32. Kapitel
Heute Abend ist Patricks letzter Auftritt in Luna’s Café.
Vielleicht will er nicht, dass ich komme. Aber ich habe Emily versprochen, dass ich es darauf ankommen lasse. Während ich ihn dabei beobachte, wie er auf der Bühne alles vorbereitet, die Scheinwerfer einstellt und ein zweites Mal seine Setlist überprüft, wird mir klar: Wenn ich mich jetzt nicht mit ihm versöhne, werde ich ihn nie mehr wiedersehen. Nächste Woche reisen wir aus Red Falls ab. Ich werde aus seinem Leben verschwinden, wie beim letzten Mal.
»Alles in Ordnung?«, fragt Emily, die einen Schokolade-Haselnuss-Latte-macchiato vor mich hinstellt. Ich sehe zu, wie die Dampfkringel daraus hochsteigen, und es erinnert mich daran, wie Rachel an unserem ersten Tag hier ihre Salbeiräucherstäbchen im Küchenfenster angezündet hat. Das Böse hinauspusten, das Gute hereinlassen. Das Böse hinauspusten, das Gute hereinlassen.
Ich zucke mit den Achseln. »Nein, aber das hält mich nicht davon ab.«
Sie klopft mir auf den Rücken. »Geht aufs Haus.«
»Danke, Em.«
Draußen hat es wieder angefangen, zu regnen und noch viel stärker als zuvor. Nur während der Trauerfeier für Grandma war kurz die Sonne herausgekommen. Die freundliche, helle Wärme in Luna’s Café inklusive Törtchen, Kaffee und Musik zieht immer mehr Touristen von der Straße herein, und bald ist das größte Publikum versammelt, das Patrick den ganzen Sommer über bei seinen Auftritten hatte – sogar noch größer als die Menschenmenge Anfang Juli. Ich kann kaum noch die Bühne sehen, aber das stört mich nicht. Im Gegenteil, ich bin dankbar, dass sich so viele Menschen zwischen Patrick und mich geschoben haben.
Eine Viertelstunde vor seinem Auftritt drängen sich so viele Leute in Luna’s Café, dass es mich nicht wundern würde, darunter auch noch Mom und Rachel zu entdecken. Es wirkt, als wären alle Einwohner von Red Falls zusammengeströmt, um Patrick noch einmal zu erleben. An einem anderen Abend würde mich die Energie im Raum elektrisieren. Menschen, die mitsingen und klatschen und nach jedem Song pfeifen; Patrick, der seine Zuhörer mit seinen lockeren Sprüchen zwischen den Liedern zum Lachen bringt; die Kaffeemaschine, die brummt und zischt und Dampfwölkchen ausstößt; Emily und Luna, die mit den Getränken hin und her eilen. Es ist einer der Abende, von denen man seinen Freunden später noch lange erzählt – eine letzte Feier des Sommers und seiner Freuden, bevor die Wirklichkeit hereinbricht und die Blätter sich gelb färben.
Ich bestelle noch einen Latte macchiato und schütte ihn hastig hinunter. Er verbrennt mir die Kehle, aber das ist immer noch besser als das Gefühl im Magen, wenn ich durch die Menge einen Blick auf Patricks Lächeln erhasche und weiß, dass es nicht mehr mir gilt.
Als er bei seinen letzten Songs angelangt ist, habe ich meinen vierten Latte macchiato vor mir stehen, bin hypernervös und weiß nach wie vor nicht, was ich zu ihm sagen soll. Wie die richtigen Worte finden, um ihm zu sagen, wie stark meine Gefühle für ihn sind, so stark, dass ich Angst davor habe? Wie mich bei ihm dafür entschuldigen, dass ich so bin, wie ich bin? Wie für meine vielen Fehler und falschen Handlungen um Verzeihung bitten – und das, obwohl ich mich bei ihm nie so fühle, als wäre mit mir etwas falsch?
Ich hätte heute Abend nicht hierherkommen sollen. Ich weiß nicht, wie ich ihm alles erklären soll, ich finde nicht die richtigen Worte, um auf ihn zuzugehen. Und Patrick – er ist da vorn auf der Bühne mit seiner Gitarre und seinen Liedern wieder ganz in seinem Element. Er scheint alles schon überwunden zu haben.
Die Decke von Luna’s Café erdrückt mich auf einmal, die Wände rücken immer näher zusammen, es herrscht noch dichteres Gedränge … Ich fühle mich zermalmt … Zu viel warme, zimtgeschwängerte Luft … Ich kriege keine Luft mehr … Ich muss dringend hier raus …
Ich zwänge mich zwischen den Leuten hindurch, die den Ausgang verstopfen, stoße gegen Becher mit heißem Kaffee, kriege Ellenbogen in die Rippen gerammt, nur noch vier Schritte bis zur Tür, nur noch drei, zwei, nur noch einen Schritt, meine Hand liegt bereits auf dem Türgriff, ich muss die Tür nur noch aufdrücken, dann kann ich draußen die kühle, frische Luft einatmen. Ich spüre sie bereits durch den Spalt hereinströmen, nur noch eine Bewegung, der erste Fuß ist bereits über die Schwelle gesetzt … gleich …
»Das letzte Lied trägt den Titel ›Sehnsucht‹. Es ist für dich.« Patricks Stimme durchschneidet wie ein Pfeil die stickige Luft, und ich weiß, dass er mich meint. Er hat mit dem Pfeil durch die Menge direkt auf mich gezielt, dafür brauche ich nicht zur Bühne zu sehen. Ich atme noch einmal die kühle Luft ein, dann lasse ich die Tür zufallen und drehe mich um. Ich schaue zu ihm, dort oben auf der Bühne. Patrick hat die Augen geschlossen und sich übers Mikro gebeugt. Im Café herrscht Stille. Sogar die Kaffeemaschine hat ihr Gurgeln und Zischen eingestellt, um seinen Song zu hören. Das letzte Lied. Das er mir widmet.
Wenn ich mit dir rede
Tötet jedes Wort mich etwas mehr
Solche Verführung ist mörderisch
Für den Dichter, wie sie seufzt
Als die Nacht ihr in die Augen steigt
Und ein Sonett mit falschen Silben klappert
Nim-mer-mehr
Du kannst davon nicht lassen
und treibst dein Spiel als ob
Aber keiner weiß, wer du bist
Ich sitze rum und wart auf dich …
Wie ein Bandit und Desperado im Kampf gegen die Welt
Renn ich mit dir davon, weil uns nichts mehr hält
Wie der Vogel von den Zweigen der Weide
Flatter ich auf, um im Himmelsblau bei dir zu sein
Lass ich alles zurück
Um bei dir zu sein
Wirf alles in die Wellen.
Komm mit mir und nenn es Liebe, denn der Wind steht gut
Der Strom treibt uns nach Süden.
Lass alles zurück, um frei zu sein
Wie ein Bandit und Desperado im Kampf gegen die Welt
Renn ich mit dir davon, weil uns nichts mehr hält
Wie der Vogel von den Zweigen der Weide
Flieg ich hoch, um über den Wolken bei dir zu sein
Lass ich alles zurück
Um bei dir zu sein
Die letzten beiden Verse verklingen weich und innig im Raum. Ohne Gitarre. Nur Patricks Stimme, die immer leiser flüstert. Für so starke Gefühle ist in meinem Leben nicht genug Platz. Ich kann nicht … ich kann nicht hier bleiben.
Aber die Eingangstür ist auf einmal viel zu weit weg, und meine Füße sind zu schwer, um mich durch die drückende Menge zu drängen. Deshalb drehe ich mich um und schiebe mich an der Wand entlang zur Seitentür, über der ein Schild NOTAUSGANG – ALARMSIGNAL verkündet. Und das passiert dann auch. Als wäre das Ende der Welt nahe, heult bis in den Regen hinaus eine Alarmsirene auf. Irgendwann stellt Luna sie ab. Aber da bin ich schon weit weg und renne die Straße entlang. Die Lichter des Cafés verglühen hinter mir in der Nacht. Ich zittere vom Koffein und dem Lied und all den Augen, die auf mich gerichtet waren, und meine Tränen vermischen sich mit den Regentropfen und laufen mir übers Gesicht, und es ist mir egal, was als Nächstes geschieht. Ich will nur noch, dass es aufhört. Alles aufhört. Ich will die Scheinwerfer von Finns altem silberfarbenen Toyota drei Mal unter der Straßenlaterne aufblinken sehen und dann einsteigen und mit ihm in den Wald fahren und nicht reden und alles in meinem Leben vergessen, denn die Dinge darin, die es wert sind, sich an sie zu erinnern, schmerzen einfach zu sehr.
»Delilah, warte!« Patrick rennt durch den strömenden Regen hinter mir her. »Bitte!« Dabei streckt er die Hand vor sich aus, als hätte er nur noch diese eine Chance, mich zu fassen zu kriegen, nur noch diese eine Chance, mich zu halten, bevor ich ihm entgleite und für immer im Red Falls Lake versinke.
Ich bleibe stehen. Aber ob ich stehen bleibe, weil ich wirklich stehen bleiben will, oder nur, weil ich zu schwach bin, um weiterzulaufen, weiß ich nicht. Keuchend stehen wir auf der Straße, der Regen prasselt auf uns herab.
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, wer ich bin, Patrick«, brülle ich. »Das ist kein Spiel. Ich tu nicht so, als ob. Ich fühl mich total verloren.« Es ist die Wahrheit. Ich hätte nie gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, sie auszusprechen. Patrick und ich sind uns in vielem schon so nahe gekommen, warum also erfüllt mich eine solche Scham, diesen Kratzer an meinem Herzen zuzugeben?
»Du bist Delilah Hannaford«, sagt er. »Das Mädchen, das nicht gerne Zäune streicht und im Riesenrad Angst hat und Crasner’s immer Foo nasty nennt.« Seine Stimme klingt zugleich traurig und stolz.
»Nein. Du kapierst es nicht. All diese Sachen – das bin ich mit dir zusammen. Wenn wir miteinander rumhängen und die Regenrinne putzen und uns in dein Zimmer schleichen und so tun, als würde der Sommer in Red Falls nie zu Ende gehen. Aber das wird er. Er geht zu Ende und dann bin ich wieder zu Hause, so als ob nichts –«
»Nein, Delilah. So wird es nicht sein. Das werde ich nicht zulassen. Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass du … Ich wollte nur –«
Ich schüttele den Kopf. »Du musst jetzt nicht –«
»Aber ich will dir das alles sagen. Manchmal sind die Gefühle, die ich in mir habe, so stark, und dann weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll, und deshalb sag ich dann irgendwelche falschen Sachen. Aber nicht jetzt. Das hier ist anders. Damals am Strand, da hat es mir so wehgetan, dich abzuweisen. Ich hab mich dafür gehasst, wie dein Gesicht sich verändert hat, wie es sich verzerrt hat, als ich aufgehört habe, dich zu küssen. Das hat mich fast umgebracht. Und dann, als ich da mit Emily bei uns im Wohnzimmer stand, da hatte sie mir gerade die Geschichte mit deinem Vater erzählt. Was du von deiner Mutter erfahren hast. Ich hab nicht locker gelassen, bis sie mir alles gesagt hat, weil ich unbedingt wissen wollte, was mit dir los war, und …«
Er redet mit einer Geschwindigkeit von einer Meile pro Minute und kommt mir mit jedem Wort näher. Ich schließe die Augen und spüre den Regen auf meiner Haut. Patrick flüstert meinen Namen. Immer wieder. Zuerst wie eine Frage, dann wie eine Antwort. Ich zittere und fühle seine Nähe, seine Hände gleiten über mein T-Shirt. Ich öffne die Augen und im Bruchteil eines Herzschlags hat er mich an sich gezogen. Nur ein Atemzug trennt uns noch voneinander. Sein Gesicht schwebt weich und ernst über mir, so nahe, dass ich die Wassertropfen an seinen Wimpern zählen kann.
»Nicht«, flüstere ich.
Er schüttelt unmerklich den Kopf. Mein Mund öffnet sich, um noch einmal zu protestieren. Aber er weiß, dass ich es nicht so meine. Seine Finger streichen über meine Lippen, über das silberne Herz an meinem Hals. Seine Augen senken sich in meine, mit einer Hand fährt er mir durch die Haare, unsere Herzen pochen. Meine Augen schließen sich wieder.
»Delilah«, flüstert er, »ich lasse dich nicht wieder davonlaufen. Es ist mir ernst mit dem, was ich nachts am See zu dir gesagt habe.«
»Ich glaube dir«, flüstere ich. »Ich glaube dir.«
Und dann spüre ich seinen Mund auf meinem. Seine heißen Lippen, seinen Atem. Der Boden unter meinen Füßen wankt und beginnt sich zu drehen und versinkt unter mir, als ich mich an ihn schmiege und mich fallen lasse. Alles loslasse. Und der Regen wäscht die Trümmer meines alten Ichs den Hügel hinab in die Wellen des Red Falls Lake.