10. Kapitel
»Okay, Mädels, womit fangen wir an?« Emily steht mitten in der Küche. Sie hat einen Overall an und ein rotes Bandana locker um den Kopf gebunden. Eine Woche lang haben uns die Vorarbeiten für die Reparaturen am Haus und der nicht enden wollende Besucherstrom in Beschlag genommen, doch allmählich wird es Zeit, dass wir uns um den Flohmarkt kümmern, den wir mit Großmutters Besitztümern veranstalten wollen. Mom muss dringend ein paar Dinge in der Stadt erledigen, deshalb haben Em und Megan, die selbst ernannten Flohmarktköniginnen von Red Falls, sich bereit erklärt, uns beim ersten Durchgang zu helfen.
Rachel und Megan nehmen sich erst mal den Keller vor, während Emily und ich die Küchenschränke ausräumen und alles, was sich darin befindet, in vier Haufen sortieren: was wir gebrauchen können, während wir hier sind, was wir verkaufen wollen, was wir verschenken wollen – und Müll. Bis jetzt wandert das meiste in den Müll. Tupperware-Schüsseln ohne Deckel. Tassen ohne Henkel. Alte abgewetzte Picknicktischtücher, die seit Jahren nicht mehr an der frischen Luft waren.
»Guck dir das mal an.« Emily hält zwei weiße Kaffeebecher hoch, die mit einem Muster aus Prilblumen bedruckt sind. »Die stammen noch aus dem ›Cardinal‹, so hieß das Café, bevor es meine Tante übernommen und in ›Luna’s‹ umgetauft hat. Schätze mal, deine Grandma hat sie da irgendwann einfach mitgehen lassen. Ziemliches Früchtchen, was?«
Ich ziehe die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Ich hab eigentlich kaum Erinnerungen an sie.«
»Oh. Tut mir leid, Delilah.«
Ich nehme ihr die beiden Kaffeebecher ab und stelle sie zu den Sachen, die wir verkaufen wollen. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war ich acht.«
»Ja, Patrick hat mir erzählt, dass ihr lange nicht mehr hier wart. Ich hoffe, das kommt jetzt nicht falsch rüber, aber ich glaube, du hast ihm wirklich gefehlt. Bitte sag ihm nicht, dass ich dir das erzählt habe.«
Bei seinem Namen spüre ich ein Kribbeln im Bauch, als würde dort ein Schmetterling herumflattern. Dummes Insekt. »Ich habe ihm gefehlt?«
»Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er mir letzte Woche von dir erzählt hat. Wow, ihr beide müsst euch als Kinder wirklich gut verstanden haben.«
»Haben wir«, sage ich. »Aber das ist schon ewig her. Es fühlt sich für mich seltsam an, wieder hier zu sein. Ab und zu überfallen mich ein paar Erinnerungen, denen ich erst noch nachspüren muss.« Keine Ahnung, warum ich mit Em so unbeschwert über alles reden kann. Vielleicht liegt es an ihrem Lächeln oder an ihrer Art, alles immer geradeheraus zu sagen. Ohne falsche Pose oder großes Tamtam. Ohne peinliche Pausen. Vielleicht sind es auch ihre Augen, ihr ehrlicher, offener Blick. Oder vielleicht ist es das kleine Puppentheater in drei Akten, das sie mit den Keksschachteln und Topfhandschuhen aufführt.
»Oreo, oh Oreo, wie ist mir wohl und weh ums Herz! Ach, du Oreo mein!«
Wir verbringen den ganzen Nachmittag damit, Grandmas Sachen zu sortieren, quasseln über das Leben und Bücher und Filme, über alles, was wichtig ist, und über ganz viel, was nicht so wichtig ist. Ich krieg schon fast Muskelkater vom vielen Lachen, und als Rachel und Megan schließlich mit etlichen Mülltüten aus dem Keller auftauchen und beschließen, dass es für heute gut ist, blicke ich verblüfft auf die Uhr am Herd und wünsche mir, Em und ich hätten noch mehr Zeit miteinander.
»Kommst du morgen zu Patricks Konzert?«, fragt Em.
»Ja.« Falls ich Mom nicht überreden kann, mich hingehen zu lassen, kann ich immer noch durchs Fenster klettern.
»Super. Meine Schicht endet um sechs. Wir sehen uns dann dort.« Em umarmt mich zum Abschied, und es ist schon so lange her, dass eine Freundin mich zum Abschied mit Küsschen rechts und links umarmt hat, dass ich einen Moment brauche, bis ich kapiere und sie ebenfalls umarme.
»Ihr zwei scheint ja viel Spaß gehabt zu haben«, sagt Rachel, als die beiden fort sind. »Das freut mich. Sie ist wirklich ein nettes Mädchen.«
Nach dem Abendessen trage ich die Mäntel und Stiefel aus dem Wandschrank in meinem Zimmer nach unten, damit sie auch in vier Haufen sortiert werden können. Bis auf ein paar Spinnweben ist der Schrank jetzt ganz leer, und ich hänge darin meine Sommerjacke, mein Kleid für die Beerdigung und ein paar T-Shirts auf, die im Rucksack ziemlich zerknittert wurden. Meine Schuhe stelle ich schön nebeneinander unten in den Schrank. Als ich auf Zehenspitzen zurücktrete, um mein Werk zu bewundern, knarzt der Dielenboden des Wandschranks ungewöhnlich laut, und das Holz gibt unter meinem Fuß nach. Ich bücke mich, um den Schaden zu begutachten. Das muss ich Patrick sagen, ist mein erster Gedanke. Ein Brett hat sich gelockert, und als ich die Stelle noch genauer untersuche, halte ich auf einmal ein Ende davon in der Hand. Neugierig hebe ich das Dielenbrett ganz hoch, was erstaunlich leicht geht, es öffnet sich ein schwarzes Loch voller Staub, toter Spinnen und Spinnweben, und da entdecke ich es. Das Tagebuch von Stephanie Delilah Hannaford, das bisher niemand gefunden hat.
Ich ziehe es vorsichtig heraus, halte es einen Moment in der Hand, als wollte ich abwägen, wie schwer der Inhalt wohl ist. Es ist in brüchig gewordenes weißes Kunstleder eingebunden, schon leicht gelblich verfärbt, und auf der Vorderseite prangt eine goldene Rose. Die zarte Metallschließe, von der die Seiten früher einmal zusammengehalten wurden, hat sich gelöst, und als ich mich im Schneidersitz auf den Boden hocke, klappt der Einband plötzlich auf und zwischen den Seiten fallen gepresste Blumen und verblasste rote Ahornblätter heraus. Mein Herz pocht. Ich habe das Gefühl, dass das Tagebuch hier auf mich gewartet hat; dass Stephanie selbst es so wollte. Ich sollte genau heute ihr Tagebuch finden, das sie so sorgfältig unter einer losen Diele des Schrankbodens versteckt hat und das da so viele Jahre auf mich gewartet hat. Nur ein paar Armlängen von dem Bett entfernt, in dem ich als kleines Mädchen während der Sommerferien immer geschlafen habe.
Ich schlage die erste Seite auf. Sie ist von oben bis unten mit kleinen, runden, gleichmäßigen Schriftzügen in schwarzer Tinte bedeckt. Ich fahre mit den Fingerspitzen die ersten Wörter nach, bis ich das Gefühl habe, Stephanies Handschrift mit ihren winzigen Kringeln durch und durch zu kennen. Ich fühle mich ihr dadurch näher als durch jede Geschichte, die man mir von ihr erzählen kann, oder jedes Foto von ihr, das man mir vielleicht noch zeigt.
»Danke«, flüstere ich – und dann beginne ich zu lesen.
Liebes Tagebuch,
heute bin ich sechzehn geworden. Du bist ein Geschenk von meiner Schwester Claire, und man erwartet jetzt wohl von mir, dass ich deine Seiten mit meinen gesammelten Weisheiten fülle, aber ich weiß nicht so recht, wie. Vielleicht sollte ich mich weiser fühlen? Oder selbstbewusster? Aber ich fühle mich weder weise noch selbstbewusst, jedenfalls auch nicht mehr als vor acht Stunden. Bin ich da die Einzige? Dabei soll jetzt doch eine wichtige neue Phase in meinem Leben anbrechen. Ob meine beiden Schwestern sich auch jemals so einsam und verloren gefühlt haben? So unsicher? Sie scheinen irgendwie dagegen immun zu sein, als würden sie beide ein Geheimnis teilen, in das sie mich nicht einweihen wollen. Claire ist jetzt bald mit ihrem zweiten Collegejahr fertig und Rachel … wir sind uns so nahe wie immer, aber ich weiß, dass nichts für immer andauert. Sie wird auch bald fortgehen. Ich weiß, dass sie mich lieben, aber trotzdem fühlt es sich so an, als würden sie mich hier allein meinem Schicksal überlassen, ohne dass ich darauf richtig vorbereitet bin. Allein mit Mom und ihren Stimmungen und mit Dad, der sich in sein Schweigen zurückzieht, das mit jedem Wutausbruch von Mom bedrückender wird. Ich fühle mich dafür einfach nicht stark genug.
Aber es gibt Hoffnung, sogar mehr, als du am Ende eines so bedrückenden Briefs vielleicht glauben magst! Wenn ich die Hände in die Zukunft ausstrecke, in ein fernes Morgen, das vielleicht doch nicht so unerreichbar ist, dann lautet dort der Name meines Retters: Casey Conroy.
Bitte erzähl es meinen Schwestern nicht weiter. Er ist vielleicht ein bisschen durchgeknallt, aber genau auf die richtige Weise. Ich glaube nicht, dass sie verstehen würden, was ich an ihm finde – sie denken beide viel zu praktisch!
Tralala-lala. Happy birthday, happy birthday, happy birthday to me!
Kuss,
Steph
Casey Conroy – CC. Hier steht er, schwarz auf weiß, der passende Name zu den Initialen, die unter dem Bett ins Holz gekerbt sind. Ich sehe ihn vor mir, mit meinen Lippen bilde ich seine Laute nach. Casey Conroy. Trotzdem bleibt er mir in der Kehle stecken, ist Teil des Klumpens, der sich in mir bildet, nachdem ich Stephanies Tagebucheintrag gelesen habe. Der Brief ist so normal, so wenig überraschend, klingt so, wie jedes andere Mädchen in meinem Alter auch in ihr Tagebuch schreiben könnte. Einen Augenblick vergesse ich ganz, dass dieses Mädchen nicht mehr lebt. Dass dieses Tagebuch lange, bevor ich geboren wurde, geschrieben worden ist. Dass zwischen diesem ersten Eintrag an ihrem sechzehnten Geburtstag und der letzten Seite vielleicht die Erklärung für das zu finden ist, worüber ich schon so lange nachgrüble.
Und meine Mutter und Rachel haben keine Ahnung, dass dieses Tagebuch aufgetaucht ist. Es ist nicht verloren gegangen oder wurde von Stephanie auf ihre letzte große Reise mitgenommen. Ich halte es hier in den Händen, und durch das, was ich gerade gelesen habe, habe ich Zugang zu einem Teil unserer totgeschwiegenen Familiengeschichte.
Ich schiebe das Tagebuch zwischen meine Jeans in der untersten Kommodenschublade und gehe runter in die Küche, um noch eine Kleinigkeit zu essen. Mein Kopf und mein Herz rasen, und die Luft um mich herum ist von einem Knistern erfüllt, von der Furcht und Hoffnung, die mit einer wichtigen Entdeckung einhergehen.
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»Es ist schon spät«, sagt Mom. »Wundert mich, dass du überhaupt noch wach bist.« Sie sitzt in der Küche, liest den Red-Falls-Anzeiger und blickt zuerst gar nicht auf. Während sie die Seiten des Wochenblatts umblättert, spüre ich, wie sehr ich sie in diesem Moment bräuchte; sehne mich danach, ihr von dem Tagebuch zu erzählen. Ihr zu erzählen, dass oben im Zimmer, zwischen meinen Jeans in der Kommodenschublade versteckt, ein Teil von Stephanie noch weiterlebt; dass Rachel und sie noch etwas über ihre Schwester erfahren können, obwohl sie schon so lange tot ist. Aber als ich Mom dabei beobachte, wie sie die Zeitungsnachrichten und Anzeigen überfliegt, spätabends in der Küche ihres Elternhauses, da fallen mir dafür plötzlich nicht mehr die richtigen Worte ein.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragt sie, als ich in der Gefriertruhe herumwühle.
»Nicht wirklich. Sind noch Schoko-Eissticks übrig?«
»Guck mal hinter den Eiswürfelbehältern. Rachel versucht immer, sie vor sich selbst zu verstecken, damit sie nicht so viele Süßigkeiten nascht.«
Ich befördere die Schachtel zutage. »Wo ist sie?«, frage ich. »Schon im Bett?«
»Sie ist noch mit Megan was trinken gegangen. Müsste aber bald zu Hause sein.«
»Oh. Und wie lief’s bei dir heute so?«, frage ich.
»Gut. Bin noch mal bei Bob Shane im Beerdigungsinstitut vorbei, um die Überreste der Kremierung mitzunehmen. Eine Aschekapsel in einer Urne.«
»Überreste der Kremierung? Eine Aschenkapsel in einer Urne?« Mich fröstelt bei dem Gedanken, dass jemand ein ganzes Leben leben kann – sich verlieben kann, heiraten, Kinder und Enkelkinder kriegen, sich mit den übrig gebliebenen Familienmitgliedern überwerfen kann – um dann am Ende in einer Aschenkapsel zu enden.
Mom zuckt mit den Schultern. »So sagt man eben. Fachausdrücke gibt es überall.«
»Gefällt mir aber nicht. Kremierung klingt, als ob man auf einen Tortenboden Buttercreme streicht.«
»Delilah, bitte!«
»’tschuldigung. Wo sind die … also, ich meine … wo ist sie?«
»Die Urne?« Mom zeichnet mit den Händen den Umriss der Urne nach. »Auf der Kommode in ihrem Zimmer. Ich denke mal, da lassen wir sie einfach stehen, bis wir die Erlaubnis für die Trauerzeremonie am See haben.«
»Was? Sie ist hier? Hier im Haus? Im ersten Stock?« Ob ich will oder nicht, ich bekomme Gänsehaut.
»Jetzt beruhig dich. Die Urne steht in ihrem Schlafzimmer. Du brauchst da überhaupt nicht reinzugehen. Aber wenn du schon hier bist, lass uns kurz über morgen reden. Ich habe am Vormittag eine wichtige Konferenzschaltung mit DKI, deshalb erwarte ich von dir, dass du morgen um acht startklar bist, um Patrick beim Reinigen der Regenrinnen zu helfen. Jack hat gesagt, dass sich alle Werkzeuge dafür im Schuppen befinden, und wenn ihr sonst noch etwas braucht, müsst ihr in der Garage suchen. Außerdem sollst du –«
»Mom, tut es dir manchmal leid, dass –«
»Was denn? Was soll mir leid tun?«
»Tut es dir manchmal leid, dass wir Grandma nicht mehr besucht haben? Wo sie doch jetzt tot ist und hier so viele Erinnerungen –«
»Delilah, ich möchte jetzt wirklich nicht –«
»Warum?« Ich lasse nicht locker. Wieder denke ich an das Tagebuch, das so lange unter dem Dielenboden versteckt war und von dem nur ich weiß; an Tante Stephanie und daran, dass ich alles dafür geben würde, nur einen einzigen Tag mit meinem Vater zusammen zu sein. Wie kann da meine Mutter die Verbindung zu ihrer Mutter und ihrer Schwester einfach durchtrennen, als wäre es nichts? Als würde man eine Papierpuppe ausschneiden, fein säuberlich die Umrisse entlang, und den Rest in den Müll werfen, ihre ganze Kindheit, als gäbe es im Leben nichts Unwichtigeres?
Geschmolzenes Schokoladeneis tropft mir auf die Hand. Ich reiße ein Stück Küchenpapier von der Rolle. »Warum, Mom? Wie konntest du die ganze Zeit so tun, als wäre sie schon tot? Wie hast du das fertiggebracht?«
Mom erstarrt. Ich kann richtig sehen, wie sie an den Erinnerungen würgt, die sich in ihr hochkämpfen, um wie eingesponnene Fremdkörper ausgespuckt zu werden, aber sie schluckt sie krampfhaft wieder hinunter, und ihre Augen öffnen und schließen sich mehrmals, mit faltigen Lidern, als wäre sie eine uralte Schildkröte. Der Blick, den sie mir zuwirft, drückt Ekel und Faszination aus, dabei handelt es sich doch um mich, ihre Tochter, und nicht um einen unbekannten Schimmelpilz oder einen komplizierten Mordfall oder ein besonders schwieriges Kreuzworträtsel, das sie gerne lösen würde, wenn sie nur mehr Zeit hätte.
Hat sie aber nicht, denn sie sagt nur hastig: »Tut mir leid, Del. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Es ist schon spät und …«
Und bla bla bla, das Übliche: E-Mails, die zu beantworten sind, Kunden warten auf einen Rückruf, Marketing-Konzepte müssen vermarktet werden. Nicht zu vergessen natürlich die wichtige Aufgabe, die sie für mich bereithält, der Höhepunkt meiner Sommerferien, nämlich zusammen mit Patrick die Regenrinnen zu säubern.
»Du solltest jetzt besser schlafen gehen«, sagt sie und faltet die Zeitung säuberlich zusammen. »Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.«
Als ich wieder oben bin, will ich nur noch unter die Bettdecke kriechen und mich zusammenkuscheln. Meistens hilft mir das gegen die Wut, die Frustration und das Gefühl von Hilflosigkeit. Ist ja nicht so, als würde ich diese Zustände nicht allzu gut kennen. Aber als ich jetzt im Bett liege und darauf warte, dass der Schlaf mich dunkel umhüllt, hält mich die Neugierde wach. Sie steht am Fußende und starrt mich an und wartet darauf, dass ich das Licht anknipse und das Tagebuch aus der untersten Kommodenschublade hervorziehe.
Liebes Tagebuch,
ich habe beschlossen, meinen Schwestern von C zu erzählen. Zuerst sind sie völlig ausgeflippt, aber dann hat Rachel sich wieder eingekriegt. Sie hat angefangen, mir alle möglichen Fragen zu stellen, und ich musste ihr versprechen, dass ich mich zu nichts hinreißen lassen würde, jedenfalls nicht unüberlegt und ungeschützt. Claire findet die ganze Geschichte keine gute Idee, das hab ich auch gar nicht anders erwartet, und sie will mich unbedingt davon abbringen, aber nur, weil sie ihn noch nicht kennt. Ich bin froh, dass sie es jetzt beide wissen. Ich hasse Geheimnisse, vor allem vor meinen Schwestern.
Was C mir nachts am See unter dem Sternenhimmel ins Ohr flüstert, erzähle ich ihnen natürlich nicht, das erzähle ich niemandem. Dorthin gehen wir, wenn die ganze Stadt schläft – ich klettere aus dem Fenster und den Ahorn hinab, und er wartet hinter dem Haus auf mich. Zusammen laufen wir hinunter zum See, liegen dort dicht nebeneinander auf dem Steg, und er fährt mit dem Finger die Adern von meinem Handgelenk hoch den Arm entlang und redet davon, wie das Leben später sein wird, wenn wir endlich aus dieser kleinen Stadt fortgehen können, diesem winzigen Fleck auf der riesigen Landkarte unseres Lebens. Ich will mit ihm die ganze Welt sehen, und wenn er lächelt und seine Augen wie Sterne aufleuchten, weiß ich, dass er jedes Wort, was er sagt, auch so meint, und ich weiß, dass ich ihn bis ans Ende meines Lebens lieben werde.
Und noch darüber hinaus.
Meine Schwestern wissen natürlich schon viel mehr von der Welt – aber ob sie jemals dasselbe Glücksgefühl empfinden werden wie ich? Ich bin so glücklich, wenn ich am Ufer des schwarzen nächtlichen Sees entlangrenne und C hinter mir herjagt, während die Menschen in den Häusern ringsum tief in ihre Träume versunken sind, und dann schließe ich die Augen und drehe mich wie ein Kreisel und frage mich, ob man denn noch glücklicher sein kann.
Und doch … und doch … es gibt da immer einen nagenden Zweifel. Manchmal, wenn ich nicht an C denke und allein in meinem Zimmer bin und nächtliche Stille herrscht, fühle ich so ein … so etwas Schwarzes in mir … das gegen mein Herz drückt. Ich kann es nicht benennen, kann es nicht beschreiben. Ich weiß nicht, warum es da ist oder woher es kommt. Ich weiß nur, es ist da. Manchmal tut es richtig weh, als würde mir etwas Wichtiges im Leben fehlen und ich hätte nur noch nicht rausgefunden, was. Manchmal ist es nur so ein Gefühl, dass einfach alles verkehrt ist. Ach, ich weiß nicht. Ich habe die letzten Tage nicht so gut geschlafen – vielleicht läuft mein Gehirn gerade nur noch auf Notstrom! Ich denk darüber noch genauer nach, vielleicht kann ich dann ja mehr schreiben. Keine Ahnung. Es fühlt sich einfach … na ja, irgendwie seltsam an.
Egal … Claire kommt am Wochenende nach Hause! Rachel und ich wollen für sie ein großes Überraschungsmenü kochen. Mom und Dad wissen noch gar nichts davon. Ich kann’s jedenfalls gar nicht erwarten, sie wiederzusehen.
Kuss,
Steph
Ich lese noch ein paar weitere Einträge über Moms Besuch zu Hause. Darüber, wie Stephanie ihren Schwestern Casey vorgestellt hat. Wie er ihren Schwestern wirklich gefallen hat. Und ich versuche, mir sie vorzustellen, nicht wie sie jetzt sind – alt geworden oder allein oder tot oder unbekannt –, sondern als Kinder. Noch glücklich miteinander, jedenfalls die meiste Zeit. Noch darauf vertrauend, dass sie ihr ganzes Leben miteinander verbringen würden.
Ich schreibe kein Tagebuch. Aber wenn ich es täte, was würde ich dann über Finn schreiben? Ich muss daran denken, wie er mich immer Lilah nennt. An unsere vielen Male im Wald. Aber sonst fällt mir nicht gerade viel zu ihm ein – seit dem Abend, an dem mich Mom dabei erwischt hat, wie ich in mein Zimmer zurückgeklettert bin, seit meiner Abreise hierher nach Red Falls, haben wir kein einziges Mal miteinander gesprochen. Die Geschichte zwischen mir und Finn würde bestimmt kein ganzes Tagebuch füllen, anders als die Geschichte zwischen Stephanie und Casey. Als ich weiterblättere, entdecke ich Caseys Name auf fast jeder Seite, manchmal voll ausgeschrieben, andere Male nur als C. Ich frage mich, wie lange sie wohl zusammengeblieben sind. War er auch am Schluss noch da? Bei Stephs Beerdigung? Was hat er aus seinem Leben gemacht?
Ich lasse das Tagebuch wieder in die Schublade gleiten und klettere zurück ins Bett. Die Worte meiner toten Tante senken sich beim Einschlafen schwer auf mich herab, bieten mir neuen Stoff, über den ich nachsinnen kann, sickern in meine Träume ein. Meine Mutter hat ihre jüngste Schwester verloren. Dann ihren Vater. Jetzt ihre Mutter. Sie und Rachel stehen sich nicht mehr sehr nahe, und ich mache ihr Leben auch nicht gerade leichter.
Meistens will ich sie einfach nur hassen. Aber heute kann ich es nicht. Ich schließe die Augen und verspreche den Sternen, die durchs Fenster hereinfunkeln, dass ich es versuchen werde. Ich werde helfen, wo ich kann – mit Mom, Rachel, Jack und Patrick das Haus renovieren, die Besitztümer von Grandma verkaufen –, damit wir dann alle zu unserem normalen Leben zurückkehren können.
Als ich in den Schlaf hinübergleite und Stephanies Worte wie auf einer Endloschleife durch meinen Kopf geistern, frage ich mich, ob eine von uns dreien überhaupt weiß, was ein normales Leben ist.