Blume.pdf 5. Kapitel Blume.pdf

»Wonach riecht es denn hier?« Ich setze die letzte Tüte mit Lebensmitteln auf der Küchentheke ab und wedle mit der Hand vor dem Gesicht hin und her, um wegen des Rauchs nicht husten zu müssen.

»Salbei.« Rachel deutet auf das Räucherstäbchen auf dem Fensterbrett. »Steckt man an, ›um das Böse auszutreiben und Raum für das Gute zu schaffen‹. Die negative Energie bleibt am Rauch hängen und fließt dann nach draußen – siehst du?« Ein langer Rauchfaden steigt wie ein Geist auf, wickelt sich um ihren Finger und entschwebt durch das offene Fenster. Es erinnert mich an Finn, wie er gestern Abend im Auto den Rauch seiner Zigarette durchs Fenster hinausgeblasen hat.

In den letzten vierundzwanzig Stunden ist so viel passiert, dass mir alles ganz unwirklich vorkommt und der Rauch nur noch ein weiteres Element eines undeutbaren Traums ist. Sobald ich die Augen aufschlage, werde ich in meinem eigenen Bett aufwachen, schläfrig und benommen, bei laufendem Fernseher, und durch das Fenster fallen Sonnenstrahlen, die mich daran erinnern, dass es Zeit ist, aufzustehen und in die Schule zu gehen.

»Großartig. Dann schick es ihnen morgen mit FedEx zu, am besten per Express.« Mom ist von ihrem neu eingerichteten Büro zu hören – einem Klapptisch in der hinteren Ecke der Küche, neben dem sie ein Clipboard aufgestellt hat. An der Wand hängt ein riesiger Terminkalender. Ich wundere mich, dass der Salbei ausgerechnet ihre Tätigkeiten nicht zu beeinflussen scheint.

»Okay, dann zur weiteren Liste für heute.« Sie kehrt uns den Rücken zu, während sie Weisungen erteilt, Details festlegt, Zielvorgaben und Erwartungen formuliert. Mit der einen Hand fährt sie sich dabei durchs Haar, mit der anderen presst sie ihr Handy ans Ohr, um die Stimme ihrer Assistentin besser zu hören, die über einen Satelliten zu ihr dringt, der Millionen von Kilometern von allem entfernt ist, was für uns hier irgendwie von Bedeutung ist.

»Sie lässt ihre Leute auch am Sonntag für sie arbeiten?«, fragt Rachel flüsternd, während sie aus dem Kühlschrank Lebensmittel holt, die noch von Großmutter stammen. Eine Packung nach der anderen hält sie an die Nase, um daran zu riechen.

»Nööö – an den Wochenenden ist das total freiwillig. Sie müssen nur arbeiten, wenn sie ihre Jobs behalten wollen.«

Ich beobachte, wie ein Wassertropfen an einem Tetrapak Orangensaft entlang auf den Küchentisch herabrinnt, und frage mich, wie lange es wohl her ist, dass die Hände meiner Großmutter die Packung berührt haben. Wann hat sie sich daraus ihr letztes Glas O-Saft eingegossen? Oder hat sie direkt aus der Packung getrunken, die Kühlschranktür dabei halb geöffnet? Ein Gefühl wie nach zu viel Cola schwappt mir im Magen herum, Luftbläschen steigen in einem fort beim Gedanken an meine Großmutter und den Zeitpunkt irgendwann in der Zukunft in mir hoch, an dem ich die Lebensmittelreste meiner eigenen Mutter mustern und darüber nachgrübeln werde, was alles anders hätte verlaufen können. Eine unermessliche Traurigkeit darüber, dass alles so ist, wie es ist, kriecht mir den Rücken hoch und legt sich mir wie zwei eiskalte Hände um den Hals.

»Das war die letzte Tüte«, sage ich zu Rachel und deute auf die Sachen, die ich reingebracht habe. »Ich brauch jetzt etwas frische Luft.« Dann steuere ich auf die Verandatür zu, drücke die kühle Metallklinke hinunter und trete durch die Tür in das bereits schwächer werdende Sonnenlicht hinein. Ich nehme denselben Weg wie am Morgen, den Hügel hinunter bis zu den Zuschauertribünen am Ufer, und drehe mich dabei nur einmal zum Haus um. Es steht immer noch genauso ernst und unerschütterlich da wie früher, bewacht von den zwei Reihen hoher, mächtiger Ahornbäume, deren Zweige und Blätter die umlaufende Veranda mit ihrer abblätternden Farbe streifen, und ich weiß, dass die alten Bäume die ganze Geschichte unserer Familie kennen.

Aber so angestrengt ich auch hinhöre, sie sagen nichts; genauso wenig wie die Frauen der Hannafords.

Mein schwarzes Tanktop speichert die Hitze der Spätnachmittagssonne, doch an der Unterseite der Zuschauertribüne ist es angenehm kühl, eine sanfte Brise vom Wasser fächelt mir frische Luft zu. Unter den leeren Holzbänken versteckt blicke ich hinaus auf den See, der in meinen Kindheitssommern so mächtig und riesengroß war, und Tränen laufen mir über die Wangen. Ich erinnere mich noch gut an all die Gerüche, nach Kokosnussöl und Holzkohle und Hotdogs und Fisch. Die feuchte Luft fühlt sich so an wie immer, und als ich auf das leise plätschernde Wasser, die Musik aus den Radios und die Kinder lausche, die lachen und sich kreischend vollspritzen, werde ich selber wieder zu einem. Ich bin wieder fünf Jahre alt, meine Arme stecken in aufblasbaren Schwimmflügeln, ich wate in das Wasser hinein, erst bis zu den Knien, dann bis zum Bauch, vorsichtig bewege ich mich Zentimeter um Zentimeter vorwärts, bis Mom mich zurückruft, damals allgegenwärtig und mich immer beschützend während dieser Sommertage, die ununterscheidbar ineinanderflossen. Einen Vater hatte ich nicht, vermisste ihn auch nicht, ich hatte ihn nie kennengelernt. Später, als ich meine Mutter bat, mir alles über ihn zu erzählen, blickte sie mich nur achselzuckend an, gab mir einen Zeitungsartikel und murmelte etwas von einer Begegnung, die nur eine Nacht lang gedauert habe und dass sie mir leider nicht mehr über ihn sagen könne. So gern sie es auch täte.

TRAGISCHER UNFALL

BRITISCHER JOURNALIST IN AFGHANISTAN ERSCHOSSEN

KABUL – Die englische Zeitung National Post trauert um ihren Reporter Thomas Devlin, der am Donnerstag in Tuksar, Afghanistan von einem zwölfjährigen Jungen erschossen wurde. Der 36-jährige Journalist wurde aus kurzer Entfernung mehrmals in die Brust und in den Kopf getroffen. Der Junge, dessen Familie den tragischen Vorfall bedauert, hatte Devlin für einen Einbrecher gehalten. Für eine Reportage über die gewaltsame Rekrutierung von Kindersoldaten durch paramilitärische Einheiten in der von Rebellen kontrollierten Stadt Tuksar war Devlin durch den Norden Afghanistans unterwegs. Er hatte mit der Mutter des Jungen [Name der Redaktion bekannt] ein Interview führen wollen.

Thomas Devlin wuchs in London auf und wandte sich nach seinem Studium in Oxford dem Journalismus zu. Er wurde vor allem durch seine Reportagen und Hintergrundberichte bekannt, für die er sich in sämtliche Krisenregionen der Welt wagte. Das Schicksal von Flüchtlingen lag ihm ebenso am Herzen wie das Aussterben bedrohter Tierarten. Für seine in der National Post veröffentlichte Serie »Die letzte Reise der Elefanten« wurde er in Großbritannien mit dem renommierten National Journalism Award ausgezeichnet. Seine Berichte über Elfenbeinschmugglerringe in Kenia und Namibia erregten weltweit Aufsehen. In beiden Ländern wurden danach schärfere Gesetze zum Schutz bedrohter Tierarten verabschiedet. Thomas Devlin ist es zu verdanken, dass sich überall auf der Welt das Bewusstsein für das bedrohliche Ausmaß des Elfenbeinschmuggels geschärft hat. Mit seinen Artikeln lenkte er den Blick zudem auf die hoffnungslose Situation der verwaisten Elefantenbabys.

Die Reportage über Afghanistan sollte Teil einer längeren Serie für die National Post werden, in der Devlin sich dem Alltagsleben der Bevölkerung in den ländlichen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens hatte widmen wollen. Die Familie des Jungen, der den Journalisten erschossen hat, stand für ein Interview nicht zur Verfügung, sondern ließ lediglich mitteilen, es habe sich um einen tragischen Unfall gehandelt.

Freunde und Kollegen trauern um den Verstorbenen. Er hinterlässt keine Angehörigen.

Na ja, der letzte Satz stimmte nicht ganz. Denn da gab es immerhin diese Frau, die er an seinem letzten Abend vor dem Abflug nach Afghanistan in Philadelphia kennengelernt hatte. In einer Bar. Keiner wusste von ihr. Sie hatte lange schokoladenfarbene Haare und haselnussbraune Augen.

Er liebte ihr Lachen. Sagte er ihr jedenfalls.

Sie liebte seinen Akzent. Sagte sie jedenfalls.

Sollen wir?

Ja, lass uns.

Als Thomas (nicht Tom) Devlin am nächsten Morgen das Flugzeug zurück nach London nahm, um dort in ein anderes Flugzeug umzusteigen, das ihn an seinen letzten Bestimmungsort bringen sollte, dachte er an die Frau mit den haselnussbraunen Augen und den schokoladenfarbenen Haaren. Er dachte an ihr Lachen. Und sie dachte an ihn – an die Art und Weise, wie er ihren Namen gesagt hatte. Wie er sie in der Bar angelächelt hatte. So stelle ich es mir jedenfalls gern vor. Damals wusste keiner von ihnen von dem winzigen Wesen, das sich im Uterus meiner Mutter eingenistet hatte. Wenn Thomas Devlin von mir gewusst hätte, vielleicht hätte er dann auch an mich gedacht, als sich der Junge mit dem Gewehr vor ihn hinstellte und er erschrocken »Oh, Gott!«, »Nein!«, »BITTE NICHT!« oder »Was …?« rief – was wirklich die letzten Worte meines Vaters waren, wissen wohl nur der heute 29-Jährige und seine Mutter.

Bis auf den Embryo, aus dem einmal ich werden sollte, gab es tatsächlich keine Hinterbliebenen; genau wie es in dem Artikel stand. Und bis auf mich und Tante Rachel hat meine Mutter jetzt auch keine Familie mehr. Es gibt keine weiteren Hinterbliebenen, mit denen man sich gegenseitig die alten Geschichten erzählen kann. Keine weiteren Hinterbliebenen, die Großmutters zwölfteiliges Porzellanservice erben wollen oder bereits von ihr die schokoladenbraunen gewellten Haare geerbt haben und das Lachen, das immer eine Oktave höher aufhört, als es angefangen hat. Außer uns dreien gibt es niemand mehr. Keiner, der uns sagen kann, wo unsere Familie herkommt und wer wir sind. Und ob irgendetwas von all dem, was uns heute ausmacht – unsere Zuneigung, unsere Abneigung, die Liebe und der Hass –, es wirklich wert gewesen war.

Wie bei so vielen Dingen zwischen uns, die nicht einfach sind, weigert sich Mom, darüber zu reden. Sie will mir nichts von meinem Vater erzählen. Vermisst sie ihn manchmal? Macht sie ihm oder dem Jungen in Tuksar Vorwürfe, weil sie durch sie beide zur alleinerziehenden Mutter wurde? Denkt sie überhaupt noch an ihn? An der Pinnwand in meinem Zimmer habe ich ein Foto von ihm hängen – das Foto, das die National Post in ihrem Online-Archiv neben seine Biografie gestellt hat. Ich habe es mir ausgedruckt und schaue es manchmal stundenlang an, suche in den Umrissen und Linien seines Gesichts nach irgendetwas, das mir ähnlich ist. Aber der Spiegel teilt mir mit, dass ich vor allem die Tochter meiner Mutter bin. Haare. Augen. Haut. Zähne. Alles eine jüngere Ausgabe von ihr. Und was macht mich zur Tochter von Thomas Devlin? Habe ich von ihm vielleicht die Abenteuerlust und Unerschrockenheit geerbt, mit der ich die Welt aus der Reserve locken will? Oder die Sucht, die Wahrheit wissen zu wollen? Oder das Bedürfnis, mich nicht so schnell mit etwas zufriedenzugeben?

Ich habe meinen Vater nie kennengelernt, deshalb ist es nicht so, dass ich in meinem Herzen an der Stelle, wo irgendwann früher einmal alles untergebracht war, das mit ihm zu tun hatte – der Geruch seines Rasierwassers, der Klang seiner Stimme, die weiche Krempe seines Lieblingshuts – ein großes Loch spüre. Aber es gibt immer wieder Augenblicke, in denen ich mir wünsche, er wäre hier und ich könnte ihn fragen, was ich jetzt tun soll, was ich sagen oder wie ich mich weiter verhalten soll. Er hätte für mich eine Antwort bereit, da bin ich mir sicher. Er würde mich anschauen und die richtigen Worte finden und mich auf die Wange küssen, und ich würde ihm alles glauben, was er sagt.

Eine Möwe landet auf der Holzbank über mir und ich kehre mit den Gedanken in die Gegenwart zurück. Mit den Fingernägeln kratze ich an der abblätternden Farbe, bis sich schließlich papierdünne graue Fetzen lösen, die auf mich herabschweben. Als ich den Blick schweifen lasse, bemerke ich, dass zwei Reihen weiter auf einer Bank jemand liegt: auf dem Rücken ausgestreckt, ein aufgeschlagenes Buch auf die Brust gelegt und eine Baseballkappe tief über die Augen gezogen. Ich schleiche mich im Schatten unter den Bänken näher und beobachte, wie sich seine Brust bei jedem Atemzug hebt und senkt, hebt und senkt.

»Du hast aber jetzt nicht vor, auf einmal hochzuspringen und mich zu erschrecken, oder?«

»Ich … ähm, ich wollte nur … ich … Entschuldigung!«, stammele ich, mache einen Schritt rückwärts und stoße, verwirrt und ungeschickt wie ich bin, mit dem Kopf gegen einen Metallträger. »Aua!«

»Ich hab doch gespürt, dass da jemand ist.« Er setzt sich auf und schiebt die Baseballkappe hoch. Dann schlüpft er unter die Tribüne zu mir. Sein Gesicht ist im Schatten nicht zu erkennen. »Alles okay?«

»Ich, ähm, ich wollte dich nicht stören«, sage ich und nicke dabei in Richtung seines Buchs. Ich will nicht, dass er mich noch länger dabei beobachtet, wie ich mir über meinen dummen und vor Schmerz pochenden Kopf reibe. Ich hoffe, dass der Wind meine Tränen inzwischen getrocknet hat. Und ich hoffe, dass er nicht zu viele Fragen stellt.

»Schon okay.« Er blättert nachlässig durch Der Fänger im Roggen. »Ich hab’s schon ein paarmal gelesen. Ich komm einfach nur gern hierher. Es ist hier immer so … so still … jedenfalls normalerweise.« Er grinst. »Also, noch mal ganz im Ernst. Alles okay bei dir?« Er reibt sich mit der Hand über die Stelle am Kopf, an der bei mir jetzt eine große Beule wächst.

»Ja, ich … ähm, ich … also …« Ich mache noch einen Schritt zurück. »Ich wollte grade geh-«

»Bleib.« Er will nach meiner Hand greifen, aber dann tut er es doch nicht. »Also, ich meine, du musst nicht gehen. Es sei denn, du willst. Aber es wäre cool, wenn du bleibst.«

Ich will Mr Holden Caulfield schon fragen, für wen er sich denn eigentlich hält. So von wegen hier im Schatten unter der Tribüne gleich nach meiner Hand zu greifen, als wäre er ein Typ, der Mädchen belästigt. Wo dies doch eigentlich mein geheimer privater Ort ist. Aber dann dreht er seine Baseballkappe nach hinten und plötzlich fällt ihm das Licht direkt ins Gesicht. Und als ich seine Augen ganz nah vor mir sehe – gold- und bernsteinfarben gesprenkelt, mit einem herausfordernden Leuchten –, kann ich nicht anders. Ich muss lächeln.