34. Kapitel
Als ich in der Küche die halb gepackten Behälter mit Moms Computer und den Büromaterialien sehe, über einer Stuhllehne ihre Anzüge und Kostüme in Plastikhüllen, auf dem Tisch die Tassen und Teller unseres vorletzten Frühstücks, verspüre ich eine große Leere. Morgen werde ich dieses Haus das letzte Mal sehen. Ich werde das letzte Mal beobachten, wie die Hähne den Saum des Küchenvorhangs entlangmarschieren. Es werden meine letzten Erinnerungen an das Haus meiner Großeltern sein. Hastig trinke ich eine Tasse Kaffee.
Jack und Patrick sind bereits da. Mom und Rachel holen uns alle nach draußen, um dort ihre große Neuigkeit zu verkünden. Vom Rasen aus betrachte ich das Haus, um es mir für immer einzuprägen. Der Unterschied zu unserer Ankunft im Juni ist gewaltig. Ich weiß zwar, dass die dritte Stufe auf der Verandatreppe immer noch knarzt. Und die alten Fensterläden mit ihrem neuen Anstrich sind nicht alle hundertprozentig rechtwinklig angebracht. Die Regenrinnen müssen bestimmt bald wieder gereinigt werden, und immer noch wird es ein verirrter Rotkardinal schwer haben, aus dem Wintergarten ins Freie zu finden.
Aber das Haus erstrahlt in frischem Glanz. Alles wurde mit großer Liebe fürs Detail renoviert. Es hat seinen alten Charme behalten. Im Garten wurden alle Beete neu bepflanzt. Die Bäume und das Geißblatt wurden gestutzt. In den blank geputzten Scheiben spiegelt sich der Himmel. Die gelbe Fassade leuchtet im warmen Sonnenlicht, als würde hier auf dem Hügel hoch über dem Red Falls Lake ein Leuchtturm stehen. Es ist ein Haus mit einer ganz eigenen Schönheit, welche die Schönheit der Frauen, die es seit Generationen bewohnt haben, widerspiegelt. In seinen Rissen und Unebenheiten bewahrt es weiter die Erinnerungen, Hoffnungen und Träume von uns Hannafords. Die Arbeit eines ganzen Sommers – von Jack, Patrick, Mom, Rachel und mir – hat dies zustande gebracht, und ich weiß, dass es die viele Mühe wert war.
Wir waren zur Beerdigung meiner Großmutter nach Vermont gekommen und um das alte Haus am See zu renovieren, damit es eine Zukunft hat. Aber es ist genau anders herum gekommen. Wir haben in diesem alten Haus so viel zusammen erlebt und durchgestanden, dass man eher sagen kann, es hat uns eine neue Zukunft gewiesen. Ich wusste die ganze Zeit, dass wir nach diesem Sommer nie mehr hierher zurückkehren würden – an den Ort, mit dem unsere Familie seit so langer Zeit verwurzelt ist. Aber mein Herz spielte mir die verrücktesten Streiche. Ich habe mir ständig ausgemalt, wie wir hier noch weitere Sommer verbringen. Am 4. Juli aufs Sugarbush Festival gehen. Die Fensterläden abnehmen. Die Regenrinnen putzen. Wie ich mit Emily Latte macchiato trinke und Patrick bei seinen Auftritten in Luna’s Café zuhöre.
»Hierher, kommt alle hierher!«, ruft Rachel. »Schaut euch das an! Schaut euch an, was wir in diesem Sommer geschafft haben!« Sie legt dabei den Arm um Jacks Schulter.
»Das Haus ist wirklich schön geworden«, sagt Jack. »Ich hab ja schon viele Häuser renoviert, aber dieses hier, das muss ich sagen, ist echt ein Prachtstück.«
Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Der Duft der Geißblattblüten weht zu uns herüber.
»Nach drei Monaten harter Arbeit und vielen Tränen haben Rachel und ich euch heute eine aufregende Neuigkeit zu verkünden«, ruft Mom.
Patrick drückt meine Hand, als ich mich auf die Nachricht gefasst mache, auf die ich schon den ganzen Sommer warte. Die ich zuerst gar nicht abwarten konnte. Die Nachricht, die ich jetzt gern noch weiter hinauszögern würde, und sei es nur um ein paar Tage.
Mom eilt mit großen Schritten auf ein Schild zu, das vorn neben der Auffahrt aufgestellt ist. So richtig ist es allerdings nicht zu erkennen. Es ist nämlich mit einem weißen Laken verhüllt. Wir folgen ihr. Mir kommt es seltsam vor, dass sie an der Straße ein ZU VERKAUFEN-Schild aufgestellt haben, wenn sich doch offensichtlich schon ein Käufer gefunden hat. Aber wahrscheinlich handelt es sich dabei wieder um irgendeine Vorschrift der Behörden. Als wir alle vor dem Schild stehen, zieht Mom feierlich das Laken herunter. An einem Pfosten baumelt ein Holzbrett mit der Aufschrift:
Demnächst für Sie da:
Three Sisters Bed & Breakfast
Hannaford-Familienpension
»Das ist es, was wir heute mit euch feiern wollen«, sagt Rachel. »Im nächsten Sommer eröffnen wir die Pension. Reservierungen werden ab jetzt entgegengenommen. Die Nachricht steht morgen auch im Red-Falls-Anzeiger.«
Wer braucht schon den Red-Falls-Anzeiger? Kaum haben die Nachbarn das Schild gesehen, klingelt pausenlos das Telefon und wir werden von Besuchern überschwemmt. Alle wollen eine Führung durchs Haus, alle wollen mehr wissen. Grandmas Freundinnen kommen mit Streuselkuchen vorbei. Ich schaffe es gar nicht, Mom all die Fragen zu stellen, die mir auf der Seele brennen. Dazu ist erst Zeit, als wir viele Stunden später zum Abendessen ein letztes Mal um den Küchentisch versammelt sind – nur wir, Emily, Patrick und Jack. Will Mom ihren gut bezahlten Job bei DKI wirklich aufgeben, um hier in Red Falls eine Pension zu eröffnen? Ich finde die Idee ja romantisch und bezaubernd, aber ob sie die Richtige dafür ist?
»Ich mache meinen Job sehr gerne«, sagt Mom, »und ich bin auch wirklich gut darin. Viele Jahre lang habe ich eigentlich nur dafür gelebt.«
»Genau«, sage ich. »Deshalb glaube ich auch nicht, dass sie dich so einfach gehen lassen werden.«
»Eine geborene Projektmanagerin wie dich?«, fragt Jack. »Ich würde dich jedenfalls nicht gehen lassen. Wenn nur die Hälfte der Hausrenovierungen, an denen wir mitarbeiten, so gut organisiert wäre wie bei euch, hätte ich deutlich weniger graue Haare. Bis auf diejenigen natürlich, die auf meinen lieben Sohn zurückzuführen sind.«
Patrick wirft mit einer Cherry-Tomate nach seinem Vater.
»Wisst ihr, ich hab mich viel zu lange mit den Businessplänen und Marketingkampagnen anderer Leute beschäftigt,« fährt Mom fort. »Ich mag die Arbeit, aber als Chefin bedeutet das einen Riesenstress. Die ganze Zeit hänge ich nur am Telefon, am Computer, tausend Dinge müssen gleichzeitig erledigt werden. Ich will dieses Leben nicht mehr. Es hat den ganzen Sommer gedauert, aber jetzt bin ich mir hundertprozentig sicher. Es ist höchste Zeit, dass ich die Bremse ziehe. Ich habe Lust, noch mal was ganz anderes zu machen.«
»Aber Mom, eine Familienpension ist wirklich etwas total anderes. Das ist so etwas wie ein Hotel. Und ein Restaurant. Und ein Museum. Und du musst da eng mit Leuten zusammenarbeiten – richtigen Menschen, nicht nur E-Mail-Adressen.« Emily, die zu uns herübergerast ist, sobald sie von den Gästen in Luna’s Café die große Neuigkeit erzählt bekommen hat, stößt mir unterm Tisch gegen das Schienbein.
»Ich habe auch bisher mit Menschen zu tun gehabt, Del«, sagt Mom. »Und Geschäft ist Geschäft, damit kenne ich mich aus. Mit meinen analytischen und organisatorischen Fähigkeiten und mit Rachels Energie, Kreativität und herzlicher Art und Weise mit Menschen umzugehen – sowie mit ihren Kochkünsten – können wir es schaffen. Ich habe mir die Zahlen angeschaut. Der Tourismus hier in der Region wird in den nächsten Jahren rasant zulegen. Rachel und ich hatten Gespräche mit der Bank und der Handelskammer. Wir haben beide etwas Geld angespart und deine Großmutter hatte ihres sehr geschickt angelegt. Zusammen reicht es aus, um das Risiko eingehen zu können.«
Ich schlucke einen Bissen gegrillte Zucchini hinunter und blicke sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du bist doch sonst immer für Sicherheit.«
Sie lacht. »Es handelt sich da um ein sehr genau durchgerechnetes Risiko. Ich habe das finanziell mal mit verschiedenen Marktszenarien durchgespielt, unter Einbeziehung der Auswirkungen des Klimawandels sowie der Schwankungen in der Ahornsirupproduktion, was beides unmittelbare Folgen für die Tourismusindustrie in Vermont hat. Außerdem habe ich … hey, lacht nicht! Es bleibt immer noch ein Restrisiko! Da kann alles Mögliche passieren. Es wird ein Abenteuer sein.«
»Heißt das, dass wir nach Vermont ziehen?«, frage ich.
»Nicht sofort«, sagt Mom. »Es wird einige Zeit dauern, bis die Behörden alles genehmigt haben. Außerdem muss natürlich hier im Haus einiges umgebaut werden. Das würde ich gerne in deine bewährten Hände legen, Jack. Außerdem muss ich regeln, in welcher Form ich künftig bei DKI mitarbeiten kann. Rachel muss sich erst einmal um das Catering für das Toronto Film Festival und das Sundance kümmern, bevor sie für hier Pläne entwickeln kann. Und du musst deinen Highschool-Abschluss machen, Del, und dich entscheiden, welchen Weg du danach einschlägst. Einen Schritt nach dem anderen.«
Es überrascht mich nicht, dass sie bereits an alles gedacht hat.
»Im Übrigen«, fügt Mom hinzu, »hat Rachel für uns die Karten gelegt. Gemäß der Acht der Stäbe ist es an der Zeit für einige Veränderungen. Ach ja, und für das Feld ›Dahin führt der Weg‹ habe ich die Zehn der Münzen gezogen: materieller und ideeller Reichtum, Wert der Traditionen, starke Familienbindungen. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen.«
»Absolut«, sagt Rachel und schenkt uns allen noch eine Runde Hibiskustee ein. »Und außerdem haben wir beim Kartenlegen heute Morgen zwei Mal die Herrscherin gezogen. Das bedeutet, es ist für uns beide eine gute Zeit, um unsere weibliche Kreativität zu entdecken. Unsere Unternehmungen werden von Erfolg gekrönt sein.«
»Wow!«, ruft Patrick. »Ich will mir auch von dir die Karten legen lassen!«
»Im Ernst«, sagt Em. »Ihr solltet euren Gästen Tarotsitzungen am See anbieten und, ähm, gleich mal mit uns anfangen.«
»Vielleicht gar keine schlechte Idee«, sagt Rachel und macht eine Notiz in Moms Projektkladde auf der Küchentheke.
Alle rings um den Tisch lachen, reden durcheinander, reichen sich die Teller mit Rachels Grillgemüse weiter, erzählen Geschichten, essen, wir stoßen mit Grandmas letzten alten Tassen auf die Zukunft an. Das Haus wird mit neuem Leben erfüllt sein, wir werden hierher zurückkehren. Um den Tisch werden nicht mehr nur die Geister der Vergangenheit ihre Festmahle veranstalten. Glücklich lausche ich all den Geräuschen, die die Küche füllen.
»Okay«, sage ich. »Ich bin dabei. Ihr habt mich überzeugt. Auf Three Sisters Bed & Breakfast.« Ich schaufle mir noch einen Löffel Mango Chutney über den gegrillten Seitan. »Ich hoffe nur, dass unsere Gäste zum Frühstück nicht echten Speck haben wollen.«
Mom lacht wieder. »Einen Schritt nach dem anderen, Del. Darüber reden wir, wenn es so weit ist.«
Nach dem Abendessen packt Mom weiter ihre Sachen ein und Rachel macht sich mit Emily zu Luna’s Café auf. Em und Megan, Jack und Patrick wollen alle morgen noch einmal vorbeikommen, um uns zu verabschieden. Aber meinen letzten Abend hier in Red Falls will ich mit Patrick verbringen. Ab morgen ist der Sommer für mich unwiderruflich vorbei, und wer weiß, was der Herbst alles mit sich bringt.
Nebeneinander spazieren wir am Seeufer entlang, beobachten die Schildkröten und die Segelboote, wie wir es auch am ersten Tag gemacht haben, nach unserer zufälligen Begegnung unter der Zuschauertribüne. Keiner von uns beiden erträgt die Vorstellung, dass wir jetzt hier zum letzten Mal sitzen und gemeinsam auf den See hinausschauen. Es drängt mich, Patrick zu fragen, wann wir uns wiedersehen werden. Aber ich bringe die Worte nicht über die Lippen. Und bestimmt geht es ihm genauso. Beide zählen wir stumm die Entfernung und die Stunden zwischen New York und Pennsylvania.
»Ich hab meinem Vater das mit dem College mitgeteilt«, sagt Patrick. »Er weiß jetzt, dass ich Musik studieren will.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er ist gar nicht so stark ausgeflippt, wie ich befürchtet habe. Er hat sich viel mehr darüber aufgeregt, dass ich ihm nicht schon lange gesagt habe, was ich gerne machen möchte. Er will nicht, dass ich mich aufopfere, nur weil er andere Träume hat als ich, und wenn ich nicht in Reese & Son einsteigen will, dann findet er eben einen anderen Partner. Ich glaub, er ist auf die Sache mit dem College sogar stolz. Aber ich weiß, dass er wegen der Musik seine Zweifel hat. Solche künstlerischen Ambitionen behagen ihm nicht.«
»Hat er dich zu einem anderen Fach überreden wollen?«
»Architektur. Aber nur ungefähr dreißig Sekunden lang. Dann hat er gesagt, solange ich von ihm nicht erwarten würde, in New York die U-Bahn oder ein Taxi zu nehmen, würde er unter Umständen vielleicht sogar irgendwann einmal zu einem Konzert von mir kommen. Was ich schon ziemlich viel finde.« Patrick lacht.
Ich wünsche Patrick von ganzem Herzen, dass er schon bald in New York irgendwo einen Auftritt hat.
»Wow, ich bin echt stolz auf dich«, sage ich. »Endlich hast du es deinem Vater erzählt. Aber versprich mir etwas.«
Er legt mit theatralischer Geste die Hand aufs Herz. »Alles, was du willst!«
»Singe mein Lied nie für jemand anders, Patrick. Also, ich meine, außer du hast einen Plattenvertrag oder so was. Dann erlaube ich dir eine Ausnahme.«
Patrick verhakt seinen kleinen Finger in meinen. »Wenn ich einen Plattenvertrag kriege, dann lasse ich dich einfliegen, damit ich es im Studio für dich singen kann. Versprochen.«
Ich lächle und ziehe ihn näher zu mir heran.
»So, und abgesehen davon, dass du mich jedes Wochenende in New York besuchen kommst, was sind deine Pläne für die nächste Zeit?«, fragt er.
»Pläne. Hmm. Große Pläne. Na ja. Ein weiteres aufregendes Schuljahr an der Kennedy Highschool.«
»Das Abschlussjahr. Die Zielgerade.«
»Genau. Und ich hab überlegt, ob ich mir vielleicht einen Job in einem Café oder so was in der Art suche«, sage ich. »Nur ein paar Stunden in der Woche. Um vor dem College schon mal ein bisschen Erfahrung zu sammeln.«
»Klingt cool. Aber wenn du wirklich in einem Café jobben willst, musst du mir auch etwas versprechen.«
»Und was?«
»Lass keinen anderen für dich ein Lied singen.«
»Ach das? Kein Problem.« Ich halte meinen kleinen Finger hoch. »Dafür muss man mir schon ziemlich viele Schokolade-Haselnuss-Latte-macchiatos spendieren.«
Patrick drückt mir die Hand. »Und … sag mal … willst du Kontakt zu deinem Vater aufnehmen?«
Mein Vater. Ich schaue hinaus auf den See und beobachte ein kleines blaues Segelboot, das weit draußen auf den Wellen treibt. Ich weiß auf die Frage keine Antwort. Genauer gesagt, meine Antwort ist jeden Tag eine andere. Am ersten Abend, als Mom mir ihre Geschichte erzählt hat: Ja. Da wollte ich am liebsten sofort zu ihm. Ich war vollkommen außer mir und brauchte jemanden, den ich anbrüllen konnte. Wenn ich dafür das Geld gehabt hätte, hätte ich mir wahrscheinlich auf der Stelle ein Flugticket nach L.A. besorgt. Ich hätte herausgefunden, wo er wohnt, und hätte ihm alles erzählt.
Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich weiß nicht, was ich tun werde, was ich ihm sagen soll oder was ich fühle. Im Moment will ich ihn nicht kennenlernen. Ich bin noch nicht so weit. Und ich will auch noch nicht, dass er von mir erfährt.
Und dann gibt es da immer noch Thomas Devlin. Ich mag mich von ihm noch nicht verabschieden.
Ich hebe einen Kieselstein auf und lasse ihn über die Wasseroberfläche hüpfen, immerhin zwei Mal, dann geht er unter. »Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung«, sage ich. »Ich kann das jetzt noch nicht entscheiden. Casey Conroy kann warten. Ich glaube, ich behalte noch eine Zeit lang Thomas Devlin als Vater. Vielleicht auch länger.«
Patrick lächelt.
»Ich muss in letzter Zeit häufig an die Reportage denken, die er über die Elefanten geschrieben hat«, sage ich. »Er hat mehrere Wochen mit ihnen gelebt, in den Reservaten. Er war dabei, wenn sie tot oder schwer verwundet aufgefunden wurden, weil Wilderer an das Elfenbein wollten. Und er beschreibt auch die Sozialstruktur einer Elefantenherde. Die ranghöchste Elefantenkuh ist so etwas wie das Gedächtnis der ganzen Familie, je älter sie ist, desto reicher ist ihr Wissen: sämtliche Mitglieder der Herde, die freundlichen oder feindlichen Elefanten anderer Herden, die besten Orte für Nahrung, lauter solche Sachen. Aber je älter ein Elefant ist, desto größer sind auch seine Stoßzähne, und darum geht es den Wilderern. Um möglichst viel Elfenbein. Wenn die Matriarchin stirbt, gehen all die Erinnerungen mit ihr verloren und der Rest der Herde kennt sich nicht mehr so recht aus in der Welt.«
Wir bleiben stehen, um eine Schildkrötenfamilie zu beobachten, deren Mitglieder alle auf einen Felsen in Ufernähe hochkrabbeln wollen. Patrick legt den Arm um mich.
»Zuerst hat mich diese Schilderung an mich und meine Großmutter erinnert. Wie alles auf einmal wie abgeschnitten war für mich, weißt du, nachdem wir damals am Tag von Grandpas Beerdigung Red Falls so überstürzt verlassen hatten. Aber dann ist mir etwas klar geworden.«
»Was denn?«, fragt Patrick.
»Es ist bei uns nicht genauso wie bei den Elefanten. Wir haben die Fähigkeit, unsere Erinnerungen weiterzugeben. Wir müssen sie nur aufschreiben oder jemandem erzählen.«
»Verstehe. Dann erzähle ich dir gleich mal eine von mir. Meine früheste Erinnerung an den Red Falls Lake. Und zwar war es da drüben.« Patrick deutet an dem Schildkrötenfelsen vorbei auf den Uferstreifen dahinter. »Ich war ungefähr vier und spielte im Sand, als ich in einer Pfütze winzige silberne Fische schwimmen sah. Sie glitzerten im Sonnenlicht, wie kleine Lichtblitze im Wasser. Ich erinnere mich noch ganz genau, dass ich sie gerne genauer anschauen wollte, aus der Nähe. Ich wollte wissen, ob sie in meiner Hand wohl immer noch so glitzerten. Ich versuchte, mit den Händen nach ihnen zu greifen, aber sie entwischten mir natürlich. Sobald sich der Schatten meiner kleinen Hände dem Wasser näherte – wusch, waren sie auch schon weg. Eine Frau beobachtete mich dabei, und als sie merkte, was ich wollte, kam sie mit einem roten Eimerchen, kauerte sich neben mich und schöpfte etwas Wasser mitsamt Fischen in den Eimer, damit ich sie besser anschauen konnte.«
Ich lehne mich an ihn und schließe die Augen, um mir die Szene mit Little Ricky und den silbernen Fischlein besser vorstellen zu können. Ich sehe das Bild immer besser vor Augen, bis …
»Patrick!«, rufe ich. »Ich erinnere mich auch daran! Ich war dabei!«
Patrick lächelt. »Ich hab einmal versucht, darüber einen Song zu schreiben – über diesen einen Augenblick –, aber die Worte sind mir immer wieder entglitten, genau wie die Fische. Vielleicht ist diese Erinnerung einfach nur für uns beide gedacht.«
»Die Silberfische«, flüstere ich. »So hat sie sie genannt. Sie hat darauf gedeutet und gesagt: ›Guck dir die Silberfische an.‹« Ich erinnere mich auf einmal klar und deutlich an alles. Meine ersten Erinnerungen an den See. Als müsste in meinem Gedächtnis nur ein Lichtstrahl darauf fallen und dann tauchen sie funkelnd auf. Wie meine Großmutter mich damals zu sich gewunken hat, wie ich neben ihr und Ricky stand und wie sie uns beide an der Hand gehalten hat und wir in den roten Eimer gestarrt haben. Grandma lachte und freute sich, weil die Fische wie Diamanten im Wasser glitzerten.
»Delilah«, flüstert Patrick. »Das ist unsere erste gemeinsame Erinnerung.« Er zieht mich ganz nah zu sich heran, um mich zu küssen. Ich spüre, wie er seine Arme um mich legt, und weiß, dass dieser Moment mir von allen meinen Erinnerungen an den Red Falls Lake der liebste sein wird. Wenn wir morgen von hier abgereist sein werden – und egal, was mich in Key erwartet, wo Mom und ich für einige Zeit wieder in unser altes Leben zurückkehren werden; egal, was ich unternehmen werde, ob ich mich auf die Suche nach meinen Vater Casey machen werde oder nicht; egal, wie es mir in meinem letzten Schuljahr ergehen wird; egal, wann wir das Three Sisters eröffnen –, immer werde ich zu diesem Augenblick zurückkehren. Ich werde die Augen schließen und den sommerlichen Duft des Geißblatts einatmen und die Strahlen der untergehenden Sonne auf meinem Gesicht spüren und Patricks Lippen auf meinen – und ich werde wieder hier sein, bei den Schildkröten und den Fischen und meiner Großmutter, die uns an der Hand hält, und bei Patrick und seinem Kuss am letzten Abend meines zweiten ersten Sommers in Red Falls, Vermont.
»Delilah, ich weiß, dass wir über das Sorgerecht für Holden Caulfield noch nicht gesprochen haben, aber ich habe schon mal beschlossen, dass du ganz offiziell das Familienporträt in Verwahrung nehmen sollst.« Patrick reicht mir ein zusammengefaltetes Papier, das er aus seiner Hosentasche gezogen hat. Es handelt sich um die Karikatur, die er von uns dreien auf dem Sugarbush Festival hat zeichnen lassen. Ich betrachte sie so lange, dass ich das Gefühl habe, sie in und auswendig zu kennen. Das breite Lächeln auf Patricks und meinem Gesicht. Mir kommen die Tränen. Ein paar davon fallen auf die Zeichnung und Holden Caulfields übertrieben groß gezeichnetes Elchgeweih.
»Ich vermisse dich jetzt schon«, sage ich und lehne den Kopf an Patricks Brust. »Danke für die Zeichnung. Danke für Holden. Und für die Geschichte mit den Fischen. Und das Lied. Und für eine Million anderer –«
»Delilah«, sagt er. »Du verpasst noch das Beste.« Er streckt die Hand aus und deutet auf den orange, tiefrot und violett leuchtenden Himmel vor uns. Während wir beobachten, wie die Sonne jenseits des Sees hinter den Hügeln untergeht, flüstert er mir ins Ohr, was er mir schon einmal gesagt hat. Ich nehme seine Worte in mich auf und den Geruch seiner Haut und das honigfarbene Leuchten in seinen Augen und das Glitzern der Fische im Wasser, und ich weiß, was auch immer mir das Universum mitteilen will, ich lausche aufmerksam auf seine Botschaft.
Und ich werde nichts davon vergessen.