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Heil, Oberster Führer

Ich schlief kurz ein. Ich wachte wieder auf. Irgendwann stand Gold vor der Couch und sagte: »Frankie, bist du immer noch da unten?« Ich sagte: »Vielleicht.«

»Ich fahr weg«, sagte Gold.

»Weg? Wohin?«

»Erledigungen. Einkaufen«, sagte Gold.

»Zum Tierbedarf?«

»Kann sein, ja.«

Ich kroch unter der Couch hervor.

»Ich komm mit.«

»Vergiss es. Ich bin bald wieder da.«

»Ich komm mit.«

»In diesem Haus gilt die SVW , Frankie.«

»SVW

»Standard-Vorgehens-Weise. Das bedeutet: Du tust, was ich sage. Und das Wichtigste: Nerv nicht! Sonst werde ich ungenießbar.«

»Bist du jetzt gerade genervt?«

»Noch nicht besonders. Kann sich aber schnell ändern.«

»Ah. Verstehe. Sehr interessant.«

Und dann lief ich Gold einfach hinterher bis zum Auto, da konnte er nix machen, und als er eine Tür aufriss, schlüpfte ich schnell hinein, an ihm vorbei. Kein Ding. Ich schnüffelte kurz herum, dann setzte ich mich neben Gold und sagte: »Von mir aus kann’s losgehen.« Er schaute mich finster an, und ich dachte, gleich packt er mich und schmeißt mich raus, aber dann sagte er nur: »Ach, scheiß drauf«, und fuhr los.

Ihr denkt jetzt vielleicht: Warum fährt ein Kater mit zum Einkaufen? Is’ doch Blödsinn. Aber ich traute Gold nicht. »Ich kann nicht für ihn sorgen«, hatte er zu Anna Komarowa gesagt. Wahrscheinlich wollte er jetzt einfach abhauen. Ohne mich. Denn Menschen sind so. Hab’s selbst erlebt. Die alte Frau Berkowitz holte mich erst aus dem Tierheim, und später war sie dann weg. Von einem Tag auf den anderen. Fuhr in dem weißen Auto mit den Lichtern auf dem Dach davon. Ohne Verabschiedung oder Gründe. Und deshalb saß ich jetzt hier.

Dazu kam: Beim Wort Tierbedarf hatte ich vorhin sofort die Ohren gespitzt. Ich kannte mal nen Fuchs, der nen Terrier kannte, der nen Onkel hatte, und der war mal im Tierbedarf. So hat’s mir der Fuchs erzählt. Jedenfalls soll es im Tierbedarf so sein, dass die Menschen dort die Tiere bedienen. In weißen Kleidern und superhöflich und in allen Tiersprachen und so. Gleich am Eingang wird man mit Futter empfangen und gefragt: »Was möchten Sie fressen? Trocken oder feucht? Heimisch oder international?« Wenn man Gepäck dabeihat, wie jetzt zum Beispiel ein Packesel, dann kommt sofort ’n Mensch angeflitzt und trägt dem Packesel das Gepäck. Man kann sich im Tierbedarf aber auch von Menschen streicheln, entlausen, massieren oder frisieren lassen, in Katzenminze baden oder den ganzen Tag Tierdokumentationen über Pinguine schauen.

Ich so: »Wow, Fuchs. Das klingt genial!«

Er so: »Tierbedarf, der beste Platz auf Erden. Ich sag’s dir.«

Aber man muss natürlich auch wissen: Füchse lügen viel. Na ja, sie übertreiben eben ständig. Das steckt so in ihnen drin. Ich find’s nicht schlimm, weil Füchse es nicht böse meinen. Wenn du nen Fuchs im Wald triffst und fragst: »Isses noch weit bis zum Fluss?«, dann sagt der Fuchs garantiert: »Gleich um die Ecke, mein Freund!« Und dann latscht man noch nen halben Tag. Aber Füchse sagen eben nie was Schlechtes über irgendwas oder irgendwen. Immer nur positiv. Immer nur Sonnenschein. Deshalb werden sie gern zu Beerdigungen eingeladen. Als Trauerredner. Außer von Hühnern natürlich. Auf allen Beerdigungen, auf denen ich war, hat immer ’n Fuchs die Trauerrede gehalten, und am Ende haben alle wie verrückt geweint und fanden den Toten viel besser als den Lebenden. Wenn es jetzt also im Tierbedarf auch nur halb so gut war, wie der Fuchs erzählt hatte, dann wollte ich da unbedingt hin.

Wir fuhren langsam über den Großen Weg durchs Dorf. Immer, wenn ich jemanden sah, Mensch oder Tier, winkte ich ihm mit der Pfote zu. Als wär ich ’n König oder ’n Präsident. Aus dem Fernsehen weiß ich, dass Könige und Präsidenten so was jeden Tag machen müssen. Rumfahren und winken. Warum, weiß ich nicht, aber ich finde, wenn man schon den ganzen Tag arbeiten muss, wie es die Menschen ständig tun, dann doch so. Ich wär jedenfalls ’n guter Präsident, falls ihr mal einen braucht.

Hinter dem Dorf fuhren wir schneller, ich schaute aus dem Fenster, überall war Gegend, Plätze, an denen ich noch nie war, fremde Reviere. Unheimlich. Wie groß die Welt is’! Was es hier alles zu sehen gab und zu riechen und zu lauschen!

Leider war es jetzt auch ein unglaubliches Geschaukel und Gesause im Auto, die Bäume flitzten an mir vorbei, die Gebüsche, sogar die Wolken, und das machte mich ganz krank. Seit wann flitzen Bäume so herum? Ich fing erst an zu gähnen, dann maunzte ich kläglich, fühlte mich elend und verloren. Mir war so schlecht. Warum war ich bloß ins Auto gestiegen? Frankie, du dumme Nuss.

»Was ist?«, fragte Gold.

»Mir geht’s nicht gut.« Er fuhr langsamer.

»Danke«, sagte ich gähnend und legte mich flach auf den Bauch.

»Kotz mir bloß nicht das Auto voll«, sagte Gold. »Du sitzt hier in einem 86er Benz 280 SL

»Klar«, sagte ich. Keine Ahnung, was er meinte. Das Auto war eng, roch alt, bisschen wie nasser Hund, und hatte nur zwei Sitze. Ich schätze, es war ’n Auto für arme Menschen.

Gold ließ das Fenster runtersurren. Luft flatterte herein. Er machte Musik an, ein leises Geklimper und Getröte.

»Konzentrier dich auf die Musik und atme«, sagte Gold.

»Linda wurde oft schlecht im Auto. Du musst atmen. Bewusst ein, bewusst aus. Das hilft.«

»Wer is’ Linda?«, fragte ich atmend.

»Meine Frau.«

Mist, dachte ich. Ein Mensch macht schon Probleme, und man weiß nie, woran man ist. Aber zwei Menschen?

»Du hast ne Frau?«

»Hatte«, sagte Gold. »Jetzt nicht mehr.«

Puh, Glück gehabt, dachte ich.

»Und wo is’ sie jetzt? Neues Revier?«

»Sozusagen. Im Himmel«, sagte Gold und zeigte nach oben.

»Im Himmel? Bei den Vögeln oder was?«

Das erschien mir sehr unwahrscheinlich, dass ein Mensch da oben rumflog.

»Bei Gott. Soweit es einen Gott gibt.«

»Himmel? Gott? Ich kapier nix.«

»Atmen, nicht quatschen!«

»Ich kann atmen und quatschen. Wer is’ Gott?«

»Du bist nicht religiös, oder?«

»Is’ religiös so was wie kastriert?«

»Nicht direkt. Gott ist, na ja, der Chef. Er hat die Welt erschaffen. Gott leitet und beschützt die Menschen. An Gott glaubt man, wenn man religiös ist.«

»Ah, der Oberste Führer!«

»Genau. Du glaubst an den Obersten Führer? «

»Manche Hunde tun’s. Vor allem die aggressiven Typen, die nicht so helle sind. Pitbull, Dobermann, Bulldogge und so weiter. Die denken, dass es ’n Obersten Führer gibt. Der Oberste Führer hieß früher Blondie, bevor er der Oberste Führer wurde.«

»Blondie?«

»Hab ich so gehört. Angeblich is’ er uralt und ein Schäferhund. Aber in riesengroß. Mit Riesenschnauze, Riesenzähnen, und er wohnt irgendwo ganz oben auf nem Riesenberg in ner Riesenhundehütte, und manchmal bellt er total kluge Sachen vom Berg runter, die dann alle befolgen müssen. Vielleicht sind’s auch keine klugen Sachen.«

»Und du?«

»Weiß nicht, ob es den Obersten Führer gibt.«

»Also bist du Agnostiker?«

»Klar.«

»Du weißt, was ein Agnostiker ist?«

»Agnostiker verkaufen Brillen.«

»Das sind Optiker.«

»Meinetwegen. Verkaufen Agnostiker keine Brillen?«

»Manche Optiker sind sicherlich auch Agnostiker.«

»Na also.«

»Es ist aber nicht das Gleiche!«

»Hab ich auch nicht gesagt! Oh, Mann. Mir is’ so schlecht. Mir is’ so furchtbar schlecht.«

Die Straße wurde holpriger, das Auto wippte plötzlich auf und ab und auf und ab, als würden wir auf Wellen reiten. Nicht, dass ich schon mal auf Wellen geritten wär. Aber ihr wisst, was ich meine. Gold legte seine Hand auf meinen Kopf, leider nur ganz kurz, so, als hätte er Angst. Die Hand war groß und schwer, mein Kopf verschwand fast vollständig darin wie in ner Höhle. Und das war beruhigend. Ich schloss die Augen, atmete – bewusst ein, bewusst aus – lauschte der Klimper-Musik. Aber am besten war es zu reden, wegen der Ablenkung.

»Warum wollte deine Frau unbedingt in den Himmel? Is’ doch wahnsinnig weit weg.«

»Meine Frau ist tot«, sagte Gold.

Und da hab ich erst kapiert, was los war.

Aber ich hab auch nicht alles kapiert.

»Der Himmel ist kein exakter Ort«, sagte Gold. »Eher so eine … Metapher. Eine tröstende Idee, verstehst du?«

»Nee.«

»Viele Menschen glauben an ein Leben nach dem Tod. Die Seele des Verstorbenen steigt in den Himmel auf. Und ist dann bei Gott. Der Himmel ist, wo Gott ist.«

»Hab ich auch so ne Seele? «

»Ja. Alle Lebewesen.«

»Cool. Was is’ ne Seele?«

»Du willst es echt wissen, oder? Die Seele ist, wie soll ich sagen: der unsterbliche Teil von dir. Deine Gefühle, Gedanken, Erfahrungen. Die Quintessenz deines Seins.« Ich fand, das war alles wahnsinnig kompliziert. Metapher, Quintessenz und so. Aber trotzdem war’s gut, ne Seele zu haben. Für alle Fälle. Denn man weiß nie, wie die Dinge kommen und ob man so ne Seele nicht doch mal braucht. Außerdem war ich ja jetzt Agnostiker. Und ich denke, die haben alle ne Seele, sonst kann man kein Agnostiker sein. Aber genau weiß ich’s nicht.

»Bist du auch Agnostiker?«, fragte ich.

»Atheist«, sagte Gold. »Jedenfalls dachte ich das immer.«

Ich hab dann lieber nicht gefragt, was ein Atheist is’. Sonst wär mein Kopf geplatzt. Gold hat’s mir auch nicht erklärt. Also müsst ihr selbst draufkommen.

Ich drehte mich auf den Rücken, Pfoten in die Luft, meine Lieblingsposition, um zu dösen. Aber ich konnte nicht dösen. Mein Magen spielte total verrückt. Ich schaute durch das Fenster in den Himmel, der wirklich extremst blau war, noch blauer als ein Vergissmeinnicht und unbegreiflich groß. Denn da war gar kein Ende, und wir fuhren jetzt schon ne ganze Weile, so weit war ich noch nie gefahren in meinem Leben, und der Himmel war noch immer da. Ich war richtig erschrocken darüber, dass man vor dem Himmel anscheinend nicht weglaufen konnte. Vor allem, weil ich mir nun auch noch vorstellte, wie ’n Haufen Menschen da oben im Himmel rumflogen und Gott und jede Menge Seelen und Atheisten und Optiker und Golds Frau. Vielleicht ja sogar die alte Frau Berkowitz. Das machte mich richtig fertig, weil’s so unheimlich war. Zumal es ja auch noch Vögel und Flugzeuge gab. Was für ein Durcheinander! Aber irgendwie war’s auch schön.

Unheimlich und schön. Und dann dachte ich daran, dass ich auch irgendwann im Himmel wohnen könnte oder meine Seele, sofern Agnostiker wirklich ne Seele haben. Aber ganz ehrlich? Ich wollte nicht in den Himmel. Die Reise zum Tierbedarf war schon anstrengend genug. Und bis zum Himmel würd ich’s nicht schaffen. Das stand fest.