Die Frau mit dem Koffer klingelte noch zweimal und als niemand reagierte, öffnete sie das Gartentor, ging durch den Garten und kam auf das Haus zu. Gold, der das Ganze beobachtet hatte, sprang von der Couch auf und ging Richtung Tür. Aber dann kam er zurückgerannt, stieg auf einen Stuhl und nahm hektisch den Faden ab, der noch immer von der Decke hing. Einen Moment lang überlegte er, was er damit tun sollte, dann schmiss er den Faden hinter die Couch und rannte wieder zur Haustür. Ich schlich vorsichtig hinterher, versteckte mich in der Küche und lugte um die Ecke.
Gold hatte die Haustür geöffnet und sprach mit der Frau. Sie klang jung. Jedenfalls jünger als Gold. Aber fragt mich nun bitte nicht, wie sie aussah. Keine Ahnung! Ich kann euch auch nicht genau sagen, wie Gold aussieht, falls ihr euch das die ganze Zeit gefragt haben solltet.
Tut mir leid. Ich hab gehört, dass in Büchern, die Menschen schreiben, die Menschen gern ausführlich beschrieben werden. Oder auch ein Baum. Oder die Farbe des Himmels. Das haben mir die Leute vom Verlag erzählt, von wegen: Die Menschen, die Bücher lesen, möchten sich in ihren Köpfen ein Bild machen. Dann haben sie mir ein Beispiel vorgelesen aus nem Buch von dem berühmten Schriftsteller Hab-ich-vergessen-den-Namen, und der hat ewig beschrieben, wie ’n Mensch sich am Fuß kratzt und aus nem rostigen Wasserhahn trinkt und sich dann wieder am Fuß kratzt und wie viele Haare am Fuß dran sind, und das alles auf ungefähr nem Haufen Seiten. War beeindruckend.
Aber ich bin ein Kater, und für mich sehen alle Menschen gleich aus. Da sind: ein eiförmiger Hauptteil in der Mitte mit vier langen Beinen und Pfoten dran und ’n riesiger Kopf. Fertig is der Mensch. Das Fell? Wurde vergessen. Nur so ’n paar Büschel, die an Stellen kleben, wo man’s nicht versteht. Wer immer den Menschen geschaffen hat: Viel Mühe hat er sich nicht gegeben. Is’ so.
Und jetzt komm ich langsam zum Punkt: Menschen unterscheide ich am Geruch und am Klang ihrer Stimme. Die Frau mit dem Koffer roch blumig und grasig und nach Milch. Gold roch staubig und nach nassem Laub und dem Wasser aus der Flasche, das kein Wasser war. Gold hatte ne Stimme, die summte und brummte wie ’n Haufen Hummeln. Die Stimme der Frau war eher so tschilp-tschilp. Wie bei nem Haussperling, aber heller und härter, also Richtung Feldsperling. Und mit diesem Tschilp-Tschilp sagte die Frau mit dem Koffer jetzt zu Gold: »Sie hatten bei uns angerufen. Wegen einer toten Katze.«
»Ah … ja!«, sagte Gold. »Die Tierarztpraxis. Und Sie sind?«
»Anna Komarowa, Tierärztin. Liegt das Tier hier im Garten?«
»Nein. Also … nicht mehr. Ich schätze, die Sache hat sich sowieso erledigt.«
»Erledigt?«
»Ich hatte mich geirrt. Der … der Kater lebt. Tut mir leid, ich hätte Bescheid geben müssen.«
»Also erst war der Kater tot, und jetzt lebt er wieder? Wie Jesus?« Die Frau, die Anna Komarowa hieß, lachte.
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid, dass Sie umsonst gekommen sind …« Gold klang genervt. Mächtig genervt.
»Irgendeine Spur von dem Kater?«
»Spur?«
»Haben Sie ihn noch mal gesehen? Vielleicht war er verletzt und liegt jetzt hier irgendwo im Gebüsch.«
Anna Komarowa blickte durch den Garten.
»Nein, nein. Da ist nichts. Sie können ganz beruhigt wieder gehen. Glauben Sie mir, dem Kater geht’s gut.«
»Sind Sie sicher? Und woher wissen Sie, dass es ein Kater ist und keine Katze? Haben Sie das Tier untersucht?«
»Was? Nein! Natürlich nicht. Er hat’s mir gesagt … Also nicht ER hat’s mir gesagt! Ich hab’s gesagt. Zu mir. Ist doch bestimmt ein Kater, habe ich zu mir gesagt, als ich ihn dort liegen sah. Ganz normal.«
Anna Komarowa schaute Gold an, als hätte der nicht alle Latten am Zaun. »Nur, damit ich’s richtig verstehe: Erst lag ein, ich sage mal, katzenartiges Tier hier im Garten. Dann haben Sie es sich angeschaut und zu sich selbst gesagt: Ach, das ist bestimmt ein Kater. Und tot ist er auch. Dann haben Sie bei uns in der Praxis angerufen. Anschließend war der tote Kater aber nicht mehr tot, sondern … weg. Weshalb Sie nun glauben, dass er lebt. Gesehen haben Sie ihn aber nicht mehr. Und obwohl Sie ihn nicht mehr gesehen haben, sind Sie ganz sicher, dass er nicht verletzt ist. Weshalb Sie auch nicht kurz mal nachgeschaut haben in Ihrem Garten, obwohl das jeder normale Mensch tun würde, der einen Kater findet. Vor allem einen toten, der dann plötzlich verschwindet. Wissen Sie, wie sich das für mich anhört?«
Gold nickte. Und sagte: »Okay.« Und dann sagte er noch mal: »Okay.« Dabei sah er Anna Komarowa an, als würde er ihr gleich den Kopf abbeißen. Aber die guckte genauso zurück. Ich sag’s euch: Das war wie bei zwei brunftigen Hirschen im Morgenlicht, die auf ner Lichtung stehen und sich böse anglotzen, bevor sie aufeinander losgehen.
»Sie lassen einfach nicht locker, oder?«, sagte Gold.
»Nicht bei so einer dummen Geschichte.«
»Okay. Gut. Wie Sie wollen. Der Kater ist im Haus. Sie können ihn gern mitnehmen. Mir egal. Sie tun mir sogar einen Gefallen, wenn Sie ihn mitnehmen. Frankie! Hier ist Besuch für dich.«
Und so lernte ich Anna Komarowa kennen. Sie hockte sich vor mich hin, lächelte und sagte: »Hallo, Frankie. Ich bin Anna.«
Sie fasste mich nicht gleich an, sondern hielt mir erst mal ihre Pfote hin, damit ich dran schnüffeln konnte, und das fand ich höflich und echt nett, so auf ner persönlichen Ebene.
»Ich werde dich jetzt erst mal untersuchen, ja?«, sagte sie. »Keine Angst. Es geht ganz schnell und tut auch nicht weh.«
Was beides gelogen war.
Diese Anna Komarowa sprach ’n bisschen merkwürdiges Menschisch. Ich meine, vom Klang. Sie sagte zu mir: »Kot, ach, mein kleiner Kot.« Dabei summte sie vor sich hin, kramte in ihrem Koffer, und ich dachte empört: Kot? Du nennst mich Kot? Dann sagte sie, als könnte sie meine Gedanken lesen:
»Kot ist Russisch und heißt Kater. Mein kleiner Kot.«
Und das ist ne Sache, die ich nicht kapiere: Warum es verschiedenes Menschisch gibt? Ich hab mal ’n Kater getroffen, damals im Tierheim, der hieß Juan und kam aus einem Ort in Ganz-weit-weg. Der hieß Spanien oder so. War aber kein Problem. Denn Juan sprach kein Spanien-Katzisch, falls ihr das denkt. Sondern Gebrauchs-Katzisch, so wie wir alle. Weil: Es gibt kein anderes Katzisch. Und jeder hält sich dran. Jedenfalls ich: »Hey, Juan, wie isses denn so in Spanien?«
Juan: »Warm.«
Ich: »Und die Katzen?«
Juan: »Sind heiß, Amigo.«
Und dann hatten wir ’n richtig gutes Gespräch, und ich erfuhr ne Menge über Spanien und dass die Menschen dort Stiere trocknen und mit Tintenfischen in ner Arena kämpfen und anderen Blödsinn treiben. Und jetzt stellt euch mal vor, da sitzen zwei Menschen zusammen, und der eine kommt aus Ganz-weit-weg und der andere aus Ganz-in-der-Nähe. Kannste vergessen! Die verstehen nix, was der andere sagt, kratzen sich den ganzen Tag am Kopf und denken: Hä? Und das ist ja wohl das Dümmste auf der Welt.
Was dann passierte, würd ich euch am liebsten gar nicht erzählen. Aber ich erzähl’s trotzdem. Anna Komarowa sagte: »Mein kleiner Kot, jetzt musst du tapfer sein«, und knetete an meinem Kopf rum. Zuerst an meinem linken Ohr, wo ’n ganzes Stück fehlt. Das hat mir mal ’n Waschbär rausgerissen mit seiner scharfen Schnauze. Waschbären sind miese Typen und klauen Ohren von anderen Tieren.
Dann knetete Anna Komarowa an der üblen Stelle rum, wo mich das Ding angesprungen hatte. Sie sagte: »Oje, oje, mein kleiner Kot«, und tropfte was drauf. Es brannte wie Feuer! Ich jaulte so erbärmlich, dass es mir selbst schon peinlich war. Dann pikste mich plötzlich ein Pfeil, und ich jaulte plus fauchte. Während ich noch jaulte-fauchte, schob mir Anna Komarowa hinten was rein. Einen kleinen, kalten Stock. Von überall wurde ich angegriffen! Als ich dachte: Okay, hinten, war Anna Komarowa schon wieder vorne. Riss meine Schnauze auf und stopfte was rein. »Gegen Würmer«, sagte sie.
Ich fühlte mich wie der dreckigste Kater unter der Sonne. Dann warf mich Anna Komarowa auf den Rücken, riss hinten meine Pfoten auseinander, wühlte in meinem Fell herum.
»Ah, gut, du bist kastriert, mein kleiner Kot«, sagte sie. Dann ließ sie mich los, ich flitzte unter die Couch, und dort kauerte ich, Arsch an die Wand gedrückt, zitternd vor Furcht und Wut. Menschen! Warum tut ihr so was ? Überwältigt einen einwandfreien Kater, der ich bin, und stecht ihn mit Pfeilen, schmiert brennendes Zeug auf seinen Kopf. Macht euch das Freude? Seid ihr so gemein? Und warum bin ich kastriert?
Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, was kastriert bedeutet. Aber wäre ich kastriert, würd ich es doch wissen, logisch. Oder mich so fühlen. Dann hätte sicher schon mal jemand zu mir gesagt: »Hey, Frankie, du wirkst heute irgendwie kastriert.« Aber so sind eben Menschen. Behaupten gern dumme Dinge über Tiere und schmeißen mit komplizierten Worten rum, weil sie denken, nur sie verstehen diese Worte, und dann fühlen sie sich überlegen und wie die Herrscher der Welt.
Während ich nun zitternd unter der Couch hockte, unterhielten sich Gold und Anna Komarowa. Kann sein, dass ich nicht alles mitkriegte von ihrem Gespräch. Weil ich noch unter Schock stand und man unter ner Couch auch nicht gut hört. Aber was ich mitkriegte, war Folgendes:
»Hier sind Tabletten«, sagte Anna Komarowa. »Geben Sie ihm täglich eine. Fünf Tage lang. Damit sich die Wunde am Kopf nicht entzündet.«
»Ich kann nicht für ihn sorgen«, sagte Gold. »Ich bin …Ich muss weg. Er ist nicht mein Kater.«
»Er sitzt aber unter Ihrer Couch. In Ihrem Haus.«
»Nehmen Sie ihn mit, bitte.«
»Ich bin Tierärztin, nicht das Tierheim.«
»Ich kann das wirklich nicht, tut mir leid.«
»Was ist Ihr Problem?«
»ICH bin das Problem«, sagte Gold.
»Katzenhaar-Allergiker?«
»Was? Nein …«
»Na dann. Fünf Tage ein Tier versorgen, bisschen aufpäppeln. Sogar ein Kind schafft das. Also seien Sie kein Arschloch. Und kaufen Sie ihm was Ordentliches zu essen. Er ist viel zu dünn. Hier ist die Adresse vom Tierbedarf. Da kriegen Sie alles. Ich komm wieder vorbei und schau nach ihm. Behandeln Sie ihn gut, meinen kleinen Kot.«
Und dann ging Anna Komarowa. Stieg in ihr kleines Auto, das heulend den Großen Weg hinauffuhr.
Fünf Tage, dachte ich.