn kaum erkennen kann. »Wegen meiner Mutter, meine ich. Sie ist manchmal etwas forsch und fordernd. Na ja, eigentlich ist sie das fast immer.«
Patrick stochert in der Regenrinne herum, verwelkte Ahornblätter segeln herunter. »Kein Problem. Mein Vater ist auch manchmal etwas schwierig. Schreib auf: Regenrinnen auf der Rückseite stabil. Müssen gereinigt werden.«
Ich notiere es. »Eltern sind eben so.«
»Absolut. Aber erzähl mal, was würdest du den ganzen Sommer treiben, wenn du nicht die ehrenvolle Aufgabe zugewiesen bekommen hättest, Regenrinnen zu inspizieren?«
»Ach, weißt du, nichts Besonderes. Typische Sommersachen«, antworte ich ausweichend. Keinesfalls will ich mit ihm über Tabuthemen wie Finn, Handyfotos, Seven Mile Creek oder Google-Recherchen nach meinem Vater diskutieren. Mit meinem rechten Flipflop versuche ich, einen Kreis auf dem Kies zu ziehen, aber ich habe nicht genug Schwung geholt und stoße mir stattdessen den großen Zeh an einem Stein an.
»Wie zum Beispiel?«, fragt Patrick, der immer noch in der Regenrinne herumstochert.
»Ins Kino gehen. Rumhängen. Lesen. Mir die Zeit vertreiben. In Pennsylvania ist nicht gerade viel los.«
»Aber wenigstens hast du in Pennsylvania einen Freund!«
»Was?«
»Na, der Slogan, du weißt schon.« Patrick legt die rechte Hand aufs Herz und schmettert den total bescheuerten Tourismuswerbespot: »You’ve got a friend, in Penn-syl-van-ia!«
»Und was ist mit Vermont?«
»Na ja, eigentlich ist damit Vermont gemeint. Aber wir haben leider keinen Song.«
»Alles klar.« Ich lache.
»Hey, Freundchen, ich hab nicht gesagt, dass ich das in Ordnung finde. – Achtung!« Er lässt sein T-Shirt heruntersegeln. »Es ist hier oben höllenmäßig heiß.«
Patrick steigt ein paar Sprossen herunter, um die Fenster im ersten Stock zu überprüfen. Ich beobachte, wie die Muskeln seiner gebräunten Schultern und Oberarme sich leicht anspannen, während er die Holme der Leiter umfasst. Sein nackter Oberkörper beugt sich zur Seite, während seine Hände auf der Suche nach Rissen und Schadstellen die Holzrahmen abtasten. Natürlich mustere ich ihn nur so genau, weil ich aufpassen muss. Könnte ja sein, dass er abrutscht. Ich muss ungefähr sein Gewicht und sein Bewegungsmuster einschätzen können, um dann an der richtigen Stelle zu sein, falls er stürzt, und ich ihn auffangen muss …
Ich blinzle ein paar Mal und richte die Augen dann starr auf mein Notizbuch. »Irgendwas gefunden?«, frage ich.
»Fenster noch in gutem Zustand. Müssen nicht neu verkittet werden. Schreib das auf.«
»Gut. Schon notiert. Und du? Was machst du so, wenn du nicht gerade Häuser reparierst oder als Herzensbrecher auf der Bühne stehst?«
»Schreib auf«, sagt er. »Fassade und Fensterläden müssen gerichtet werden. Kostenvoranschlag für Malerarbeiten oder neue Verkleidung.«
»Hab ich. Also?«
»Herzensbrecher? Nicht wirklich. Ich tu, was alle hier so treiben«, sagt er und klettert die Leiter herunter, um einen Schluck aus seiner Trinkflasche zu nehmen. »Schwimmen. Segeln. Wassersport. Paddeln auf dem See macht auch Spaß – du musst mal mitkommen.«
Ich klappe das Notizbuch zu. Meine Augen wandern unwillkürlich die nasse Spur entlang, die ein Wassertropfen hinterlässt, von seinem Mundwinkel … zum Kinn … den Hals hinunter … zur Kuhle am Schlüsselbein …
Er kommt näher und hält mir seine Wasserflasche hin. »Magst du bestimmt auch.«
»Wasser?«
»Paddeln.« Er steht jetzt ganz dicht vor mir, näher als mein offizieller Wir-sind-nur-gute-Freunde-Abstand es eigentlich zulässt, und lächelt mich mit seinen honig- und bernsteinfarbenen Augen und diesen Grübchen in den Wangen an, und kein Wunder, dass mir so heiß wird, hier in der heißen Sonne vor dem heißen Haus, während ich dastehe und ihn anschaue …
»Patrick?« Jack. Patrick weicht hastig einen Schritt zurück, aber er lächelt immer noch, und ich greife nach der Wasserflasche in seiner ausgestreckten Hand.
»Mann, echt witzig, euch beide so miteinander zu sehen«, sagt Jack. Ein breites Grinsen überzieht sein großes, sonnengebräuntes Gesicht. »Ihr wart als Kinder unzertrennlich. Sogar am Abend, wenn ihr den ganzen Tag miteinander gespielt hattet, wolltet ihr immer noch nicht voneinander lassen. Wir haben euch abwechselnd mal beim einen, mal beim anderen übernachten lassen, damit es keine Tränen gab.«
»Ähm, Dad?« Patrick hält die Hand schützend vor die Augen und blinzelt seinen Vater im Gegenlicht an. »Brauchst du irgendwas?«
»Ich muss noch mal zum Baumarkt fahren. Die Nägel haben nicht die richtige Größe – das Holz ist dicker, als ich dachte.«
Patrick langt in seine Hosentasche und reicht ihm grinsend die Autoschlüssel. »Ab und zu mal ein kleiner Spaziergang würde deinen alten Knochen nicht schaden.«
»Wo du recht hast, hast du recht, mein Sohn. Aber pass du mal auf, dass du keinen Sonnenbrand kriegst.« Man kann Jacks Lachen noch hören, als er bereits um die Hausecke verschwunden ist.
Ich bemerke, dass Patrick einen roten Kopf bekommen hat. »Gut zu wissen, dass meine Mutter kein Monopol darauf hat, ihre Nachkommenschaft in peinliche Situationen zu bringen.«
»Haha, du glaubst wohl, das ist witzig?« Patrick greift nach seinem T-Shirt und grinst mich an, während er mit den Armen nach den richtigen Löchern sucht. Sein Lächeln hat auf einmal etwas Herausforderndes. Ich lasse das Notizbuch fallen und renne los und Patrick hinter mir her und beide lachen wir so wie früher, als wir noch Kinder waren, lachen, wie ich seit Monaten nicht gelacht habe. Ich kreische und renne und lasse Patrick ums ganze Haus hinter mir herjagen, und bin glücklich, nichts als glücklich, die Sonne scheint, es ist heiß, und ich fühle mich leicht und frei. Vor mir erstreckt sich eine endlose Reihe unbeschwerter, sorgloser Sommertage. Aber bei unserer zweiten Runde ums Haus, als wir gerade um die hintere Ecke biegen, blicke ich auf einmal hoch und mir springt das Erkerfenster auf der Rückseite ins Auge, in dessen Scheiben sich der See spiegelt; das Fenster, hinter dem Little Ricky und ich es uns gemütlich gemacht und gelesen haben, wenn wir bei Regenwetter im Haus bleiben mussten. Als würde in meinem Kopf ein neuer Film eingelegt, sehe ich plötzlich einen Rotkardinal vor mir und bleibe stehen, weil ich mich an die Szene mit dem Vogel erinnere, der damals im Wintergarten verwirrt umherflatterte, immer wieder gegen eines der Fenster stieß und nicht mehr hinausfand. Grandpa saß in seinem Rollstuhl und konnte nichts tun, deshalb rief er Jack zu Hilfe. Ricky und ich versteckten uns bei Mom und spähten hinter ihren Ellenbogen hervor. Als Jack es schließlich mit viel List und Mühe geschafft hatte, den Rotkardinal zur offenen Tür zu locken, schoss dieser hinaus. Pfeilschnell flog er in Richtung See und schwebte hoch über den Baumwipfeln davon. Wir alle jubelten und klatschten und erzählten uns die Geschichte ungefähr hundert Millionen Mal – froh und glücklich, dass der kleine rote Vogel wieder zu seiner Familie zurückkehren konnte.
Bis auf Grandma.
Ich glaube, als Kind habe ich meine Großmutter nicht als unglücklich oder verbittert empfunden. Trotzdem kommen mir diese Worte, die so traurig und herzlos klingen, jetzt in den Sinn, als ich an den Rotkardinal denken muss. Sie war so abweisend und jubelte überhaupt nicht mit uns mit, als Jack den Vogel befreit hatte, und auch später wollte sie die Geschichte nicht hören. Konnte nicht mitlachen, wenn wir sie uns erzählten.
Grandpa dagegen lachte gerne. Er brachte Ricky und mir Schach und Backgammon bei, erzählte uns Abenteuergeschichten von seinen Reisen durch Asien und las mir jeden Sonntag beim Frühstück Comics vor. Ich erinnere mich daran, dass Grandma immer für uns gesorgt hat – sie kochte für uns, setzte mir in meinem Zimmer Puppen und Stofftiere aufs Bett und hängte darüber einen Spitzenbaldachin auf, sodass ich mich wie eine Prinzessin fühlte, sie schickte uns zu Weihnachten immer Päckchen mit Geschenken und trank spätabends in der Küche noch einen Tee mit Mom und Rachel. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie jemals lächelte. Und ihr Lachen? Auch daran habe ich keine Erinnerung, könnte nicht sagen, wie es sich angehört hat. Stattdessen konnte es vorkommen, dass sie sich gleich nach dem Frühstück wieder in ihr Schlafzimmer verzog und dort zwei, drei Tage lang blieb. Man hörte dann nur, wie sie ab und zu ins Badezimmer schlurfte oder die Tür aufmachte, um sich das Tablett mit dem Essen hereinzuholen, das Grandpa für sie hingestellt hatte.
Habe ich gespürt, dass es ihr nicht gut ging, auch wenn ich nicht wusste, warum? Habe ich es gewusst, so wie man weiß, dass es gleich regnen wird, weil die Blätter silbrig glänzen und im Wind zittern? Oder wie man irgendwann spürt, dass der Herbst kommt? Patrick hat gesagt, dass Grandma an einem Herzinfarkt gestorben ist, aber vielleicht hätte sie noch viel länger leben können, wenn sie glücklicher gewesen wäre. Vielleicht hätte dann auch unsere Familie wieder zusammenfinden können, wer weiß. Hätte sie doch nur manchmal so lachen können, wie Grandpa immer über meine erfundenen Geschichten gelacht hat. Trotz Stephanies Tod.
Und so wie mich vor zwei Tagen in Stephanies altem Zimmer plötzlich merkwürdige Gedanken überfielen, ahne ich jetzt auf einmal, was der Schock, ihre jüngste Tochter verloren zu haben, für meine Großmutter bedeutet haben muss. Ich glaube, sie hat dadurch ihr Lachen verloren. Die Freude am Leben. Die Fähigkeit, glücklich zu sein.
»Alles in Ordnung?« Patrick steht neben mir, noch ganz außer Atem, und legt mir die Hand auf die Schulter.
»Ich kann nicht verstehen, warum sie nicht versucht hat, mit mir in Kontakt zu bleiben. Bis jetzt habe ich mir darüber eigentlich noch nie Gedanken gemacht, aber wenn du nur eine einzige Enkelin hast, und es gibt in der Familie Streit und du siehst sie auf einmal nicht mehr – versuchst du da nicht wenigstens, ab und zu mal anzurufen? Oder ihr Postkarten zu schicken oder einen Geburtstagsbrief oder irgend so was in der Art?«
»Ich wünschte, ich könnte dir eine Antwort darauf geben, Del. Aber ich habe keine Ahnung.«
Während meine Tante die übrig gebliebenen Lebensmittel ihrer Mutter durchsortiert und meine eigene Mutter sich ihrem superwichtigen Job widmet, scheine ich die Einzige zu sein, die ihren Erinnerungen an Grandma nachhängt. Ich setze mich ins Gras, immer noch atemlos von der Jagd ums Haus, und der Junge, den ich von früher kenne und jetzt wiedergetroffen habe, setzt sich neben mich. Wir waren damals in den Sommerferien immer die besten Freunde, und in den Jahren, die seither vergangen sind, hat er sich genauso stark verändert wie ich. Wir sind einander fremd, wissen nichts vom Leben des anderen – und trotzdem. Seltsam, wie nahe ich mich ihm in diesem Moment fühle. Als gäbe es zwischen uns so etwas wie ein kosmisches Gummiband, das uns jetzt wieder zueinander hinzieht.
»Hey, sei nicht traurig.« Patrick legt seinen Arm um mich und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. Wahrscheinlich sollte ich das besser nicht tun, aber sein Körper fühlt sich so warm und vertraut und wirklich an, als wäre alles, was wir miteinander erlebt haben, noch ganz lebendig. Oder etwas, das ich mir immer wieder tröstlich in Erinnerung rufen kann, wenn ich Angst habe oder allein bin. Aber irgendwie ist es auch ein komisches Gefühl, einem anderen Jungen als Finn so nahe zu sein. Und Patrick riecht auch anders. Nach einer anderen Seife, einem anderen Shampoo und überhaupt hat er einen ganz anderen Geruch. Seine Hand streift mein Ohr und mich durchläuft ein leichtes Zittern. »Sie ist immer noch hier, Delilah. Du trägst sie in dir.«
»Weißt du, was damals eigentlich passiert ist? Am Tag von Grandpas Beerdigung? Haben deine Eltern dir jemals etwas von dem heftigen Streit erzählt?«
Patrick schüttelt den Kopf. »Nein. In meiner Gegenwart haben sie nie darüber gesprochen. Ich hab sie damals immer wieder gefragt, wann du denn zurückkommen würdest, und sie haben mir jedes Mal geantwortet, sie wüssten es nicht. Mom hat ein paar Mal versucht, deine Mutter und Rachel anzurufen, aber sie wollten keinem erzählen, was passiert war. Und deine Großmutter hat erst recht nicht darüber geredet. Schließlich hat es meine Mutter aufgegeben. Ich hab noch jahrelang jeden Sommer nach dir gefragt. Als Antwort bekam ich nur zu hören, es handle sich um eine Familienangelegenheit, das gehe uns nichts an.«
»Aber ihr wart doch ihre Nachbarn und dein Vater ging bei ihr ein und aus. Sie muss doch irgendwann mal was gesagt haben.«
»Keine Silbe. Als er sie vor ein paar Tagen tot aufgefunden hat, hab ich ihn noch mal gefragt. Mir war ja klar, dass ihr jetzt kommen würdet. Er hat nur wiederholt, dass sie nie darüber geredet hat. Vielleicht war es ja alles ihre Schuld, kann ja sein.«
Ich lasse den Blick über den Red Falls Lake bis ans andere Ufer wandern. Von hier oben wirkt der See wie ein riesengroßes blaues Loch, still und friedlich und gleichgültig gegenüber all den Segelbooten und Touristen und schreienden Babys, die sich auf ihm und um ihn herum tummeln.
»Ich habe gerade daran denken müssen, wie damals der Vogel da drinnen gefangen war.« Ich deute auf die Fenster des Wintergartens. »Weißt du noch?«
»Ja. Es war ein Rotkardinal. Dad hat es mithilfe von ein paar Bettlaken schließlich geschafft, ihn nach draußen zu befördern – ich erinnere mich noch ganz genau daran! So einen Vogel hab ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Manchmal erspähe ich einen Blauhäher, aber einen Rotkardinal nie.«
»Ich auch nicht.« Ich stehe auf und klopfe mir das Gras von den Shorts.
Patrick dreht mir seinen Hintern hin. »Bei mir bitte auch, okay?«
»Das kostet extra.«
»Wie viel?«
»Das muss ich erst ausrechnen. Mein Tagessatz ist in den letzten acht Jahren gestiegen.«
Patrick schüttelt den Kopf und sieht mich aus seinen honigfarbenen Augen eine Sekunde zu lang an. »Ich glaube, dir geht’s wieder gut, Hannaford. Ich bin hier fertig.«