Alles hätte super laufen können. Und anfangs dachte ich auch, es würde super laufen. Denn ich hatte Futter, ich hatte ein Haus, ich hatte Fernsehen. Ich hatte sogar ein Bett.
Natürlich sagte Gold: »Nicht in mein Bett, Frankie! Mein Bett ist tabu, Frankie! Komm da raus, Frankie!«
Keine Ahnung, was tabu bedeutet. Und für meinen Geschmack sagen die Menschen zu oft, was man nicht tun soll. Dabei macht es keinen Spaß, etwas nicht zu tun. Vor allem, wenn man es tun möchte. Und das Bett ist groß. Das wär die totale Verschwendung, wenn man da alleine drinliegt, hab ich zu Gold gesagt. Plus: Ich hab geschnurrt, süß geguckt, mich gerekelt und die ganze Einschleimnummer abgezogen. Nachts saß ich vor der geschlossenen Schlafzimmertür und maunzte. Ohne Ende. War anstrengend, aber es hat sich gelohnt. Jetzt schlafe ich jeden Tag in meinem Bett, und Gold schläft da auch. Soweit er am Rand Platz findet.
Und das meine ich mit: Alles hätte super laufen können. Ich hätte im verlassenen Haus leben können wie ’n König oder ’n Präsident. Der Einzige, der Probleme machte, war Gold.
Am ersten Tag nach Tierbedarf bekam ich pünktlich Fressen. Morgens, mittags, abends. Danach blieb mein Teller öfter leer, und ich musste ewig diskutieren. Wenn ich zu Gold sagte: »Ich bin hungrig!«, dann sagte er: »Hab’s vergessen.« Oder: »Später, Frankie.« Oder: »Ich schaff es gerade nicht.«
Dabei isses einfach, oder? Jeder Trottel kann das.
Gold selbst fraß wenig, und einmal kippte er morgens vom Stuhl, mit ner Flasche Wasser, das kein Wasser war, in der Hand. Er lag wie tot auf’m Boden, und gerade, als ich dachte, er is’ wirklich tot, schlug er die Augen auf und sagte: »Glotz mich nicht so an!«
Wenn Gold fraß, dann im Bett. Die leeren und halb leeren Töpfe stellte er, sobald er fertig war, daneben. Manchmal leckte ich Reste raus. Nach ner Weile roch es aus den Töpfen, und die Wahrheit is’: Gold roch auch. Ich bin ein Kater und empfindlich in der Nase. Gold roch sauer und einsam, wie ’n Igel ausm Maul, und ich hätt mir gewünscht, er würde mal in den See springen. Oder sich sauber lecken. Aber er leckte sich nicht, und er sprang nicht, und er schnitt nicht das kratzige Fell, das in seinem Gesicht wuchs.
Auch andere Sachen, die ich von Menschen kenne, machte Gold nicht. Zum Beispiel: Mit anderen Menschen reden. Am Telefon oder so. Nix. Es kam auch nie jemand zu Besuch. Vielleicht hatte Gold keine Freunde? Gold fuhr zu keiner Arbeit. Gold las kein Buch. Gold hörte keine Musik. Gold wusch kein Auto mit nem langen Schlauch. Gold buddelte nicht im Garten. Gold lachte nicht. Gold saß nicht in der Sonne, wenn Superwetter war. Stattdessen zog er alle Vorhänge zu und latschte mit so nem tieftraurigen Mantel, den er Bademantel nannte, durchs Haus. Es war, als wohnte man mit nem Toten zusammen, nur dass Gold nicht tot war. Aber eben auch nicht lebendig. Quasi: Zombie. Und das is’ nicht optimal als Mitbewohner, da wird mir jeder zustimmen.
Das Einzige, was Gold regelmäßig machte, woran er scheinbar Freude fand, war: nachts im Fernsehen dicken Menschen dabei zuschauen, wie sie mit Pfeilen auf ne runde Scheibe warfen.
Und dann machte er plötzlich noch was: Er ging aus dem Haus.
»Wo gehste denn hin?«, fragte ich total überrascht.
»Jemanden besuchen«, sagte er.
Und da wollte ich natürlich wissen, wer dieser Jemand war. Logisch.
Links vom Großen Weg liegt der Müllberg. Gold ging nach rechts, und ich trottete hinterher wie ein Hund.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht mal sagen, wie Gold gekleidet war: Er trug nen alten Hut, ne extremst kurze Hose, die wahrscheinlich ne Unterhose war, darüber den Bademantel, die Füße steckten in Stiefeln, die er Gummistiefel nannte. Die Flasche mit Wasser, das kein Wasser war, hielt er in der Hand. Aber die beiden Menschen, die uns auf dem Großen Weg entgegenkamen, sagten nur höflich: »Guten Tag, Herr Gold!«, als würden hier alle so rumrennen wie der Dorftrottel.
Da Gold nach rechts gegangen war, hatte ich ne Idee, wo er hinwollte, und bald kamen wir zu ner eingezäunten Wiese, auf der lauter prachtvolle Steine standen. Große und kleine. Und mittelgroße auch.
Gold setzte sich vor einen kleinen Stein, der am Rand unter zwei Birken stand. Ich setzte mich daneben.
»Hier liegt sie«, sagte Gold nach einer Weile. »Tot und begraben. Heute ist Lindas Geburtstag.«
»Ah«, sagte ich. »Deine Frau liegt da unterm Stein? In der Erde?« Gold nickte.
»Muss kalt sein. Dunkel auch. War deine Frau sehr alt?«
»Nein, sie war nicht alt«, sagte Gold.
»Warum is’ sie dann tot?«
»Ein Autounfall. Linda fuhr morgens zum Einkaufen. Abends lag sie im Leichenschauhaus. Das war’s.«
»Tut mir leid.«
»Alle sagen das ständig zu mir: Tut mir leid.«
»Was denn sonst?«
»Wie wär’s mit: Wie war sie so? Vermisst du sie? Was wirst du jetzt tun? Das ist übrigens Frankie, Linda.«
Gold sprach plötzlich mit dem Stein.
»Hallo, Linda«, sagte ich und hob die Pfote.
»Frankie ist ein Kater. Und er spricht. Oder ich bin verrückt. Oder betrunken. Beides gut möglich.«
Gold sprach weiter mit dem Stein. Manchmal berührte er ihn sanft mit der Hand, als wär der Stein kein Stein.
»Frankie liegt auch bei uns im Bett, Linda. Hab’s ihm natürlich verboten. Ich weiß, dass du keine Katzen magst. Aber es ist nicht meine Schuld. Du bist einfach … weg. Sitzt da oben im Scheißhimmel und lachst. Weil ich mit einem Kater im Bett liege. Aber Frankie ist warm. Er schnurrt. Leider furzt er auch. Mein Gott, du glaubst nicht, wie er furzt! Ich wette, du lachst jetzt, Linda. Ich vermisse das. Alles vermisse ich. Weißt du, was ich manchmal mache? Ich laufe Frauen hinterher. Ich treffe sie zufällig auf der Straße, in der Bahn, im Supermarkt, irgendwo. Und sie tragen dein Parfüm. Das macht mich verrückt. Ich glaube einfach nicht, dass du tot bist. Ich weiß es, aber ich glaube es nicht. Dein Geruch fliegt noch hier herum. Du verarschst mich doch, oder? Scheiße, Linda!«
Gold fing an zu weinen. Mit Geräuschen, so klingt kein Tier. Und mir wär wirklich lieber gewesen, er hätte nicht geweint. Ich stupste ihn mit der Nase an. Ich leckte seine Hand. Half nix.
»Ich hab dir nichts zum Geburtstag mitgebracht, Linda. Ich bin so wütend auf dich. Warum hast du nicht … dreißig Sekunden gewartet, damals? Warum bist du nicht dreißig Sekunden später in das verdammte Auto gestiegen. Scheiße, Linda! Meine Schöne. Nur dreißig Sekunden!«
Ein Mann kam auf Gold zu und sagte: »Könnten Sie bitte ein bisschen leiser sein? Das ist ein Friedhof.«
Gold schaute auf, zeigte mit dem Finger in Richtung des Mannes und sagte: »Du hältst dein Maul!«
Und dann saßen wir noch ne Ewigkeit schweigend vor dem Stein. Einmal sprang Gold auf, ging rüber zu nem anderen Stein, schaute sich um, nahm die Blumen, die dort lagen, und legte sie zu Linda.
»Pass auf, Gold«, sagte ich irgendwann. »Kennst du den? Kommt ’n Aal zum Schakal. Sagt der Aal: Hey, Schakal …«
»Was soll das werden, Frankie?«
»Na, ich erzähl dir nen Witz. Zur Aufheiterung.«
»Schlechter Zeitpunkt, Frankie. Ganz schlechter Zeitpunkt.«
Stellte sich nämlich heraus: Die Menschen nehmen den Tod sehr ernst. Quasi: persönlich. Dabei is’ der Tod ja nur das Ende vom Leben. So wie es auch einen Anfang gibt. Wie bei ner Wurst. Ohne Anfang und ohne Ende wäre ne Wurst keine Wurst. Und das Leben nicht das Leben. Versteht ihr?
Wir Tiere schlafen einfach irgendwo ein, wenn wir sterben. Wir liegen im Dreck, Maden rennen durch unsern Kopf. Manchmal kommt ’n Fuchs vorbei und hält ne Trauerrede.
Die Menschen aber bauen einen richtigen Schlafplatz für ihre Toten. Sehr beeindruckend. Die Menschen schreiben auch ’n Haufen Worte auf die Steine. Kommen zu Besuch, erzählen den Toten Geschichten und so weiter. Den Toten isses logisch egal. Aber um die Toten geht’s auch nicht. Sondern um die Lebenden, oder?
Und ich muss euch noch was sagen: Ich hab vorher noch nie mit nem Stein geredet. Oder mit ner Toten wie Linda. Aber am Haus vom fetten Heinz, direkt über der Tür, da hängt ein Geweih von nem Hirsch. Ich hab den Hirsch nie getroffen, früher, als er noch ’n ganzer Hirsch war und im Wald röhrte, oder was Hirsche eben tun. Aber jetzt quatsch ich immer ein bisschen mit ihm, wenn ich vorbeigehe, damit er sich nicht so einsam fühlt, wie er da am Haus dranhängt.
Ich so: »Hey, Hirsch, was geht?«
Er so: Nix.
Ich so: »Siehst gut aus. Bald ist Brunftzeit. Biste bereit?«
Er so: Nix.
Es sind einseitige Gespräche, aber ich glaub, er freut sich trotzdem. Auch wenn er es nicht so zeigen kann. Und ganz ehrlich? Ich möchte später nicht an nem Haus dranhängen. Wär mir zu langweilig. Aber ich möchte auch nicht hier auf dem Schlafplatz liegen, mit nem schweren Stein auf dem Kopf, tief unter der Erde in ner Kiste eingesperrt, wie es die Menschen mit ihren Toten tun. Is’ so.
»Was sind das eigentlich für Worte auf Lindas Stein?«, fragte ich Gold, als wir zurück zum verlassenen Haus gingen. Denn das war mir auf dem Schlafplatz aufgefallen: Auf allen Steinen stand viel geschrieben. Nur Lindas Stein war fast nackt.
Kaum Worte drauf.
»Da steht: Bis gleich«, sagte Gold.
»Sonst nix?«
»Das hat Linda zu mir gesagt. Bevor sie ins Auto stieg und nie wiederkam.«
Bis gleich.