19. Kapitel
Patrick begleitet mich zum Haus zurück, wo alle Fenster dunkel sind. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass Rachel ausgegangen ist und Mom sich bereits in ihr Zimmer verzogen hat, schmuggle ich Patrick die Treppe hinauf, verschließe die Zimmertür, und auf Zehenspitzen schleichen wir beide zum Bett. Wir versuchen, dort weiterzumachen, wo wir unter der Trauerweide aufgehört haben, aber ich fühle mich auf einmal nicht mehr wohl dabei. Holden Caulfield beäugt uns, von Grandmas Tisch macht die Nähmaschine es ihm nach und das Gewicht von Stephanies Tagebucheinträgen lastet schwer auf dem Zimmer. Statt Patrick zu küssen, ziehe ich ihn mit mir zum Wandschrank, wo ich ihm flüsternd von dem Tagebuch erzähle und ihm zeige, wo ich es gefunden habe.
Ich knipse in dem Wandschrank das Licht an, das uns in einen weichen weißen Schimmer hüllt, Patrick mustert die Dielenbretter und bückt sich. »Ich glaub, da ist noch was«, sagt er.
»Was?«
»Da hinten. In dem Spalt. Sieht wie ein Päckchen oder so was Ähnliches aus.« Er zieht einen dicken, wattierten Umschlag heraus, der schon ganz vergilbt ist. »Fotos.«
Gemeinsam sitzen wir vor dem Wandschrank auf dem Boden und breiten den Inhalt zwischen uns aus. Lauter Familienfotos. Meine Großmutter muss sie nach Stephanies Tod dort versteckt haben. Oder war es Stephanie selbst, die sie mir hier hinterlassen hat?
Neben Patrick fühle ich mich mutig und stark. Gemeinsam betrachten wir ein Foto nach dem anderen. Meine Mutter ist darauf zu erkennen und Tante Rachel, beide noch jung – und ein anderes Mädchen, das wie eine jüngere Ausgabe von mir aussieht: Stephanie. Ich halte ihr Foto ans Licht, schaue ihr in die Augen und wünsche mir, sie wäre jetzt hier, würde mit uns die Fotos betrachten und erzählen, wo sie aufgenommen wurden und all das, was man zu solchen Familienfotos erzählt. Damit ich endlich mehr erfahre. Über sie und die Kindheit von Mom und Tante Rachel. Es sind auch Klassenfotos unter der Sammlung und Zeichnungen und mehrere Schnappschüsse aus einem Fotoautomaten, auf denen Stephanie und Megan als Teenager Grimassen schneiden. Ein paar Fotos zeigen Mom, die schlafend auf einer Couch liegt, neben sich Bücher und Hefte. Auf anderen Fotos zieht Rachel ihre kleine Schwester in einem roten Wägelchen. Ein Hochzeitsfoto meiner Großeltern ist dabei, auf dem mein Grandpa noch nicht im Rollstuhl sitzt. Strahlend steht er neben Grandma. Er hat sein Bein erst im Vietnamkrieg verloren. So viel wie auf den Fotos, über die ich mich jetzt gemeinsam mit Patrick beuge, habe ich von unserer Familie noch nie gesehen – und trotzdem fehlen immer noch ein paar Jahre. Es gibt kein Bild von Stephanie, auf dem sie schon über achtzehn ist, kurz vor ihrem Tod. Keines von Mom und Rachel aus ihrer Collegezeit, noch nicht einmal aus den Ferien, in denen sie zu Hause waren. Keines, auf dem ein Junge zu sehen ist, der Casey sein könnte – nur ein paar von Stephanie, auf denen zu erkennen ist, dass jemand neben ihr stand, doch derjenige wurde weggeschnitten oder zerkratzt. Wer hat das getan und warum? Noch mehr Fragen.
Ich weiß, dass ich Mom versprochen habe, ich würde mich um meine eigenen Probleme kümmern; dass ich aufhören würde, Fragen zu stellen, auf die es keine Antworten gibt; dass ich nicht mehr in der Vergangenheit herumwühlen würde. Aber auf einmal liegen da diese Fotos vor mir auf dem Boden, in Stephanies altem Zimmer. Lauter Familienstücke, vielleicht die einzigen, die noch übrig sind. Und ich merke, dass ich dieses Versprechen nicht halten kann. Und ich weiß auch, dass meine Mutter mir nicht länger verbieten darf, Fragen zu stellen.
Ich hole das Tagebuch aus der Schublade und halte es fest umklammert, ohne es zu öffnen. Ich erzähle Patrick von Casey Conroy und auch noch mehr. Dinge, die ich in dem Tagebuch gelesen habe. Und dass meine Tante wahrscheinlich genau wie meine Grandma unter Depressionen gelitten hat. Schweren Depressionen. Es fühlt sich wie Verrat an, das alles auszusprechen, obwohl ich flüstere. Immer leiser und leiser, wie um Steph und Casey weiter zu schützen, obwohl meine Tante schon lange tot ist und Casey ein verschollener Fremder. Aber sie würden zu meiner Familie zählen, wenn alles anders gekommen wäre, genauso wie mein Vater.
»Hey, Del, schau nicht so«, sagt Patrick und streicht mir über die Wange.
»Wie denn?«
»Als würdest du dich schuldig fühlen, weil du in dem Tagebuch gelesen hast.«
Ich streiche mit der Hand über das brüchig gewordenen weiße Kunstleder und die goldene Rose, die mich an die Blumenranken auf Grandmas Urne erinnert. »Tu ich aber.«
»Sie lebt nicht mehr. Und das Tagebuch war hier siebzehn Jahre lang versteckt. Es muss einen Grund geben, warum es vor dir keiner gefunden hat. Kommt mir so vor, als hätte es auf dich gewartet.«
»Das hab ich am Anfang auch gedacht.«
»Ich hätte es auch gelesen. Du willst doch nur mehr über deine Familie herausfinden.«
Ich höre unten auf der Veranda die Schritte von Tante Rachel. Als sie kurze Zeit später die Treppe heraufkommt, sind Patrick und ich mucksmäuschenstill. Ihre Schritte halten vor meiner Zimmertür an, und ich mache lange, tiefe Atemzüge, als würde ich schlafen. Das Licht aus dem Wandschrank schimmert weich wie ein Nachtlicht, nicht heller als der Mond vor dem Fenster. Nach einem kurzen Augenblick geht Rachel weiter, die Tür zum Rosenzimmer wird geöffnet und dann fest zugezogen.
Ich spreche noch leiser, mein Flüstern ist jetzt wie ein Hauchen, und rücke ein Stück näher an Patrick heran.
»Ich würde so gerne noch mehr über sie wissen«, sage ich. »Über ihr Leben. Über Casey. Wie es ihm ergangen ist. Wo er jetzt lebt.«
»In eurer Familie wird nicht viel über die Vergangenheit geredet, was?«
»Nein, überhaupt nicht. Das war wahrscheinlich alles zu schlimm für sie. In Stephanies Tagebuch stand bisher auch nichts von Depression oder Medikamenten. Aber manche Einträge füllen viele Seiten, in großer Schrift. Und andere sind ganz knapp, als hätte sie an einem solchen Tag nicht mal die Energie gehabt, um aus dem Bett aufzustehen. Außerdem litt sie total unter Schlafstörungen. Und sie war so wahnsinnig in diesen Casey verknallt. Meine Mutter und Rachel haben sie wohl ein paarmal nach ihm ausgefragt, ob sie sich denn wirklich ganz sicher sei, dass er zu ihr passe, solche Sachen eben, und darüber hat sie sich total aufgeregt. Ich hab gestern einen Eintrag gelesen, da hat sie zwei Wochen lang nicht mit Rachel geredet, nur weil die sie gefragt hatte, ob sie sich vielleicht auch mal mit anderen Jungen verabreden will.«
»Wirst du deiner Mutter davon erzählen?«
»Eher nicht. Manchmal hab ich das Gefühl, das ist ihr alles total egal. Sie hat dafür einfach keine Zeit übrig, verstehst du? Für sie ist es eine Qual, den Sommer hier verbringen zu müssen. Je schneller wir hier alles geregelt und das Haus verkauft haben, desto besser. Das ist ihre Meinung.«
»Vielleicht wäre es für sie anders, wenn du ihr die Fotos und das Tagebuch zeigen würdest«, sagt Patrick und sieht noch ein paar weitere Fotos durch, alle in Schwarz-Weiß.
»Ich hab bei dem Tagebuch schon ein paarmal dran gedacht. Und auch versucht, mit ihr über die Vergangenheit zu reden. Aber ich hab ihr versprechen müssen, nach vorne zu schauen und mich um mein eigenes Leben zu kümmern. Sie will einfach nicht über Stephanie oder den Streit vor acht Jahren sprechen. Und dafür hasse ich sie, weil ich es idiotisch finde und total egoistisch. Aber das ist nur die eine Wahrheit.«
»Und was ist die andere Wahrheit?«
»Die andere Wahrheit ist, dass ich mir diese Fotos anschaue und das Tagebuch lese und mir vorzustellen versuche, wie schrecklich es gewesen sein muss, als Stephanie damals gestorben ist. Was das für alle bedeutet haben muss – für Mom, für Tante Rachel, für Grandma und Grandpa. Und dann fühle ich mich egoistisch, weil ich sie dazu zwingen will, das alles noch einmal zu durchleben. Nur weil ich mir einbilde, auf meine Fragen Antworten bekommen zu müssen, die mir vielleicht gar keiner geben kann.«
Patrick reicht mir ein Foto. »Willst du meine Meinung hören, Del? Ich finde, du solltest es versuchen. Zeig deiner Mutter wenigstens die Fotos, wenn du ihr das Tagebuch schon nicht zeigen willst.«
Ich nehme ihm das Foto aus der Hand. Es zeigt uns beide – meine Mutter und mich. Sie lacht in die Kamera und ich sitze bei ihr auf dem Schoß und blase Seifenblasen in den Sommerhimmel. Die Sonne scheint, meine Rattenschwänzchen wippen fröhlich und ich spüre Moms warme Hände auf meinen Schultern. Ich erinnere mich gut an die Szene. Ich erinnere mich daran, wie Grandpa das Foto gemacht hat – wie er ziemlich oft knipsen musste, bis er mich gut erwischt hatte. Dauernd drehte ich mich nämlich um und zeigte Mom meine Seifenblasen. Mein Grandpa machte Muh und quakte und grunzte, damit ich in seine Richtung guckte. Mit dem Ferkelgrunzen hat er es schließlich geschafft. Als ich aufhörte zu kichern, schaute ich ihn an und blies für ihn die größte Seifenblase, die Red Falls jemals gesehen hat.
Ich blicke auf das Foto in meiner Hand, die Frau mit dem Lachen und den langen, gewellten schokoladenbraunen Haaren und das kleine Mädchen mit den Rattenschwänzchen, und frage mich, wie es dazu kommen konnte, dass Mom und ich zu zwei so großen Tankern geworden sind, die nebeneinander durchs Wasser pflügen und deren Linien sich selten kreuzen; nein, noch schlimmer: zu Schiffen, die beide Piratenflaggen gehisst haben und unter einem Himmel dahinsegeln, an dem jeden Augenblick ein Sturm aufziehen kann.
»Das ist alles so krank«, flüstere ich und die Wörter kratzen in meiner Kehle wie winzige Glassplitter. »Wie können sie es nur fertigbringen, nie über sie zu reden? Hat dein Vater dir jemals was erzählt?«
»Nein, Del. Wir haben nie über Stephanie geredet. Als sie gestorben ist, war ich gerade mal ein Jahr alt. Du warst noch überhaupt nicht auf der Welt.«
»Ich weiß, dass das alles jetzt vielleicht etwas neurotisch wirkt … Aber mich lässt das Gefühl nicht los, dass Stephanie, dieser Casey Conroy und irgendetwas, das damals nach ihrem Tod passiert ist, mit dem Familienstreit vor acht Jahren bei Grandpas Beerdigung zu tun haben.«
Patrick legt seinen Arm um meine Schulter. »Vielleicht. Keine Ahnung. Ihr Hannafords habt viel durchgemacht. Der Streit kann sich um alles Mögliche gedreht haben.«
»Aber warum wollen sie mir dann nie von ihr erzählen?« Ich lasse nicht locker. »Warum erwähnen sie sie nie? Ich hab kein einziges Mal irgendwo ein Foto von ihr gesehen. Warum denn nicht? Warum sind sie alle hier im Schrank versteckt? Sogar die total harmlosen Fotos von ihr und Megan – aber, hey, warte mal.«
»Was denn?«
»Megan. Sie war Stephanies beste Freundin.«
»Es ist auf alle Fälle einen Versuch wert«, flüstert er. Und dann küsst er mich noch einmal und noch einmal, bis ich ihn schließlich die Treppe hinunterbegleite und wir uns bis zum nächsten Tag verabschieden.
Danach bleibe ich noch einige Zeit wach und lese das Tagebuch zu Ende. Je weiter ich blättere, desto sporadischer werden die Einträge. Manchmal vergehen Wochen oder Monate, ohne dass sie etwas aufschreibt. Dann wieder vertraut sie zwei, drei Mal am Tag dem Tagebuch ihre Gefühle an, häufig mit großen Stimmungsschwankungen verbunden.
Stephanie hat unter schweren Depressionen gelitten, daran gibt es keinen Zweifel mehr.
Heute wieder beim Arzt. Moms Arzt. Hat noch mehr Pillen verschrieben. Sagt, dass ich dann ausgeglichener sein werde. Ein normales Leben führen kann. Aber ich spüre nur, wie sie mich verändern. Und wenn sie mich verändern, dann bin ich nicht mehr diejenige, die ich bin. Und alle, die mein altes Ich kennen, werden mich nicht mehr wiedererkennen, und der Junge, der mich liebt, so wie ich bin, wird mich verlassen.
Von den Pillen fühle mich ich ganz benommen und nachts kann ich nicht schlafen. Aber der Arzt wird schon wissen, was er tut, deshalb sagen Mom und Dad, dass ich erst einmal abwarten soll.
Bald ist die Abschlussfeier. Dad hat gesagt, ich soll mir dafür das schönste Kleid aussuchen, das es gibt. Claire und Rachel kommen auch extra nach Hause. Es ist so aufregend, an mein neues Leben danach zu denken. Aber es macht mir auch Angst. Wo wollen wir leben? Wann gehen wir fort? Casey will sich diesen Monat in New York nach einem Job umsehen. Wenn daraus nichts wird, dann vielleicht Kalifornien. Warum eigentlich nicht? Warum nicht gleich ganz weit weg? Manchmal glaube ich, dass ich Mom aus der Ferne wahrscheinlich viel besser lieben kann.
Okay, sie hat auch ihre guten Phasen. Heute war ein guter Tag. Wie es morgen wird, werden wir sehen. Und wenn Doktor-wie-auch-immer-er-heißt mir mit seinen Zauberpillen garantieren kann, dass ich nicht so werde wie meine Mutter, dann schluck ich gern die ganze Flasche.
Oh, da geht schon wieder die Sonne auf. Ich muss jetzt noch etwas schlafen. Casey will mit mir morgen Abend ausgehen.
– S
Und ein paar Tage später …
Mom ruft von unten, dass ich jetzt aufstehen soll, sonst komme ich zu spät zur Schule. Ist mir so was von egal. Ich gehe heute nirgendwohin. Hab seit einer Million Jahren nicht mehr geschlafen. Total nervig.
– S
Von solchen Einträgen gibt es noch mehrere, und dann kommt der letzte. Das Datum verrät mir, dass Stephanie ihn mehrere Monate vor ihrem Tod verfasst hat.
Ich hör einfach nicht hin. Ich hör einfach nicht hin.
Egal was meine Mutter zu mir sagt … egal wie laut sie mich anbrüllt oder wie viele Tage lang sie weder mit mir noch mit meinem Vater ein Wort spricht, ich habe ja C. Und egal wie weit weg meine beiden Schwestern wohnen, wie selten sie mich besuchen kommen, anrufen oder schreiben, egal wie oft sie versprechen, es bald wieder zu tun und es dann vergessen und das Leben so weiterläuft wie immer, ich habe ja C.
In meinem ganzen Leben, in all den Jahren, die wir jetzt schon zusammen sind, war Casey Conroy der einzige Mensch, der mich nie enttäuscht hat. Der mich nie verurteilt oder angeschrien hat oder mich ignoriert oder überhaupt meine Existenz vollkommen vergessen hat. Er ist der Einzige, zu dem ich immer zurückkomme; er ist in mein Herz gebrannt. Ich sehe ihn vor mir, wenn ich nachts aus meinen Albträumen erwache. Mit ihm geht für mich jedes Mal die Sonne auf. Er vertreibt das Dunkel. Ihm habe ich mein Herz geschenkt und er mir seins, und wenn die Welt untergeht, bleibt mir immer noch er.
Aber wenn die Welt untergeht, werden er und ich nicht mehr als er und ich existieren. Und das macht mir Angst. Aber das versteht keiner von all denen, die mit ihren Worten wie mit Dolchen auf mich zielen. Sie schleudern mir an den Kopf, dass ich von ihm BESESSEN sei. Wenn ich davon besessen bin, geliebt zu werden, dann kann ich nur sagen, okay, von mir aus gerne. Ich bin besessen. Ich bin besessen davon, nicht in einem so elenden Koma zu enden wie der Rest der Welt, deshalb sollen sie ruhig mit allen bösen Worten, die sie erfinden können, auf mein Herz zielen. Mein Herz ist unverwundbar. Ihre Worte sind nutzlos, ich kann mit ihnen nichts mehr anfangen. Ich habe ihre Welt verlassen.
Und deshalb verabschiede ich mich heute von dir, liebes Tagebuch. Leb wohl!
– Stephanie Delilah Hannaford
Und das war’s, das war der letzte Eintrag. Es folgen dahinter im Tagebuch noch ungefähr fünfzehn Seiten, aber alle sind unbeschrieben. Es wurde auch nichts herausgerissen. Sie hat einfach aufgehört … hat aufgehört zu schreiben. Hat sich von ihrem Tagebuch für immer verabschiedet, wie sie es angekündigt hatte. Hat es unter der Diele im Wandschrank versteckt und dann ohne Tagebuch weitergelebt. Für den Rest ihres Lebens. Die wenigen Wochen, die ihr noch bleiben sollten.
Das Tagebuch lässt mich ratlos zurück. Ich habe darin zwar viele Antworten gefunden, aber es bleiben mindestens genauso viele Fragen offen. Was passierte in den Monaten zwischen ihrem letzten Eintrag und ihrem Tod? Wusste irgendjemand, wie krank sie wirklich war? Hat sie ihre Medikamente weiter genommen? Was verursachte ihren Herzstillstand? Wusste Casey Bescheid? Hat er mit ihr alles durchgestanden oder enttäuschte er sie am Ende genauso wie alle anderen Menschen sie enttäuscht haben?
Und wenn Stephanie unter Depressionen litt und bereits ihre Mutter, meine Grandma, unter Depressionen litt, was ist dann mit Mom und Tante Rachel? Und mit mir?
Ich lasse das Tagebuch wieder zurück in die Schublade gleiten und wühle auf dem Boden in den Fotos, bis mein Blick an einem großen Schwarz-Weiß-Foto von Mom und Rachel hängen bleibt. Sie sind darauf noch klein – sechs oder sieben – und haben beide hübsche Kleider an. Vielleicht waren sie damals ja bei irgendeiner Hochzeit Brautjungfern oder es war Ostersonntag. Sie stehen in der Auffahrt zum Haus, die mit Blumentöpfen gesäumt ist, und lächeln einander an. Beide haben große Blumensträuße in den Händen, die gleichen Blumen, wie in den Töpfen. Die Sonne, die Blumen und ihre Augen strahlen vor Glück um die Wette. Mir fällt die Tarotkarte ein, die Mom an unserem ersten Abend hier in Red Falls gezogen hat.
Die Sechs der Kelche … Kindheitserinnerungen … die Karte, die die Sehnsucht nach Rückkehr symbolisiert.
Ich stecke die Fotos in den Umschlag zurück und den Umschlag in die Schublade zum Tagebuch.
Morgen muss ich mich unbedingt mit Megan treffen.