Als es dämmerte, wurde ich unruhig. Gold hing noch immer unten im Sessel und schlief. Ich sprang auf seinen Schoß und sagte: »Hey, wach auf!« Gold reagierte nicht. Ich drückte ihm die Pfote ins Gesicht, auf die Nase. Auf ner Menschennase rumzudrücken macht Spaß, weil sie nackt is’ und weich, ein bisschen wie ne fette Schnecke ohne Haus. Gold schreckte hoch. Dann starrte er mich an und sagte: »Oh, Scheiße. Dich gibt’s wirklich. Kein Traum.«
»Ich muss pinkeln. Kannst du bitte …«
Ich zeigte mit der Pfote zur geschlossenen Haustür.
»Wie … wie spät ist es?«
»Keine Ahnung. Ich bin ein Kater. Ich hab keine Uhr.« Gold schaute auf sein kleines Telefon, das im Dunkeln leuchtete, als wärs ’n Glühwürmchen.
»Halb fünf …«
»Ja, und?«
»Das ist früh, sehr früh.«
»Ich muss pinkeln.«
»Verkneif’s dir. Pinkeln erst ab sieben Uhr. So sind die Hausregeln. Mein Haus, meine Regeln.«
Dann schloss Gold die Augen.
Ich drückte ihm wieder die Pfote auf die Nase.
»Sieben Uhr!«, sagte Gold und drehte sich zur Seite.
Ich hielt meine Schnauze an sein Ohr und sprach direkt hinein wie in ein Mauseloch: »Ich. Muss. Pinkeln.«
»Hau ab!«
Ich stieß einige Verzweiflungsmaunzer aus. Aber Gold bewegte sich kein Stück. Dann sprang ich vom Sessel und kratzte an der Couch herum.
»Was tust du da? Hör auf damit!«, rief Gold.
»Ich bin unzufrieden mit der Gesamtsituation. Das bringe ich zum Ausdruck.«
»Indem du meine Couch zerstörst?«
»Ich muss pinkeln.«
»Und ich muss schlafen! Es ist mitten in der Nacht, und mir geht’s nicht gut. Gar nicht gut. Kannst du ein bisschen Rücksicht nehmen? Danke.«
»Was is’ Rücksicht? «
»Du willst mich verarschen, oder?«
»Verarschen?«
»Na, verscheißern. Verkohlen? Vergackeiern? Egal. Du willst wissen, was Rücksichtnahme ist?«
»Nein, ich will pinkeln.«
»Mann, du nervst! Rücksichtnahme heißt, dass man die Bedürfnisse anderer beachtet.«
»Hmm. Find ich gut. Ich muss pinkeln!«
»Anderer! Nicht die eigenen Bedürfnisse.«
»Klar.«
»Wirklich?«
»Nee.«
»Pass auf: Ich stehe jetzt auf und öffne die Tür und nehme damit Rücksicht auf dich. Und anschließend, wenn du wieder reinkommst, hältst du die Klappe, lässt mich schlafen und nimmst Rücksicht auf mich.«
Ich sagte: »Gut. Alles klar.«
Aber es war natürlich nicht gut. Ich pinkelte in einem verwilderten Beet, lauschte auf Tiergeräusche, schaute in den Himmel und dachte: Rücksicht. Wahnsinn! Wenn jetzt über mir ’n hungriger Adler kreist, dann sagt der doch nicht: »Ich hol dich! Aber mach erst mal in Ruhe fertig, Frankie.«
Und ich so: »Mann, danke, Adler.«
Und er so: »Kein Thema, Frankie. Rücksicht muss sein.«
Menschen haben oft keine Ahnung von nix. Aber falls ihr mit nem Menschen zusammenwohnt, dann is’ eine Sache wichtig: Grenzen setzen! Und zeigen, wer der Boss is’. Sonst tanzen sie einem auf der Nase rum und wollen alles bestimmen. Mit Sachen wie Rücksicht. Und bald braucht man für alles ne Erlaubnis und darf nur noch pinkeln, wann sie es möchten, und darf nur noch schlafen, wo sie es möchten. Oder es läuft ganz schlecht, und man endet vor lauter Rücksicht wie der fette Heinz.
Der fette Heinz wohnt um die Ecke vom verlassenen Haus am Großen Weg. Er is’ nicht gerade die hellste Leuchte in der Hundehütte, aber dafür kann er ja nix. Und oft tut er mir leid, wie er da jeden Tag nem Stück Holz hinterherrennt, das sein Mensch durch den riesigen Garten wirft. Und immer isses so: Der Mensch sitzt auf ner Holzbank am Haus, die kurzen Beine ausgestreckt und raucht. Der Mensch heißt Herr Kaufmann und is’ auch fett. Noch fetter als der fette Heinz. Wenn Herr Kaufmann das Holz wirft, dann wackelt der ganze Herr Kaufmann. Damit ihr mal ne Vorstellung habt. Der fette Heinz flitzt dem Holz hinterher und legt es Herrn Kaufmann vor die Füße. Und dann geht’s von vorne los.
Werfen.
Flitzen.
Werfen.
Flitzen.
Ohne Ende.
Das heisere Geröchel vom fetten Heinz hört man bald durchs halbe Dorf, und alle denken: Na, stirbt er jetzt? Außer Herr Kaufmann. Der ruft: »Ja, das gefällt dir, mein Junge, nicht wahr? Das gefällt dir!«
Ich hab den fetten Heinz mal gefragt, ob’s ihm gefällt.
Ich so: »Heinz, warum machst’n das mit dem Holz? Is’ doch Quatsch. Rennst hin und her wie so ’n Irrer.«
Heinz: »Alter. Weiß ich. Aber ich kann nicht anders.«
»Nicht?«
»Nee.«
»Willste drüber reden?«
»Ich mach es für meinen Menschen. Weil ich denke, dass es ihm gefällt. Und mein Mensch macht’s für mich. Weil er denkt, dass es mir gefällt.«
»Verstehe. Is ’n Teufelskreis.«
»Genau.«
Ich hab mir dann vorgestellt, wie überall auf der Welt die Hunde altem Holz hinterherrennen, nur weil die Hunde ihren Menschen nicht die Wahrheit sagen wollen. Oder wie Gold, der Klugscheißer, sagen würde: weil sie Rücksicht nehmen. Und darum führt Rücksicht zu nichts Gutem. Jedenfalls nicht für uns Tiere. Is’ so.
Ich schlüpfte zurück ins Haus. Gold hatte den Platz gewechselt. Er lag jetzt auf der Couch, eingewickelt in eine Decke und schlief. Ich drückte ihm die Pfote auf die Nase und sagte: »Hey, wach auf! Hunger!«
Und weil ich Rücksicht nahm, drückte ich nur drei Mal.
Aber das Problem war ja, dass es kein Essen gab. Und noch ein Problem war, dass Gold sich für dieses Problem überhaupt nicht interessierte. Er lag einfach nur da. Erst schlief er auf der Couch, später starrte er ins Nichts. Und das war seltsam, weil Menschen, soweit ich weiß, immer irgendwas tun. Vor allem arbeiten. Sie arbeiten und arbeiten, und am Ende haben sie einen Wald gefällt oder ein Haus gebaut oder drei Haufen Sand von links nach rechts geschaufelt oder irgendwo ’n Loch gebohrt. Dass Menschen so viel arbeiten, geht allen, die nicht Menschen sind, total auf die Nerven, weil es Unruhe bringt und den Frieden stört. Aber jetzt wär ich froh gewesen, wenn Gold irgendwas getan hätte. Weil es unheimlich war, wie er da lag und keinen Finger rührte.
Ich sagte wieder: »Ich hab Hunger!« Aber diesmal guckte ich süß, was immer hilft bei Menschen. Süß gucken geht so: Kopf schief legen, den Mund vorstrecken, die Ohren ein bisschen nach unten knicken, Augen aufreißen und – das ist das Wichtigste – in den Blick alles reinlegen. Liebe, Vorfreude, Schmerz, Verlangen und so weiter. Dann muss man’s aber noch gut abmischen. Zu viel Schmerz is’ schlecht, weil der Mensch dann nicht denkt: Ach, wie süß! Sondern: Oh, Verdauungsprobleme.
Trotz Süß gucken reagierte Gold nicht.
»Fang dir ne Maus«, sagte er nur.
Da wurde ich extremst unruhig. Irgendwas stimmte nicht.
»Hast du keinen Hunger?«, fragte ich.
»Du willst doch auch was fressen, oder?«
»Ich brauch nichts mehr«, sagte Gold. »Ist egal. Alles ist egal.«
Und das war nun noch unheimlicher als das Rumgeliege und Rumgestarre. Ich kenn ne Menge Leute, darunter auch sonderbare Typen: Eulen, Schwäne, Hunde, nen einäugigen Dachs, ne Elster mit Schluckauf und ein Schaf, das Attila, der Hunnenkönig heißt. Aber ich kenne wirklich niemanden, der sagen würde, dass er kein Fressen mehr braucht und dass ihm alles egal ist . Ich glaub, nicht mal nem Mistkäfer, der den ganzen lieben Tag nur Mist rollt, is’ alles egal. Weil: An nem Haufen Scheiße is’ er immer interessiert.
Ich sprang auf das Fensterbrett, schaute mutlos in den Garten und fing an zu überlegen. Wenn Gold jetzt alles egal war, dann war ich ihm logisch auch egal. Und meine schöne Idee von wegen im verlassenen Haus leben und Hauptgewinn und so, die konnt ich vergessen. Das war ’n Problem.
Aber dann passierte plötzlich was. So is’ das nämlich in Geschichten und im Leben. Dass plötzlich was passiert.
Ich sah durch das Fenster, wie ein kleines weißes Auto den Großen Weg hinauffuhr und direkt vor dem verlassenen Haus hielt. Eine Frau stieg aus. Eine Frau mit nem Koffer. Eine Frau mit nem Koffer, die jetzt auf die Klingel drückte.
»Besuch«, sagte ich.
»Scheiße«, sagte Gold.