25. Kapitel
Aus Juli wird August, und ich gleite in einen Zustand des Tagträumens, bei dem mein Körper mit dem Aussortieren von Grandmas Sachen und meinen Hilfsarbeiten am Haus beschäftigt ist, während meine Gedanken vom Rätsel um Stephanies Tod zu ihrem Tagebuch wandern, von meinen Großeltern zu Mom und Tante Rachel, von den Erinnerungen an die Sommer voller vierblättriger Kleeblätter und Glühwürmchen zu den abendlichen Treffen mit Patrick.
Wenn uns keiner beobachtet und unsere Arbeit getan ist und meine Gedanken endlich zur Ruhe kommen, fallen wir uns gegenseitig in die Arme. Seine Lippen streifen hinter dem Haus meine; unter den Zweigen der großen Trauerweide fahre ich ihm mit der Hand zärtlich durch die Haare; sobald uns irgendwo keiner beobachtet, küssen wir uns; und wenn wir mit Em zusammen sind, legt Patrick mir den Arm um die Schultern. Das alles lässt mich beinahe vergessen, welche wichtigen Ereignisse noch vor uns liegen. Das Begräbnis meiner Großmutter. Der Verkauf ihrer letzten Habseligkeiten. Der Verkauf des Hauses. Der endgültige Abschied von Red Falls.
An einem verregneten Abend gehe ich noch spät in die Küche hinunter, um mir einen Tee zu machen, in der Hand Patricks Exemplar von Der Fänger im Roggen, das er mir geschenkt hat. Bei den wichtigsten Stellen hat er mir Kommentare an den Rand geschrieben. Wir haben uns gegenseitig versprochen, dass wir das fortsetzen wollen, wenn wir nicht mehr hier in Red Falls sind: Wir wollen uns unsere Lieblingsbücher schicken, um uns besser kennenzulernen, und wir wollen das auch tun, wenn ich ihn später nicht so oft in New York besuchen kann, wie ich es gern möchte. Nach dem Eintauchen in die Vergangenheit hier in Red Falls kommt mir die Zukunft wie ein fernes, fremdes Land vor, von dem ich weder Sprache noch Sitten verstehe. Aber was ich jetzt erst einmal brauche, ist ein Trip in die Gegenwart. Es bleibt uns hier noch ein ganzer Monat. Ich will nicht jetzt schon an den Herbst und die Entfernung zwischen Key und New York denken.
Rachel ist wie immer mit Megan ausgegangen und noch nicht zurück. Als ich am Wohnzimmer vorbeikomme, merke ich, dass ich nicht die Einzige bin, die zu so nächtlicher Stunde noch durchs Haus geistert.
»Mom? Du bist noch auf?« Ich setze mich neben sie auf die Couch. »Ich dachte, du hast morgen ganz früh einen wichtigen Telefonanruf.«
Sie nickt und zieht ihren Bademantel eng am Hals zusammen. Ihre Augen sind gerötet, und ich bemerke, dass sie ein Foto in der Hand hält. Darauf sind alle drei Schwestern zu sehen, Mom, Rachel und in ihrer Mitte Stephanie. Sie halten sich fest umschlungen und Stephanie flüstert Mom etwas ins Ohr, was Mom kichern lässt.
»Wie alt seid ihr da?«, frage ich.
»Zehn, acht und sechs. So um den Dreh.«
»Ihr seht wie Drillinge aus.«
»Das haben damals viele gesagt. Mein Gott, sieh dir nur Stephanie an. Ihre Augen. Ihre Sommersprossen. Sie wirkt doch so glücklich, oder?« Mom seufzt. Ihr Ja-hier-Claire-Hannaford-Lächeln hat sie diesmal in der Schublade gelassen. Es ist bei ihr dieselbe Verletzlichkeit zu spüren wie am Tag unserer Ankunft in Red Falls. Dieselbe Verletzlichkeit wie am Geburtstag ihrer Schwester auf dem Friedhof.
Bisher waren Mom und ich um das Schweigen zwischen uns herumgeschlichen, als handle es sich um ein weiteres Familienmitglied. So sehr ich mir immer gewünscht habe, dass wir endlich einmal über alles reden, so sehr spüre ich jetzt, dass zwischen uns eine merkwürdige Leere herrscht. Die Leere einer neu aufgerissenen, tiefen Wunde. Und daran bin ich schuld. Ich habe gekratzt und gegraben und gehämmert und darauf beharrt, dass in unserer Familiengeschichte mehr versteckt sein musste, als Mom mir mitteilen wollte.
Stephanie litt unter Depressionen, wie ihre Mutter. Und obwohl sie Casey, ihre Schwestern und ihre Freundinnen liebte und von ihnen allen geliebt wurde, reichte die Liebe nicht aus, um sie zu retten. Was auch immer in der Zeit nach ihrem letzten Tagebucheintrag mit ihr passiert war, nichts, was sie umgab und was ihr Leben ausmachte, war genug. Sie machte ihrem Leben ein Ende, und ob absichtlich oder unabsichtlich, ist letzt-lich auch egal. Sie ist tot. Wie Grandpa. Und Grandma. Sie würde nicht mehr zurückkehren. Wie die acht Sommer, die wir nicht in Red Falls verbracht hatten. Vielleicht haben ja Mom und Megan Recht. Vielleicht sind manche Dinge eben einfach so, wie sie sind, und andere sind vielleicht vielschichtiger, aber alles, was wir tun können, ist, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir nicht immer auf alle Fragen auch eine Antwort bekommen.
Ich schiele zu Mom, die neben mir sitzt, und male mir aus, wie anders alles hätte sein können … Es ist nicht mehr wichtig, was vor acht Jahren der Anlass für den Streit war. Wirklich nicht. Wir haben danach aufgehört, hierherzukommen, und jetzt gibt es niemanden mehr aus unserer Familie, den wir hier besuchen könnten. Bald wird das Haus verkauft sein und Red Falls ist dann nur noch eine Erinnerung. Was wir jetzt tun müssen, ist, nach vorne zu schauen.
»Es tut mir leid, Mom.«
Sie dreht mir langsam das Gesicht zu, sieht mich an.
»Das mit deiner Schwester, und alles andere, was in diesem Jahr passiert ist, tut mir leid, und auch, dass ich immer wieder nachgebohrt habe, worüber du dich mit Grandma damals gestritten hast. Ich wollte nicht, dass bei dir alte Narben wieder aufgerissen werden. Es war egoistisch von mir.« Ich muss wieder an unsere gemeinsame Reise damals nach Connecticut denken und an das Foto von mir als kleines Kind mit den Seifenblasen. Und dass ich sie liebe, auch wenn sich zwischen uns seither so viel verändert hat. Und dass ich mir zwischen uns so sehr einen Neuanfang wünsche, wenn sie nur auch dazu bereit wäre.
»Wie du immer gesagt hast«, fahre ich fort, »es ist ja alles schon so lang her. Es spielt keine Rolle mehr. Ich will nicht, dass es zwischen uns so ist … dass wir uns immer nur streiten und anbrüllen und uns gegenseitig das Leben schwer machen. Ich weiß auch nicht, warum zwischen uns alles so schwierig geworden ist.«
Mom zieht mich in eine Umarmung.
»Du fehlst mir, Mom«, flüstere ich. Tränen rollen mir die Wangen hinunter, und die Wörter schweben noch eine Weile in der Luft wie Fallschirmchen einer Pusteblume. Ich begreife auf einmal, dass es mir nie um die Geheimnisse in unserer Familie oder die Wahrheit oder die Gespenster der Vergangenheit gegangen ist. Mir fehlt einfach nur Mom. Mir fehlt, dass ich nicht mehr weiß, wie ich sie zum Lachen bringen kann. Mir fehlt das Gefühl, in ihrem Leben einen wichtigen Platz einzunehmen.
Mom antwortet darauf nicht, aber sie weint und umklammert mich ganz fest, als würden wir beide auseinanderbrechen, wenn sie mich jetzt losließe. Dann beginnt sie zu zittern. Heftig zu zittern.
»Alles in Ordnung?«, frage ich. »Stimmt irgendwas nicht?«
»Ich wollte nicht, dass es so wird«, sagt sie mit so leiser Stimme, dass ich sie kaum verstehen kann.
»Ich auch nicht, Mom. Es war alles einfach nur … ich weiß nicht, für mich irgendwie so seltsam. Weil ich überhaupt keine Ahnung habe, was damals eigentlich passiert ist, und deshalb, glaube ich, habe ich mich immer mehr in diese Geschichten hineingesteigert und hatte Angst, zwischen uns beiden würde es eines Tages auch so enden wie zwischen Grandma und dir. Aber ich wollte wirklich nicht, dass –«
»Delilah, ich muss dir etwas sagen!«, flüstert Mom auf einmal mit heiserer Stimme. Sie löst sich aus unserer Umarmung, fasst mich an den Schultern und schaut mich ernst an. Ihr Gesicht hat einen Ausdruck angenommen, den ich bisher nicht an ihr kannte, als bedrängte sie etwas, das unbedingt heraus muss, etwas Großes und Mächtiges. So groß und mächtig, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Noch nie habe ich meine Mutter so erlebt – so gequält, so traurig, so mit sich selbst und der Welt hadernd. Es jagt mir einen Riesenschreck ein. Ich bekomme richtig Angst. Das hier ist etwas ganz anderes, als wenn sie mir zu Hause eine Predigt hält, weil der Schuldirektor sie wieder mal angerufen hat oder weil sie mich nach dem Diebstahl des Lippenstifts im Büro des Ladendetektivs hatte abholen müssen. Oder als sie mich dabei erwischt hat, wie ich durchs Fenster in mein Zimmer zurückgeklettert bin. In der Nacht, in der Rachel sie angerufen hat, dass Grandma gestorben war.
Ich frage mich, ob mein Vater, wo auch immer er jetzt ist, uns alle hier wohl sehen kann. Ob er manchmal noch an meine Mutter denkt und ob er die Frau, die in den vergangenen sechzehn Jahren aus ihr geworden ist, immer noch mögen würde. Ich frage mich, ob er weiß, dass es mich gibt. Wenn ja, dann lässt er es mich jedenfalls nicht spüren. Kein Zeichen, keine Botschaft des Universums dringt in das Zimmer.
Ich schaue Mom in die Augen. »Es ist echt nicht mehr wichtig. Du musst jetzt nichts sagen.«
Sie schüttelt hastig den Kopf – doch, sie will mir etwas sagen –, kramt dann aus der Tasche ihres Bademantels ihre Pillendose hervor, steckt sich eine Pille in den Mund, greift nach dem Glas auf dem Tisch und schluckt sie hinunter. Sie trinkt das Glas Wasser halb leer, stellt es ab, lehnt sich zurück, schaut zur Decke hoch, holt noch einmal tief Luft, als müsse sie sich Mut machen, als brauche sie noch einen Moment, bevor sie es wirklich wagt, vom obersten Brett des Sprungturms in den See zu springen. Und dann tut sie es. Sie springt.
»Thomas Devlin ist nicht dein Vater, Delilah.«
Platsch. Ein harter Aufprall. Ich sehe, wie ihre Lippen sich weiter bewegen, das Zimmer beginnt sich zu drehen, und alles ist auf einmal wie unter Wasser getaucht, wirkt wie in Zeitlupe. Gedämpfte Laute, verwischte Farben. Ich kann in meinen Ohren das Blut rauschen hören, wie die Wellen des Sees, die ans Ufer schlagen, die Grillen, die an lauen Sommerabenden im Gras zirpen, die ganze Welt, die sich langsam um ihre eigene Achse dreht. Eigentlich alles, wie es sich gehört. Wie vorher.
Und dann ist mir auf einmal, als würden mich zwei riesige Hände aus dem Wasser heben und mich ans Ufer schleudern. Ich ringe nach Luft, während Mom den Mund öffnet, um weiterzureden.
»Und es gibt da noch mehr, was ich dir sagen muss. Was ich dir schon lange sagen wollte. Du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«
Ich will nicht hören, was sie mir zu sagen hat. Mein ganzer Körper fühlt sich taub an. Ich spüre mich selbst nicht mehr. Ich befehle meinen Füßen, sich zu bewegen, meinen Beinen, sich voneinander zu lösen und mit mir von der Couch aufzustehen und mich fortzutragen, aber sie regen sich nicht. Sie bleiben mit mir sitzen und warten mit mir darauf, dass mein Herz gleich explodiert.
Mom blickt mich mit großen, traurigen, um Verzeihung flehenden Augen an und ich bin schon fast dazu bereit. Ihr einfach zu verzeihen und nicht mehr hinzuhören, was sie mir sonst noch erzählen will. Am liebsten würde ich jetzt zu ihr auf den Schoß krabbeln und mit ihr weinen und ihr sagen, dass es nicht weiter schlimm ist. Vor allem aber, dass sie nicht weiterreden soll. Dass sie es einfach gut sein lassen soll.
»Es hat mit Stephanie zu tun«, sagt sie.
Stephanie Delilah Hannaford. Ich blicke auf das Foto, das zwischen uns auf der Couch liegt, und muss an den Namen auf dem Grabstein denken und an das Tagebuch und die Albträume meiner Tante, die ich nie kennengelernt habe. Ich frage mich, ob wir uns wohl gut verstanden hätten; ob wir beide uns irgendwie ähnlich gewesen wären. War sie wie Mom, immer ernst und beherrscht? Oder eher wie Rachel, quicklebendig und ein bisschen verrückt? Wenn sie noch leben würde, wäre sie dann vielleicht das Bindeglied zwischen ihren beiden Schwestern gewesen? Oder zwischen Mom und Grandma? Wäre vielleicht alles sowieso anders gekommen? Was wäre, wenn …? Dann hätte vielleicht … Was wäre, wenn …? Dann hätte vielleicht …
Moms Stimme zittert. »Sie war unsere Kleine, Delilah. Unser Nesthäkchen. Wir haben sie alle so geliebt. Sie war so jung und schön, und als sie dann krank wurde – wirklich krank –, war der lebendige Funken in ihr wie erloschen. Vorbei. Weg. Und keiner von uns wusste, wie man ihn wieder entzünden konnte. Am Tag ihrer Beerdigung, am Abend danach … Also, da war ihr Freund, Casey …« Mom wird noch bleicher im Gesicht, und obwohl es mir wehtut, sie so zu sehen, unterbreche ich sie nicht und stelle auch keine Fragen. Ich warte ab, was sie mir sagen will. Ich lasse sie genau erzählen, was passiert ist, weil ich tief in meinem Innern immer noch die Hoffnung habe, dass ich mich mit der Vermutung, die soeben in mir aufgeblitzt ist, täusche. Dass ich zu Unrecht Verletzung und Wut und Unglauben und Verbitterung in mir aufsteigen spüre.
»Casey war so wütend«, fährt sie fort. »Wütend auf sich selbst, auf Gott, auf meine Mutter und meinen Vater, weil sie nicht rechtzeitig erkannt hatten, wie schlecht es ihr wirklich ging. Vielleicht hätten wir sie dann ja noch retten können. Er war auch auf Steph wütend, weil sie ihn verlassen hatte, bevor sie ein gemeinsames neues Leben beginnen konnten. Casey war damals erst einundzwanzig. So jung. Wir waren damals alle noch so jung. Am Abend nach der Beerdigung hockte ich allein am Ende des Stegs, unten am See. Es war erst ein paar Stunden her, seit Stephanies Sarg in die Erde hinuntergelassen worden war. Meine Gedanken versuchten, die Zeit zurückzuspulen, bis zu dem Augenblick, an dem ich ihr noch hätte helfen können. Ihren Tod noch hätte verhindern können. Ich suchte verzweifelt nach einem Sinn im Leben. Nach irgendetwas, das mich davon abhielt, noch im selben Moment ins eiskalte Wasser zu springen, um mich einfach untergehen zu lassen. Es war ein sternenklarer Himmel mit Vollmond, dessen Licht so hell strahlte, dass ich ihn dafür hasste. Stephanie lag tief unter der Erde und wir würden sie nie mehr sehen. Ihr Lebenslicht war ausgelöscht. Wie konnte der Mond es da wagen, am Himmel aufzugehen? Zitternd hockte ich allein in der Kälte. Schluchzte. Schlug mit den Fäusten auf die Planken. Dann hörte ich jemanden hinter mir. Es war Casey. Er legte seine Hand auf meine Schulter, setzte sich neben mich, lehnte sich an mich und schluchzte auch. Wir weinten lange miteinander … und dann ist es passiert.«
Mom greift nach dem Glas Wasser auf dem Tisch und trinkt es in großen Schlucken leer.
»Was ist passiert?« Bitte, bitte, mach, dass ich mich täusche.
»Wir sind zu seinem Auto gegangen, um uns drinnen etwas aufzuwärmen. Wir waren allein auf dem Parkplatz. Und dann … Wir waren beide einsam und verzweifelt, Delilah. Wir wussten gar nicht, wie uns geschah, und die Sache war vorüber, bevor sie überhaupt richtig stattgefunden hatte. Wir schworen uns danach, dass wir nie jemandem davon erzählen würden.«
»Willst du mir damit sagen, dass du … dass du am Tag ihrer Beerdigung … mit dem Freund deiner toten Schwester …?«
»Ich will dir damit sagen, Delilah, dass Casey Conroy dein Vater ist.«
In meinem Kopf hallt nach, was ich vor ein paar Wochen in der Küche belauscht habe. Jetzt weiß ich, wie ich die Lücken zwischen den Wörtern zu füllen habe.
Statt auf mich wütend … Claire. Warum … nicht mit ihr?
Casey.
Es ist alles so kompliziert.
Casey.
… achtjähriges Kind mehr … Rede mit ihr.
Casey.
In meinem Kopf schwirrt und wirbelt es nur so herum – unscharfe Bilder von Mom und einem gesichtslosen Jungen am Ende des Stegs, Stephanie, die sich Pillen in den Mund schiebt, Tante Rachel und ihre Tarotkarten, Thomas Devlins Foto über meinem Schreibtisch zu Hause, Patrick und Finn und Emily und Beerdigungen und Streitereien und alles dazwischen. Ein einziges Durcheinander von zusammenhanglosen Momenten, beschädigten Erinnerungen, vergessenen Details, wie die Ansammlung von Grandmas Kitschfiguren auf dem Küchentisch. Und das alles dreht sich viel zu schnell in meinem Kopf, um mir irgendeinen Reim darauf machen zu können. Die Wörter, die ich Mom entgegenschreien möchte, verheddern sich und bleiben mir in der Kehle stecken. Ich bleibe stumm.
»Am Tag der Beerdigung deines Großvaters«, sagt Mom, »hab ich es Rachel anvertraut. Du warst damals acht. Bis zu dem Tag glaubte sie wie alle anderen auch, dass Thomas Devlin dein Vater sei. Unglücklicherweise hat Grandma das Gespräch zufällig belauscht und –«
»Das war der Grund für euren Streit?«, frage ich mit heiserer Stimme. »Deshalb sind wir damals so überstürzt aufgebrochen und nie mehr zurückgekehrt?«
»Ja, Delilah. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es ist viel komplizierter. Da spielten noch viel mehr Dinge herein.«
So viele Jahre lang verwendete Mom ihre Energie darauf, diese Lüge zu vertuschen, sie zu hegen und zu pflegen, um daraus für mich ein Heim zu schaffen. Um sie aufrechtzuerhalten, hat sie alles andere geopfert – ihre Beziehung zu ihrer Mutter, zu Rachel, zu mir. Und jetzt möchte ich nur noch alles kaputt machen, ihr Lügengebäude einreißen und darauf herumtrampeln. Auf ihrem Herz herumtrampeln.
»Nein, Mom, das ist alles ziemlich klar und einfach. Du hast am Tag der Beerdigung deiner Schwester mit ihrem Freund geschlafen und deine Mutter hat es herausgefunden. Kein Wunder, dass sie danach nicht mehr mit dir reden wollte. Kein Wunder, dass sie auch zu mir den Kontakt abgebrochen hat. Sie muss mich danach gehasst haben. Und daran bist ganz allein du schuld.«
»Bitte, Delilah. Bitte, versuch mich zu verstehen. Ich war damals nur ein paar Jahre älter als du jetzt. Es ist einfach so –«
»Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich mit dir verwandt bin. Es kann gar nicht sein, dass meine eigene Mutter so etwas Widerliches getan hat. Ich ekle mich vor dir!«
Mir ist klar, dass sie das verletzt. Aber es ist mir egal. Ich ekle mich in dem Moment wirklich vor ihr. Ich finde alles an ihr abstoßend: ihren widerlichen Bademantel und ihre abscheulichen gewellten langen Haare und ihr bescheuertes Handy und ihre ekelhafte Stimme und ihre schmalen Hände und ihre haselnussbraunen Augen. Alles. Für die Frau, deren Tochter ich bin, habe ich nur noch Hass und Verachtung übrig.
»Ich verdiene es nicht anders«, sagt sie leise und schaut dabei auf ihre Hände. »Ich hab das zu lange vor dir geheim gehalten. Ich weiß, dass es schwierig ist, nach so vielen Jahren auf einmal die Wahrheit zu erfahren. Ich weiß, dass du jetzt –«
»Du weißt überhaupt nichts von mir!«, brülle ich sie an. Ich springe auf, stürme zum Wohnzimmer hinaus und bin in wenigen Schritten bei der Haustür, die ich aufreiße, um mich in den Regen hinauszustürzen. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss.