Alveros
Alveros musste zugeben, dass er überrascht gewesen war, als er die Einladung zum politischen Bankett in Europa erhalten hatte. Selbstverständlich hatte er zugesagt. Endlich war es ihm gelungen, Kontakt nach ganz oben zu halten. Das hatte er für nichts aufs Spiel setzen wollen.
Allerdings war ihm auch klar gewesen, wie solche Veranstaltungen abliefen. Und jemand seines Standes und seiner Position hatte in Begleitung zu erscheinen.
Es war ein Leichtes gewesen, Odil zu überreden. Viel Überzeugungsarbeit hatte er dabei nicht leisten müssen. Odil mochte den Glanz und den Glamour und er badete gern in der Aufmerksamkeit der Alphas.
Für den Abend hatte Alveros sogar eine Ausnahme gemacht und ihn markiert – zumindest mit einem deutlichen Knutschfleck am Hals und einigem Speichel auf der Haut. Damit konnte er ihn als den Omega vorstellen, um den er gerade warb, und hatte damit nicht nur sein gutes Image gewahrt, sondern auch Odil Kontakte verschafft. Natürlich hatte es geholfen, wie sehr sich Odil für den Abend in Schale geworfen hatte. Er hatte, seit sie den Saal betreten hatten, allen anderen die Show gestohlen.
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»Du kannst einfach alles tragen, mein Stern«, säuselte Alveros, als sie gerade beim Essen saßen und er bemerkte, wie viele Alphas sich nach Odil umwandten. Kein Wunder. Je femininer, weicher und anmutiger ein Omega wirkte, desto mehr Alphas wollten es haben. Alveros jedenfalls konnte die Wirkung, die es auf ihn hatte, bestätigen. Odils geschmeicheltem Lächeln nach zu urteilen, hatte er genau diesen Effekt erzielen wollen.
Alveros fragte sich, ob er ihn zu nah an sich heranließ. Ob er ihm etwas vorspielte. Er hatte seine Absichten bisher mit all seinen Lieblingen transparent und ehrlich gehalten. Und er hoffte, dass sich Odil am Ende nicht zu viel erhoffte. Er wusste ja, wie Omegas waren.
Bis auf die Ausnahme, die unweit von ihrem Tisch entfernt saß und ihm den ganzen Abend über schon böse anfunkelte. Er war herzallerliebst, der kleine, naive Schoßhund des Präsidenten.
Alveros’ Blick wanderte zu Alaric Campbell hin, der an seinem Tisch von einem ausgewählten Kreis umringt war. Der Minister für internationale Sicherheit saß an seiner rechten Seite. Als sie vorhin gemeinsam an den Tisch gekommen waren, an dem man Alveros platziert hatte, war er mit den anderen Gästen aufgestanden, hatte die Begrüßung höflich erwidert und beteuert, wie froh er über die Einladung war. Sie hatten Odil natürlich wiedererkannt. Allein dafür, dass sie nun sicher glaubten, dass Alveros ein biederes Leben mit einem hübschen Omega anstrebte, ein Haus, Kinder und dergleichen, hatte es sich schon gelohnt, seinen Stern mitzubringen. Gaukelte man den Menschen ein bodenständiges Leben vor, waren sie eher gewillt, einem zu vertrauen – und sahen mit viel Glück über die halbseidenen Geschäftsbereiche hinweg.
Im Anschluss hatte er Campbells Rede gelauscht, in der sich der Präsident dafür ausgesprochen hatte, dass Wirtschaft und Politik in Zukunft noch enger zusammenarbeiteten. Etwas, das man unter seinen Gästen sehr gern gehört hatte.
Dann hatte das Essen begonnen. Alveros hatte Odils seltsame Fütterungsanwandlung über sich ergehen lassen und sich hin und wieder an den Tischgesprächen beteiligt, wenn ein unverfänglicher Kommentar angemessen gewesen war. Aber lieber hatte er zugehört. Dabei erfuhr er so einiges. Die Informationen würden ihm später noch nützlich sein.
»Das hier schmeckt interessant«, sagte Odil, kaum dass das Dessert aufgetischt wurde.
Alveros öffnete bereitwillig den Mund, als ihm der Omega eine Gabel vor die Lippen hielt, beladen mit Obstsalat.
»Weißt du, was das ist?«
Noch während er versuchte, den säuerlich süßen Geschmack zu identifizieren, hörte er, wie Grunewald am Tisch nebenan hustete und seine Tischnachbarn panisch aufkeuchten, ehe er würgte.
Alveros riss den Kopf herum.
› Jujube ‹, dachte er und das blanke Entsetzen erschien auf seinem Gesicht, als er Zeuge davon wurde, wie sich Grunewald zusammenkrampfte und dann auf die Tischdecke erbrach. Da war eindeutig Blut im Erbrochenen.
Alveros sprang so schnell auf, dass sein Stuhl umflog. Er rannte zu Grunewald hin – und zu Campbell, der von dem plötzlich schlechten Zustand seines Partners vollkommen überrascht war.
»Valrian«, stieß Alveros hervor. »Die Wechselwirkung mit seinen Medikamenten tötet ihn. Er braucht Valrian, sofort!«
Campbell sah mit geweiteten Augen zu ihm auf, offensichtlich unter Schock.
Alveros wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Die Omega-Blocker der westlichen Welt rühmten sich damit, keine Nebenwirkungen zu haben. Allerdings gab es – und Alveros wusste das durch seine Arbeit mit Omegas nur zu gut – einige Substanzen aus dem asiatischen Raum, die in die Tests der Medikamente nicht mit einbezogen worden waren und ihre Wirkung aushebelten. Oder, was schlimmer war: In Kombination mit ihnen den Organismus angriffen. Kornelkirsche war ärgerlich für die, die die Blocker nahmen. Aber die chinesische Dattel, Jujube, war tödlich.
Hastig tastete Alveros in seinem Jackett nach dem Spritzbesteck und der kleinen Dosis Valrian, die er jederzeit bei sich trug, doch ein schlaksiger Beta mit Brille und blonden Locken war schneller als er. Noch bevor Alveros seine Flasche herausgezogen hatte, riss der Mann Grunewald den Hemdsärmel bis zum Ellbogen zurück und rammte ihm die Spritze in den Unteram.
Als die grünliche Gesichtsfarbe des Ministers allmählich wieder rosa wurde und er einen holprigen Atemzug nahm, war Campbell sichtlich erleichtert.
Alveros schob sein Fläschchen zurück ins Jackett. Der Tod des Ministers hätte ihm gerade noch gefehlt. Er hegte große Erwartungen an ihre Zusammenarbeit. Gezwungen zu sein, von null anzufangen, wäre ärgerlich gewesen.
Eben wollte er sich beruhigt abwenden, da fiel ihm auf, dass Gabriels Stuhl leer war. Alveros’ Blick flog durch den Raum, während sich düstere Gewissheit in ihm manifestierte.
Als sich der Leibarzt aufrichtete, hielt ihn Alveros am Oberarm zurück. »Wo ist der Assistent?«, fuhr er ihn an. »Wo ist Fleming?« Vor seinem inneren Auge sah er ihn irgendwo in einer Ecke liegen und jämmerlich krepieren.
Der Beta, der seinen forschen Ton irritiert zur Kenntnis nahm, schaute zum Balkon. »Er ist vor dem Nachtisch rausgegangen.«
Alveros knirschte mit den Zähnen, ließ den Leibarzt los, durchquerte den Saal in langen Schritten und riss die Tür zum Balkon auf.
Er fand Gabriel so, wie er es befürchtet hatte: auf dem Boden liegend, in seinem Erbrochenen und in Blut, in Embryo-Haltung zusammengekrampft, die Hände an den Bauch gepresst.
Alveros fiel neben ihm auf die Knie, mit schnell schlagendem Herzen und hochkonzentriertem Geist. Er war wahrlich kein Arzt. Aber er hatte schon genug mit Drogen herumexperimentiert, um eine Nadel ansetzen zu können, und er durfte keine Zeit verlieren. Auf den Leibarzt und sein Team konnte er nicht bauen, die versorgten den Minister. Hastig zog er die Spritze aus seinem Jackett und riss sie aus ihrer sterilen Verpackung, ehe er Gabriels schlaffen Arm griff, das Hemd hinauf zerrte und die Spitze ansetzte. Kaum hatte sie sich in die weiche Haut gefressen, spritzte ihm Alveros das Gegenmittel.
Dem Omega entwich ein Wimmern.
In grimmiger Erleichterung atmete Alveros auf. Es war noch nicht zu spät gewesen. Er zog die Nadel raus und schob Gabriel dann einen Arm unter die Kniekehlen und den anderen unter seinen Rücken.
Während er ihn hochhob und sich zur Tür umwandte, sah er den Leibarzt davor stehen.
Der Beta wirkte verwundert, doch als sich ihre Blicke trafen, runzelte er die Stirn. »Folgen Sie mir. Der Minister wird bereits in eines der Krankenzimmer gebracht. Wir müssen Mr. Fleming ebenfalls untersuchen.«
Alveros ging hinter ihm in den Saal zurück, Gabriel in seinen Armen. Er war sich der vielen Schaulustigen überdeutlich bewusst, doch das kümmerte ihn nicht.
Der Tisch des Präsidentenpaares war leer.
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Hinter sich schloss Alveros die Tür des kleinen Zimmers, in dem er Gabriel auf die notdürftige Liege gelegt hatte. Das Ärzteteam des Präsidenten würde sich seiner annehmen.
Jetzt, da das Adrenalin allmählich abgebaut war, stellte sich Zufriedenheit ein. Er hatte heute zwei Leben gerettet, eines davon war für die Welt sogar von großer Bedeutung. Das würde ihm irgendwann noch nützlich sein.
»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Mr. Greystone«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Er drehte sich um. Campbell schloss eben die Tür zum benachbarten Zimmer, in dem er den Minister vermutete.
Mit einem knappen Nicken nahm Alveros den Dank an.
Der Präsident musterte ihn. »Woher wussten Sie …?«
»Ich arbeite mit Omegas«, antwortete Alveros schulterzuckend. »Deshalb kenne ich die Gefahren, die Blocker mit sich bringen.«
Schmunzelnd schüttelte Campbell den Kopf. »Sie wissen, dass das nicht das war, was ich fragen wollte.«
Alveros bedachte den Präsidenten mit einem vielsagenden Blick. »Ich handle mit Informationen. Als ich Ihnen meine Loyalität zusicherte, wusste ich, wie Sie zueinanderstehen.«
»Dennoch haben Sie es niemandem gesagt«, stellte Campbell fest. »Sie scheinen ein schlechter Händler zu sein, wenn Sie Ihre Ware nicht herausgeben.«
»Manchmal wiegt Loyalität stärker als die Umstände, in denen wir uns befinden.« Vielsagend wies Alveros zur Tür, hinter der Gabriel lag.
Als ahnte er, welche Doppeldeutigkeit in seinen Worten mitschwang, musterte ihn der Präsident. Hinter ihm öffnete sich die Tür zu Grunewald. Der Leibarzt kam heraus, ging zu Gabriels Tür und verschwand dahinter.
Campbell beachtete ihn nicht. Er nickte Alveros zu. »Nun, Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe ein Bankett aufzulösen.«
Alveros deutete eine respektvolle Verbeugung an und schaute dem Präsidenten hinterher, als dieser an ihm vorbeilief und zügig die Treppe in den Bankettsaal nahm. Es war offensichtlich, dass er es hinter sich bringen wollte, um seinen Partner nicht allzu lang allein zu lassen. Eine tiefe Verbundenheit, die Alveros nie jemandem gegenüber gefühlt hatte. Die Beziehung, die dem am nächsten kam, wäre …
Glitzerndes Blau erschien in seinem Sichtfeld.
Oh.
Er hatte Odil vollkommen vergessen. Das war ihm noch nie passiert.
Jetzt ahnte Alveros, was ihm bevorstand.
Odil baute sich vor ihm auf. »Aha!«, fauchte er und stemmte die Hände in die Hüften, während er Alveros wütend anfunkelte. »Der kleine Assistent fällt in Ohnmacht und plötzlich mutierst du zum Wohltäter? Macht es Spaß, Campbell in den Arsch zu kriechen?«
Alveros warf ihm einen tadelnden Blick zu. Nach allem, was geschehen war, vertrug er eine Szene nun sehr schwer. »Mach dich nicht lächerlich, Odil. Er brauchte Hilfe. Ich habe geholfen.«
»Einer der Ärzte hätte ihn reinbringen können!«, echauffierte sich Odil. »Hast du eine Ahnung, wie das ausgesehen hat? Wie du mich damit blamiert hast? Wir waren gemeinsam hier und du … du hast einfach …« Tränen der Wut traten ihm in die hübschen Augen.
Aber Alveros hatte kein Mitgefühl für ihn übrig. »Ich werde mich vor dir nicht rechtfertigen, Odil«, sagte er streng. »Solltest du mir dafür nicht dankbar sein? So wie alle anderen?«
Odil schnaubte. »Sicher«, zischte er. »Ist ja nicht so, als hätte ihm jemand anders sein jämmerliches Leben retten können, dieser langweiligen, plumpen Peinlichkeit von einem Omega.«
Alveros runzelte die Stirn. Campbell mochte den Gästen erzählt haben, dass es eine Allergie oder eine Lebensmittelvergiftung gewesen war, um Grunewalds Geheimnis zu verschleiern. Aber wer im Untergrund arbeitete, kannte die Anzeichen. Alveros warnte seine Omegas regelmäßig davor. Dass Odil dahintergekommen war, überraschte ihn nicht.
Er wollte gerade den Mund öffnen und ihm klarmachen, dass es für alle anderen weitaus harmloser ausgesehen hatte, da schleuderte ihm der Omega entgegen: »Lüg mich nicht an! Du hast ihn gerettet, weil du ihn bisher noch nicht klarmachen konntest und du dir die Gelegenheit nicht entgehen lassen wolltest!«
Alveros schnaubte ungläubig. »Hast du dir beim Essen was eingefangen?«, spottete er.
»Nein, aber ich kenne dich«, sagte Odil und nun liefen ihm die Tränen über die zornroten Wangen. »Ich weiß, wie du tickst. Und seit du aus Prag zurück bist …«
»Was, in Teufels Namen, hat Prag damit zu tun?«, unterbrach ihn Alveros. Er vertrug Tränen nicht sonderlich gut. Sie setzten ihn unter Druck und machten ihn wütend. Omegas verwendeten sie viel zu oft gegen ihn und er fühlte sich jedes Mal manipuliert.
»Sie hat es mir erzählt«, sagte Odil schluchzend.
Alveros musste nicht fragen, wen er meinte. Das würde ein Nachspiel haben, so viel stand fest.
Trotzig wischte sich Odil die Wangen trocken und sah wieder zu ihm auf. »Weißt du eigentlich, wie peinlich es ist, ihm so hinterher zu rennen?«
»Er ist der verdammte Assistent des Präsidenten!«, brauste Alveros auf, bevor ihm klar wurde, dass er nicht dort aus der Haut fahren sollte, wo die Wände Ohren hatten. Mit gesenkter Stimme und zerknirscht fuhr er fort: »Meine Methoden gehen dich nichts an, Odil. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, vor allem nicht dir.«
Odil schnappte hörbar nach Luft. »Wie kannst du das nur sagen?«, hauchte er, so gebrochen, dass ihm Alveros seine Scharade beinahe abkaufte. »Du kaltherziger, rücksichtsloser Egoist.«
Er appelierte an sein Mitgefühl, doch davon hatte Alveros gerade nichts übrig.
Trocken lachte er auf. »Was denn?«, spottete er. »Überrascht dich das? Oder hast du etwa geglaubt, dass ich eine Ausnahme machen würde? Bei dir? Das ist peinlich.«
Der Omega schwankte. Er fuhr sich durchs Haar und starrte zu Boden. »Ich dachte nur, wir …« Zittrig holte er Luft und setzte resigniert hinzu: »Ich dachte, wir … wir kennen uns. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.«
Mit finsterer Miene sah ihm Alveros dabei zu, wie Odil auf die Scherben seiner unrealistischen Hoffnungen hinab starrte. Er nahm seine Worte nicht zurück. Kein Omega hatte es sich bisher gewagt, ihn so in die Enge treiben zu wollen und darauf zu beharren, dass er Position bezog. Bei keinem hatte er es zugelassen. Odil erdreistete sich Dinge, die er sich nicht zu erlauben hatte. Und Alveros hatte ein Problem damit, dass man seine Regeln vergaß.
Er trat drohend einen Schritt auf Odil zu. »Dann glaub mir das«, zischte er giftig. »Nur meinetwegen bist du heute hier. Mir ist es zu verdanken, dass man dich überhaupt kennt. Ich habe dich im Showbiz großgezogen. Ich habe dich an meinem Einfluss teilhaben lassen. So dankst du es mir? Mit grundlosen Unterstellungen?«
Die Schultern des Omegas sanken tiefer hinab. Er könnte einem fast leidtun – wenn Alveros nicht wüsste, was für ein begnadeter Schauspieler er war. Seine Tränen ließen ihn kalt.
»Vielleicht habe ich einfach nur Angst«, flüsterte Odil und als er den Kopf hob, sah er sehr verletzlich aus. »Angst, dass du … ihn mir vorziehst.«
Seine Andeutungen gaben Alveros endgültig den Rest. »Da gibt es nichts vorzuziehen, Odil«, erinnerte er ihn scharf, »weil du und ich nicht gebunden sind.«
Odil schniefte. Mit dem nassen Handrücken wischte er sich über seine gerötete Wange. Sein schwaches Lächeln sollte Alveros’ Mitleid erregen. Es prallte an ihm ab.
»Du bist grausam, weißt du das?«, hauchte er. »Wenn ich nach Hause zurückkehre, wartet dort mindestens ein Dutzend Alphas darauf, mit mir Zeit zu verbringen. Aber du hast nichts Besseres zu tun, als hier deine Intrigen weiterzuspinnen und dabei mit möglichst vielen Omegas in die Kiste zu steigen. Glaubst du etwa, ihn zu ficken, wird dir die Türen zum Präsidenten öffnen?«
Alveros’ Miene verhärtete sich. »Verschwinde«, knurrte er kalt. »Vergnüg dich doch mit deinen Verehrern. Aber sieh zu, dass sie dich nicht am Ende schwängern und dann fallen lassen.« Ein böses Lächeln wanderte auf seine Lippen. »Oder willst du das? Die Beine für jeden breitmachen, der kommt, nur damit dir einer von ihnen endlich ein Baby schenkt? Als ewiges Accessoire eines reichen Moguls herhalten und dein Dasein fristen als hirnlose Gebärmaschine? Wie erbärmlich.«
Odil schluchzte auf. »Du kannst mich mal!«, kreischte er, verpasste Alveros eine saftige Ohrfeige und noch während sich der Handabdruck in dessen Wange brannte, sah er zu, wie Odil sein Kleid raffte und auf die Treppen zurannte.
Alveros seufzte. Er beobachtete, wie Odil aus seinem Blickfeld verschwand und dabei das letzte Stück glitzerndes Blau mit sich nahm.
Es war das Beste so. Am Ende war Odil recht anhänglich und fordernd geworden, trotz der Transparenz, die er ihm von Anfang an entgegengebracht hatte.
Rastlos lief Alveros den Gang entlang. Es juckte ihm in den Fingern, etwas zu zerstören. Die Anspannung abzubauen, die seit dem Streit mit Odil noch gewachsen war. Seine Muskeln zuckten sehnsüchtig und er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er tigerte den Korridor hinauf und hinunter und fand sich schließlich, ohne es erklären zu können, in Gabriels Krankenzimmer wieder.
Der Arzt hatte den Raum eben verlassen und war zu Grunewald zurückgekehrt. Alveros war mit dem Assistenten allein, nur wusste er nicht, wieso. Vielleicht hatten ihn Odils Anschuldigungen hierher getrieben? Vielleicht wollte er in Gabriels Gesicht die Antworten auf die Fragen finden, die ihn nicht losließen?
Doch der Anblick des schlafenden Omegas rührte nichts außer Mitleid in ihm. Diese Vergiftung wünschte er keinem. Eine Kugel ins Herz oder ein Messer in der Kehle wären angenehmer als das, was Gabriel heute hatte ertragen müssen.
Als würde er spüren, dass er nicht allein war, entwich dem Omega ein Wimmern.
Alveros wischte ihm den Schweiß von der Stirn. »Alles wieder gut«, sagte er besänftigend. »Du bist über den Berg.« Dafür hatte er schließlich gesorgt.
Er trat zurück, ging zur Tür und schloss sie leise hinter sich. Darauf, ins Hotel zu fahren, war er nicht sonderlich erpicht. Odil war dort. Es genügte, wenn einer von ihnen seine Wut an der Inneneinrichtung ausließ. Alveros zog in Erwägung, in einem anderen Hotel zu schlafen. Die Beziehungen für die spontane Buchung einer Luxus-Suite hatte er.
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Als Alveros ins Bett sank, tat er es, ohne noch einmal etwas von Odil gehört zu haben. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass der Omega eine zu große Diva war, um sich von selbst zu melden. Und Alveros hatte kein Bedürfnis danach, ihm hinterherzulaufen. Er konnte von Glück sagen, dass Odil keine Kündigung hinterhergeworfen hatte. Sie führten eine für beide Seiten sehr lukrative Zweckbeziehung. Alveros verdiente mit ihm Geld und gab Odil dafür eine Plattform, auf der er bekannt werden konnte – und das unter dem zugesicherten Schutz eines einflussreichen Alphas. Unter seinen Fittichen konnte sich Odil entfalten, anstatt sich binden und eine Familie gründen zu müssen.
Wütend boxte Alveros ins Kissen, als er sich vor Augen führte, dass sich Odil in letzter Zeit in den Kopf gesetzt zu haben schien, sesshaft zu werden. Sobald er einen Alpha fände, der sich an ihn band, würde Alveros auf ihn verzichten müssen. Einen schwangeren Omega konnte er in seiner Show nicht gebrauchen. Er fragte sich, was für Odil wichtiger war: Ruhm oder Familie. Bis vor kurzem hatte er noch geglaubt, die Antwort sei Ruhm.
Gabriel
»Es hätte mir viel früher auffallen müssen«, sagte Campbell und seufzte schwer.
Betreten starrte Gabriel auf die dünne Decke, in die er seine Finger krallte. »Entschuldigen Sie, Sir«, murmelte er. »Ich hatte Sie nicht anlügen wollen.«
Inzwischen hatte er den ersten Schock nach der Kündigung verdauen können. Campbell hatte es ihm geduldig erklärt. Er könne nicht für die Sicherheit eines Omegas garantieren, ganz gleich, wie groß Gabriels Loyalität und wie tadellos seine Arbeit sei. Die Gefahr, dass ihm erneut etwas zustieße, sei zu real. Selbst wenn Gabriel sein Geschlecht weiter verschleierte, wäre es zu riskant. Allein schon weil ihn der Präsident jetzt nicht mehr guten Gewissens allein auf Botengänge schicken konnte.
Gabriel war von dem Abend zu erschüttert und fühlte sich zu schlecht, weil er Campbell so lang belogen hatte, als dass er widersprechen wollte.
»Ich mache dir keinen Vorwurf.« Der Präsident lächelte traurig. »Wir wissen beide, wie ungerecht die Gesellschaft jene behandelt, die sie für schwach erachtet. Schließlich bist du nicht der Einzige in meinem direkten Umfeld, der Größeres leistet, als die Welt ihm je zugetraut hätte. Nur hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich an einem Abend fast meinen Assistenten und meinen Partner verlieren könnte.« Eindringlich musterte er Gabriel. »Greystone entgeht nichts. Er wusste von Gawain. Und er wusste von dir, nicht wahr? Als du im Pearls verschwunden warst, hast du bei deiner Rückkehr nach ihm gerochen. Ich hatte mich schon gewundert. Er hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würde er sich für Betas interessieren. So ergibt das allerdings Sinn.«
Gabriel errötete tief und starrte auf die Decke. Er begriff nicht, wie sie auf einmal auf dieses Thema gekommen waren.
»D-Das war nicht …«, versuchte er sich zu erklären, ohne so recht zu wissen, was er sagen wollte. Glaubte Campbell, dass er sie hintergangen hatte? »… ich habe ihm nichts über …«
»Vor dem heutigen Abend hätte ich dir geraten, vorsichtig zu sein«, unterbrach ihn Campbell ruhig. »Aber nun hat er dir das Leben gerettet, also werden wir unsere Meinung zu ihm wohl überdenken.«
Blinzelnd schaute Gabriel zum Präsidenten auf. »Er hat was?« Das war zu unglaublich, um wahr zu sein. »Hat nicht Dr. Fabarius …?«
Campbell schüttelte den Kopf. »Greystone hat vor dem Doktor erkannt, was vor sich ging. Und weil wir nichts von deiner wahren Natur wussten, hatte keiner nach dir gesehen. Mit Ausnahme von ihm.«
»Er hat mich gerettet«, wiederholte Gabriel und versuchte, es in den Kopf zu bekommen. Vielleicht lag es daran, dass er sich benommen und erschöpft fühlte, aber es war für ihn schwer vorstellbar, dass Greystone das getan haben sollte. »Ist er … noch hier?«
»Nein. Du wirst ihm deinen Dank wohl später überbringen müssen.«
Deshalb hatte Gabriel nicht gefragt. Und er mochte den wissenden Blick nicht, mit dem ihn der Präsident ansah, als würde er seine ganz eigenen Schlüsse ziehen. Er irrte sich. Doch Gabriel fand weder die Worte, es richtigzustellen, noch die Kraft dafür.
Es verwirrte ihn, dass der Mafioso nicht vor der Tür wartete, um ihm seine neue Schuld bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit unter die Nase zu reiben. Er verlangte für alles eine Gegenleistung. Wie teuer es wohl wäre, sich das Leben retten zu lassen? Und nun ließ er Gabriel einfach so davonkommen? Zu wissen, dass der Alpha nicht mehr hier war, erfüllte ihn mit einer Mischung aus Bedauern und Rührung. Seine Brust kribbelte, aber das konnte auch eine Nachwirkung der Vergiftung sein.
Campbell kam auf die Füße. »Ruh dich aus. Ich schicke die Ärzte gleich nochmal zu dir.«
Gabriel nickte. Sein Herz wurde schwer. »Danke, Sir.«
»Über alles Weitere sprechen wir morgen.« Campbell tätschelte ihm die Schulter, in einer Geste, die so vertraut war, dass Gabriel der Verdacht kam, dass er nicht der Einzige war, der sich an den Umstand gewöhnen musste, dass seine Omega-Natur ans Licht gekommen war.
Verhaltene Hoffnung kam in ihm auf. Er wusste, dass sie trügerisch war. Der Präsident war nicht dafür bekannt, seine Meinung zu ändern. Wohl aber für seine Omega-Freundlichkeit. Er würde seine Entlassung nicht zurücknehmen, selbst wenn Gabriel morgen ins Büro kam.
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Campbell war ein anständiger Mann. Er setzte Gabriel nicht einfach vor die Tür. Stattdessen zahlte er ihm eine so großzügige Abfindung, dass man dahinter fast schon Mitleid für Gabriels Situation vermuten konnte. Anspruch darauf hätte er nicht gehabt, doch wer war er, sich darüber zu beklagen? Das Geld würde ihm durch die nächsten Monate helfen und er war dem Präsidenten dankbar dafür, dass er ihn davor bewahrte, von Alphas abhängig zu sein. Omegas heirateten und bekamen Kinder. Sie arbeiteten nicht, jedenfalls nicht in anspruchsvollen, gutbezahlten Positionen. Es würde lange dauern, bis sich die neue Gleichberechtigung, die Campbell anstrebte, in den Köpfen der Menschen verankert hatte.
Mit dem Geld käme Gabriel lang genug über die Runden, um sich woanders einen Job zu suchen. Außer dem Präsidenten, dessen Ärzten und dem Mafiaboss wusste niemand von seiner wahren Natur. Er hatte nicht vor, das zu ändern.
Dass es so schwer werden würde, hatte er trotzdem nicht für möglich gehalten. Obwohl Campbell alles dafür getan hatte, die Presse auf eine falsche Fährte zu locken, kochten nun die Gerüchte um Gabriels Hintergründe, die vor wenigen Monaten erst verebbt waren, wieder hoch. Er geriet ins Schussfeuer der Medien und konnte sich dabei nur am Rande wundern, dass der Minister für internationale Sicherheit nicht ähnlich bedrängt wurde. Dass er das Militär und die Geheimdienste anführte und Einfluss auf die Zeitungen nehmen konnte, gereichte ihm zum Vorteil. Einem Vorteil, den Gabriel nicht hatte.
Wo er sich auch bewarb, er wurde abgelehnt, noch ehe ein erstes Gespräch zustande kommen konnte. Niemand wollte ein Omega bei sich beschäftigen, das im gebärfähigen Alter war. Die Gerüchte waren nie bestätigt worden, aber das Risiko wollte trotzdem niemand eingehen.
Die wenigen Einladungen, die er bekam, endeten nicht angenehmer. Am Ende kreisten die Gespräche alle um die gleiche Frage: War er nun ein Omega oder nicht? Und wie nah stand er dem Präsidenten wirklich? Hatte sie vielleicht mehr verbunden als der Job?
Einige Wochen später war Gabriel so frustriert und deprimiert, dass er sich bei seinen Eltern verschanzte. Er ließ sich von ihnen aushalten und von seiner Ma bemuttern.
Doch lang hielt er es nicht aus. So sehr sie ihn auch liebten, dauerte es nicht lang, bevor ihm Ma wieder mit heiratswilligen Alphas in den Ohren lag. Weil sie selbst in ihrer Rolle so aufging, wollte sie nicht sehen, dass das, was sie glücklich machte, für ihn ein Grund zur Flucht wäre.
Sein Frustpotenzial stieg so sehr an, dass er eines Abend beim Abendessen wütend das Besteck auf den Tisch knallte und ihr mütterliches Zureden unterbrach mit einem gefauchten: »Es reicht!«
Sie zuckte zusammen. »Aber Gabbie, Schatz, du …«
»Ich werde mich nicht binden«, fuhr er sie an. »Ich werde keine Babys in die Welt setzen. Und erst recht werde ich nicht aufhören zu arbeiten und stattdessen für irgendeinen aufgeblasenen Idioten Hausmann spielen, nur weil sich das die toxische Alphagesellschaft so in den Kopf gesetzt hat!«
Betretenes Schweigen folgte seinen Worten.
Gabriel hielt es nicht länger mit den Erwartungen aus, die seine Eltern in ihn setzten und die seinen eigenen Wünschen so widersprachen. Angespannt rückte er seinen Stuhl zurück, verkündete: »Ich gehe ins Bett«, und verließ das Esszimmer.
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Zwei Wochen später war sein Umzug nach New York abgeschlossen. Gabriel hatte eine kleine möblierte Wohnung gefunden.
Die Entscheidung, nach Amerika zu ziehen, hatte er ebenso spontan wie impulsiv getroffen. Er hatte sich keinen anderen Ausweg gewusst. England war verbranntes Land, die britische Klatschpresse hatte ihm keine Ruhe gelassen. Nun hoffte er darauf, dass ihm die Gerüchte nicht über den Großen Teich gefolgt waren.
Dass er sich unter allen Metropolen Amerikas ausgerechnet für New York entschieden hatte, hatte sentimentalere Gründe, als er zugeben wollte. Er hatte es seinen Eltern gegenüber nicht gestanden und konnte es selbst nur schwer vertreten, dass er deshalb hierhergekommen war, weil etwas in ihm gehofft hatte. Worauf genau, wusste er nicht. Darauf, sich bei Greystone bedanken zu können? Schließlich hatte ihm der Alpha das Leben gerettet.
Doch wenn Gabriel ehrlich mit sich war, hatte er ihn schon zuvor nur schwer aus dem Kopf bekommen. Nach dem Bankett war es schier unmöglich gewesen, nicht an ihn zu denken.
Es war töricht und naiv. Gabriel wusste das. Eine gute Tat machte noch keinen guten Menschen. Sie wog all seine Sünden nicht auf, den Tod, den er sicher vielen gebracht hatte. Wenn überhaupt, dann war sein Moment der Nächstenliebe nur ein Grund, ihm seine Dreistigkeiten von davor zu verzeihen. Das bedeutete nicht mehr, als dass sie jetzt endlich alle Verbindungen kappen konnten.
Wieso fragte sich Gabriel stattdessen, ob es Greystone gewesen war, der ihm über die Stirn gestrichen und ihm sanft zugesprochen hatte, als er wieder zu sich gekommen war? Wieso dachte er ständig daran, was der Verbrecherfürst wohl gerade tat? Ob er allein war? Ob ihm Odil Gesellschaft leistete? Oder diese andere hübsche Omega, die in Prag auf seinem Schoß gesessen hatte?
Gabriel war nichts mehr geblieben. Sein Lebenstraum von einer erfolgreichen Karriere war wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt. Die Gedanken an den New Yorker Mafiaboss, der den Regeln der Gesellschaft trotzte, gaben ihm in den nächsten Tagen etwas wie Halt. Zuversicht, geradezu. Wenn Greystone mit allem durchkam, einfach weil er es sich unverfroren an sich riss, vielleicht sollte sich Gabriel ein Beispiel daran nehmen?
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Sein Vorhaben war von enttäuschend wenig Erfolg geprägt. Zwar waren Gabriels Gesicht und sein Name hier nicht so bekannt, trotzdem gestaltete sich die Jobsuche als schwierig. Die Amerikaner hatten andere Vorstellungen von der Assistenz-Tätigkeit, Konditionen und Bedingungen wurden anders ausgehandelt und wo Gabriel in Europa nur seinen Lebenslauf vorlegen musste, wurde von ihm in Amerika erwartet, sich gewinnbringend zu verkaufen. Nach seinen letzten Monaten hatte er nicht das Selbstbewusstsein dafür und die Resultate folgten auf den Fuß. Er wurde nie zurückgerufen und wenn, dann wegen einer Absage.
Weil das zunehmend an seinen Nerven zehrte, beschloss er heute, den Abend nicht allein in seiner kleinen, dunklen Wohnung ausklingen zu lassen, sondern sich abzulenken. Wo ginge das besser als im Herzen der Stadt, in einer Bar, von der er wusste, dass sie Greystone gehörte?
Nicht dass er sich etwas erhoffte, natürlich.
Der Mafioso besaß unzählige Kneipen, Casinos, Hotels und darüber hinaus einige zwielichtige Etablissements, in die Gabriel nie auch nur einen Fuß setzen würde. Dass er einen Blick auf Greystone erhaschen würde, wäre unwahrscheinlich.
Das wollte er auch gar nicht, redete er sich ein, während er sich in einer der harmloseren Bars direkt an den Tresen setzte und sich ein Bier bestellte. Schließlich war er nicht lebensmüde. Gabriel wollte nicht erneut in eine brenzlige Situation geraten. Ganz gleich, wie verlangend es in seiner Brust zog und wie verstohlen er sich umsah.
Als er nach dem zweiten Bier verlangte, kam er sich allmählich lächerlich vor. Natürlich hatte er sich etwas erhofft. In Greystones Nähe passierte etwas mit Gabriel. Auch wenn er es nicht verstand, ließ es ihm keine Ruhe. War es verwerflich, dass er dem auf den Grund gehen wollte? Er würde vorsichtig sein. Der Mafiaboss wusste nicht, dass er hier war, würde sich vermutlich nicht einmal um ihn scheren, also wieso nicht einen Blick riskieren, wenn er zufällig vorbeikäme?
Gabriel griff das Bier fester und ging durch die Bar, vorbei an Alphas, Betas und anderen Omegas, die ihn allesamt nicht beachteten. In einer der dunkleren Ecken ließ er sich an einem Tisch nieder und trank sein Bier, während er den Raum im Auge behielt und wartete. Er wusste, worauf, auch wenn er sich mit jeder weiteren Minute erbärmlicher vorkam.
Was tat er hier eigentlich? Lauerte einem berüchtigten Kriminellen auf, der ihm im schlimmsten Fall gefährlich werden konnte und sich im Besten einen Scheiß um ihn scherte, weil es keinen Vorteil mehr brächte, Gabriel einzuschüchtern oder um den Finger zu wickeln.
Als Mitternacht nahte und er eben bei seinem vierten Bier saß, gab Gabriel endlich auf. Greystone war nicht aufgetaucht und er wollte den morgigen Tag nutzen, um ein paar Bewerbungen zu schreiben. Also kämpfte er sich hoch und schleppte sich aus der Bar. Auf dem Weg hinaus bestellte er sich ein Taxi.
Gabriel musste nicht lange warten. Es fuhr vor, er stieg ein und ließ sich nach Hause fahren. Dort schlief er seinen Rausch aus, traumlos und friedlich.
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Als er am nächsten Tag aufwachte, stellte Gabriel mit einem Blick auf den Wecker fest, dass er bis Mittag geschlafen hatte. Das war untypisch für ihn. Mit leichtem Kater stand er auf und machte sich einen Kaffee. Er hatte sich für heute viel vorgenommen.
Doch als er sich dafür hinsetzte, konnte sich Gabriel nicht dazu aufraffen. Seit dem Gerücht, das Campbell hatte streuen lassen, wurde er das Gefühl nicht los, dass alle Welt wusste, dass er ihnen nur etwas vorspielte. Nicht erst seit Greystone Salz in die Wunde gerieben hatte, auch zuvor schon. Sein Hochstaplersyndrom war dadurch schlimmer geworden. Deshalb hatte er bei den letzten Vorstellungsgesprächen nicht souverän auftreten können.
Mit einem schweren Seufzen klappte Gabriel sein Notebook zu, nahm die Brille von der Nase und beugte sich nach vorn, bis seine Stirn auf der Tischplatte lag. Er hatte geglaubt, dass er seine Sorgen einfach in England lassen könnte. Aber vor seinen eigenen Gedanken konnte er nicht davon laufen.
Jemand wie Greystone hätte sich davon sicher nicht aus der Ruhe bringen lassen. Natürlich nicht. Der Verbrecherfürst hätte mit unverschämtem Charme und scharfer Zunge gekontert, bis sich alle vor ihm in den Staub geworfen hätten.
Gabriel schnaubte bei der Vorstellung. Er konnte seine großkotzige, selbstgerechte Art nicht ausstehen.
Trotzdem fragte er sich, was der Mann wohl gerade trieb. Saß er in Verhandlungen mit gefährlichen Geschäftspartnern? Klärte er die nächste Drogenlieferung in einem zwielichtigen Hinterzimmer bei einer Runde Poker? Wählte er Omegas für seine Shows aus? Gabriel stellte sich vor, wie all die Omegas, die darauf brannten, für ihn zu arbeiten, in einer Reihe stünden, um von ihm begutachtet zu werden. Wie Greystone die Reihe entlangschreiten würde, langsam und mit unergründlicher Miene. Bis er vor Gabriel stehenbliebe, ihm eine Hand unters Kinn läge und ihn mit seinen dunklen Augen ansähe.
»Du. Du wirst der neue Star des Pearls«, würde er sagen.
Dann würde Gabriel erröten, die anderen würden ihn umringen, um ihm zu gratulieren und …
Hitze stieg in seine Wangen. Er riss den Kopf hoch und blinzelte gegen das Sonnenlicht an. Verdammt, war er weggedöst? Es hatte sich so real angefühlt. Gute Güte, Gabriel musste gestern wirklich mehr getrunken haben, als er angenommen hatte. Wieso raste sein Herz so schnell?
Eilig klappte er das Notebook wieder auf. Er musste sich ablenken.
Gabriel
Seinem Vorhaben zum Trotz gelang es Gabriel nicht, konzentriert zu bleiben. Den Tag über quälte er sich durch Anzeigen, schrieb Anschreiben, von denen er selbst nicht überzeugt war, und fand sich am Abend doch in einer der Bars wieder. In der Wohnung war ihm die Decke auf den Kopf gefallen. Da hatte es fast etwas Tröstliches, in einer Umgebung zu sein, die ihn an eine Welt neben den schnöden Bürojobs erinnerte. Eine, in der niemand seinen Namen kannte und man sich nicht um den unscheinbaren Beta scherte, der sich mit einem Bier an die Theke setzte und bald darauf auf Rum umstieg. Der Frust war groß. Gabriel konnte etwas Härteres gut gebrauchen. Es war ja nicht so, als würde er morgen früh irgendwo sein müssen.
Den Drink in der Hand drehte er sich auf dem Barhocker um und warf einen Blick durch den Raum. Unter der Woche war hier wenig los. Ein paar Alphas, ein paar Betas, sogar einige Omegas. Manche Gäste waren allein wie er, andere zu zweit oder in Gruppen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bar feierte jemand einen Junggesellenabschied, ausgehend von ihren pinken Schärpen und den Tiaras.
Mit einem abfälligen Schnauben leerte Gabriel seinen Rum und wollte gerade einen weiteren bestellen, als die breite Tür aufschwang und eine Gruppe Alphas hereinkam, bei deren Erscheinen er einen Druck auf der Brust spürte.
Sie waren alle schwarz gekleidet, trugen bodenlange Mäntel, Sonnenbrillen – und der einzige, der sie im spärlich beleuchteten Club abnahm, war der Mann in ihrer Mitte, von dem Gabriel doch nicht zu hoffen gewagt hatte, ihn wiederzusehen: Alveros Greystone persönlich.
Gabriel musste mehrmals hinsehen, bis er sich sicher war. Das hier war nicht das Pearls. Und auch sonst keine der größeren Bars. Sie hatte Gabriel an den Mafiaboss erinnert, weil sie mit dunkles Holz verkleidet war, das die Farbe seiner Augen hatte. Weil sie eine glimmende Wärme ausstrahlte, die Gabriel schon bei ihrem ersten Zusammentreffen gefangen genommen hatte. Trotzdem hatte er nicht damit gerechnet, den Inhaber der kleinen Bar leibhaftig zu sehen. Und das zu so später Stunde. Weshalb er wohl hier war? Trinken schien er jedenfalls nicht zu wollen. Die Gruppe würdigte den Tresen keines Blickes, rauschte daran vorbei und ging dann zu einer unscheinbaren Tür. Einige von ihnen trugen Violinenkoffer. War das nicht ein sehr klischeehaftes Versteck für eine Waffe?
Gabriel stellten sich die Nackenhaare auf. Gab es Ärger? Oder hatte es bereits eine Auseinandersetzung gegeben?
Er holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Seine Omega-Instinkte sagten ihm, dass er solche Dinge lieber nicht wissen wollte. Omegas waren nicht für den Kampf gemacht. Gabriel hatte gelernt, eine Konfrontation anzunehmen, weil sich Betas davor nicht scheuten. Trotzdem fühlte er sich damit nicht wohl.
Neugierig und zugleich schmerzhaft daran erinnert, dass Greystone ein skrupelloser Krimineller war, an dem man sich die Finger verbrennen konnte, drehte sich Gabriel wieder zum Barkeeper um und bestellte noch einen Rum. Verstohlen sah er zur Tür hin, vor der jetzt ein stämmiger Alpha Wache hielt. Selbst wenn Gabriel aus einer sonderbaren Laune heraus beschlossen hätte, Greystone nachzulaufen, wäre er nicht weit gekommen.
Also trank er seinen Rum und als der Alpha auch nach einer Stunde nicht zurückkehrte, orderte er einen weiteren. Gabriel behielt die Tür im Blick. Sicher gab es einen Hinterausgang. Aber vielleicht, nur vielleicht, käme Greystone auf dieser Seite wieder raus? Würde ihn sehen, sich zu ihm setzen und mit ihm etwas trinken? Gabriel musste zugeben, dass ihm das gefallen würde. Ziemlich gut sogar.
Er war so sehr auf die Tür und seine eigenen Gedanken fokussiert, dass er kaum mitbekam, wie ihm der Alkohol zu Kopf stieg.
Erst als ihn jemand unsanft an der Schulter rüttelte, stellte er irritiert fest, dass seine Stirn inzwischen auf der Theke lag. Benommen sah er auf.
»Du hattest genug«, beschied der Barkeeper unwirsch. »Mach, dass du verschwindest.«
Gabriel blinzelte ihm entgegen. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Ein Blick auf sein Handy verriet, dass es weit nach Mitternacht war. Die Bar war noch gut gefüllt, aber nicht mehr mit den gleichen Leuten, zwischen denen er vorhin gesessen hatte.
»Hörst du schlecht?«, fuhr ihn der Barkeeper an. »Jetzt geh schon!«
Gabriel nickte schwerfällig und schob die Hände in seine Taschen. Er hatte viel von New York gehört. Nicht nur Gutes. Dass er in einer Bar eingeschlafen war und trotzdem noch Portemonnaie und Handy am Leib trug, hatte er nicht erwartet, doch es ließ ihn erleichtert aufatmen. Unbeholfen rutschte er vom Barhocker. Der Boden kam ihm uneben vor. Sein Blick wanderte zu der Tür, die er die vergangenen Stunden angestarrt hatte. Kein Alpha stand mehr davor.
Gabriel konnte nicht erklären, wieso er es tat. Wieso er sich entschied, nicht zum Ausgang zu gehen, sondern stattdessen zu einer Tür, von der er wusste, dass sie zu Menschen führte, die ihm gefährlich werden konnten.
Zugleich war es, als würde er gerufen werden. Er tat einen Schritt vor den anderen, wohlwissend, dass sich der Barkeeper schon nicht mehr um ihn scherte, und lief an Sitzecken und Stehtischen vorbei auf die Tür zu. Was wohl dahinter wäre? Meetingräume? Opiumlager? Betten, auf denen sich Prostituierte räkelten?
Gabriel langte nach der Klinke. Gleich würde er es wissen.
Eine große Hand packte ihn an der Schulter und ließ ihn zusammenfahren.
»Hast du dich verlaufen, Kleiner?«, knurrte es bedrohlich hinter ihm.
Mit angehaltenem Atem warf Gabriel einen Blick zurück. Einer der Security-Alphas funkelte ihn an.
»Oh«, sagte er und versuchte, trotz des klopfenden Herzens und des Alkohols, der ihm das Hirn vernebelte, alle Unschuld in seine Miene zu legen. »Ist das hier nicht das Klo?«
Finster durchbohrte ihn der Alpha mit seinem Blick. »Raus hier.«
Gabriel brauchte keine weitere Warnung. Abwehrend hob er die Hände, lachte peinlich berührt und sagte: »Ich muss mich wohl geirrt haben.«
Der Alpha antwortete nicht. Er schob ihn in Richtung Ausgang und Gabriel wusste, dass er besser keinen zweiten Versuch wagte.
♣
Am nächsten Morgen fragte er sich zwar, wie er sich dazu hatte hinreißen lassen können, doch das hielt ihn nicht davon ab, auch am folgenden Abend eine der Bars zu besuchen. Und an dem darauf. Gabriel gewöhnte sich an, später zu kommen und erst in den frühen Morgenstunden wieder zu gehen. Das erhöhte seine Chancen, Greystone zu sehen, beträchtlich. Inzwischen hatte er ihn in mehr als einer Bar zu Gesicht bekommen. Einmal war es ihm sogar gelungen, dem Alpha von dort ins Pearls zu folgen, in das er widerstrebend eingetreten war, obwohl er schlechte Erinnerungen damit verband.
Er hätte sich nicht als besessen bezeichnet. Die Tage verbrachte Gabriel mit der Jobsuche, denn allmählich ging ihm das Geld aus.
Trotzdem ahnte er, dass er aufhören sollte, Greystone nachzuspionieren. Im besten Fall machte er sich damit lächerlich, im schlimmsten ging er ein immenses Risiko ein. Der Mafiaboss wäre sicher nicht begeistert, wenn er davon erführe.
Gabriel konnte sich nicht stoppen. Jeden Abend darauf zu hoffen, ihn zu sehen, war aufregend. Wenn er ihn dann tatsächlich in der Masse zu erspähen meinte, versetzte ihm das einen Endorphinschub und zugleich einen Adrenalinstoß. Es zog ihn zu Greystone hin und er redete sich gern ein, dass das eine rein logische Motivation hatte: Er wollte herausfinden, wieso sich der Alpha die Mühe gemacht hatte, ihn zu retten, wenn das gleichzeitig Gabriels Enthüllung als Omega bedeutet und ihn damit für zukünftige Geschäftsverhandlungen mit Campbell wertlos gemacht hatte. Anschließend wollte er sich bei ihm bedanken.
War das ein Grund, jede Nacht drei seiner Bars zu besuchen, um einen Blick auf ihn zu erhaschen? Vielleicht nicht. Mit Sicherheit war es auch nicht das Klügste, was Gabriel tun konnte. Zwar gab er keinen Omegageruch ab, doch nicht alle Alphas waren auf Omegas fixiert. Mindestens einmal am Abend näherte sich ihm jemand, um ein Gespräch zu beginnen. Einige der Alphas gingen dabei sogar recht aggressiv vor.
So auch der Mann, der sich eben ungefragt neben ihm niedergelassen hatte. Ein Gesicht, das ihm unangenehm bekannt vorkam.
»Mr. Fleming«, sagte der Senator mit einem schmierigen Lächeln. »Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«
»Mr. Rodriguez.« Gabriel nickte ihm unverbindlich zu. »Ich Sie ebenso wenig.« Er nippte ungerührt an seinem Drink und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
Rodriguez beugte sich näher. »Ich hörte«, raunte er ihm zu, »man habe Sie bereits ersetzt? Ein Jammer. Sie ertränken Ihren Kummer doch hoffentlich nicht in Alkohol?«
Gabriel schmunzelte schmallippig und schob die Hand von sich, die ihm Rodriguez in falscher Gönnerhaftigkeit auf die Schulter gelegt hatte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Ein Alpha, der ihn ablenkte, während er auf Greystone wartete. Er musste den Senator schleunigst loswerden.
»Ich kann Sie beruhigen«, sagte er kühl. »Dem ist nicht so.«
Rodriguez grinste schmierig. »Da bin ich erleichtert.«
Jetzt hatte er Gabriels Aufmerksamkeit. Er mochte diese Miene nicht. Sie verhieß Gefahr.
»Ich kann es nicht sehen, wenn Omegas unglücklich sind. Doch Sie haben ja bereits bewiesen, dass Sie zäher sind als die meisten.« Offensichtlich glaubte er den Gerüchten.
Gabriel ahnte, dass seine Worte charmant sein sollten. Auf ihn wirkten sie herablassend.
Als wüsste er nicht, worauf der Alpha anspielte, hob er die Augenbrauen und gab sich unbeteiligt. »Bitte?«
»Nun, ein taffer Omega wie Sie«, schnurrte der Senator mit einem verschlagenen Lächeln, »bricht nicht so leicht, nicht wahr? Sie werden einmal wunderbare, stramme Alphas in die Welt setzen, da bin ich sicher.« Der Mann lachte gönnerhaft und setzte einschmeichelnd hinzu: »Sie haben schon bei unserer ersten Begegnung mein Interesse geweckt. Also wieso überspringen wir nicht ein paar Felder und fahren zu mir? Ich erlöse Sie von Ihren Geldproblemen und Sie …« Gabriel spürte seinen anzüglichen Blick über sich wandern. »… ziehen sich ab sofort ein wenig hübscher an und machen die Beine breit, wenn es von Ihnen verlangt wird.«
Gabriel stellten sich die Nackenhaare auf. Er widerstand dem Drang, dem unverschämten Alpha sein Whiskeyglas in den Rachen zu stopfen und ihm zugleich unter dem Tisch in die Eier zu treten. Das, was der Senator da angedeutet hatte, war eine so widerwärtige Vorstellung, dass Gabriel am liebsten …
»Ist hier alles in Ordnung?«, brummte eine angenehme Stimme neben ihnen.
Gabriel schaute auf. Eine der Security-Alphas stand an ihrem Tisch, groß, breitschultrig und respekteinflößend. Sie musterte ihn eindringlich, als ahnte sie, dass sich Gabriel zunehmend unwohl fühlte.
Überrascht nahm er zur Kenntnis, wie gut Greystones Etablissements solche unangenehmen Situationen in den Griff bekamen. Gabriel ahnte, dass der Service keine Selbstverständlichkeit in den New Yorker Bars war. Dass diese Sicherheitsstandards ihrem Eigentümer zu verdanken waren. Er empfand Hochachtung für Greystone, der seine Einrichtungen so sicher hielt, dass sich alle Gäste wohlfühlen konnten – selbst Omegas. Bisher war keiner von Gabriels unerwünschten Gesprächspartnern weit genug gekommen, dass er sich Sorgen machen musste. Früher oder später war stets ein Security-Alpha neben seinem Tisch aufgetaucht, um sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Gabriel hatte nie Skrupel gehabt, ehrlich zu antworten.
»Nein«, sagte er geradeheraus. »Nein, es ist nicht alles in Ordnung.«
Die Security-Alpha nickte. Sie wandte sich Rodriguez zu. »Wenn ich Sie bitten dürfte, diesen Tisch zu verlassen, Sir?«
Der Senator schnappte nach Luft. Dann lachte er. »Aber, aber«, sagte er und tätschelte Gabriels Schulter. »Wir haben uns doch gerade so nett unterhalten.«
Weiter kam er nicht. Gabriel war kaum über den ungewollten Kontakt zusammengezuckt, da hatte die Security-Alpha die Hand gegriffen und sie so gedreht, dass der Senator schmerzhaft aufjaulte.
»Was fällt Ihnen ein?«, blaffte er, rutschte von seinem Stuhl und funkelte sie an. »Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?«
»Unsere Hausregeln erfordern ein gegenseitiges Einvernehmen, das zu jeder Zeit vorherrschen muss«, rezitierte sie kühl. »Wird von einem schwächeren Geschlecht gegenüber einem stärkeren geäußert, dass dieses Einvernehmen nicht gegeben ist, sind die Parteien dazu angehalten, Abstand zu wahren.«
»Was für eine Unverschämtheit«, fuhr sie der Senator an. »Rufen Sie Ihren Boss. Sofort!«
Ungerührt blieb sie stehen, als er einen forschen Schritt auf sie zutrat.
»Er ist derzeit leider nicht im Haus, Sir.«
Rodriguez' Gesicht wurde vor Zorn rot. »Dann holen Sie ihn her!«
Vor nervöser Aufregung schlug Gabriels Herz schneller. Der Senator schien in seinem Stolz verletzt und er mochte es nicht, wie wütend es den Mann machte. Auch wenn seine Blocker ihm halfen, Stimmungen nicht so schnell aufzunehmen, fühlte sich Gabriel nun doch zunehmend unwohl.
Die Security-Alpha wich nicht zurück. Wenn überhaupt, streckte sie die Brust noch mehr heraus und stellte sich breitbeiniger auf. »Bedaure, Sir«, sagte sie ruhig. »Er ist vielbeschäftigt und wird die Bar heute nicht aufsuchen.«
»Das ist eine Schande!«, keifte Rodriguez und Gabriel fürchtete, dass die Situation außer Kontrolle geraten würde. »Ein Skandal! Ich verlange, dass …«
»Bitte mäßigen Sie Ihre Stimme, Sir. Ich muss Sie sonst bitten, das Gebäude zu verlassen.«
Als sie ihm die Hand auf die Schulter legte, um ihn zum Ausgang zu geleiten, schnipste er sie weg.
»Sie wagen es?«, fauchte er und trat auf sie zu, bis sie sich fast berührten. Die Art, wie er die Zähne fletschte, gefiel Gabriel nicht. Der Senator ließ die Muskeln spielen und die Security-Alpha senkte den Kopf minimal, während ihr Blick entschlossener wurde. Sie würde sich von ihm nicht in die Knie zwingen lassen.
Mit angehaltenem Atem wartete Gabriel darauf, dass es eskalierte, griff sein Glas fester und wagte sich nicht zu rühren, um nicht aus Versehen ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Sie werden den Tag bereuen, an dem Sie sich mit mir angelegt haben«, knurrte Rodriguez. Sein Kiefer mahlte wütend. »Ich werde Sie vernichten. Glauben Sie, Ihr Boss kann Sie davor schützen?«
Eine Gestalt trat in Gabriels Sichtfeld. Eine großgewachsene, breitschultrige Gestalt, die ihm nun näher war als all die Wochen zuvor. Sein Herz machte einen unangemessen freudigen Hüpfer.
»Wovor soll ich sie schützen?«, schnarrte Greystone, der hinter Rodriguez getreten war.
Der Senator wirbelte herum. Seine Augen weiteten sich und nackte Panik flackerte in seinem Blick auf.
»Belästigen Sie wieder Gäste in einer meiner Bars, Rodriguez?«, fragte Greystone süßlich.
Als er näher an den Senator herantrat, sprang der förmlich vor ihm fort. Doch er stieß mit dem Rücken gegen die Brust der Alpha, die ihn an der Flucht hinderte. Fahrig sah er zu dem Mafiaboss zurück.
»Und dann bedrohen Sie auch noch mein Personal?«, grollte Greystone, der ihm hinterhergegangen war. Seine Aura war dunkel und unheilvoll. Er verströmte Gefahr.
Gabriels Herz, das eben noch vor Freude schnellergeschlagen hatte, beschleunigte den Takt aufgrund der unwohlen Vorahnung, die ihn erfasste. Nervös schluckte er gegen den Kloß in seinem Hals an, während er Zeuge davon wurde, wie sich Greystone vorbeugte.
Mit einem gefährlichen Schmunzeln sagte dieser: »Wie es scheint, muss ich Ihnen meine Hausordnung ein wenig eindringlicher näherbringen.« Er packte die Kehle des Senators, dem ein erschreckter Laut entwich. »Sie werden mit Ihren schmierigen Finger niemanden mehr begrabschen können, wenn Sie keine Finger mehr haben, nicht wahr?«, knurrte ihm Greystone zu.
Gabriel standen die Haare zu Berge. Er wollte nicht mit ansehen, wie jemand gequält wurde. Die Freude über das Wiedersehen erfuhr einen herben Dämpfer.
»Nein … nein, bitte … nicht!«, winselte Rodriguez. Von seinem Zorn war nichts mehr zu spüren. Blanke Angst sprach aus seiner Stimme.
Greystone drückte fest genug zu, dass ihm die Augen aus den Höhlen traten und sein Gesicht eine ungesunde violette Farbe annahm. Der Mafioso warf seiner Security einen Blick zu. Als sie ihn erwiderte, nickte er. Sie schlang Rodriguez von hinten einen Arm um den Hals und hielt ihn fixiert, während ihr Boss die Hand des Senators packte.
Es war eine kurze Bewegung, die Gabriel kaum sah. Und das Knacken war nicht laut. Doch es grub sich grauenerregend in seine Gehörgänge, gefolgt von dem schmerzerfüllten Schrei, den Rodriguez ausstieß, weil ihm Greystone gerade, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Finger gebrochen hatte.
»Das ist Ihre letzte Warnung, Rodriguez«, schnarrte Greystone. »Beim nächsten Mal werden Sie den Finger verlieren. Haben wir uns verstanden?«
Rodriguez wimmerte.
Und Gabriel saß dort, erschüttert und mit schnell schlagendem Herzen, starrte auf das breite Kreuz des Verbrecherfürsten, und wagte es nicht, sich zu rühren. Er hatte ihm den Finger gebrochen. Einfach so hatte Greystone einem anderen Mann den Finger gebrochen!
Der Alpha wandte sich von dem Senator ab und rauschte davon, ohne Gabriel zu beachten. Fassungslos sah dieser ihm hinterher, wie er durch den Haupteingang verschwand.
Der Schock saß tief. Während die Security-Alpha den Senator, der sich schützend die Hand an die Brust hielt, aus der Bar führte, starrte Gabriel auf die Stelle, an der Greystone gerade noch gestanden hatte. Sein Geist war benebelt und langsam.
Alveros
»Er ist im Golden Bird , Boss«, sagte George durch den Türspalt.
Alveros nickte nur und wedelte mit der Hand, um ihm fortzuscheuchen. Er wollte nicht gestört werden. Nach seinen getanen Geschäftsverhandlungen saß er im hinteren Teil seines Lieblingsetablissements Pearl s und genoss den Luxus, den ihm seine Arbeit nach Feierabend bot: Rochelle, die ihre nackten Beine über seinen Schoß gelegt hatte und deren sanfte Finger durch sein Haar fuhren, während sie sich an ihn schmiegte, sodass er unter dem knappen Outfit, das sie trug, deutlich ihre Brüste spürte. Seine Hand lag auf ihrer Hüfte, die andere an einer Opiumpfeife.
Gerade sah er dabei zu, wie sich zwei weitere Omegas, Sugar und Prince, vor ihm auf dem Teppich wälzten und sich küssten. Bis es geklopft hatte, hatte er eigentlich vorgehabt, mindestens eins der Omegas seines Harems heute mit Sex zu beschenken. Aber jetzt war ihm die Lust darauf vergangen.
Seit ihm Odil vor einigen Wochen eine Szene gemacht hatte, war er nicht mehr er selbst. Nach ihrem Streit hatte es keine Versöhnung gegeben. Stattdessen war Odil ein paar Tage darauf mit einem frischen Biss am Hals aufgetaucht und noch ein wenig später hatte er verkündet, dass er schwanger sei. Alveros war nicht eifersüchtig auf den Alpha gewesen, an den er sich gebunden hatte. Er hatte kein besitzergreifendes Verlangen gespürt. Und trotzdem war da seit einiger Zeit eine Rastlosigkeit in ihm, eine Unruhe, als würde etwas fehlen. Er hätte nicht sagen können, was es war. Und weil es sich weder durch ausschweifenden Alkohol- und Drogenkonsum noch durch exzessive Orgien hatte beseitigen lassen, hatte er beschlossen, das Gefühl ab sofort zu ignorieren, damit sein Einfluss in New York und seine täglichen Pflichten nicht darunter litten.
Dann war der kleine Assistent des Präsidenten plötzlich in einer seiner Bars aufgetaucht und hatte ihn angestarrt wie eine Erscheinung. Alveros hatte ihn nicht beachtet, wohlwissend, dass es ihm keinen Gewinn brachte, eine Verbindung zu einem arbeitslosen Omega aufrecht zu erhalten, das für seine Clubs und Etablissements nicht taugte. Das mochte man als kalkulierend und manipulativ betrachten, aber Alveros war Geschäftsmann und am Ende hatte Gabriel froh sein können, dass er ihn nicht ins Visier genommen hatte.
Was anfangs wie ein willkürlicher Besuch gewirkt hatte, war bald zu einer Reihe sonderbarer Zufälle verkommen. Gabriel war an den wunderlichsten Orten aufgetaucht, als würde er ihn abpassen wollen. Das hatte dem Omega nicht ähnlich gesehen. Alveros erinnerte sich gut, wie übel er ihm mitgespielt hatte. Wenn er ihn verfolgte, dann nicht aus freien Stücken. Skeptisch hatte ihn Alveros beschatten lassen, doch seine Quellen hatten keinen Hinweis auf jemanden finden können, der ihn engagiert hätte, um als unschuldiger Köder zu fungieren. Stattdessen hatte alles darauf hingedeutet, dass ihm die Kontrolle über sein Leben aus den Fingern geglitten war. Durchzechte Nächte, planloses Herumirren in der Stadt – nichts, was Alveros nicht schon selbst erlebt hatte. Nur dass Gabriel ein Omega war. Und Omegas kam solche Unvorsichtigkeit in der großen Stadt schnell teuer zu stehen, selbst wenn sie sich als Betas tarnten.
Also wieder das Golden Bird? , dachte Alveros bei sich. Nachdem Gabriel gestern Zeuge davon geworden war, wie er einem Mann den Finger gebrochen hatte, hätte er nicht erwartet, dass er zurückkehrte. Er war in der Tat zäher als einige andere Omegas, die Alveros kannte. Die hätten den Ort, an dem sie Gewalt und Schmerz miterlebt hatten, instinktiv gemieden.
Alveros zwang seine Gedanken von dem ehemaligen Assistenten fort. Es war an der Zeit, dass er seine Alphas abzog. Nun, da eindeutig war, dass er für niemanden arbeitete, der seinem Imperium gefährlich werden konnte, gab es keinen Grund mehr für solches Entgegenkommen.
Alveros legte Rochelle eine Hand in den Nacken und führte sie zu einem Kuss zu sich.
Er hatte seine Lieblinge in all seinen Grübeleien vernachlässigt.
Die Nacht wurde lang und war von schwerem Opiumgeruch und süßem Omegaduft geschwängert. Lustvolle Ekstase, verschwitzte Leiber und bezaubernd hohes Stöhnen. Als Alveros am nächsten Morgen in einer Suite seines Lieblingshotels aufwachte, schliefen zwei seiner Schönheiten noch und die dritte hatte sich bereits zwischen seine Beine gestohlen, um ihn angemessen zu wecken. Er schmunzelte, drückte Sugar tiefer, als sie den Kopf senkte, und spürte, wie sich ihre Kehle um ihn verengte. Tapfer blieb sie unten, bis er den Griff lockerte und ihr gestattete, hochzukommen, um Luft zu schnappen, bevor er sie fordernd fester packte und sein Becken hinauf stieß.
♣
Als Alveros ein paar Tage später aus seiner Limousine stieg und den Mantelkragen gegen den Regen hochstellte, der New York in tristes Grau hüllte, war er hochkonzentriert und auf alles gefasst. Er hatte eine Verabredung in einer der zwielichtigen Ecken. Obwohl es sein eigenes Revier war, war der Besuch, den er erwartete, Grund genug, um angespannt zu sein. Alveros hoffte das Beste und rechnete mit dem Schlimmsten.
Unerschrocken und von einer Handvoll Alphas flankiert, die jederzeit bereit wären, sich für ihn eine Kugel einzufangen, betrat Alveros die kleine Gasse neben dem Diner und ging bis zu ihrem Ende, wo sie in eine weitere mündete. Er wandte sich nach rechts.
Der Regen übertönte das Geräusch ihrer Schritte. Die Tropfen liefen ihm durchs schwarze, zurückgekämmte Haar und in seinen Kragen. Am Ende der Gasse konnte er bereits die unscheinbare Tür ausmachen, deren braune Farbe nur schlecht darüber hinwegtäuschte, dass sie aus massivem Stahl war. Das Platschen ihrer Schuhe auf nassem Kopfsteinpflaster war begleitet von den Geräuschen der Ratten und Straßenkatzen, die vor ihnen flohen, und untermalt vom fernen Dröhnen des Straßenverkehrs. Und noch etwas hörte Alveros. Etwas, das seine Anspannung verstärkte. Wut kam in ihm auf. Alles hatte Grenzen. Er schätzte es nicht, wenn seine eigenen überschritten wurden.
Als sie vor der Hintertür ankamen, nickte er seinen Leuten zu.
»Geht schon vor«, brummte er. »Ich komme nach.«
Ein Blick über die Schulter zeigte die Gasse hinter ihnen verräterisch leer. Der Schein trog.
Als würde Alveros nichts ahnen, schlenderte er an der Tür vorbei und um die Ecke, hinein in die Sackgasse. Vor ihm türmte sich der Müll in großen Containern auf, aus denen es dampfte.
Das interessierte ihn nicht.
Alveros drehte sich herum, blieb nah an der Ecke stehen und lauschte. Im Plätschern der Regentropfen, die auf dem Asphalt zersprangen, hörte er flinke Schritte näherkommen. Er machte sich bereit.
Dann stolperte jemand gegen ihn, der um die Ecke gehastet war, ohne ihn zu sehen.
Grimmig packte ihn Alveros bei den Schultern, bevor er fallen konnte. »Was glaubst du eigentlich, was du hier tust?«, blaffte er ihn an, als sein Gegenüber wieder einen festen Stand gefunden hatte. »Verschwinde! Das ist kein Ort für dich.«
Aus großen Augen sah Gabriel zu ihm auf. Tropfen auf seinen Brillengläsern erschwerten ihm die Sicht. Er schien zu erschrocken, um zu reagieren.
»I-ich wollte nur …« Ein verräterisches Rot stahl sich auf seine Wangen.
Dafür hatte Alveros keinen Blick übrig. »Mach, dass du wegkommst«, fuhr er ihn an und ließ ihn los. »Sofort.«
Gabriel stolperte zurück. Etwas wie Schmerz wanderte in seine Miene. Alveros war egal, ob er ihn verletzt hatte. Wenn er nicht bald die Beine in die Hand nahm, würde es gleich noch mehr wehtun.
Vernünftigerweise tat Gabriel, was er von ihm verlangte, wich in die Gasse zurück, aus der er gekommen war, und seine schnellen Schritte entfernten sich.
Alveros atmete auf. Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Er zog ungern Zivilisten mit hinein.
Während er auf die Hintertür zuging, vernahm er einen erstickten Aufschrei, dann ein Handgemenge und ein heiseres Lachen.
»Wen haben wir hier?«, schnarrte jemand mit hartem Akzent. »Dieses Mal du uns nicht entkommst so leicht.«
Alveros wandte sich um. Am anderen Ende der Gasse, wo er Gabriel gerade hingeschickt hatte, stand der Omega bei zwei Alphas, die ihn grob gegen eine Wand drückten und feixten, während er sich sichtlich gegen die Behandlung wehrte. Ohne Erfolg. Sie kamen Alveros nur allzu bekannt vor. Wäre der Junge doch nur ein wenig schneller gewesen!
Betont lässig ging Alveros auf sie zu. »Lasst ihn los.«
Der Kerl hatte die Frechheit, ihm ins Gesicht zu lachen. »Sie mitbringen ein Omega? Er ist Ihr Einsatz?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Jakob«, knurrte Alveros, der inzwischen an sie herangetreten war und mit einem Seitenblick auf Gabriel bemerkte, dass ihm die Hand an seiner Kehle die Luft abdrückte. Sein Gesicht lief röter an.
Alveros wies ungerührt mit dem Kopf zu ihm hin. »Hörst du schlecht?«, fragte er den Tschechen kalt. »Ich sagte, du sollst ihn loslassen.«
»Sonst was?« Jakob grinste dreckig. »Er gerade so schön zappelt. Und Sie mir können nichts befehlen.«
Er spielte auf Prag an. Damals hatte sich Alveros aus Respekt vor Emil zurückgehalten. Doch heute waren sie in seinem Revier. Nur wenige Meter von einem seiner Gebäude entfernt und der Mann wagte es, sich ihm zu widersetzen? Wer sich hier danebenbenahm, konnte nicht vor Alveros’ Zorn geschützt werden.
Er lächelte. In einer blitzschnellen Bewegung zog er einen Dolch und ließ ihn durch die Luft sausen. Die Klinge traf ihr Ziel.
Mit einem schmerzerfüllten Aufschrei sank Jakob vor ihm in die Knie und presste sich die Hände auf sein Ohr. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Neben ihm auf dem Asphalt lag die Hälfte seiner Ohrmuschel.
»Das nächste Mal trenne ich dich von deinen Eiern«, schnarrte Alveros.
»Sie Schwein!«, heulte Jakob auf und sah zu ihm hoch, während er in seine Muttersprache wechselte und außer sich rief: »… arogantní, … narcistický kretén …!«
Alveros hob eine Augenbraue. Er sprach genug Tschechisch, um zu wissen, dass er beleidigt wurde.
»Nur weiter«, ermunterte er den Mann, der offensichtlich einen Todeswunsch verspürte. »Wähle deine letzten Worte weise.« Erneut zückte er den Dolch und richtete die Spitze drohend auf den hässlichen, breiten Kopf des respektlosen Flegels.
»Na, na«, ließ sich da eine gesetzte Stimme durch das Prasseln des Regens vernehmen. Hinter Jakob und seinem Kumpan kam eine schwerfällige, in einen Brokatmantel gehüllte Person um die Ecke und lief auf sie zu, eine Zigarre zwischen den altersfleckigen Fingern. »Ihr Amerikaner müsst immer übertreiben.« Ein heiseres, ungesundes Lachen endete in einem Husten, während die Gestalt flankiert von zwei breitschultrigen Alphas nähertrat.
Alveros ließ seine Waffe sinken und nickte zum Gruß. »Emil«, knurrte er, »pfeif deine Köter zurück, bevor sie für ihre Unverschämtheit bezahlen. Es gibt ausreichend, was ich ihnen abschneiden kann.«
Die beiden Handlanger schauten zu ihrem Anführer auf. Er wedelte mit einer aufgedunsenen Hand, sie erhoben sich und stoben davon, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Alveros widerstand dem Drang, ihnen den Dolch hinterherzuwerfen. Er würde keine Waffen an diesen Abschaum verschwenden.
»Haben sie dir in die Suppe gespuckt?«, fragte Emil mit einem hämischen Lachen.
Schnaufend kam er bei ihm an. Sein Blick wanderte zu Gabriel, der mucksmäuschenstill an der nassen Wand stand. Erkennen flammte in seiner Miene auf.
»Ah, sieh an. Schon wieder der ganze Aufruhr wegen eines Omegas.« Mit spöttischem Lächeln sah er zu Alveros zurück. »Junge, wieso hast du ihn angeschleppt? Das bringt meine Leute durcheinander.«
Alveros steckte seinen Dolch weg und legte Gabriel einen Arm um die Schultern. Ohne viel Aufhebens zog er ihn zu sich heran. Gabriel zitterte fühlbar.
»Er ist mein Assistent«, grollte er. »Deine Männer werden sich eben beherrschen müssen.«
Das war der einzige Weg. Alveros konnte nicht auf ihn achten, sobald er ihn gehen ließ. Wer wusste schon, wie viele von Emils Häschern in seinem Revier noch ihr Unwesen trieben?
Seine Worte wurden von einem heiseren Lachen quittiert.
»Wie ungewöhnlich«, sagte Emil und sein stechender Blick bohrte sich in Alveros, der Gabriel unvermittelt fester griff. »Dass du ausgerechnet deinen Assistenten auf Blocker setzt.«
»Meine Methoden gehen dich nichts an.«
Der Tscheche nahm einen langen Zug von seiner Zigarre und blies den Rauch aus, direkt in Gabriels Gesicht, das mit seinem auf einer Höhe war. Noch während der junge Mann hustete, streckte Emil eine Hand nach seiner feuchten Wange aus.
Alveros ließ ein warnendes Knurren vernehmen. Davon unbeeindruckt lachte Emil in sich hinein, doch er zog die Hand zurück.
»Überaus interessant«, sagte er grinsend. »Aber hier wird es ungemütlich. Wir bleiben hoffentlich nicht in der Kälte stehen?«
Alveros schüttelte den Kopf und wies zur Tür. »Nach dir.«
Emil ließ sich nicht zweimal bitten. Flankiert von seinen Alphas lief er an ihm vorbei und auf die Tür zu. Wachsam sah ihm Alveros hinterher, bis er spürte, dass sich etwas aus seinem Arm winden wollte. Er hielt den Omega fester.
»Du bleibst und machst deinen Job«, befahl er, wohlwissend, dass ihn Emil noch hören konnte. »Sträubst du dich, wird dir das nicht gut bekommen.« Vielsagend warf er Gabriel einen Blick zu.
Dessen Augen waren vor Schock weit aufgerissen. Seine Unterlippe bebte und er war käseweiß. Ein naiver Omega, der keine Ahnung davon hatte, wie grausam die Welt sein konnte. Unter Campbell war er stets behütet gewesen. Alveros begriff nicht, wieso er ihm gefolgt war, wenn es doch so offensichtlich war, dass er von Gewalt abgeschreckt war. War er Masochist?
Er drückte die Schulter einen Moment fester. »Bleib an meiner Seite.« Dann ließ er ihn los.
Kaum dass er frei war, stolperte Gabriel ein paar Schritte rückwärts. Panisch ging sein Blick hinter sich, zurück zu ihm und zu Emil und seinen Leuten. Alveros fragte sich, ob er gerade überreagierte. Ein Kaninchen, umgeben von Wölfen. Es hatte gute Gründe, dass er eine strikte Aufgabentrennung hatte. Alveros würde nicht einmal einen Beta in die Abgründe mitnehmen, die er aufsuchte. Sie alle hielten dem Druck nicht stand, der unweigerlich in einem Raum herrschte, in dem testosterongeladene Alphas skrupellos miteinander verhandelten.
Gabriel zerbiss sich die Unterlippe. Seine Beine wirkten schwach. Er stand da, als wollte er am liebsten sofort herumwirbeln und davonrennen.
Es war Alveros gleich. Weder hatte er einen Grund, noch die Geduld, Gabriel zu erklären, dass seine Chancen auf ein Überleben am größten wären, wenn er sich an seine Anweisungen hielt. Dass der Omega Schwierigkeiten hatte, seinen Befehlen zu folgen, wusste er inzwischen. Alveros würde garantiert nicht seine eigene sichere Position für jemanden riskieren, der so widerspenstig und unvorhersehbar war wie der vom staatlichen Schutz verwöhnte Ex-Assistent des Präsidenten. Damit konnte er nicht arbeiten.
Ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen, wandte sich Alveros herum und ging auf die Tür zu, hinter der Emil und seine Leute eben verschwunden waren. Der Regen hatte inzwischen zugenommen und sein Mantel war vom Wasser schwer geworden. Er fuhr sich durchs nasse, schwarze Haar, erinnerte sich an den Grund seines Meetings und seine Verhandlungspunkte und legte dann die Hand auf die Klinke.
Es platschte, als Gabriel zu ihm aufholte. Alveros musste zugeben, dass er milde überrascht war. Er hatte ihm nicht zugetraut, dass er sich in die offensichtliche Schlangengrube wagte, nur wegen des Versprechens eines Kriminellen, den er kaum kannte und der ihm bereits gefährlich geworden war. Was auch immer in Gabriel gefahren war, Alveros musste ihn im Auge behalten.
»Du wirst nur reden, wenn du gefragt wirst«, brummte er, während er die Tür aufzog. »Nimm dein Handy. Du wirst Protokoll führen.«
Alveros trat ein, dicht gefolgt von seinem Assistenten , der eben das Smartphone aus der Manteltasche zog. Drinnen empfing sie der schwere Geruch von Opium, Zigaretten und Whiskey. Gedämpft drang Musik an ihre Ohren. Schwarzer Teppich bedeckte den Boden des Korridors. Die Wände waren mit blutroter Seidentapete verkleidet, beleuchtet von abgedunkelten, goldenen Wandleuchten. Es war eines von Alveros’ Casinos.
Er führte Gabriel zu einer Tür, vor der sich einer seiner Security-Alphas positioniert hatte, öffnete sie und trat ein. Drinnen warteten bereits seine anderen Alphas. Wachsam standen sie in den Ecken des Raumes. Emil und seine Leute hatten sich an dem runden Tisch niedergelassen. Zurückgelehnt und eine neue Zigarre zwischen den Fingern, beobachtete er Alveros und seinen Begleiter. Um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
Alveros fürchtete ihn nicht. Wenn überhaupt, würde er ihn als ebenbürtig sehen. Emil kontrollierte den größten Clan Prags, er selbst beherrschte einen Großteil des zwielichtigen New Yorks. Das Einzige, was sie unterschied, waren die dreißig Jahre, die ihm Emil an Lebenszeit voraushatte, und ihr Umgang mit der aktuellen Regierung.
Emils liebster Geschäftszweig war Menschenhandel. Bevorzugt blutjunge Omegas, manchmal Betas. Auf seiner Seite der Erde entwickelte sich unter den wohlhabenden Alphas gerade ein perverser Trend, sich Sklaven zu halten, die nicht fürs Schwängern geeignet waren. Alphajugendliche und Betajünglinge. Alveros wusste, dass Emil die Nachfrage nur zu gern stillte, obwohl diese Sklaven größere Verletzungen von der groben Behandlung davontrugen. Er verachtete ihn dafür. Doch in anderen Bereichen arbeiteten sie hervorragend zusammen. Und Alveros war kein Heiliger. Es wäre nicht gewinnbringend, Emil zum Umdenken bewegen zu wollen.
Beiläufig wies Alveros auf einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches und ließ sich auf dem daneben nieder. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Gabriel setzte. Das Smartphone gezückt, wie man es von einem Assistenten erwartete. Alveros nahm es zur Kenntnis. Er musste wachsam bleiben. Das Auftauchen des Omegas hatte zu viele unsichere Variablen in ein Spiel gebracht, von dem er zuvor geglaubt hatte, es kontrollieren zu können. Er war eine Schwachstelle. Oder wenigstens sah es für Emil so aus. Das veränderte Alveros’ Verhandlungsposition. Emil war wie ein Krokodil. Eine falsche Bewegung und er stürzte sich darauf. Als die kleinen Augen des Tschechen erneut zu Gabriel hinüber blitzten, wusste Alveros, dass er ihn richtig einschätzte. Er machte sich bereit.
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Die Verhandlungen waren zäh, doch Alveros war nichts anderes gewohnt. Er hatte Informationen, die ihm Emil abkaufen wollte. Die Frage war nur, für wie viel.
»Damit bin ich nicht zufrieden«, ließ sich sein Gast nach einer halben Stunde hartnäckigem Für und Wider vernehmen.
Ungerührt betrachtete Alveros seine Fingernägel. »Dir ist es also lieber, dass ich die Information an Novak verkaufe? Ich gebe ihm zwei Monate, maximal drei, dann hat er die Hälfte deines Gebiets übernommen. Und deine Schmugglerouten gleich dazu.«
Wütend funkelte ihn Emil an. »Du hattest schon immer ein Talent für Bluffs, Junge.«
Alveros schenkte ihm ein so breites Lächeln, dass es einem Zähnefletschen gleichkam. Er hasste es, wenn ihn sein alter Geschäftspartner mit dieser Bezeichnung kleinhalten wollte.
»Mein Freund«, sagte er mit salbungsvoller, weicher Stimme. »Wann habe ich dich jemals belogen?«
Emil lachte kratzig auf und hustete dann. Der Rauch seiner Zigarren zog inzwischen in schweren Schlieren durch den Raum und machte die Luft dunstig.
»Ist das eine Fangfrage?«
Lässig überschlug Alveros seine Beine. »Hat es dir je geschadet, meinen Rat anzunehmen?«
Nun machte der Tscheche ein verdrießliches Gesicht. »Du wirst teuer«, murrte er, ohne Alveros’ Aussage abzustreiten. »Zu viel Gier ist gefährlich, Junge.«
Amüsiert hob Alveros eine Augenbraue. »Seit wann?«, schnurrte er. Interessiert beobachtete er, dass sich Emil weichklopfen ließ, wenn er einen versöhnlicheren Ton anschlug. Das war neu. Alveros war es gewohnt, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Weg bei Emil fruchten würde.
Mit einem schweren Seufzen warf dieser die Hände in die Luft. »Na schön«, sagte er und kramte in der Innentasche seines Mantels nach dem Scheckbuch. »Du treibst mich noch in den Ruin.«
»Hör auf mit dem Laientheater. Meine letzten Informationen haben dir ein paar Millionen eingebracht.«
Emil lachte heiser. »Und einige hübsche Omegas«, setzte er hinzu und grinste dreckig zu Gabriel hinüber, der eilig den Blick auf sein Handy senkte, auf dem er pflichtbewusst tippte. Seine Ohren liefen rot an.
Dann schrieben Emils dicke Wurstfinger die vereinbarte Summe auf den Scheck, ehe er ihn abriss.
Als Alveros die Hand danach ausstreckte, zog er das Papier zurück.
»Erst die Information.«
Alveros ließ ein falsches Lachen vernehmen. »Du traust mir nicht? Nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben? Es bricht mir das Herz.« Er lächelte verschlagen.
»Halte mich nicht zum Narren, Junge. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Dem konnte Alveros nur zustimmen. Also zog er seine Brieftasche aus dem Mantel und nahm ein kleines, zusammengefaltetes Foto heraus, das er über den Tisch schob.
»Roman Svoboda, der korrupte Polizist, der nächsten Monat befördert wird. Wir stehen in Kontakt.«
Emil zog das Bild zu sich und betrachtete das Gesicht eingehend.
»Ein Beta?«, fragte er ungläubig, als er auf der Rückseite die wenigen Daten zu seiner Person überflog.
Alveros nickte. »Wirkt bodenständig, hat eine Alphapartnerin, keine Kinder. Sein Lebenslauf ist so langweilig, dass er bei der Behörde nicht das geringste Aufsehen weckt.«
»Was ist mit dem geplanten Coup von Novak?«, wollte Emil wissen.
Mit geschürzten Lippen schüttelte Alveros den Kopf und hielt ihm die Hand hin. »Die restlichen Informationen bekommst du, sobald der Scheck eingelöst ist.«
Widerwillig und mit säuerlicher Miene schob Emil den Papierstreifen über den Tisch. Alveros warf einen Blick darauf und faltete ihn zusammen.
»Es war mir wie immer eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen«, sagte er schmunzelnd.
Mit einem Brummen drückte Emil den Zigarrenstummel im vollen Aschenbecher aus und fischte sich eine neue Zigarre aus der Tasche, um sie anzuzünden. Ungerührt sah ihm Alveros dabei zu, wie er ein paar Züge nahm, besorgniserregend blechern hustete und nickte. Schwerfällig kam das tschechische Clanoberhaupt auf die Beine.
Alveros tat es ihm nach. Mit ihnen erhoben sich auch alle anderen. In einer bewusst beiläufigen Geste drückte er Gabriel zurück auf seinen Stuhl, während er an ihm vorbei ging, um Emil an der Tür zu verabschieden.
Sie reichten sich die Hände. Dann waren die Tschechen verschwunden. In der Ferne hörte Alveros die schwere Stahltür ins Schloss fallen.
Während er sich durchs Haar fuhr, wandte er sich zum Raum um. Seine Alphas standen noch immer in den Ecken. Gabriel warf ihm einen verstohlenen Blick zu.
Unwirsch scheuchte Alveros seine Security hinaus. »Lasst uns allein.«
Sie verschwanden. Hinter ihnen schloss er die Tür. Dann drehte er den Riegel und hörte, wie das Schloss einrastete. Langsam wandte er sich zu Gabriel um.
Gabriel
Als Greystone alle anderen hinausschickte und die Tür hinter ihnen verriegelte, wurde Gabriel mulmig zumute. Bis eben hatte er sich eingestehen müssen, dass es gut getan hatte, wieder seinen alten Aufgaben nachzugehen. Sehr gut sogar. Selbst wenn er es mit sporadischen Mitteln hatte tun müssen. Das Umfeld hatte ihn zwar anfangs eingeschüchtert, aber bald schon hatte Gabriel kaum noch einen Unterschied zu den Meetings mit dem Präsidenten erkannt. Auch da waren der Großteil der Teilnehmer stets Alphas gewesen. Auch da war es zu unangenehmen Themen gekommen, vor denen er sich konsequent emotional abgeschottet hatte.
Er hatte beinahe etwas wie Freude empfunden, als er in der letzten Stunde Protokoll geführt hatte.
Doch nun, da sich der Mafioso bedrohlich langsam zu ihm umwandte, erinnerte sich Gabriel, dass das hier ganz und gar nicht das Umfeld des Präsidenten war. Im Gegenteil, es war das zwielichtige Hinterzimmer eines gefährlichen Kriminellen, der eben mit anderen Verbrechern Deals abgeschlossen hatte, die Handelsrouten für Waffen und Drogen beinhaltet hatten.
Und so, wie ihn Greystone nun anlächelte, auf diese unheilvolle Art, die seine Eckzähne entblößte, musste Gabriel ein Schaudern unterdrücken.
»Hast du einen Todeswunsch, Gabriel?«, säuselte er spöttisch, während er sich in raubtierhaften Schritten anpirschte. »Hättest du mir das doch nur früher gesagt, dann hätte ich seinerzeit nicht mein kostbares Gegengift verwendet, um dich zu retten.«
Die Worte riefen Erinnerungen auf den Plan, die ihn auch vorhin dazu gebracht hatten, Greystone zu folgen, anstatt aus der Gasse zu flüchten: Er war nicht nur der grausame Alpha, der ihn nach Strich und Faden benutzt, manipuliert und für seine Unterhaltung missbraucht hatte. Nein, er hatte ihm auch das Leben gerettet und ihn mehr als einmal aus einer verfahrenen Situation befreit.
Als er vor dem Tisch angekommen war und mit verschränkten Armen zu Gabriel herunterschaute, wich dieser seinem Blick instinktiv aus.
»N-nein, ich … ich war nur …«
Etwas Anklagendes hatte in Greystones Stimme mitgeschwungen. Und er spürte sein Gesicht warm werden, weil er bemerkte, dass er keinen plausiblen Grund hatte, wieso er sich heute in Gefahr begeben hatte. Er hatte in dem Diner zu Mittag gegessen, nachdem er im gleichen Viertel ein Vorstellungsgespräch gehabt hatte. Greystones Limousine war ihm aufgefallen und bevor er gewusst hatte, was er tat, war er aufgestanden und ihm in die Gasse gefolgt. Ohne darüber nachzudenken.
Der Untergrundboss gab ihm nicht die Zeit, passende Worte zu finden. »Gib mir dein Handy.«
Gabriel stutzte. »W-wie bitte?«
Mit einem ungeduldigen Seufzen hielt ihm Greystone die Hand hin. »Dein Handy. Du hast schließlich das Meeting protokolliert.«
Jetzt begriff er, was der Alpha wollte. Er entsperrte sein Handy, öffnete das Protokoll und reichte es herüber.
»Ich sende es zu mir, lösche es bei dir und wir tun so, als sei das hier nie passiert«, murrte Greystone.
Mit großen Augen sah ihm Gabriel dabei zu. Er würde ihn gehen lassen? Einfach so? Ohne Konsequenzen?
»Danke«, murmelte er. »Dafür, dass Sie … Sie wissen schon. U-und auch damals, bei dem Bankett, da …« Vor ihm knallte Greystones Hand so plötzlich auf den Tisch, dass er zusammenfuhr und verstummte.
Der Mafioso beugte sich zu ihm herunter, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Mach nicht den Fehler, meine Handlungen für Güte oder Nächstenliebe zu halten«, schnarrte er gefährlich.
Gabriels Omega-Sinne schlugen Alarm. Er zwang sich, nicht zurückzuweichen, so schwer es ihm auch fiel, wenn ihn Greystone so bedrohlich anfunkelte.
»Ich habe dir dein bedauerliches Leben gerettet, weil es meine Position geschwächt hätte, dich sterben zu lassen. Verwechsle Strategie nicht mit Sentimentalität.«
Die Worte stachen tiefer in Gabriels Brust, als er zugeben wollte. Seine Kehle verengte sich. Er senkte den Blick.
Doch Greystone hatte ihn offensichtlich noch nicht genug eingeschüchtert. In einem bedrohlichen Knurren fuhr er fort: »Wenn du irgendjemandem erzählst, dass ich dir damals und heute geholfen habe, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, dann werde ich das erfahren. Ich werde dich suchen, dich finden und dich auf eine Weise für dein loses Mundwerk bestrafen, die dich wünschen lässt, dass ich dich damals hätte vor die Hunde gehen lassen.«
Gabriels sensible Omega-Nerven hatten Mühe, dem Druck standzuhalten. Sein Herz raste ihm in der Brust, während er Tränen aufsteigen fühlte. Mit aller Kraft hielt er sie zurück, um keine Schwäche zu zeigen. Er kannte den Mafioso grimmig und verschlagen. Hin und wieder verführerisch. Aber er war noch nie das Ziel solcher Drohungen geworden. Aus irgendeinem naiven Gedanken heraus hatte er angenommen, dass Greystone diesen Ton nur gegenüber anderen Alphas anschlug. Dass sie über sowas hinweg wären. Was hatte ihn das glauben lassen? War es ihm zu Kopf gestiegen, dass ihm Greystone das Leben gerettet hatte? Hatte er irgendwann angefangen, den Helden in diesem Ganoven sehen zu wollen?
Nun jedenfalls spürte er etwas in sich brechen. Zugleich fiel ihm auf, dass er den Atem angehalten hatte. Eilig holte er Luft.
»W-werde ich nicht«, beteuerte er mit belegter Stimme.
Greystone legte das Handy vor ihm auf den Tisch und beugte sich zurück. »Gut.« Mit wehendem Mantel wandte er sich herum und ging zur Tür. »George wird dich zum Haupteingang bringen. Tu dir selbst einen Gefallen und halte dich in Zukunft vor solchen Gassen fern. Ich werde dich bestimmt nicht noch einmal aufhalten, wenn du dich unbedingt ausliefern willst.«
Gabriel nickte. Er wusste, dass er dankbar sein musste, so glimpflich davon gekommen zu sein. Dass er jetzt besser verschwinden und nie wieder zurückkehren sollte. Aber er konnte nicht. Wenn er an Greystone dachte, dann tat er es nicht nur mit gesunder Ehrfurcht. Seit er in dieser Stadt war, kam es ihm so vor, als sei der Mafiaboss überall. Seine Hotels, seine Casinos, seine Bars und Kneipen. Seine Bordelle. Greystone war New York. Wenn ihm Gabriel nah war, bekam er festen Boden unter den Füßen, wo er sonst das Gefühl hatte, im luftleeren Raum zu schweben. Der Mann war das Zentrum der Macht. Ein beständiger Anker, ein Hauch von Kontrolle. Kontrolle, die Gabriel über sein eigenes Leben mehr und mehr zu verlieren drohte.
Ganz gleich, was der Alpha sagte, Gabriel fühlte sich in seiner Nähe sicher. Vielleicht war das dumm. Vielleicht sollte er sich darauf nichts einbilden, weil Greystone es nicht für ihn tat, sondern um sich seine guten Beziehungen zum Präsidenten zu sichern, seine Hausordnung durchzudrücken oder gegenüber eines Geschäftspartners einen Standpunkt zu vertreten. Doch auch wenn Gabriel das wusste, konnte er nicht verhindern, dass es ihn zu dem Mann hinzog. Dass all das, was er ihm in der Vergangenheit angetan hatte, mehr und mehr in den Hintergrund rückte.
Als ihm der Tscheche gefährlich geworden war, hatte ihn Greystone unter seinen Schutz gestellt, nicht als Omega, auf das er Anspruch erhob, sondern als Assistent. Eine Rolle, in die Gabriel ohne Weiteres gefunden hatte, die ihn zu nichts gezwungen hatte. Und dass Greystone mit seinem Protokoll sogar arbeiten wollte, bedeutete ja, dass er ihn für kompetent hielt, oder? Während andere überhebliche Alphas und Betas die Ansicht vertraten, dass Omegas zu nichts anderem zu gebrauchen waren, als für einfache Dinge, den Haushalt und die Kindererziehung, hatte der größte Alpha-Chauvinist, den Gabriel zu kennen geglaubt hatte, entschieden, ihn wie einen Beta zu behandeln, um die Aufmerksamkeit von ihm abzulenken. Er hatte ihn der sein lassen, der Gabriel immer sein wollte. Hatte ihn wie einen Assistenten behandelt und sich nicht um sein Geschlecht geschert, während sich alle anderen die Mäuler darüber zerrissen. War es da verwunderlich, dass sich Gabriel an ihn klammern wollte?
Bevor Greystone ganz verschwinden konnte, fasste er einen spontanen Entschluss.
»W-warten Sie!«, rief er, sprang auf und lief hinter ihm her.
Der Alpha warf ihm einen Blick über die Schulter zu, einen Ausdruck in den Augen, der Gabriel ahnen ließ, dass sich wenige wagten, ihn anzuschreien. Darauf konnte sich Gabriel im Moment nicht konzentrieren.
»Geben Sie mir einen Job«, verlangte er tapfer, obwohl seine Stimme zitterte.
Während ihn Greystone verächtlich ansah, wartete er heftig atmend auf die Antwort. Sie blieb aus.
Die Sekunden hingen zwischen ihnen wie festgefroren. Sie tropften zu Boden und hinterließen kleine Zeitlachen, die in der Spannung verdampften, die Gabriel in Atem hielt.
Dann sagte Greystone geringschätzig: »Nein.«
Er wandte sich wieder zum Gehen, aber nun, da er sich einmal so weit vorgewagt hatte, konnte Gabriel nicht zurück.
»Wieso nicht?«, fragte er und ging ihm hinterher. Es hatte doch so gut funktioniert. »Ich kann Ihnen nützlich sein!«
Greystone blieb stehen. Dann schloss er die Tür wieder.
Gabriels Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schluckte schwer, als sich der Alpha langsam zu ihm herumdrehte.
»So, glaubst du das, ja?«, schnarrte dieser mit so verächtlicher Miene, dass Gabriel seine Selbstsicherheit schwinden spürte.
Er stolperte zurück, aber für jeden Schritt, den er rückwärts tat, kam ihm Greystone einen hinterher, bis Gabriel mit dem Hintern gegen den Tisch stieß und sich haltsuchend an die Kanten krallte.
Als Greystone ihn von oben herab musterte, wurde sein Blick so kalt, dass Gabriel fröstelte.
»Und was soll ich mit jemandem wie dir? Wenn du in diesem Milieu überleben willst, musst du die Regeln kennen. Und eine Rolle spielen, die von dir erwartet wird. Die einzige Rolle, die es hier für Omegas gibt. Du weißt, welche das ist.«
Mit einer spöttisch erhobenen Augenbraue beugte er sich vor und zwang Gabriel dadurch, weiter zurückzuweichen. Er bog sich zurück. Als sich Greystone links und rechts von ihm abstützte und ihn fast auf den Tisch gedrängt hatte, fürchtete Gabriel bereits, dass er wieder zu weit gegangen war.
»Wie nanntest du sie noch?«, fragte der Mafioso hämisch. »Ach, richtig: Huren. «
Gabriel stockte der Atem. Der Alpha mochte das Wort abfällig gezischt haben, doch vor seinem inneren Auge erschien die Erinnerung daran, was er in der Nacht vor dem Bankett geträumt hatte. Der Traum, der ein Vorbote für heute hätte sein können, wenn sich Gabriel in die Rolle hätte drängen lassen, die Greystone andeutete. Die Gasse, der Regen, …. Allein bei der Vorstellung liefen seine Wangen bereits so rot an, dass sie glühten. Das Herz raste in seiner Brust. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu ihm auf, flach atmend und sich der Nähe des Alphas überdeutlich bewusst.
Der schnalzte geringschätzig mit der Zunge und beugte sich zurück. »Du hast nicht das Zeug dazu«, sprach er sein mitleidloses Urteil. »Du bist nicht dafür gemacht, in diesem Milieu zu agieren. Dir steht ein Job in einem langweiligen Büro weitaus besser. Wir sind hier fertig.«
Gabriel blinzelte. Er hatte mit etwas anderem gerechnet. Vielleicht damit, dass er ihm riet, sich schwängern zu lassen, so wie alle anderen es von ihm erwarteten. Statt dem Omega-Argument kam ihm der Alpha mit mangelnder Erfahrung und Anpassungsfähigkeit? Gabriel schöpfte Hoffnung.
Während Greystone zur Tür ging, rappelte er sich auf. »Ich kann die Beta-Rolle spielen!«
Er war hartnäckig und das war bei diesem Alpha riskant, das wusste er. Aber ihm ging allmählich das Geld aus, die anderen Unternehmen lachten hinter seinem Rücken über ihn und der Einzige, der ihn zu sehen schien, wie er war, war dieser verdammte Mafiaboss, der sich eben aus dem Staub machen wollte.
»Außer Ihnen weiß niemand, dass ich ein Omega bin.«
Greystone, der die Hand bereits wieder an die Klinke gelegt hatte, gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Du blutiger Anfänger«, spottete er und zog die Tür auf. Er warf Gabriel über die Schulter einen hochmütigen Blick zu. »Dank Emil wird es bald jeder wissen, der Geschäfte mit mir machen will. Brennst du so sehr darauf, dich wieder vergiften zu lassen? Verschwinde, sonst wird dich George nicht so freundlich hier herausgeleiten wie in Prag.«
Bevor er etwas erwidern konnte, war Greystone wehenden Mantels verschwunden. Frustriert biss sich Gabriel auf die Unterlippe und ballte die Hände zu Fäusten. Er kam sich naiv vor. Vorgeführt in seiner Unwissenheit. Doch er musste zugeben, dass Greystone Recht hatte. So fassungslos ihn der Umgangston im Untergrund auch machte, so sehr schalt er sich dafür, dass er das immer noch nicht begriffen hatte. Hier war es fressen oder gefressen werden. Er sollte froh sein, dass Greystone abgelehnt hatte. Hatte er denn vollkommen den Verstand verloren, unbedingt in einem Bereich arbeiten zu wollen, in dem ein falscher Schritt Misshandlung, Vergewaltigung oder Mord bedeuten konnte? Es machte ihn wütend, dass er ihm hinterherlaufen wollte. Dass er ihn weiter anflehen wollte. Der Mafioso hatte sich zurückgehalten, ahnte er. Seit Gabriel in der Gasse gegen ihn gestoßen war, hätte er alles Mögliche mit ihm anstellen können. Er hatte es nicht getan, aber das bedeutete nicht, dass er es nicht noch tun konnte, wenn ihn Gabriel weiter reizte, bis er die Nerven verlor.
Als das vertraute, grimmige Gesicht von George in der Tür erschien und dann seine massige, über und über tätowierte Gestalt eintrat, rutschte Gabriel peinlich berührt vom Tisch und richtete sein Jackett.
»Der Boss sagt, ich soll dich zum Ausgang bringen.« George wies unwirsch mit dem Kopf zur Tür. »Mach schon.«
Gabriel nickte. Es hatte keinen Sinn, länger hier zu bleiben, und offen gestanden fühlte er sich in diesem Umfeld nicht sicher, solange Greystone nicht in der Nähe war. Was für ein absurder Gedanke.
♣
In den kommenden Tagen kehrte Gabriel nicht in die Bars zurück. Greystone hatte seine Ansichten deutlichgemacht. Also hielt er sich von dem Milieu, in dem der Alpha zu verkehren pflegte, fern. Der Schock über das Erlebte und was es hätte anrichten können, saß ihm noch in den Knochen.
Die Bilder bekam er trotzdem nicht aus dem Kopf. Den Nervenkitzel, als ihn der Verbrecherfürst gerettet hatte. Die Art, wie er ihn an sich gezogen und wie bei der warmen Berührung der großen Hand auf seiner Schulter Gabriels ganzer Körper zu kribbeln begonnen hatte. Oder dieser Moment auf dem Tisch, als ihm Greystone seine Überlegenheit so eindrücklich demonstriert hatte.
Er fragte sich, wie es kam, dass sich der Alpha nun mehr zurückhielt, obwohl es niemanden mehr gab, der Gabriel vor ihm beschützen konnte? War es tatsächlich reine Manipulation gewesen, die ihn seinerzeit zu all den unverfrorenen Handlungen bewegt hatte? War Gabriel nicht Omega genug, damit er mit ihm das Gleiche tun wollte wie mit … Odil?
Gabriels Wangen fingen Feuer. Wollte er das etwa? Natürlich nicht! Die Intimität, zu der ihn Greystone gezwungen hatte, war erniedrigend gewesen. Wieso sollte er so etwas freiwillig mitmachen wollen?
»Mr. Fleming?«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.
Gabriel blinzelte und sah auf – in das freundliche Gesicht der Beta-Personalerin, die ihm eine Frage gestellt hatte. Ihr Alpha-Chef blätterte gelangweilt durch Gabriels Zeugnisse.
»Entschuldigen Sie«, sagte er mit einem, wie er hoffte, einnehmenden Lächeln. »Können Sie das wiederholen?«
»Ich möchte wissen, wo Sie sich in fünf Jahren sehen.«
»Richtig.« Gabriel atmete tief durch und straffte die Schultern, während er seine einstudierte Antwort aus dem Gedächtnis kramte.
Alveros
Es war laut und überfüllt im Club, aber das war Alveros nur recht. Das bedeutete schließlich, dass das Geschäft lief. Etwas Besseres konnte er sich nicht wünschen. Seine Hände wanderten über die bronzefarbene Haut des Omegas, der sich vor ihm zum Takt der Musik wand und dabei aufreizend den Hintern gegen seinen Schritt rieb. Der junge Mann war unverschämt attraktiv. Zierlich, mit honigblonden Locken und dunklen Augen, die von so dichten Wimpern umrahmt waren, dass er ein wahrer Blickfang war. Und dann diese vollen Lippen.
Alveros vergnügte sich gern mit willigen, hübschen Omegas. Das war für ihn die angenehmste Beschäftigung, sobald er die Arbeit für den Tag beendet hatte. Das, Alkohol und Drogen.
Gierig zog er den jungen Mann näher, küsste ihm die Wange und legte die Hand an seine Kehle. Zugleich schob er die andere zwischen ihnen hinunter und ungeniert in die Jeans des Omegas. Sie waren umringt von anderen Pärchen, die keine Notiz von ihnen nahmen. Jeder war auf sich konzentriert.
Neckend stahlen sich Alveros’ lange Finger zwischen die Backen und zu dem kleinen Eingang hin, der ihn feucht erwartete. Als er ihn berührte, japste der Omega auf. Zufrieden schnurrend schmiegte sich Alveros stärker an ihn, um jede seiner Reaktionen deutlich mitzubekommen. Dreist drängte er zwei Fingerkuppen in ihn hinein.
»Gefällt dir das?«, säuselte er, obwohl er die Antwort kannte. Der Duft des Omegas war einer der Süßeren. Jetzt, da ihn Alveros reizte, wurde er noch verführerischer, als wollte er den Alpha zusätzlich provozieren. Seine Erregung war deutlich zu riechen.
Der hübsche Omega nickte heftig und drückte ihm auffordernd sein Becken entgegen. Offensichtlich liebte er den Nervenkitzel der Öffentlichkeit ebenso wie Alveros.
Genüsslich schob er die Finger tiefer, spreizte sie in der heißen Enge und erntete ein atemloses Keuchen. Ihre eng aneinandergepressten Körper verdeckten seine Hand gerade genug, dass er nicht mehr von dem Omega preisgab, als er wollte. Solange er in Alveros’ Fängen war, gehörten alle Reaktionen des hübschen Jünglings, seine Laute und sein Erschaudern ihm allein.
»Ich will dich ficken«, raunte er ihm ins Ohr. Fordernd stieß er die Finger tiefer und der Omega taumelte einen Moment, als seien seine Knie weich geworden. »Ich werde meinen harten Alphaschwanz in dich hineinrammen und dich so überdehnen, dass du morgen nicht mehr ordentlich sitzen kannst.«
Bei seinen Worten zogen sich die Muskeln sehnsüchtig um seine Finger zusammen. Das hübsche Ding wurde feuchter. Als Alveros zufrieden die Hand aus der Jeans zog, wimmerte der Omega auf.
»Komm.« Er legte ihm den Arm über die Schultern und zog ihn von der Tanzfläche, in den hinteren Teil des Clubs. Dorthin, wo die Musik nicht mehr so laut dröhnte und der abgetrennte VIP-Bereich begann. Beim Gehen achtete er darauf, den Omega nah genug bei sich zu halten, damit dieser deutlich spürte, wie sich Alveros’ Pistole in seine Seite drückte. Er wollte keinen Zweifel an der Lage aufkommen lassen, in der sich seine Beute im Moment befand. Das hübsche Ding erschauderte. Gut.
Als sie sich näherten, öffnete die Security die Tür. Alveros zog den Jungen mit sich in einen der abgetrennten Räume, der nicht groß und nur von gedämpftem Licht erhellt war. Eine Stange ging in der Mitte vom Boden bis zur Decke und einige Sofas standen darum herum. Alveros geleitete den Omega an der Wand vorbei, die für die Tanzenden verspiegelt und für den VIP-Bereich verglast war, und ließ sich dann auf dem Sofa nieder. Als sein Auserwählter des heutigen Abends vor ihm stehenblieb und zögerte, bedachte ihn Alveros mit einem anrüchigen Blick.
»Worauf wartest du? Brauchst du mehr Motivation?« Schmunzelnd strich er das Jackett zur Seite, damit die Waffe in seinem Holster deutlich zu sehen war. Vielsagend sah er den Omega an. »Reite mich, kleiner Prinz.«
Ein sichtbares Zittern durchlief den schlanken Körper des Omegas. Sofort entledigte er sich seiner Hose, bevor er sich auf Alveros’ Schoß setzte, mit geübten Fingern den obersten Knopf öffnete und den Reißverschluss herunterzog, ehe er das halbsteife Glied aus dem engen Stoff befreite.
Lobend legte ihm Alveros eine Hand in den Nacken und streichelte die zarte Haut, während ihn die weichen Hände des Omegas bearbeiteten, bis sich Alveros vollständig aufgerichtet hatte.
Er zog die Pistole aus dem Holster. Fast schon zärtlich strich der Lauf über die gerötete Wange, in einer kleinen Warnung, die den Omega dazu brachte, näher zu rutschen und sein Becken anzuheben. Ungeduldig legte ihm Alveros die zweite Hand auf die Hüfte. Als der hübsche Jüngling hinunter sank und das Glied durch den engen Muskelring glitt, keuchte Alveros auf. O ja, so verbrachte er seinen Feierabend am liebsten. Mit einem fordernden Stoß schraubte er sich tiefer in den Omega, der überwältigt aufschrie und den Kopf in den Nacken legte.
»A-Al«, japste er, hob sein Becken und senkte es vorsichtig wieder.
»Du wolltest mich doch nicht warten lassen, oder, kleiner Prinz?«, fragte Alveros und drückte ihn entschieden runter, während sein Becken nach oben schnellte. »Nicht, dass ich vor Langeweile abdrücke.« Neckend glitt der Lauf seiner Pistole unter das Shirt des Omegas und schob es hoch, über den flachen Bauch und bis zum untersten Rippenbogen. Dort presste er die Mündung in die weiche Haut.
Mit einem Wimmern krallte der hübsche junge Mann die Hände in seine Schultern und schüttelte den Kopf.
Fuck, er war so eng. Alveros ahnte, dass das der Grund für das Zögern gewesen war. Doch er war nicht für seine Rücksicht bekannt. Schließlich hatte er ihm vorhin Überdehnung versprochen. Entschieden griff er die Hüften fester, zwang den Omega abermals tiefer und stieß sich hart in ihn. Einnehmend stöhnte sein Günstling auf, fing an, sich Alveros’ Stößen zu ergeben und anzunehmen, was der Alpha ihm gab.
Alveros schmunzelte. Für gewöhnlich ließ er seinen Harem für sich arbeiten, aber der Abend war noch jung. Er konnte später einfordern, dass sich Prince für seine Großzügigkeit bedankte. Jetzt war er selbst zu begierig, die Kontrolle zu übernehmen. Unbarmherzig trieb er sich wieder und wieder in die heiße Enge, angespornt von den ekstatischen Lauten, die die Tonleiter hinauf wanderten. Die Waffe hatte er inzwischen unter dem Shirt höher geschoben. Sie ragte aus dem Kragen heraus, drückte sich von unten gegen Princes Kinn und zwang ihn, es hochzuhalten.
Aufgewühlt zerbiss sich der Omega die Lippen. Tränen glitzerten in seinen Augen, seine Wangen waren gerötet, seine Atmung deutlich abgeflacht. Der Anblick war so köstlich, dass Alveros den nächsten Stoß noch fordernder tat.
Dabei überging er geflissentlich das Vibrieren aus seiner Jackett-Innentasche. Wer auch immer da anrief, konnte warten. Gierig auf den Omega konzentriert, der so zauberhaft auf seinem Schoß thronte, fuhr Alveros mit dem schnellen, harten Rhythmus fort und seine eigene Erregung nahm so weit zu, dass er bald das verräterische Ziehen spürte, das dem Knoten vorausging. Alveros ignorierte es noch ein wenig länger. Er stieß sich in Prince hinein, der nun lauter stöhnte, jedes Mal, wenn die Beule, die sich an der Wurzel bildete, seinen Muskelring passierte.
Eisern mahnte sich Alveros zu Disziplin. Während er die Waffe zurückzog, hielt er inne und schob Prince von sich.
Sofort sank sein Günstling zwischen seine aufgestellten Beine, umfasste den voluminösen Schaft mit beiden Händen und nahm die Spitze in den Mund.
Als er spürte, wie gekonnt ihn die Zunge umspielte, sog Alveros scharf die Luft ein. Seine Hand krallte sich in das lockige Haar. Zugleich folgte der Lauf der Pistole dem Gesicht des hübschen Omegas. Sie drückte sich gegen seine Wange und Prince stöhnte gedämpft. Sein Waffenkink war so ausgeprägt, dass es ein Leichtes für Alveros war, ihn mit dieser Spielerei auf Touren zu bringen. Das nutzte er gern.
Während er bewundernd dabei zusah, wie sich Princes volle Lippen um seinen breiten Schaft schlossen, strich Alveros mit der Mündung zärtlich eine Strähne aus der Stirn des Omegas, der wie zu erwarten wohlig erschauderte und mit benebeltem Blick zu ihm aufschaute. Er nahm so viel auf, wie er konnte, doch der Knoten war zu groß für ihn. Seine Lippen umspielten den oberen Ansatz der Wölbung, während Alveros’ Eichel gegen seinen Rachen stieß. Prince schluckte und entlockte Alveros damit ein dunkles Grollen.
Eine Sekunde lang entließ er ihn aus seinem Griff, dann drückte er ihn erneut herunter, spürte, wie sich die Anspannung immer weiter aufbaute und entlud sich endlich heftig in Princes Kehle. Ein Schauer durchwanderte seinen Körper.
Die erste Welle war immer die intensivste. Sein Knoten würde fast zwanzig Minuten benötigen, um vollständig abzuschwellen, doch die berauschenden Wellen des Orgasmus verloren ihren Effekt schon nach den ersten davon. In dieser Zeit würde sich Prince ergeben der Aufgabe widmen, an ihm zu lecken und zu saugen, um jeden Tropfen Sperma von ihm aufzunehmen und seine Lust so sehr wie möglich in die Länge zu ziehen.
Während sich die erste post-orgiastische Entspannung einstellte, lehnte sich Alveros gegen die Sofalehne, legte den Kopf darauf ab und fuhr mit der Hand lobend durch Princes Haar. Die Pistole zog er zurück.
Erneut vibrierte es in seinem Jackett. Alveros ignorierte es. Sein Imperium war so groß, dass er selten eine freie Minute hatte, wenn er sie sich nicht nahm.
Als sich das Gefühl der Ekstase allmählich in Überreizung wandelte, zog er an Princes Haar.
Der Omega ließ von seinem Schritt ab und setzte sich wieder auf seinen Schoß.
Schmunzelnd strich ihm Alveros mit dem Daumen Sperma von der feuchten Unterlippe. »Du bist nicht gekommen, kleiner Prinz«, stellte er mit einem samtenen Schnurren fest. »Das sollten wir ändern.«
In Princes Augen leuchtete Vorfreude auf. Er nickte. »Ja«, hauchte er und legte den Kopf verführerisch in den Nacken, als Alveros’ große Hand seine Kehle umfasste. »Bitte, Al.«
Alveros knurrte zufrieden. Er selbst brauchte eine Pause, doch nachdem der Omega gekommen war, wäre er einsatzbereit. Und Omegas schrien so schön, wenn man sie nach einem Orgasmus hart rannahm.
Wieder vibrierte sein Handy. Allmählich ging es Alveros auf die Nerven. Drei Anrufe in zehn Minuten? Irgendjemand wollte sich da offensichtlich einen neuen Feind machen.
Tief atmete Alveros durch, um die Anspannung zu vertreiben. Er wusste, dass der Omega die umschlagende Stimmung genau spüren konnte. Das hier würde er sich nicht kaputtmachen lassen, also drängte Alveros den Zorn zurück, mahnte sich zu Gelassenheit und schob den Lauf seiner Pistole von hinten zwischen Princes Pobacken.
»Kleine, notgeile Schlampe«, schnurrte er liebevoll und hielt den Omega an der Kehle in Position, als dieser schon fortzucken wollte. Unbarmherzig drückte Alveros die Spitze der Waffe gegen den feuchten Muskelring. Als der nachgab und der Lauf ein Stück hinein sank, entwich Prince ein überwältigtes Keuchen.
»Mach schon. Ich weiß, dass du es willst. Besorg’s dir.«
Heftig nickend, so gut der feste Griff an seinem Hals es zuließ, sank der Omega gehorsam tiefer.
Er hatte gerade genießend aufgestöhnt, als es an der Tür klopfte.
In Alveros flammte Wut auf. Hatte er denn nirgendwo seine Ruhe? Erst dieser Telefonterror und dann das? Wer auch immer da vor der Tür stand, Alveros hatte große Lust, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen.
»WAS?!«, blaffte er, weil ihm der Geduldsfaden gerissen war. Prince zuckte zusammen.
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
»Boss«, sagte Freya, eine seiner Security-Alphas. »Da will Sie jemand sehen.« Sie schaute an Prince vorbei, als säße er nicht gerade halbnackt auf Alveros’ Schoß und hätte die Hälfte des Pistolenlaufs im Hintern.
Was auch immer es war, es konnte warten.
»Raus«, schnarrte Alveros eisig. »Sofort.«
»Er sagte, es sei wichtig«, insistierte Freya ruhig.
Alveros zog behutsam die Waffe aus Princes Eingang und war einen Moment versucht, stattdessen damit zu zielen. Er konnte es nicht ausstehen, wenn man ihm widersprach. Mit einem schweren Seufzen entschied er sich dagegen, weil Freya eine seiner loyalsten Mitarbeiterinnen war.
»Wer ist es?«
»Gabriel Fleming, Sir.«
Seine Wut potenzierte sich. Dieser verdammte kleine Nichtsnutz klebte an ihm wie eine Klette und besaß sogar die Dreistigkeit, sein Personal gegen ihn aufzuhetzen?
»Schmeiß ihn raus«, befahl Alveros zwischen zusammengebissenen Zähnen. Das war noch das Netteste, was er anordnen konnte. Gabriel hatte Glück, dass er ein Omega war. Omegas gegenüber zwang sich Alveros zu mehr Nachsicht. Grollend setzte er hinzu: »Wenn er noch einmal einen Fuß in einen meiner Clubs setzt, verpasst ihm eine Abreibung.«
Sehr zu seinem Missfallen blieb Freya in der Tür stehen.
»Was noch?«, fuhr Alveros sie an.
»Er behauptet, dass er Informationen hat.«
Alveros schnaubte abfällig. »Ich bezweifle, dass die irgendetwas taugen«, schnarrte er und weil er bemerkte, wie verkrampft Prince auf seinem Schoß saß, lockerte er den Griff um seinen Hals und strich ihm entschuldigend über den Nacken. »Jetzt verschwinde, ich bin beschäftigt.« Er schenkte dem Omega ein kleines Lächeln, der zaghaft darauf einstieg.
»Neuigkeiten zu Morello, Sir«, setzte Freya hinzu.
Alveros hielt inne und sah sie an. »Zu Morello?« Er lachte fast, doch zugleich war er so verblüfft, dass ihm die Frage halb ungläubig entwich. Gabriel soll an Informationen zu dem Mann gekommen sein, der einen der größten italienischen Mafia-Clans anführte? Einer von Alveros’ ärgsten Konkurrenten? Die Italiener und die Iren vertrugen sich in New York nicht sonderlich gut. Alveros’ Clan war der größte irischer Abstammung. Und Morello war ihm ein Dorn im Auge.
Einen Moment lang zog er in Erwägung, es dennoch abzuschmettern. Es klang zu unrealistisch, um wahr zu sein. Wie sollte ein gestrandeter Brite ohne Netzwerk oder Einfluss an irgendwelche Hinweise gekommen sein?
Andererseits … konnte er es sich leisten, das zu ignorieren? Was würde er gewinnen, wenn er Gabriel anhörte? Vielleicht hatte er ja einfach nur Glück gehabt und war nun so dämlich, seine Information an den Erstbesten verkaufen zu wollen, der ihm einfiel?
»Na schön«, stieß Alveros aus und schob Prince von seinem Schoß. »Bring ihn rein.«
Freya nickte knapp und verließ den Raum.
Eilig zog sich sein Günstling die Jeans an und Alveros schloss seine Anzughose. Bevor der Omega verschwinden konnte, zog er eine der zierlichen Hände zu sich und drückte ihm einen Kuss auf den Handrücken.
»Wir holen das nach, kleiner Prinz«, versprach er sanft. Die Mitglieder seines Harems erlebten ihn selten ungehalten. So emotional und weich, wie Omegas waren, achtete er stets darauf, in ihrer Nähe keinen allzu scharfen Ton anzuschlagen. Verängstigte Omegas konnte er nicht gebrauchen. Sein Harem war ihm lieber, wenn er sich wohlfühlte und seine Berührung herbeisehnte, statt sie zu fürchten.
Prince schien die versteckte Entschuldigung dahinter zu verstehen. Er nickte tapfer, obwohl er ein wenig bleich wirkte. »Ist gut.«
»Sag John, dass er dich fahren soll«, setzte Alveros noch hinzu. Ein Omega, das nach Sex roch, lief besser nicht allein durch das nächtliche New York. John war glücklich gebunden und vertrauenswürdig. Fast schon anständig für einen Alpha, der im Untergrund arbeitete. Er war bei den Omegas beliebt, weil von ihm wenig Gefahr ausging.
Prince schenkte ihm ein dankbares Lächeln, beugte sich herunter und setzte Alveros einen kleinen Kuss auf die Wange. »Mach ich. Bis später, Al.«
»Bis dann.«
Er sah zu, wie der Omega den Raum verließ. Mit jedem Schritt, den sich die besänftigende Ausstrahlung weiter von ihm entfernte, wurde Alveros wieder wütender. Allmählich ging ihm Gabriel auf die Nerven.
Gabriel
Als ihn die Alpha durch eine Tür schob, nachdem ein hübscher Omega herausgekommen und an ihm vorbeigelaufen war, ohne ihn zu beachten, schlug Gabriels Herz bis zum Hals.
Ob das eine gute Idee gewesen war?
Nun, da er in dem düsteren, in schwerem Rot gehaltenen Raum stand und die dunkle, muskulöse Silhouette von Greystone auf der anderen Seite ausmachte, wie er breitbeinig auf einem Sofa saß, war sich da Gabriel nicht mehr so sicher.
Aber die letzten Tage war er unzufrieden und rastlos gewesen. Er hatte den Job bekommen, für den er sich zuletzt vorgestellt hatte. Hatte einen Probetag gemacht und dabei versucht, keine allzu hohen Ansprüche zu hegen. Es war ihm ja klar gewesen, dass seine Karriere eine Bruchlandung hingelegt hatte. Wenig hatte mit der Verantwortung mithalten können, die er unter dem Präsidenten gehabt hatte. Doch die Tage hinter dem Empfangstresen waren eintönig gewesen. Er hatte förmlich fühlen können, wie all das hart erarbeitete Wissen und seine Kompetenzen verkümmert waren. Es war das einzige Unternehmen gewesen, das ihn hatte haben wollen. Wie hätte er da ablehnen können?
Lang hatte es nicht gedauert, bis ihn die neuen Kollegen gefragt hatten, wie viel an den Gerüchten aus Großbritannien dran sei. Auf den Fluren hatten sie getuschelt und hinter seinem Rücken über ihn gesprochen und Gabriel hatte es nicht ertragen. Die Woche war gerade vergangen, da hatte er schon gewusst, dass er hier nicht alt werden würde.
Abends war er in eine Bar gegangen. Keine von Greystone, darauf hatte er geachtet. Nicht nur weil er ihn nicht verärgern und sich in Gefahr bringen wollte. Auch weil er seiner Sehnsucht nach Nähe keinen Raum hatte geben wollen.
Als der Verbrecherfürst nun mit der Zunge schnalzte, stellten sich Gabriels Nackenhaare auf. Hier drin roch es nach Sex. Seine sonst so empfindlicher Omega-Geruchssinn mochte durch die Blocker getrübt sein, aber der Geruch hing so dominant in der Luft, dass er sich damit schwertat, ihn zu ignorieren. Es roch nach Lust. Nach der Lust des Alphas. Gabriels Knie wurden weich.
»Ich gebe dir fünf Minuten«, schnarrte die tiefe Stimme.
Ihn nur im Halbdunkel zu sehen und doch genau zu fühlen, dass Gabriel seine volle Aufmerksamkeit hatte, ließ ihn erschaudern. Allmählich ahnte er, dass es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen. Ein großer Fehler. Gabriel kam sich vor wie in der Höhle eines blutrünstigen Raubtieres. Ausgehend von Greystones Tonlage war dieses heute nicht sehr geduldig.
»I-ich …«, begann er und räusperte sich dann. Sein Hals war ausgetrocknet. Gabriel schluckte gegen den Kloß an, der ihm auf die Stimmbänder drückte. Tapfer holte er Luft und setzte erneut an. »Ich habe Informationen zu Morello.« Erleichtert hörte er, dass seine Stimme nun fester klang. Selbstsicher.
Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Greystone hatte ihm viel entgegengeschleudert, das in Gabriel Trotz ausgelöst hatte. Nun wollte er ihm beweisen, dass er mehr war als das, was der Alpha in ihm sah.
Greystone schnaubte abfällig. »Dass die für mich von irgendwelchem Wert sein werden, wage ich zu bezweifeln«, sagte er kühl, doch dann wedelte er auffordernd mit der Hand. »Sprich. Aber verschwende besser nicht meine Zeit.«
Gabriel atmete tief durch, ignorierte dabei die Gerüche, die seine Schleimhaut kitzelten, und warf nur einen kurzen Blick durch die verglaste Wand, auf deren anderer Seite die Gäste des Clubs ausgelassen tanzten.
Zaghaft trat er einen Schritt in den Raum hinein.
Er hatte vollkommen den Verstand verloren, ahnte er. Einhundert Prozent. Einen der gefährlichsten Männer New Yorks aufzusuchen, sich ihm wieder und wieder zu nähern, weil er nicht anders konnte, obwohl es ihn mehr als einmal verbrannt hatte. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Wenn seine Information wertlos wäre, hätte er Greystones Zorn provoziert. Außerdem ahnte er, dass dieser heute nicht so nett mit ihm umspringen würde wie bei ihrem letzten Treffen. Der grollende Unterton und die Art, wie der Alpha breitbeinig und mit den Armen über der Rückenlehne vor ihm saß und mit jeder Faser seines Körpers dunkle Dominanz ausstrahlte, zeugte von sexuellem Frust. Gabriel musste auf der Hut sein.
»M-Morello plant, sich mit einem der irischen Clans zusammenzutun«, sagte er und errötete über das peinliche Stottern am Anfang.
Greystone lachte freudlos. »Sicher«, höhnte er. »Und wieso sollte er das tun?«
»Um Sie zu stürzen.« Gabriel wusste, dass es keine gute Idee war, solche Dinge in den Raum zu werfen. Inzwischen hatte er begriffen, dass der Mafiaboss leicht zu provozieren war, wenn jemand an seinem Thron sägen wollte.
Wie zu erwarten, fragte er drohend: »Wie war das?«
Gabriel blieb vorsorglich stehen. Er war nur ein paar Schritte von der Tür entfernt und Greystone saß noch immer auf der anderen Seite des Raumes. Wenn er wachsam blieb, würde er fliehen können, bevor der Mann Jagd auf ihn machen konnte. Wieder sah er verstohlen zu den Tanzenden hin. Sollte er davonlaufen müssen, würde er dorthin rennen.
»Es heißt, dass sich der Clan bereiterklärt hat, seine Informationen Ihrer Zusammenarbeit mit Morello zu teilen«, fuhr er tapfer fort. »Dafür hat ihm der Pate seinen Schutz und eine friedliche Eingliederung zugesichert. Gerade laufen die Verhandlungen. Kommende Woche wird ein Abkommen unterzeichnet, das beinhaltet, dass der Clan weiteres Wissen von Ihnen erschleicht und Ihnen dann das metaphorische Messer in den Rücken stößt. Es wird eine Attacke aus dem Hinterhalt geben, als Ablenkungsmanöver, während Morello Angriffe überall in der Stadt geplant hat.«
Gabriel verstummte.
Stille legte sich über den Raum – untermalt vom wummernden Bass, der auf der anderen Seite der verglasten Wand die Tanzfläche zum Beben brachte.
Greystones Blick bohrte sich in ihn.
Angespannt hielt Gabriel den Atem an. Es war schwer zu sagen, was der Mafioso dachte.
Doch als er ruckartig auf die Füße kam, wich Gabriel erschrocken zurück.
»Wieso bist du hier?«, knurrte Greystone und überwand die Distanz zwischen ihnen in so schnellen Schritten, dass Gabriel, der vor Schreck ganz gelähmt war, vollkommen vergaß, dass er vor ihm fliehen wollte.
Große Hände packten ihn an den Oberarmen.
»Wieso kommst du damit zu mir?« Greystone schob ihn zurück, bis er hart mit dem Rücken gegen die Wand stieß. »Du hast keinen Grund, mich zu warnen. Steckst du mit Morello unter einer Decke? Sollst du mich verunsichern?«
Er hatte sich an Gabriel gedrängt, hinderte seinen Körper durch den eigenen an der Flucht und Gabriels Herz raste so schnell in seiner Brust, dass er kaum noch zu Atem kam. Ihm wurde schwummrig von der drohenden Aura, die Greystone ausstrahlte.
»In Wahrheit bist du das Ablenkungsmanöver, richtig?« Er lachte gehässig. »Was denn, glaubt er, ich lasse mich von einem zweitklassigen Omega lang genug um den Finger wickeln, damit er mein Gebiet unterwandern kann?« Seine Frage wandelte sich immer mehr in ein Grollen.
Mit zusammengekniffenen Augen blieb Gabriel stehen und wagte keine falsche Bewegung. Er hatte gewusst, dass es ein Fehler wäre. Wieso sollte ihm Greystone auch glauben? Sie hatten alles andere als ein vertrauensvolles Verhältnis. Seine Worte taten fast so sehr weh wie der feste Griff an Gabriels Armen.
»N-nein. Mr. Greystone, es ist wahr!«, insistierte er und sah flehend zu ihm auf. »Man will Sie hintergehen, aber ich arbeite nicht für ihn, ich schwöre es!«
»Und das soll ich dir abkaufen?«, zischte Greystone und schnalzte mit der Zunge. »Du hast den Untergrund lang genug überlebt, um zu glauben, dass du jetzt bei den Großen mitspielen kannst? Mach, dass du verschwindest.« Er riss die Tür auf, neben der sie standen. »Komm nicht zurück. Wenn ich dich noch einmal in einem meiner Clubs sehe, werde ich dich meinen Alphas zum Fraß vorwerfen.«
Gabriel keuchte. Die Drohung bestürzte ihn so sehr, dass seine Knie einknicken wollten. Greystone verstand es falsch, ganz falsch! Und seine hässlichen Worte ätzten sich in Gabriels Eingeweide wie Säure.
Der Alpha schob ihn grob an der Schulter aus dem Raum und gab ihm einen kleinen Stoß, der ihn ins Stolpern brachte.
»Freya!«, bellte Greystone, der ihm auf den Gang gefolgt war, schloss die Tür hinter sich und rauschte an ihm vorbei, ohne ihn noch weiter zu beachten. Die Alpha-Dame, die Gabriel zuvor eingelassen hatte, trat näher.
»Gib den anderen Bescheid«, wies Greystone sie an. »Krisenmeeting in fünfzehn Minuten im Büro.« Dann nickte er einem zweiten Alpha zu, der neben der Tür gestanden hatte. Die beiden und zwei weitere, die am Hinterausgang postiert waren, wandten sich um, um ihren Boss zu begleiten.
Gabriel sah seine Felle davon schwimmen. »Nein, bitte! Warten Sie, Mr. Greystone!« Er eilte ihm hinterher. Im Affekt griff er nach seinem Arm, um ihn aufzuhalten. Dabei bekam er den Ärmel zu fassen.
In einer ruckartigen Bewegung riss sich der Mafiaboss von ihm los. »Schafft mir diesen Clown vom Hals.«
Ein weiterer scharfer Stich in Gabriels Brust. Darauf konnte er sich jetzt nicht konzentrieren.
»Ich bin nicht auf Morellos Seite!«, beharrte er, als bereits zwei der Alphas zwischen sie traten und Gabriel an den Unterarmen packten. Sich heftig wehrend behielt er den Hinterkopf des Mannes im Blick. »Ich beweise es Ihnen! Lassen Sie mich beim Meeting dabei sein und ich sage Ihnen, welcher Clan Sie verraten wird und wo die ersten Angriffe geplant sind.«
Ruckartig blieb Greystone stehen. Dann wandte er sich gefährlich langsam zu Gabriel herum, der Ausdruck in seinen Augen so frostig wie ein Wintersturm. In lauernden Schritten kehrte er zu ihm zurück, jede Bewegung so geladen, als würde nur noch ein kleiner Trigger fehlen, damit er aus der Haut fuhr.
»Du wagst es«, schnarrte er und sah zu Gabriel herunter, der zurückweichen wollte, doch von den Alphas in Position gehalten wurde. »Du wagst es, mich mit Informationen zu erpressen?«
»N-nicht erpressen, Sir«, versicherte Gabriel eilig und zwang sich, den Blick zu halten. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug und er vor Panik ganz flach atmete, sagte er tapfer: »Verhandeln. Ich bin lernfähig, Mr. Greystone. Sie haben mir beigebracht, nicht alles auf einmal zu verraten.«
Für den Bruchteil einer Sekunde meinte er, etwas in den dunklen Augen aufblitzen zu sehen. Doch es war so schnell wieder verschwunden, dass er es nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Einen Moment später packte ihn Greystone wie einen Welpen hinten am Kragen und schleifte ihn mit finsterer Miene den Gang entlang.
»Du hast es nicht anders gewollt«, knurrte er. »Wir klären die Details im Wagen.«
Gabriel war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte. Immerhin wollte ihn Greystone jetzt nicht mehr direkt vor die Tür setzen oder ihn, wie er es vorhin angedroht hatte, ›seinen Alphas vorwerfen ‹. Also ging die Taktik bisher auf. Dennoch raste das Omega-Herz in seiner Brust, weil ihm Greystone, der ihn noch am Schlafittchen gepackt hatte, als sie auf die Straße traten, viel zu nah kam. Es war mitten in der Nacht, niemand wusste, wo Gabriel war. Wenn Greystone es sich anders überlegte oder der Wagen nur ein Vorwand war, um ihn in Sicherheit zu wiegen, konnte bald schon alles vorbei sein. Wäre es das wirklich wert gewesen? Zu sterben für eine dumme, waghalsige Idee? Weil er zu starrsinnig war, um sich in ein Omega-Leben zu fügen?
Greystone trat an seine Limousine heran, zog die hintere Tür auf und stieß ihn hinein. Mit ausgestreckten Armen landete Gabriel halb auf dem Sitzpolster und halb auf dem Boden des Wagens. Eilig rappelte er sich wieder auf und rutschte zurück, während Greystone neben ihm einstieg und die Tür zuzog. Zwei der Alphas setzten sich in den Fahrerbereich.
»Wie ich sehe, bist du diesmal vorbereitet«, brummte der Mafiaboss, drückte einen Knopf und die Zentralverriegelung klickte.
Gabriels Herz setzte aus. Jetzt war er mit ihm eingesperrt. Was hatte er sich da nur eingebrockt?
Mit einem finsteren Blick verschränkte Greystone die Arme vor der Brust und musterte ihn. »Ich hoffe für dich, dass deine Information genug wert ist, damit ich dich am Leben lasse. Allmählich entwickelst du dich zum Störfaktor.«
Gabriel atmete tief durch. Er wusste, dass das nur Drohgebärden waren. Das, was er bereits verraten hatte, war allein schon wertvoll genug. Nur musste er erst beweisen, dass die Information echt und aktuell war. Und das konnte Gabriel nicht. Das mussten Greystones Handlanger bestätigen, nachdem sie sich umgehört hatten. Bis dahin konnte er nur hoffen, dass ihn der Alpha nicht beseitigte, um eine Eventualität auszumerzen.
Also zögerte er. Wenn er seinen letzten Trumpf zu früh ausspielte, verschenkte er wertvolle Zeit.
»Ist sie«, beharrte er tapfer. »Und es ist die Wahrheit. Ich lüge nicht und ich arbeite auch nicht für einen Ihrer Konkurrenten.«
Greystone hob eine Augenbraue. »Wir werden sehen.« Als sich der Wagen in Bewegung setzte, warf er einen Blick aus dem Fenster. »Wieso dann? Deine Hauptmotivation ist Anerkennung, wenn ich mich recht entsinne.«
Dass er sich das gemerkt hatte, ließ Gabriel unangemessen erröten. Als sich ihm Greystone wieder zuwandte, senkte er den Kopf.
»Wenn es nicht die Anerkennung eines meiner Konkurrenten ist, der dahintergekommen ist, dass du Kontakt zu mir hattest, und glaubt, dass er dich als Lockvogel verwenden kann, was kann dich dann dazu bewegen, dich mir freiwillig auszuliefern? Geld? Sichert er deinen Unterhalt? Das Leben als arbeitsloser Omega ist hart, nicht wahr?«
Getroffen zog Gabriel den Kopf zwischen die Schultern. Greystone wusste genau, was er sagen musste, um Schmerz auszulösen. Immer mit dem Finger in der Wunde.
»Nein«, murmelte er. »Ich werde nicht dafür bezahlt.«
Greystone schnaubte ungläubig. »Nehmen wir an, ich glaube dir. Nehmen wir an, da ist tatsächlich ein Hinterhalt im Gange, vor dem du mich warnen willst.«
Gabriel nickte.
»Sieh mich an.«
Das fiel ihm schwer. Der Mann verströmte im Moment so starke, einschüchternde Alpha-Wellen, dass er sich ganz klein machen wollte.
»Omega«, mahnte Greystone, griff Gabriels Kinn und hob es an. »Sieh mir in die Augen und sag mir, wieso du dich in dieses Haifischbecken wagst, in dem es ein Leichtes für mich wäre, deine Leiche zu verscharren?«
Gabriel biss sich auf die Zunge. Der Alpha war von Anfang an dreist gewesen. Ihn zu berühren und ihm einen Ruf aufzuzwingen, der zwar keine Wirkung auf ihn hatte, aber dafür eine empfindliche Symbolik, war vermessen. Doch Gabriel hatte geahnt, worauf er sich würde einstellen müssen. Er wusste, dass er im Nachteil war. Dass einzig die Informationen und dass sie sich als wahr herausstellen würden, ihn nicht nur retten, sondern sein Leben auch entscheidend verändern konnten.
»Was springt für dich dabei heraus?«, fragte Greystone eindringlich und beugte sich vor.
Gabriels Augen weiteten sich, als er ihm so nah kam. Er zwang sich, stillzuhalten, obwohl er instinktiv Abstand suchen wollte.
»Welchen Gegenwert verlangst du?«, setzte der Mafioso seine Fragereihe fort. »Du bist klug, du hast inzwischen begriffen, dass Informationen meine Bezahlung sind. Wieso der Vorschuss? Ich habe nicht darum gebeten. Was willst du hier?«
Gabriel schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. Als Greystones Blick dorthin schnellte, stieg ihm die Hitze in die Wangen.
Mit angehaltenem Atem schüttelte er den Kopf und zog ihn zurück. »Das kann ich Ihnen noch nicht sagen«, murmelte er. »Lassen Sie mich im Meeting dabei sein.«
Greystone lachte auf. »Hast du den Verstand verloren? Wieso sollte ich dich zu einem Mitwisser machen?« Er schnipste gegen Gabriels Stirn, dass es zwiebelte. »Ohne dir danach eine Kugel in den Kopf zu jagen?«
Gabriels Nackenhaare stellten sich auf. »Ich bin aus freien Stücken hier«, betonte er mit bebender Stimme, holte tief Luft und sammelte sich, ehe er sich mahnte, sachlich zu antworten: »Als ich von dem Hinterhalt erfahren habe, hätte ich direkt zu Morello gehen können, oder nicht? Ich hätte ihm Informationen geben können, die Sie geschwächt hätten. Zu Verhandlungen mit dem Präsidenten und zu Ihrer Vorliebe für Omegas aus dem Pearls. Ich hätte ihm geraten, dort zuerst zuzuschlagen.« Während Greystone mit den Zähnen knirschte und ihn anfunkelte, als wollte er ihn in der Luft zerreißen, rückte Gabriel vorsichtshalber ein Stück von ihm ab. »Ich hätte mich verschanzen oder zurück nach England gehen können«, fuhr er tapfer fort, »und Sie hätten nie gewusst, wer Morello half, sich Ihr Imperium unter den Nagel zu reißen.« Störrisch reckte er den Kopf. »Aber ich bin hier. Wieso sollte ich mich Ihnen freiwillig ausliefern, wenn da ein Alpha wäre, der sich ohnehin danach sehnt, sich die Finger schmutzig zu machen? Wieso sollte ich mich ins Schussfeuer werfen? Gegen Sie und Ihren Clan kann ich nur verlieren. Morello könnte mir nichts bieten, um das Risiko einzugehen, und er kann mich nicht erpressen. Hier ist niemand, den ich liebe. Er weiß nicht einmal, wer ich bin.«
»Also was willst du hier?«, knurrte Greystone. »Wenn du nicht die Farce bist, die ich nicht durchschaue, wieso bist du hier?«
Gabriel biss sich auf die Zunge. Noch nicht. Er konnte es nicht beantworten. Es war ein Drahtseilakt, aber wenn er es richtig spielte …
»Versprechen Sie mir, dass Sie mich beim Meeting dabei sein lassen«, forderte er eisern. »Ich gebe Ihnen die Informationen, die Sie brauchen. Und im Gegenzug nenne ich Ihnen danach meinen Preis.«
Der Verbrecherfürst hob eine Augenbraue. »Du strapazierst meine Geduld, Gabriel. Sollte mir nicht gefallen, was du zu sagen hast oder was du als Gegenleistung verlangst …«
Wieder schnipste er gegen Gabriels Stirn.
Obwohl er innerhalb kurzer Zeit so viele Morddrohungen von Greystone erhalten hatte, dass sein Magen ganz verkrampft war und ihm schlecht wurde, zwang sich Gabriel zu einer tapferen Ausstrahlung. Tief atmete er durch, um sich zu beruhigen und zugleich nicht so zu wirken, als würde er unter dem Druck zusammenbrechen. Er musste stark genug aussehen, damit ihn Greystone ernst nahm.
»Vertrauen Sie mir«, bat er leise.
Davon wirkte sein Gegenüber nicht sonderlich angetan. »Und wieso sollte ich das tun?«, fragte er hämisch.
»Weil ich loyal bin.«
»Nicht mir gegenüber.«
Als er den Blick aus dem Fenster wandte, als wäre das Gespräch hier beendet, entwich Gabriel ein provokantes: »Wer sagt das?«
Greystone so sah ehrlich verwundert zu ihm zurück, dass Gabriel errötete. Er konnte nicht glauben, dass er es gerade tatsächlich von sich gegeben hatte.
Es war schwer zu sagen, wie der Alpha darüber dachte. Dessen Stirn hatte sich in tiefe Falten gezogen. »Du wirst am Anfang des Meetings deine Informationen mit uns teilen und danach mit einem meiner Bodyguards in einen separaten Raum gehen, während ich darüber entscheide, was ich mit dir anstellen werde«, entschied Greystone.
»Ich wollte dabei sein.«
»Wenn du darauf bestehst, bezahlst du das mit deinem Leben.«
Gabriel sog scharf die Luft ein. »Was ist mit meinem Informationsvorschuss?«
»Wird gegengerechnet«, erwiderte der Mafiaboss schlicht. »Betrachte es als Preis für meine gnädige Zurückhaltung der letzten Minuten.«
Gabriel wollte sich echauffieren, doch er zwang sich, zu schweigen. Er wusste, dass er sich weit aus dem Fenster gelehnt hatte, und wollte nicht riskieren, dass Greystone seine Drohung wahrmachte.
»Ich kann dich nicht danach draußen herumlaufen und Wissen verbreiten lassen, das du im Meeting aufgeschnappt hast. Nicht solange ich mir bei dir nicht sicher sein kann«, fuhr Greystone fort. Er besah seine Fingernägel. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Nichts Persönliches«, setzte er gedehnt hinzu und schenkte ihm ein teuflisches Lächeln. »Immer noch Lust, dabei zu sein? Du kannst deinen Vorschuss auch gegen Freiheit eintauschen. Dann setzen wir dich an der nächsten Straßenecke ab.«
Er prüfte ihn, wurde Gabriel klar. Greystone prüfte ihn. Seine Entschlossenheit, seine Belastbarkeit und seinen Glauben an seine eigene Wahrheit.
Entschieden schüttelte Gabriel den Kopf. »Nein.«
»Nein?«, wiederholte Greystone und seine Lippen verzogen sich zu einem salbungsvollen Schmunzeln. »Ich muss zugeben, dass du mich überraschst, Gabriel«, säuselte er. »Hat dich New York bereits so verzweifelt gemacht? Ist es nun ein baldiges Ableben oder der Adrenalinrausch, den du dir wünschst?«
Verbissen schüttelte Gabriel den Kopf erneut. »Weder noch.«
♣
Gabriel war nicht von langer Hand geplant an die Informationen gekommen. Es war vielmehr einer Reihe glücklicher Zufälle zu verdanken gewesen, als hätte ihn das Schicksal darauf stoßen wollen, damit er das neue Wissen zu seinem Vorteil nutzte.
Die fremde Bar, die er vor ihrem Zusammentreffen aufgesucht hatte, hatte Morello gehört. Sie war voll gewesen, vorrangig mit Alphas und Betas. Omegas hatte Gabriel keine gesehen und er hatte geahnt, dass es daran gelegen hatte, dass keine Security-Alphas an den Ausgängen gestanden hatten. Ein Ort, an dem ein Omega keinen zusätzlichen Schutz hatte, bot offensichtlich nicht ausreichend Sicherheit, um sich hineinzuwagen. Gabriel war es egal gewesen. Er hatte sich an den Tresen gesetzt, sich ein Bier bestellt und es getrunken, während er versucht hatte, nicht allzu genau darüber nachzudenken, in welchen Punkten ihn sein aktueller Job aufregte und wie erniedrigend es war, von dem Assistenten des Präsidenten zum Empfangsmitarbeiter einer winzigen Firma degradiert worden zu sein. Gabriel hatte im letzten Bewerbungsgespräch seine drei größten Stärken aufzählen sollen. Er hatte Ehrgeiz, Loyalität und Anpassungsfähigkeit genannt – und sich dann während der Tage am Empfang gefragt, inwieweit ihm das dort überhaupt von Nutzen wäre. Heillose Unterforderung war noch das Netteste, was er in seinem neuen Beruf empfunden hatte.
Neben ihm waren zwei Alphas in ein hitziges Gespräch vertieft gewesen, doch erst als Gabriel den Namen Greystone gehört hatte, war er hellhörig geworden. Er hatte gelauscht, wie sie miteinander getuschelt hatten, angespannt und als fürchteten sie Zuhörer.
Es hatte ihn aufgewühlt, dass er selbst in einer Bar, die nicht dem berüchtigten Verbrecherfürsten gehörte, keine Ruhe vor ihm hatte. Ihm war wieder eingefallen, wie abfällig der Alpha reagiert hatte, als er ihn um einen Job gebeten hatte.
Greystone glaubte also, dass Gabriel nicht das Zeug dazu hatte? Dass er nicht von Nutzen sein konnte? Er hatte sich die ganzen letzten Jahre ununterbrochen mit Alphas herumgeärgert, hatte sie in Richtungen gelenkt, die dem Präsidenten vorgeschwebt waren, hatte sich Methoden angeeignet, um an sein Ziel zu kommen.
Anpassungsfähigkeit , hatte sich Gabriel gemahnt.
»Hey«, hatte er gesagt und den beiden Alphas, die skeptisch die Köpfe gehoben und sich dann sichtlich entspannt hatten, als sie ihn als Beta ausgemacht hatten, ein Lächeln geschenkt. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen«, hatte Gabriel gesäuselt, mit so viel Koketterie, wie er sich hatte überwinden können. »Ich bin neu in der Stadt. Kommen Sie öfter hierher?«
♣
Das entschiedene »Nein« durchschnitt die Luft wie ein scharfer Dolch.
Gabriel knirschte mit den Zähnen. »Wieso nicht?«, fragte er und ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Ich habe bewiesen, dass ich mich an Ihr Umfeld anpassen kann. Jemand wie ich fällt nicht auf. Niemand verdächtigt mich. Ich kann Wissen beschaffen, ohne Aufsehen zu erregen.«
Das Meeting war beendet. Gabriel hatte vor versammelter Alpha-Gruppe die Informationen weitergegeben, die die Alphas in der Bar an ihn weitergetratscht hatten, um ihn zu beeindrucken. Dass die O’Connors der Clan waren, der sich mit den Italienern verbinden wollte. Dass sie die Aufgabe hatten, eines von Greystones Casinos zu besetzen und sich dort zu verbarrikadieren. Während sie Greystone und seine Leute in Schach hielten, wollte Morello mehrere Angriffe gleichzeitig starten, in Hotels, Bars, Restaurants. Er wollte mit den großen anfangen, die Greystones Ruf am meisten schädigen und eine einschüchternde Wirkung bei den verbündeten Clans haben würden.
Das alles hatten die Alphas aus Morellos Clan weitererzählt, mit dem Versprechen, bald zum mächtigsten Clan der Stadt zu gehören. Sie hatten ihre Muskeln spielen lassen und er hatte sich beeindruckt gegeben. Dann war er unter einem Vorwand verschwunden und hatte Greystone angerufen. Auch wenn der Verbrecherfürst nicht ans Handy gegangen war, war es Gabriel doch gelungen, es brühwarm an ihn weiterzugeben, nur Stunden nachdem er sich die Informationen erschlichen hatte. Trotzdem war es dem Verbrecherfürsten nicht genug, um ihm eine Chance zu geben.
»Ich sagte Nein«, fuhr er ihn an. »Ein Omega ist für diese Art von Beruf nicht gemacht.«
»Ich will keinen Omega-Job«, insistierte Gabriel. »Lassen Sie mich als Beta arbeiten.«
Er hatte die wenigen Stunden im Meetingraum mit Greystone und Emil vor ein paar Tagen weitaus mehr genossen als die Woche im eintönigen Büro. Nicht alles davon, freilich. Das Umfeld hatte ihm Angst gemacht, Emils anzügliche Blicke waren einer Belästigung gleichgekommen und die Themen, die besprochen worden waren, hatten seine Moralvorstellungen und seinen ethischen Kodex herausgefordert. Aber seine Aufgabe hatte einen Nutzen gehabt, er war Teil von etwas Großem gewesen. Die Erfahrung war seinen Tagen beim Präsidenten am nächsten gekommen und er wollte lieber das, als vor Langeweile am Empfangstresen einzugehen.
Greystone war der Einzige gewesen, der ihm eine Chance gegeben hatte. Arbeiteten sie zusammen, konnte Gabriel vielleicht sogar auf den Schutz des Alphas zählen, der auch den anderen Omegas zuteil wurde. Was mehr konnte er sich von einem Arbeitgeber wünschen als eine faire Behandlung, Sicherheit und anspruchsvolle Aufgaben?
Aber obwohl Gabriel aus sich herausgegangen war und Greystone mit seinen Informationen Zeit erkauft hatte, um sich auf diesen Coup seines ärgsten Feindes vorzubereiten, blieb dieser eisern.
»Ich brauche keinen Assistenten«, sagte er schneidend. »Du bist ein Risiko.«
Gabriel biss sich auf die Unterlippe. Selbst jetzt noch musste ihn Greystone mit Worten erniedrigen. Ihm das Gefühl geben, nicht genug zu sein. Bittere Galle stieg in ihm auf, während er sich für seine Blauäugigkeit schalt. Was hatte er erwartet? Dass man ihn mit offenen Armen empfangen würde?
Gabriel senkte den Blick auf die Tischplatte. Sie hatten den Meetingraum für sich. Er saß an dem einen Ende der langen Tafel, direkt bei der Tür. Greystone war vom Kopfende gar nicht erst aufgestanden, als er die anderen hinausbefohlen und nach ihm verlangt hatte.
»Solange du Blocker nimmst, kannst du leicht vergiftet werden«, wehte seine Stimme über den Tisch. »Hast du das vergessen? Die Leute in meinem Milieu warten doch nur darauf, dass ich mir jemanden anschaffe, den man so leicht beseitigen kann. Du kannst dich nicht länger als Beta ausgeben, weil die Gerüchte dank Emil und seiner Gang bereits bis in die untersten Schichten vorgedrungen sind. Sobald dich jemand erkennen oder auch nur vermuten würde, dass du für mich arbeitest, wärst du geliefert.«
Gabriel kaute heftiger auf seiner Unterlippe herum. Daran hatte er nicht gedacht. Er würde die Blocker absetzen müssen, wenn er für Greystone arbeiten wollte? Das würde ihn Überwindung kosten. Nicht weil er etwas gegen seine wahre Natur hatte, doch die Vorteile der Blocker waren nicht von der Hand zu weisen. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, dass er seine Instinkte besser unter Kontrolle hatte, ihn Omegas nicht als Konkurrenz sahen und er keine Hitze bekam. Er mochte es, keine unangenehme Aufmerksamkeit der Alphas auf sich zu ziehen. Auf dieses Leben, das deutlich weniger von Trieben bestimmt war, wollte er ungern verzichten. Aber wenn das der Preis für einen erfüllenden Job war? Die Alternative wäre eine Ehe und auch da müsste er die Blocker absetzen – wenigstens lang genug, um seinen ehelichen Pflichten nachzukommen und Kinder in die Welt zu setzen. Ihm lief ein unwohler Schauer über den Rücken.
»In Ordnung«, murmelte er und hob zögernd den Kopf, um den Mafioso anzusehen, der am anderen Ende der Tafel die Arme vor der Brust verschränkt hatte. »Ich setze die Blocker ab.«
Greystones dichte Augenbrauen sanken tief herunter. »Nein«, wiederholte er zähneknirschend. »Du wirst nicht für mich arbeiten. Auch ohne Blocker bist du ein Risiko. Gerade dann.«
Seine Widersprüchlichkeit war so unfair, dass es Gabriel aufwühlte. Egal, was er tat, es war Greystone nicht genug.
»Ich bin gut«, beharrte er. »Wieso geben Sie mir keine Chance?«
»Ich weiß, dass du gut bist!«, donnerte Greystone. »Du bist kompetent und engagiert. Aber das ist nicht das Thema!«
Röte schoss Gabriel in die Wangen. So viel Anerkennung hatte er nicht erwartet. Vor allem nicht jetzt, nachdem ihm Greystone so deutlich klargemacht hatte, dass er ihn nicht einstellen wollte.
Zaghaft hakte er nach: »A-also wieso wollen Sie nicht …?«
»Verdammt noch mal!«, polterte der Alpha, stand auf und warf wütend und in voller Absicht seinen Stuhl um.
Gabriel zuckte zusammen. Mit großen Augen sah er dabei zu, wie sich Greystone durchs Haar fuhr und in langen Schritten die Tafel entlangging, ehe er mit dem Zeigefinger auf ihn deutete.
»Du gehörst hier nicht her«, brauste er auf, während er näherkam. »Diese Welt ist nichts für dich. Du glaubst, nur weil es dir gelungen ist, dir Informationen zu erschleichen, bist du jetzt ein Teil davon?«
Seine großen Hände knallten vor Gabriel auf die Tischplatte. Erschrocken zuckte er zurück.
»Mach dich nicht lächerlich!«, schnarrte Greystone, der sich zu ihm heruntergebeugt hatte. Sein finsterer Blick schien ihn auf dem Stuhl festzupinnen. »Du bist der verzogene Sohn einer idyllischen Vorstadtfamilie. Verwöhnt von den Träumen der Mittelschicht, die dir eingebläut hat, dass du alles werden kannst, was du willst. Doch das ist eine Illusion. Je eher du das begreifst, desto besser.« Er richtete sich wieder auf und sah ihn von oben herab an. »Ich will dich hier nicht.«
Gabriels Entrüstung war mit jedem weiteren Wort gewachsen. Der Alpha sprach über sein Leben, als wüsste er irgendetwas von ihm. Dabei hatte er keine Ahnung! Keine Ahnung davon, wie anstrengend es war, sich dem Erwartungsdruck seiner Familie zu stellen. Ein Alpha, der alles erreichen konnte, wollte ihn kleinhalten, weil er ein Omega war?
»Tja, mich will auch sonst niemand«, fauchte er und erhob sich. »Sie sind der Einzige, der mich nicht in eine Schublade gezwungen hat. Der Einzige, der … mir eine Chance gab«, endete er matt.
»Das war offensichtlich ein Fehler«, sagte der Mafioso geringschätzig. »Du weißt doch gar nicht, was es heißt, jeden Tag da raus zu gehen und mit dem baldigen Ableben zu rechnen. Oder Schlimmerem.«
Nun war es an Gabriel, abfällig zu schnauben. »Ich bin ein Omega, Mr. Greystone«, erinnerte er ihn mit einem freudlosen Lächeln. »Egal, wie viele Blocker ich nehme, ich rechne bei jedem Alpha in meiner Nähe mit dem Schlimmsten. Ich gehe nachts nicht allein raus. Ich meide große Menschenmengen. Ich kenne die tägliche Gefahr und die stetige Angst davor.«
Greystones Blick flackerte. Einen Moment hätte Gabriel schwören können, etwas wie Mitgefühl darin zu sehen. Doch dann verhärtete sich seine Miene.
»Genau deshalb bist du nicht geeignet«, behauptete er kühl und trat einen so forschen Schritt vor, dass Gabriel erschrocken zurückwich. »Du glaubst jetzt schon, in Gefahr zu schweben, in deiner kleinen, behüteten Welt. Meinst du wirklich, du kannst dem Druck standhalten, der auf dich zukommt, wenn du für mich arbeitest?«
Entschieden drängte er Gabriel zurück, der rückwärts stolperte, einen unsicheren Schritt nach dem anderen, bis er plötzlich die Wand im Rücken spürte. Er schluckte. Greystone hatte ihn erneut in die Enge gedrängt.
»Glaubst du, du kannst mir standhalten?«, raunte der Alpha dunkel.
Mit angehaltenem Atem starrte ihn Gabriel an. Seine Knie waren schon wieder weich geworden und in seinem Unterleib wurde es ganz warm. Die Hitze kroch langsam seine Brust hinauf, begleitet von einem rastlosen Kribbeln.
Greystone, der sein Schweigen offensichtlich als Angst deutete, nickte. Er wirkte ziemlich selbstgefällig, als er einen Schritt zurücktrat und sagte: »Das habe ich mir gedacht.«
Verbissen schüttelte Gabriel den Kopf. »Ich kann das!«, insistierte er.
»Lachhaft.«
Frustriert ballte Gabriel die Hände zu Fäusten. »Geben Sie mir eine Chance, es Ihnen zu beweisen«, verlangte er. »Nur eine Chance, eine einzige.«
Erhaben sah Greystone auf Gabriel herab, der den Blick entschlossen hielt, bis sein Gegenüber endlich einzulenken schien.
»Na schön«, sagte er, legte eine Hand auf Gabriels Schulter und schob ihn zum Stuhl zurück.
Das warme Kribbeln entsprang dort, wo ihn Greystone berührte, von Neuem. Gabriels Magen schlug einen Purzelbaum und er war sich nicht sicher, ob es an der Nähe lag oder daran, dass er ihn tatsächlich überredet hatte. Greystone würde ihn einstellen!
»Setz dich«, sagte er überflüssigerweise und ließ sich auf dem Stuhl neben ihm nieder. Nachdem er die Beine elegant überschlagen, die Arme vor der breiten Brust verschränkt und sich zurückgelehnt hatte, verkündete er: »Du bekommst eine Woche. Überzeugst du mich nicht, bist du raus.«
Gabriel nickte zögernd.
»Ich werde dich im Auge behalten. Wenn in dieser Zeit oder darüber hinaus irgendetwas an fremde Ohren dringt, was den eingeschworenen Kreis nicht verlassen sollte, werde ich dich als Ersten verdächtigen. Ganz gleich, wo du dann bist, ich werde dich jagen, dich finden und dich dafür büßen lassen.« Greystones Miene verfinsterte sich. »Darüber hinaus müssen wir an deiner Naivität arbeiten.«
Schon wieder ein Seitenhieb.
»Ich bin nicht naiv«, widersprach Gabriel leise.
Greystone schmunzelte spöttisch. »So? Und was war das während unserer letzten Treffen? Bewusste aber schlecht platzierte Verführung? Spielst du gern eine Jungfrau in Nöten?«
Gabriel lief so rot an, dass seine Wangen glühten. Teils wegen der anrüchigen Worte, teils vor Entrüstung. »Bitte?«, fragte er fassungslos. »Weder noch! Ich habe gar nichts platziert und ich bin trotzdem nicht naiv!«
Die Mundwinkel des Mafiabosses zuckten.
Mehr Anzeichen bekam Gabriel nicht, bevor sich der Alpha auf ihn stürzte. Ein erschrockener Aufschrei entwich ihm, als sich der kräftige Körper auf ihn warf, sein Stuhl kippte und sie beide auf dem Teppich landeten. Hart kam Gabriel auf dem Rücken auf. Er spürte das zusätzliche Gewicht, das ihn runter drückte.
Die große Gestalt schmiegte sich warm an ihn.
Gabriel blinzelte. Seine Brille war zu Boden gefallen, doch so nah, wie Greystone war, brauchte er sie nicht. Erschrocken starrte er zu ihm auf, die Handgelenke neben dem Kopf von starken Händen festgepinnt, während ihn der Alpha interessiert beobachtete, als wartete er auf eine Reaktion. Seine Augen waren so warm. Ein schokoladiges Braun, das Gabriel hypnotisieren wollte. Außerdem mochte er diese Nase. Sie war groß und gerade. Prominent. Und nun, aus der Nähe, erkannte er, dass Greystones Unterlippe überraschend voll war. Das war ihm vorher nie aufgefallen. Oder die Art, wie erste Silbersträhnen das schwarze Haar durchzogen, obwohl der Verbrecherfürst in seinen Dreißigern sein musste. Es verlieh ihm etwas Edles.
»Naiv«, hauchte Greystone spöttisch. »Du begibst dich bereitwillig allein mit einem Alpha, von dem du weißt, dass er zu Übergriffen neigt, in einen geschlossenen Raum und bist nicht einmal in der Lage, dich dagegen zu wehren. Du bist nicht nur so unvorsichtig, dass es dich früher oder später noch den Kopf kostet, du hast auch schlechte Reflexe.«
Bei der Häme in seiner Stimme erlosch der Zauber, der Gabriel für den Bruchteil einer Sekunde gefangen gehalten hatte. Stattdessen flammte neue Wut in ihm auf. Gegen den kräftigen Griff des Alphas ankämpfend, wand er sich unter ihm, um der Nähe zu entgehen, die ihn so durcheinanderbrachte – und um die einzige Bewegung durchzuführen, die jemanden in seiner Situation noch retten konnte. Doch er hatte es gerade geschafft, sein Knie so zu schieben, dass es treffen würde, als etwas in Greystones Augen aufblitzte und er sich aufstützte.
Als Gabriel bereits aufatmen wollte, griff er ihn an der Hüfte und wirbelte ihn herum, sodass sich Gabriel auf dem Bauch wiederfand, das Gesicht in den Teppich gedrückt. Die Hände über seinem Kopf zusammengeführt und auf den Boden gepinnt, spürte er gleich darauf ein Gewicht auf seinem Hintern, das ihn aufkeuchen ließ. Tausende Eindrücke stürmten auf ihn ein. Erinnerungen an Gespräche auf Balkonen und in geheimen Hinterzimmern auf Sofas in Prag. Momente, die zu intim gewesen waren. Augenblicke, die ihn verstört hatten. War er selbst schuld, dass er den Jagdtrieb des Alphas abermals getriggert hatte? All die letzten Wochen hatte es den Anschein gehabt, er sei dem Mafiaboss egal. Aber jetzt, da sie allein waren und sich ihm Greystone erneut aufdrängte, war es, als hätte er darauf nur gewartet. Auf eine neue Gelegenheit, Gabriel zu erniedrigen.
Etwas in ihm brach. Etwas, das sich die letzten Wochen von dummen Hoffnungen und Wunschträumen genährt hatte. Das ihm vorgegaukelt hatte, dass alles anders werden könnte.
Als er Greystones Atem an seinem Ohr spürte, zuckte Gabriel mit vor Schmach heißen Wangen zusammen.
»Präg es dir ein«, raunte ihm der Alpha ins Ohr.
Er konnte kaum atmen. Der Kloß in seinem Hals wollte ihn schluchzen lassen und als sich eine Hand unter sein Hemd stahl und seinen unteren Rücken entlangstrich, war sie gleichzeitig willkommen und verhasst. Er wollte mehr davon, aber nicht so. Nicht auf eine Weise, die ihn vorführte und ihn verlachte. Die ihn zum Spielball machte, zum Gespött.
»N-nicht«, bat er und hasste es, wie seine Stimme klang. Weinerlich, brüchig. Gar nicht so souverän, wie er gern klingen würde.
»Merk dir, wie du dich gerade fühlst«, beschwor ihn Greystone, ohne auf Gabriels Gestammel einzugehen. »Spür, wie unangenehm es ist. Du wirst ab sofort nicht mehr so leichtfertig einen Raum betreten. Ohne Blocker und ungebunden bist du Freiwild im Untergrund. Wenn du allein unter Alphas bist, wird dir keiner helfen können.«
Gabriel stellten sich die Nackenhaare auf, als er begriff, dass sich ihm Greystone nicht aus sexuellem Verlangen aufzwang, sondern ihm eine Lektion in Sachen Naivität erteilte. Und dass die Aussichten, die er malte, überaus düster waren. Als Gabriel für den Präsidenten gearbeitet hatte, hatte er sich darüber nie Sorgen machen müssen. Überhaupt war es in den meisten Unternehmen heutzutage keine große Sache mehr, mit Alphas zusammen in einem Raum zu sein. Sicher, sexuelle Belästigung gab es überall. Aber die beschränkte sich für gewöhnlich auf einen Klaps auf den Hintern und anzügliche Bemerkungen.
Das, was Greystone andeutete, hingegen … Gabriel wand sich nervös unter ihm.
Als sei das das Stichwort, verließ ihn das Gewicht, das ihn eben noch unten gehalten hatte, und seine Hände wurden freigegeben.
Irritiert langte Gabriel nach seiner Brille und sah zu Greystone auf. Er ließ von ihm ab? Einfach so? Gabriel wollte darüber erleichtert sein. Trotzdem sackte sein Magen ein Stück ab, als wäre er enttäuscht.
Mit einer auffordernden Handbewegung bedeutete ihm Greystone, aufzustehen, und hob den Stuhl auf.
Während sich Gabriel peinlich berührt die Brille auf die Nase schob, sich erhob und an seinem Anzug herumzupfte, warf ihm der Alpha einen sehr ernsten Blick zu.
»Mir ist vollkommen bewusst, wo deine derzeitigen Schwächen liegen«, sagte er sachlich, als wäre Gabriel eine Tabelle, die er analysierte. Er hatte sich halb auf die Tischkante gesetzt und die Hände in die Hosentaschen geschoben. »Campbell hatte einen antiautoritären Führungsstil. Ich werde dir nicht so viel durchgehen lassen wie er.«
Gabriel nickte langsam und setzte sich. Ja, das hatte er mitbekommen. Von der letzten Demonstration klopfte sein Herz noch immer schnell in seiner Brust.
»Darüber hinaus hast du offensichtlich keine Ahnung davon, wie man sich in meinem Milieu verhält«, fuhr Greystone kühl fort. »Das wird sich ändern müssen.« Er schmunzelte gefährlich. »Das erhöht auch deine Überlebenschancen in meiner Nähe.«
»Ich kann mich anpassen«, beteuerte Gabriel tapfer, weil er ahnte, was für ein Bild Greystone von ihm hatte. Ohne Frage hatten sie einen schwierigen Start gehabt. Und er hoffte, dass Annäherungen wie eben keine Regelmäßigkeit werden würden. Es triggerte emotionale Reaktionen, die ihn von seiner Professionalität ablenkten. Dann wollte er den Tagträumen nachhängen, die nicht nur sinnlos, sondern auch fatal für ihre Zusammenarbeit wären. Er würde lernen müssen, seinen neuen Beruf und die Gedanken, die in Greystones Nähe auf ihn einstürmten, zu trennen.
»Lass es mich noch einmal klarstellen«, sagte der Mafiaboss ruhig. »Du willst eine Beta-Position, also werde ich dich wie einen behandeln, egal ob mit Blockern oder ohne. Die Rollenverteilung meiner anderen Omegas ist bei den Aufgaben, die auf dich zukommen, hinderlich. Ich erwarte von dir nicht mehr und nicht weniger als deine von dir so hoch angepriesene Loyalität und, was noch wichtiger ist, absolute Verschwiegenheit.« Er machte eine kleine Pause, ehe er hinzusetzte: »Wenn du für mich arbeitest, stehst du unter meinem Schutz. Das bedeutet, dass du auch den Schutz meiner Security bekommst. Die Alphas sind allesamt gebunden und mir loyal. Übergriffe sind unwahrscheinlich. Sollte es dennoch dazu kommen, wirst du mich umgehend informieren, damit ich entsprechend handeln kann.«
Gabriel nickte. Das alles klang fast zu gut, um wahr zu sein. Es war sogar mehr, als er gewollt hatte.
»Wann kann ich anfangen?«
Greystone hob eine Augenbraue. »Ich habe am Sonntag ein Treffen, bei dem du mich begleiten kannst. Komm morgen gegen zwölf hierher, dann besprechen wir die Einzelheiten.«
Als Gabriels Herz nun schneller schlug, war es in aufgeregter Vorfreude. Endlich würde er wieder etwas tun, in dem er gut war. Er würde am Samstagmorgen noch das Kündigungsschreiben an die Firma verschicken, die ihn die ganze Woche über so deutlichgemacht hatte, was er nicht wollte. Neue Motivation durchströmte ihn. Am Abend war er in die fremde Bar gegangen, um vor seiner Situation zu fliehen. Er hätte sich nie träumen lassen, dass es ihm gelingen könnte, so schnell eine Gelegenheit beim Schopf zu packen. Stolz war er schon, dass seine Strategie aufgegangen war. Und so beängstigend Greystone zwischendurch auch gewesen war, hatte Gabriel nun doch das Gefühl, dass seine nächsten Tage aufregend werden würden. Er würde dafür sorgen, dass Greystone seine Entscheidung nicht bereute.
Gabriel
»Wie ist der neue Job?«, schallte Mamas Stimme aus dem Lautsprecher. Gabriel hatte sie auf laut gestellt, um gleichzeitig seinen Anzug bügeln zu können.
»Gut«, sagte er einsilbig und fuhr konzentriert mit dem heißen Eisen eine Bügelfalte an seiner Hose entlang, damit er sich heute von seiner besten Seite zeigte.
»Hast du viel zu tun?«, fragte sie. »Sind deine Kollegen nett zu dir?«
»Ja, sie sind alle sehr nett«, log Gabriel. Im Kopf war er bei seinem Treffen am Mittag.
Er konnte es immer noch nicht fassen, dass sein Plan aufgegangen war. Darüber war er viel glücklicher, als er sein sollte. Er würde den Teufel tun und seinen Eltern erzählen, dass er eben beim Empfangsjob die Kündigung eingereicht hatte. Sie würde sich schreckliche Sorgen um ihn machen, wenn er ihnen erzählte, dass er ab sofort in dubiose Machenschaften verstrickt war. Wegen des kriminellen Hintergrunds war Gabriel nicht beunruhigt. Greystone bewegte sich geschickt genug in einer Grauzone, damit der Präsident Geschäfte mit ihm machte. Vor dem Gesetz würde sich Gabriel nicht fürchten müssen.
Doch er wollte seinen Eltern auch nicht erzählen, dass er ab sofort mit Alphas in Kontakt wäre, bei denen Selbstverständlichkeiten wie › Respekt gegenüber Omegas ‹ oder › Berührungen nur im gegenseitigen Einvernehmen‹ noch nicht angekommen waren.
Diese neue Tätigkeit würde eine Herausforderung werden. Aber wenn er auch nur einen weiteren Tag am Empfang stehen und höflich lächeln musste, würde er den Verbrecherfürsten um einen Gnadenschuss bitten.
»Wie hieß das Unternehmen nochmal?«, riss ihn Ma aus den Gedanken. Papierrascheln drang durch den Telefonhörer. Sie saßen beim Nachmittagstee, während bei Gabriel noch Vormittag war. »Wenn wir dich in New York besuchen, können wir es uns ja vielleicht mal zusammen ansehen.«
Gabriel lief ein heißkalter Schauer über den Rücken. »Was?«, fragte er und lachte unangenehm berührt. »Ihr wollt mich besuchen?«
»Na, hör mal!«, echauffierte sich Ma. »Vorher haben wir dich nicht zu Gesicht bekommen, weil du ständig in der Weltgeschichte unterwegs warst, und jetzt wohnst du auf der anderen Seite der Erde.« Jammernd setzte sie hinzu: »Ich seh meinen Gabbie so selten.«
Gabriel verzog das Gesicht bei dem alten Kosenamen. »Ich denke nicht, dass ich schon Urlaub beantragen kann«, gab er sachlich zu bedenken, während er nach einem Vorwand suchte, der es ihm ermöglichte, seinen Eltern einen spontanen Besuch auszureden.
»Dann kommen wir eben nur kurz vorbei«, ließ sich Mum im Hintergrund vernehmen. »Wir können uns schon allein in New York beschäftigen. Und zum Mittagessen holen wir dich ab.«
»Ja und abends zeigst du uns die Stadt!«, ereiferte sich Mama begeistert. »Ich war noch nie in New York. Ihr sollt ein paar sehr schöne Theater am Broadway haben.«
Gabriel knirschte mit den Zähnen. »Lasst uns später darüber reden«, bat er, um Zeit zu gewinnen. »Ich muss Schluss machen.«
Nachdem sie aufgelegt hatten, atmete er tief durch. Dass der neue Weg, den er eingeschlagen hatte, so schnell auffliegen könnte, hatte er nicht vermutet. Wenn er sie noch für mindestens eine weitere Woche hinhalten konnte, kam er vielleicht mit einigen Notlügen davon. Schließlich stand nicht fest, wie viel länger ihn Greystone überhaupt an seiner Seite dulden würde.
Während Gabriel die Anzughose fertig bügelte, errötete er. ›An seiner Seite‹. Er schüttelte den Kopf und ging ins Bad, um sich unter die Dusche zu stellen. Es gab kein › an seiner Seite ‹. Je eher er sich von diesen unrealistischen Hoffnungen befreite und sich auf den Job konzentrierte, den er sich so hart erkämpft hatte, umso besser. Greystone hatte keine weiteren Annäherungen nötig. Momente wie der gestern auf seinem Teppich würden sich nicht wiederholen – und wenn, dann nur, um ihn in seiner Naivität vorzuführen.
Gabriel versuchte, es sachlich zu sehen und darüber erleichtert zu sein. Immerhin wusste er, dass er sich bei diesem Alpha keine Sorgen um Übergriffe machen musste. Nun, da er die Blocker nicht mehr nahm (heute Morgen hatte er bereits die erste Dosis ausgesetzt), kam es ihm entgegen, dass er einen besonderen Schutz genießen würde, ohne Hintergedanken fürchten zu müssen. Omegas rochen von Natur aus anziehend für die meisten Alphas. Ab sofort würde er jeden Tag ein wenig mehr Geruch abgeben. Er musste auf der Hut sein. Allein beim Gedanken daran fühlte er sich schon angreifbar. Hoffentlich machte Greystone sein Versprechen wahr.
Gedankenverloren stieg Gabriel aus der Dusche, trocknete sich ab und machte sich daran, den frisch gebügelten Anzug anzuziehen. Er würde dem Mafiaboss keinen Grund geben, an seiner gestrigen Entscheidung zu zweifeln, indem er zu spät oder nicht gut vorbereitet zu ihm käme.
♣
Gabriel konnte im Nachhinein nicht mehr genau sagen, was er erwartet hatte, als er zum ersten Treffen mit Greystone aufgebrochen war. Bestimmt nicht, dass das Büro im Financial District auch bei Tageslicht so sauber und gar nicht zwielichtig ausgesehen hatte. Noch weniger hatte er mit der Beta am Empfang gerechnet oder den wenigen Alphas auf den Gängen. Und am allerwenigsten damit, dass ihn Greystone in einem gewöhnlichen Meetingraum begrüßt hatte, wie sie Gabriel aus seiner Zeit bei Campbell kannte. Die Einführung in sein neues Aufgabenfeld und das Aushandeln der Arbeitskonditionen war so sachlich und neutral vonstattengegangen, dass er bis zum Ende einen Haken vermutet hatte. Doch da war keiner erkennbar gewesen. Er würde ein stattliches Gehalt bekommen, das beinahe an das beim Präsidenten heranreichte und an eine Verfügbarkeit rund um die Uhr geknüpft war. Das war er gewohnt. Weil Gabriel kein bewegtes Privatleben hatte, kam ihm das nur entgegen.
Außerdem hatte ihn sein neuer Chef informiert, dass er Urlaub bekäme, wenn er in seiner Hitze wäre. Greystone stellte die Omegas alle zwei bis drei Monate für fünf Tage frei, sodass sie ihre Hitzephasen zu Hause durchstehen konnten und danach sogar noch ein wenig Zeit hatten, sich davon zu erholen. Gabriel hatte darüber hinaus erfahren, dass die Omegas, die im Pearls arbeiteten, nicht nur deshalb so offensichtlich nach Omega rochen, weil sie es wollten. Unter Greystones Führung war die Einnahme von Blockern strikt verboten. Anscheinend war dieses Thema ein wunder Punkt. Gabriel vermutete, dass es in der Vergangenheit das eine oder andere Opfer gegeben hatte. Die Omegas der Konkurrenz mit Jujube auszuschalten und damit die Position des Feindes zu schwächen, schien eine so gängige Praxis im Untergrund zu sein, dass sich Gabriel die Nackenhaare aufstellten. Bei ihm war es ein Unfall gewesen. Wie konnte jemand einem anderen Menschen so etwas Grausames ganz bewusst antun?
Greystone hatte ihm auch auf einem Plan der Stadt gezeigt, welche Stadtteile und Einrichtungen unter seine Obhut fielen, welche zu verbündeten Clans gehörten und welche zu Feinden wie Morello. Er hatte ihn versprechen lassen, dass Gabriel nie wieder auf eigene Faust und ohne Schutz in das feindliche Gebiet lief. Offiziell war er jetzt Teil des Greystone-Clans – wenn auch auf Probe – und Greystone würde sich, wie er sagte, sicher nicht die Finger schmutzig machen, wenn Gabriel eine Guerillaaktion abzöge. Er nannte den Besuch in Morellos Bar unvorsichtig und waghalsig und befahl ihm, das in Zukunft zu unterlassen, wenn er nicht ernsthaft in Erwägung zöge, überzulaufen. In dem Falle würde ihn Greystone vorher eigenhändig mundtot machen, hatte er düster versprochen.
Abgesehen von den zahllosen direkten und indirekten Drohungen war das Gespräch beinahe angenehm gewesen.
Und als sie am nächsten Tag zum ersten Termin aufbrachen, fühlte sich Gabriel vorbereitet.
Das Treffen war offensichtlich eines der harmloseren. Greystone nahm ihn mit in eins seiner Fünf-Sterne-Hotels, traf sich dort mit den Managern und ließ ihn Protokoll führen. Später statteten sie einem Casino einen Besuch ab und das Einzige, was Gabriel an diesem Tag die Haare zu Berge stehen ließ, waren die Telefonate zwischendurch, sobald sie in der Limousine saßen. Der Mafiaboss bereitete seinen Gegenschlag vor. Er wollte Morello zuvorkommen. Dementsprechend angespannt war er während der Gespräche.
Als sie am Abend ins Büro zurückkehrten, war Gabriel von all den neuen Eindrücken reizüberflutet, befand allerdings, dass es hätte schlimmer sein können.
Auch die kommenden Tage verliefen ereignislos. Er begleitete Greystone zu Treffen mit Politikern, Lobbyisten und Managern seiner Etablissements. In all der Zeit herrschte zwischen ihnen ein so sachlicher Umgangston, dass es eine positive Überraschung war. Mehr als einmal wies ihn Greystone darauf hin, dass er bestimmtes Wissen nicht teilen durfte. Gabriel war mit Campbells Informationen leichtfertiger umgegangen, weil ein steter Austausch bei den Meetings für das entsprechende Vertrauen gesorgt hatte. Doch dort, wo ihn Greystone mitnahm, gab es kein Vertrauen. Jedes Wort war eins zu viel.
Gabriel passte sich daran an. Inzwischen hatte er verinnerlicht, dass Informationen für Greystone etwas waren, das sich kaum mit Gold aufwiegen ließ. Er wollte ihm keinen Grund geben, seine Drohungen wahr zu machen.
Im Laufe der Woche fragte er sich allmählich, ob sich die Welt eines Mafiabosses wirklich so sehr von der eines anderen Geschäftsmannes unterschied. Selbstverständlich hatte er gewusst, dass Greystone ausreichend legale Geschäfte betrieb, sonst wäre er vom Präsidenten niemals geduldet worden. Trotzdem hatte er mit mehr kriminellen Machenschaften gerechnet, mit mehr Blut, mit mehr … testosterongeladener Aggression. Nicht dass sich Gabriel das herbeigesehnt hätte, freilich. Aber er hatte Emil und die harten Verhandlungen mit ihm vor Augen. Dass das die Ausnahme wäre, erleichterte ihn.
Auch weil er über die Woche bemerkte, dass sich sein Körper veränderte. Die Blocker verloren ihre Wirkung jeden Tag ein Stück mehr. Seit dem Einstellungsgespräch mit Greystone hatte er sie nicht genommen. Seither fielen ihm stetig die wachsenden Veränderungen auf. Beispielsweise nahm er Alphas um sich herum instinktiv deutlicher wahr. Wachsam folgte ihnen sein Blick. Ihrer Reaktion merkte er wiederum an, dass er Pheromone aussandte. Die Art, wie sie ihn ansahen, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.
Der Einzige, der dagegen immun zu sein schien, war Greystone. Er behandelte ihn unverändert wie einen Beta, stellte ihn bei neuen Kontakten als seine rechte Hand vor und das reichte oft aus, damit sich ihre Gesprächspartner zwangen, ihn nicht weiter zu beachten.
Doch nicht nur seinen eigenen Duft bemerkte Gabriel deutlicher. Auch die Gerüche der anderen. Die blumige, zuckrige Süße der Omegas, die kühle, unaufdringliche Frische der Betas und den schweren, erdigen Moschusduft der Alphas. Nach all den Jahren unter dem Einfluss der Blocker kam er jetzt abends oft mit Kopfschmerzen nach Hause. Die penetranten Gerüche waren zu viel für ihn.
Er hoffte, dass er sich bald daran gewöhnte. Auch an den Duft des Sündenfürsten persönlich. Der Geruch der meisten Alphas war für Gabriel unangenehm, invasiv und fast schon eine Belästigung. Das allein war Grund genug, Abstand zu ihnen zu halten. Doch er hatte nicht geglaubt, dass Greystones Duft eine so verführerische Wirkung auf ihn haben könnte. Insgeheim hatte er gebetet, dass es nicht so kommen möge. Jetzt konnte er es nicht mehr leugnen: Gabriel mochte diesen Geruch mehr, als er sollte. Der warme Duft erinnerte ihn an ein gemütliches Lagerfeuer, Zartbitterschokolade und Karamell. Er harmonierte wunderbar mit der Note Old Spice, die Greystone wohl seinem Deo oder Rasierwasser zu verdanken hatte.
Mehr als einmal brachte Gabriel der Geruch während eines Meetings aus dem Konzept. Er begann, zu verstehen, wieso ihm die anderen Omegas nicht widerstehen konnten. Dass er regen Verkehr mit ihnen hatte, konnte Gabriel ebenso deutlich an ihm riechen – wenn er daran überhaupt einen Zweifel gehabt hätte.
Dennoch wurde der Duft über die Woche zu einer erdenden Konstante, wenn ihn die Gerüche der anderen Alphas einschüchtern wollten. Instinktiv hielt er sich näher an Greystone, sobald sie mit fremden Alphas in einem Raum waren. Solange er ihm dabei nicht zu nah kam und solange er eisern jegliche Fantasien von sich schob, half dieser Geruch dem nervösen Omega in ihm, trotz seines testosterongeladenen Umfeldes ruhig zu bleiben.
Als sie am Donnerstag in Greystones Büro den Termin durchgingen, zu dem sie gleich aufbrechen würden, wusste Gabriel den beruhigenden Effekt, den die Nähe des Alphas auf ihn hatte, umso mehr zu schätzen. Denn heute würde es rauer zugehen. Das hatte sein Boss bereits angekündigt. Und Gabriel war froh darum, dass sie gemeinsam hingehen würden. Solange er sich an die Regeln hielt, hatte er wenig zu befürchten. Weder von Greystone, noch von sonst einem Alpha in ihrem Umkreis.
Dennoch hielt er den Atem an, als ihn der Alpha durchdringend ansah.
»Sag mir ehrlich, ob du bereit dazu bist, Gabriel«, forderte er ihn auf. »Ich kann dich dort nicht gebrauchen, wenn du dir einen Fehler erlaubst.«
Eilig schüttelte Gabriel den Kopf. »Werde ich nicht«, beteuerte er und überflog abermals die Notizen, die er sich für das anstehende Gespräch gemacht hatte.
»Das hier ist deine letzte Chance, auszusteigen«, betonte Greystone. »Diese Leute sind gefährlich. Dein Überleben hängt davon ab, ob du dich, ohne zu fragen, an meine Anweisungen halten kannst.«
Tapfer hob Gabriel den Blick von seinen Notizen. »Das kann ich«, behauptete er, obwohl er sich nur schwer ausmalen konnte, was für Anweisungen das sein sollten. Die letzten Gespräche waren so harmlos verlaufen wie jedes Geschäftsmeeting beim Präsidenten. Wenn es der Untergrundfürst betonte, musste mehr dahinterstecken.
Greystone nickte finster. »Denk daran, dass Verschwiegenheit dein Überleben sichert.«
»Das ist mir bewusst, Sir.«
»Gut«, brummte sein Boss und wandte sich ab. »Dann komm.«
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Sie verließen das Gebäude und machten sich mit einer Handvoll Sicherheitsmänner auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt: dem Hinterraum eines heruntergekommenen Pubs. Es war nicht mehr auf Greystones Revier, so viel hatte Gabriel verstanden. Hier trafen sie sich mit Verbündeten, die den Pub zur Geldwäsche nutzten. Eine kleine, aber radikale Biker-Gang, die in der Öffentlichkeit vor allem für ihre Schlägereien und den regen Drogenhandel bekannt war.
Man ließ sie ohne viel Aufhebens ein und kaum, dass sie in dem kleinen Zimmer saßen, postierten sich Greystones Bodyguards wachsam im Raum, um seine Überlegenheit von Anfang an zu demonstrieren.
Sie mussten nicht lange warten. Keine zwei Minuten später kamen fünf Alphas hinein, drei Männer und zwei Frauen, setzten sich auf die anderen Stühle am runden Tisch, an dem Greystone und Gabriel bereits platzgenommen hatten, und nickten ihnen zu.
Die muskulöse Mittvierzigerin in der Mitte führte die kleine Gang gemeinsam mit ihren Geschwistern und Cousins an, wusste Gabriel. Sie hieß Margarethe, aber alle nannten sie Maggie. Und sie sah zum Fürchten aus. Jeder Zentimeter sichtbarer Haut war tätowiert und gepiercet, die Haare totgefärbt, brüchig und teilweise ausgefallen und ihr feistes Gesicht hatte mehr Falten, als es das in ihrem Alter haben sollte. Die Gang dealte mit Crystal Meth, hatte ihm Greystone vorhin gesagt. Offensichtlich konsumierte es die Anführerin auch selbst – und hatte einige Kämpfe einstecken müssen, wenn Gabriel ihre schiefe Nase, das lückenhafte Lächeln und die Narbe auf ihrer Wange richtig deutete.
»Na, sieh mal einer an«, riss ihn der Alpha, der sich neben ihn gesetzt hatte, aus seinen Beobachtungen. Es musste einer der Brüder sein, die Ähnlichkeit war verblüffend. Bei dem schmierigen Grinsen wurde Gabriel schlecht.
»Sie haben uns bereits ein Geschenk mitgebracht.«
Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Eilig senkte er den Blick und hörte zugleich, wie der Alpha tief einatmete. Sein Magen verkrampfte sich.
»Lassen Sie sich davon nicht irritieren, Freund«, sagte Greystone auf Gabriels anderer Seite mit kühler Jovialität. »Meinen Assistenten können Sie getrost ignorieren.«
Maggie lachte rau. »Schwachsinn! Wie sollen wir ihn ignorieren können?«
»So hübsch, wie du bist, Täubchen«, schnurrte die andere Alpha-Dame und betrachtete Gabriel unverhohlen lüstern. »Noch dazu riechst du überaus lecker.«
Maggies Bruder lehnte sich weiter herüber, hielt die Nase hoch und schnüffelte, als wollte er eine Witterung aufnehmen. Gabriel hatte Mühe, nicht instinktiv näher an Greystone heranzurücken. Wenn er seine Angst zu offen zeigte, würden sie das ausnutzen. Andererseits war er sich sehr sicher, dass die Alphas seine Furcht bereits riechen konnten.
»Wie wärs?«, säuselte der Alpha dreckig. »Du bleibst später noch und wir haben ein bisschen Spaß.«
Seine anrüchigen Worte machten Gabriel zunehmend nervös. Jetzt begriff er, wovor ihn Greystone vorhin gewarnt hatte. Er fühlte sich wie in einem Raubtierkäfig.
Von der Seite seines Bosses erklang ein Fingerschnippen. Aus den Augenwinkeln sah Gabriel, wie die Bodyguards hinter die Gangmitglieder traten, ihre Hinterköpfe packten und die Köpfe mit voller Wucht gegen die Tischplatten schlugen. Erschrocken zuckte er zurück, während reihum eindeutiges Knacken ertönte und schmerzerfüllte Aufschreie durch den Raum hallten.
Verstört und mit weit aufgerissenen Augen starrte Gabriel auf die fremden Alphas, denen Greystone gerade so kaltblütig die Nasen hatte brechen lassen. Ihre Schreie wandelten sich in gequältes Stöhnen. Blut lief auf den Tisch und der metallische Geruch triggerte den ängstlichen Omega in Gabriel. Eisern hielt er sich davon ab, aufzuspringen und aus dem Raum zu fliehen. Er biss sich auf die Zunge, um sich zu beherrschen – wenngleich seine Atmung schnell und flach wie die eines Kaninchens ging.
Greystone gab seinen Leuten ein Zeichen. Sie ließen die Alphas los und traten wieder zurück. Er lächelte gefährlich, als Maggies Clan die blutigen Gesichter von den Tischplatten hob.
»Nun, da Ihre Sinne nicht länger von Gerüchen benebelt sind«, sagte er samten, »kommen wir zum Geschäft.«
Gabriel lief ein Schauer über den Rücken. Er fürchtete diesen Mann, der anderen Körperteile brach oder abschnitt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und zugleich strahlte der Fürst der Unterwelt in diesem Moment so viel Kontrolle aus, dass sich Gabriels Gemüt tatsächlich weit genug beruhigte, damit er zum Notizblock greifen konnte. Er musste protokollieren.
Eisern hielt er den Blick auf seinen Stift geheftet, während Greystone das Geschäftliche abwickelte. Keiner wagte mehr einen Kommentar. Der Alpha hatte hart durchgegriffen. Das hatte nicht nur auf die Biker-Gang einen Effekt gehabt. Gabriel spürte die gesamte Zeit über die angespannte Stimmung im Raum und als das Gespräch beendet war und sich Greystone erhob, war er heilfroh, dass es vorbei war. Es hatte an seinen Nerven gezehrt.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erst zuckte Gabriel zusammen, dann ließ er es zu, dass ihn Greystone hinausschob, und gab sich Mühe, das aufkommende Gefühlschaos zu ignorieren. Mit jeder Berührung des Alphas roch er ein bisschen mehr nach ihm. Jetzt, da er meinte, noch immer die Blicke der Gang im Nacken zu spüren, war er froh darum.
Nachdem sie den Raum hinter sich gelassen hatten und auf den Ausgang zusteuerten, holte Freya zu Greystone auf und raunte ihm etwas zu. Er runzelte die Stirn, blieb stehen und drehte mitten im Gang um. Dabei zog er Gabriel mit sich, der Mühe hatte, ihm zu folgen, stolperte und nur deshalb wieder auf die Füße fand, weil ihn sein Boss am Oberarm packte. Während Gabriel den Korridor zurückgeschoben wurde und auf den Hinterausgang zuging, fiel ihm auf, dass sie nur von George begleitet wurden. Die anderen Alphas der Gruppe waren hinter ihnen zurückgeblieben.
Irritiert sah er zu Greystone auf. »Wieso kommen sie nicht mit?«
Mahnend schüttelte dieser den Kopf. »Bleib in meiner Nähe.«
Gabriel blinzelte verwundert und fragte sich, wohin er denn sonst gehen sollte, wenn nicht dahin, wo sein Boss war. Schon wurde er durch einen Innenhof geführt. Dass sie das Haus nun auf der anderen Seite verließen, ließ ihn nichts Gutes erahnen. Eben hatte Greystone noch alles unter Kontrolle gehabt. Wieso beschlich Gabriel nun das Gefühl, dass man hinter ihnen her war?
»George, fahr den Wagen zum Büro. Achte darauf, dass man dich sieht«, wies der Mafiaboss seinen Bodyguard an. Der nickte und verfiel in einen schnellen Lauf.
Gabriel sah ihm nach und bemühte sich zugleich, mit Greystone Schritt zu halten. »W-wohin …?«
»Stell keine Fragen«, schnitt ihm Greystone das Wort ab, bevor er seinen Satz beenden konnte. »Je weniger Geräusche wir machen, desto besser.« Er fuhr mit der Hand in sein Jackett und zog eine Waffe hervor. Noch im Gehen schraubte er einen Schalldämpfer an.
Gabriel sprang fast das Herz aus der Brust. Waren die Biker nun doch hinter ihnen her? Unmöglich, die waren sicher auf dem Weg ins Krankenhaus, nachdem Greystone endlich so gnädig gewesen war, das Meeting zu beenden. Und der Clan hatte so wenige Mitglieder, dass es die Bodyguards locker mit ihnen würden aufnehmen können. Nervös warf Gabriel einen Blick über die Schulter. Die Tür zum Pub war verschlossen und der Hinterhof leer.
Dennoch standen ihm die Haare zu Berge. Irgendetwas lag in der Luft und dass er nicht wusste, was es war, gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Scheiße!«, ertönte vor ihm ein Fluch, der ihn erschreckte. Jemand packte Gabriel am Oberarm und riss ihn zur Seite, bevor er begriff, was los war. Von irgendwoher kam ein Knall. An seinem Ohr flog haarscharf eine Kugel vorbei. Im Stolpern prallte er gegen Greystones breite Brust, der den Arm ausstreckte und seinerseits einen Schuss abfeuerte. Gedämpft durch den Schalldämpfer hallte dieser von den engen Wänden wider.
Schockiert sah Gabriel dorthin, wohin Greystone eben geschossen hatte. Am Ende der Gasse standen zwei Gestalten, die in Deckung gingen. Zwischen den Fremden und Gabriel lagen vielleicht fünfzig Meter, zwei Müllberge und eine kleine Einbuchtung, die auch eine weitere Gasse sein konnte.
»Lauf!«, befahl Greystone, griff ihn am Unterarm und zog Gabriel mit sich. Sie hasteten darauf zu. Im Rennen gab der Alpha noch einen Schuss ab, dem zur Antwort einer von der gegnerischen Seite folgte. Panisch versuchte Gabriel, auszuweichen, während er betete, dass ihn die Kugel nicht treffen würde. Sie hatten keine Deckung!
Greystone warf sich in die Einbuchtung der Gasse und zog Gabriel hinter sich her. Ein zischender Laut entwischte ihm. Das Gesicht schmerzerfüllt verzogen, sah der Alpha zu seinem Oberarm, wo das teure Jackett an der Seite zerrissen war und den Blick auf eine Wunde freigab, aus der bereits Blut austrat. Ein Streifschuss.
»Mr. Greystone!«, rief Gabriel erschrocken. »Sie …«
»Still!«, blaffte ihn der Mann an, mit finsterer Miene und einem so mörderischen Ausdruck in den Augen, dass Gabriel fröstelte.
Er wurde tiefer in die Einbuchtung geschoben, die zu seiner Verzweiflung keine zusätzliche Deckung bot. Panik schnürte ihm die Kehle zu, während er Greystone dabei beobachtete, wie der um die Ecke lugte. Sie saßen in der Falle. Wer auch immer ihren Tod wollte, war im Vorteil.
Wieder ertönte ein Schuss.
Greystone zog eilig den Kopf zurück. »Sie kommen näher«, knurrte er, drückte sich flach gegen die Wand und spähte hinunter auf seinen Oberarm, wo sich das weiße Hemd mit seinem Blut vollgesogen hatte.
Erschüttert starrte ihn Gabriel an. Er wollte so nicht sterben! In die Enge gedrängt, von Fremden erschossen. Flach atmend presste er sich gegen die hinterste Ecke der Einbuchtung, als könne ihm das ein paar weitere Sekunden Lebenszeit erkaufen. Vor lauter Panik war sein Körper wie erstarrt.
Als ihn Greystone ansah, erschien eine Wärme in seinem Blick, die Gabriel zuvor noch nie an ihm gesehen hatte.
»Schließ die Augen, Gabriel«, sagte er mit einem sanften Lächeln.
Gabriel
Gabriel kamen die Tränen. War das Greystones Art, zu sagen, dass ihre gemeinsame Zeit nun endete? Meinte er etwa, dass es weniger wehtat, wenn man es nicht kommen sah? Vielleicht hatte er recht.
Um sein Schluchzen zu dämpfen, schlug sich Gabriel eine Hand auf den Mund. Dann schloss er die Augen und befahl sich selbst, sie nicht mehr zu öffnen, ganz gleich, was er hören würde. Es würde geschehen. Jeden Moment würde man ihm eine Kugel in den Körper jagen. Er hoffte nur, dass es schnell ginge. Dass sie direkt den Kopf anvisierten.
Gabriel dachte an seine Eltern, denen er nicht gesagt hatte, was er jetzt beruflich machte. Sie würden nicht einmal wissen, wieso er verschwunden war. Seine Leiche würde verscharrt werden und niemand würde seinen Tod den Hinterbliebenen melden. Es würde Tage dauern, bis man ihn überhaupt vermisste.
Gabriels lautloses Schluchzen hatte inzwischen seine Atmung übernommen. Sie ging unregelmäßig und abgehackt. Gott, bitte, konnte es endlich vorbei sein? Er ballte die Hände zu Fäusten, grub die Fingernägel in die Handflächen und versuchte, trotz des rauschenden Pulses in seinen Ohren irgendetwas zu hören. Schnelle Schritte erklangen vor ihm auf dem Kopfsteinpflaster. Schüsse, die an der Gasse vorbeiflogen. Kugeln, die sich mit einem Knall ins Gemäuer fraßen und Putz herabrieseln ließen.
Noch ein Schuss, ein grauenerregender Schmerzensschrei, der sich in seine Gehörgänge grub.
Gabriels Körper zitterte so heftig, dass sein Rücken gegen die Wand stieß. Stumm liefen ihm die Tränen über die Wangen, während er die Lippen zusammenpresste und betete. Betete, dass irgendein Wunder geschehen würde.
Wieder ein Schuss. Gabriel ertrug es nicht. Er riss die Hände an seine Ohren und wiegte sich hyperventilierend vor und zurück.
Weitere Schüsse. Etwas Schweres fiel vor ihm zu Boden. Das Beben spürte er sogar durch seine Schuhsohlen.
Vor Angst wollte Gabriel würgen. Nicht Greystone, bitte nicht Greystone!
Eine große Hand legte sich auf seinen Hinterkopf. Gabriel riss die Augen auf, doch bevor er aufsehen konnte, wurde er an eine breite Brust gedrückt und der Geruch nach Schießpulver, Schweiß und Old Spice stieg ihm in die Nase, während sich der Bügel seiner Brille in den Nasenrücken grub.
»Sieh nicht hin«, raunte ihm Greystone zu, als Gabriel zögernd die Hände sinken ließ. »Was auch immer du tust, hörst du? Sieh nicht nach unten.«
Keuchend nickte Gabriel, obwohl ihn nun, da Greystone es gesagt hatte, alles danach drängte, suchend den Blick schweifen zu lassen. Das Grauen in sich aufzunehmen und davon erdrückt zu werden. Fassungslos schaute er zu dem Alpha auf, der ihn losließ und sich das Jackett abstreifte. Dann band er sich einen der Ärmel um den Oberarm, direkt über die Wunde. Das weiße Hemd war bis zum Ellbogen mit seinem Blut getränkt.
Gabriel wurde schwindelig, als ihm der Blutgeruch nun deutlicher auffiel. Aus den Augenwinkeln machte er ein Paar lebloser Beine auf dem Boden aus. Fahrig zwang er sich, den Kopf zu heben und dem Mafiaboss ins Gesicht zu sehen, der eben seine Waffe ins Holster schob und zum Ausgang der Gasse wies.
»Wir sollten hier verschwinden.«
Gabriel nickte. Er stand neben sich. Seine Wangen waren nass und als sich Greystone jetzt umwandte und er ihm hinterherhasten wollte, stolperte er über seine eigenen Füße, stürzte und kam hart mit den Knien auf dem Kopfsteinpflaster auf. Seine Brille fiel klappernd zu Boden. Er hatte sich auf den Händen abgefangen und sah hinunter – direkt in das blutleere Gesicht eines Fremden, dessen Augen trüb waren und der ein großes Loch in der Stirn hatte. Sein Kopf war auf eine Blutlache gebettet.
Fassungslos starrte ihn Gabriel an. Das nackte Entsetzen erfüllte seine Brust und drückte ihm die Luft aus den Lungen. Er konnte nicht einmal mehr blinzeln. So nah bei einer Leiche, die eben noch ein lebender Mensch gewesen war. Ein Mensch, der auf sie geschossen hatte! Greystone hatte ihn einfach …
»Was treibst du denn da?«, hörte er den Alpha knurren. Dann packte er ihn am Oberarm und zog ihn auf die Füße. »Komm, uns bleibt nicht viel Zeit.«
Gabriel ließ sich von ihm durch die enge Gasse und nach draußen auf die belebte Straße ziehen, ohne wirklich zu sehen, wohin sie gingen. Die Brille, die er zurückgelassen hatte, war nur teilweise dafür verantwortlich. Nein, was ihn kaum etwas von seiner Umwelt erkennen ließ, waren vielmehr die schockierenden Eindrücke, die sich in sein Bewusstsein schieben wollten und die er so krampfhaft wegzudrücken versuchte.
Sie liefen ein paar hundert Meter, an heruntergekommenen Häusern vorbei, immer geradeaus. Unter Schock ließ sich Gabriel von seinem Boss mitschleifen, der zielgerichtet voranschritt, bis er vor einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus stehenblieb und den Daumen so lang auf die Klingel drückte, bis der Summer ertönte.
Der Mafioso schob die Tür auf, zog Gabriel hinterher und ging zur Treppe. Das alte Haus hatte keinen Lift, dafür wartete es mit sehr modriger Luft auf, als wäre das Gemäuer von Schimmel zerfressen. Sie erklommen die Stufen in die erste Etage, wo sie eine kurvige, halbnackte Dame erwartete, die eine Augenbraue hob. Das, was sie trug, konnte man für den peinlichen Versuch halten, ein orientalisches Bauchtänzerinnenkostüm zu imitieren. Es sah aus, als hätte sie es im Kostümgeschäft erstanden. Der billige Stoff und das blecherne Klingeln der tausenden Glöckchen konnte Gabriel ebensowenig von ihrer Natur ablenken wie die vielen Make-up-Schichten, die ihr Gesicht verdeckten. Sie war eine Alpha. Eine Alpha in den besten Jahren und mit einem für eine Alpha überaus ungewöhnlichen Kleidungsstil.
»Was hat dich denn überrollt?«, fragte sie Greystone spöttisch, der wortlos ins Innere der Wohnung ging. Ihre Stimme war voluminös und ihr Blick forschend, als er auf Gabriel fiel, der sich duckte und eilig an ihr vorbeihastete. Er folgte seinem Boss in eine winzige Küche, wo dieser auf einen Stuhl sackte, seine Krawatte löste und sich die Manschettenknöpfe öffnete. Auf zitternden Beinen lief Gabriel auf ihn zu, doch noch auf halber Strecke wurde er von der drallen Alpha zur Seite geschoben.
»Du kannst hier nicht bleiben, Al«, sagte sie, einen kleinen Koffer in der Hand, den sie auf dem Küchentisch abstellte. »Ich habe Kundschaft.«
Greystone brummte nur. Es war ihm inzwischen gelungen, die Knöpfe zu lösen.
Die fremde Alpha zog den behelfsmäßigen Verband auf, in den er sein Jackett gewandelt hatte, und half ihm dabei, das Holster und das besudelte Hemd auszuziehen, während Gabriel nicht sicher war, ob er hinsehen oder sich abwenden wollte.
In jedem Fall konnte er nicht stehenbleiben. Leise setzte er sich auf den zweiten Stuhl. Seine Beine waren schwach und er bemühte sich, die Panik zurückzuhalten. Verstohlen spähte er durch die kleine Küche, die mit in die Jahre gekommenen Schränken ausgestattet war, von denen die meisten Türen ein wenig schief hingen oder fehlten. Die Arbeitsflächen waren abgenutzt und in den Regalen türmten sich Fertigessen und offene Tüten mit etwas, das Mehl sein konnte. Oder Zucker. Oder etwas ganz anderes. Ein voller Aschenbecher stand neben der Spüle. Daher also der kalte Rauchgeruch. Der kleine Raum gab ein tristes, schäbiges Bild ab.
Als Gabriel mit seiner Beobachtung fertig war und wieder zu Greystone zurücksah, wanderten seine Augen wie von selbst über den flachen Bauch und die muskulöse Brust. Bisher waren sie sich oft genug nah gekommen, dass er eine so eindrucksvolle Figur bereits unter den Kleidungsschichten erahnt hatte. Dennoch potenzierte es den Gefühlswirrwarr in ihm noch, so viel nackte Haut zu sehen. Als ihm klar wurde, dass er gerade seinen Boss anstarrte, senkte er eilig den Blick.
»Ach, das ist ja nur ein Kratzer«, hörte er die fremde Alpha sagen, ehe sie rau lachte.
Als Gabriel wieder aufsah, strich sie sich eben eine wasserstoffblonde Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst haben musste.
»Kein Grund, deshalb so blass zu werden, mein Lieber.«
»Ich habe nur Durst«, murrte Greystone, der wie ein nasser Sack auf dem klapprigen Küchenstuhl saß und sonderbar resigniert wirkte. Die angespannte Energie, die ihn bis hierher getrieben hatte, schien erschöpft.
Die Alpha gluckste, griff in ein Regal und stellte ihm dann mit einem dumpfen Klirren eine große Flasche Wodka vor die Nase. Mit einer Hand schraubte er sie auf, während die Fremde allerlei Utensilien aus dem Verbandskasten zog. Sie gab Flüssigkeit auf einen Wattebausch und strich damit über die Wunde. Sofort fuhr Greystone zusammen und zog den Arm fort.
»Verdammt, Alisa!«, polterte er und Gabriel zuckte zurück. »Warte wenigstens, bis ich mit dem Trinken angefangen habe!«
»Halt still, du Riesenbaby«, erwiderte Alisa amüsiert.
Gabriel hielt den Atem an und wartete auf den Knall. Greystones Miene hatte sich so sehr verfinstert, dass er den Drang spürte, Abstand zwischen sie zu bringen. Die dichten Augenbrauen waren bedrohlich tief herabgesunken.
Doch anstatt aus der Haut zu fahren und die Alpha für ihre Respektlosigkeit zu bestrafen, wie Gabriel es erwartet hatte, schwieg der gefürchtete Mafiaboss, legte endlich den Schraubverschluss zur Seite, hob die Flasche an die Lippen und trank.
Stumm sah Gabriel dabei zu, wie Alisa die Wunde versorgte. Er bemerkte, wie angespannt seine eigenen Schultern waren. Sein Herz schlug noch immer schnell und er bekam nur schlecht Luft. Kein Wunder. Sie waren aus dem Nichts angegriffen worden und die Leichen, die sie zurückgelassen hatten, waren nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt. Wenn sich Gabriel das vor Augen führte, wurde ihm übel.
»Wenn du kotzen musst, tu’s in die Spüle«, hörte er Alisas rauchige Stimme.
Blinzelnd schaute er zu ihr auf. Sie war auf Greystones Schussverletzung konzentriert, aber der wirkte zu gefasst, als dass er gemeint sein konnte. Tatsächlich hatte er gerade sein Handy gezogen und strich mit dem Daumen übers Display.
Gabriel zwang sich, ruhig zu bleiben. Er holte tapfer Luft, unterbrach sich dabei jedoch eilig wieder, denn die Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, Desinfektionsmittel und Blut verstärkte seine Übelkeit.
»Es geht schon«, murmelte er.
Alisa grunzte. »Du darfst es selbst aufwischen, wenn du mir auf den Boden reiherst.« Ihr Ton war gleichgültig, während sie Greystone einen Verband anlegte.
Der presste sich eben das Handy ans Ohr.
»Werde ich nicht«, versprach Gabriel leise.
Dann sagte sein Boss: »Carl, ich bin es. Trommel deine Leute zusammen, ihr müsst für mich eine Gasse aufräumen.«
Als er die Adresse durchgab, tauchte vor Gabriels innerem Auge wieder der tote Blick des Mannes auf, den Greystone erschossen hatte. Ein heftiges Beben erfasste seinen Körper und bevor er wusste, was er tat, riss es ihn auf die Füße und er sprang zum Waschbecken hin. Dort übergab er sich unter einigem Keuchen und anderen, wenig appetitlichen Lauten, bis das Krampfen seines Magens nachgelassen hatte und er nach Luft ringen musste. Mit kalten Fingern klammerte er sich an den Waschbeckenrand.
Eine Hand erschien in seinem Sichtfeld und betätigte den Wasserhahn, sodass ihm das Wasser halb über die Stirn lief und unter ihm sein Erbrochenes fortspülte. Gabriel schloss die Augen. Die Kühle auf seinem Gesicht tat gut. Im Hintergrund hörte er Greystone noch immer telefonieren. Aber das Rauschen blendete die Worte gerade genug aus, damit er für einen kurzen Moment so tun konnte, als ginge es um etwas vollkommen Belangloses.
Jemand tätschelte ihm die Schulter.
»Geht’s wieder?«, fragte Alisa mit rauer Freundlichkeit.
Tapfer nickte Gabriel, legte den Kopf in den Nacken und ließ seinen Mund mit Wasser volllaufen, um den sauren Geschmack loszuwerden. Er spuckte es aus, dann wusch er sich das Gesicht, das sich nach all den Tränen ganz kratzig anfühlte, und stellte das Wasser ab.
Gerade trocknete er sich verstohlen mit einem Küchentuch die nassen Wangen, als die Türklingel ertönte.
»Das ist George«, sagte Greystone.
Gabriel warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. Der Alpha schob gerade wieder die Hände in die Ärmel seines Hemdes. Seine Wunde war ordentlich verbunden und die Blutung offensichtlich gestillt. Er schloss zwei Knöpfe in der Mitte, streifte sich Holster und Jackett über und kam auf die Füße.
»Komm, Gabriel«, sagte er und ging bereits aus der Küche, in so energischen Schritten, als hätten die wenigen Minuten Pause und der Alkohol ausgereicht, um ihn zu Kräften kommen zu lassen.
Eilig lief Gabriel an der drallen Alpha-Dame vorbei, die ihnen die Wohnungstür aufhielt.
»Ich gehe davon aus, dass ich diesen Monat kein Schutzgeld zahlen muss«, sagte sie verschmitzt.
Greystone schnaubte. »Wir werden sehen.« Seine Mundwinkel zuckten.
♣
Während der Fahrt ins Büro schwiegen sie. In Gabriels Kopf wirbelten die Erinnerungen so durcheinander, dass er gar keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dass der Wagen hielt, bemerkte er erst, als sein Boss ausstieg. Auf weichen Knien folgte ihm Gabriel ins Innere des Bürohochhauses und zu der Etage, von der aus Greystones Imperium verwaltet wurde.
Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, schlug ihm neuer Alpha-Geruch entgegen. Es roch nach Schweiß, Aggression und Tod. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf. So ähnlich hatte es in der Gasse nach dem Kampf auch gerochen.
Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen lief er Greystone hinterher, der sein Büro ansteuerte, aufschloss und hineinging. Gabriel stand ein wenig neben sich. Er bemerkte erst, dass sich der Mafiaboss schon wieder auszog, als der seine Schusswaffen auf den Schreibtisch legte und sich das Holster abstreifte. Sein Jackett hing bereits über den Chefsessel.
Als Greystone zu einem der Schränke ging, ein neues Hemd an einem Bügel herauszog und Gabriel den Rücken zuwandte, fiel ihm auf, dass er starrte. Fahrig wandte er den Blick von dem eindrucksvollen, breiten Kreuz ab und stakte auf unsicheren Beinen zu dem kleinen Tisch hin, den ihm Greystone in sein Büro hatte stellen lassen, damit er einen Ort hatte, an dem er arbeiten konnte.
Er war gerade auf den Stuhl gesunken und hatte den Block mit den Notizen vom Meeting hervorgekramt, als es an der Tür klopfte.
»Boss?«, fragte eine vertraute Stimme.
Greystone wandte sich um, während er die letzten Knöpfe schloss. Unwirsch gestikulierte er in den Raum hinein. »Kommt schon rein.«
Sobald seine Sicherheitsleute das Büro betraten, nahm der schwere, übelkeitserregende Geruch wieder zu. Gabriel wurde flau im Magen. Er roch das Blut mehr, als dass er es sah. Einer der Alphas hatte sich ein Tuch um die Hand gewickelt, das sich langsam rot färbte.
»Sie hatten das Gebäude umstellt«, sagte Freya, die nicht so aufrecht stand wie sonst. Sie war leicht zur Seite geneigt, als wollte sie ihr Bein entlasten. »Sobald wir raus waren, wurden wir angegriffen.«
Greystone nickte finster. »Wir auch, trotz eures Ablenkungsmanövers. Irgendjemand muss geplaudert haben. Vielleicht Maggie und ihre Gang.« Inzwischen hatte er sich gegen seinen Schreibtisch gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. »Wo ist Aida?«
Freya presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Fuck«, fluchte Greystone grollend und fuhr sich durchs Haar. Dann schlug er so heftig auf die Tischplatte, dass Gabriel zusammenzuckte. »Verdammte Scheiße!«
Aida hatte zu den Alphas gehört, die sie vorhin begleitet hatten, ahnte Gabriel. Er kannte noch nicht alle ihre Namen. Wie es schien, würde er sich diesen nicht einprägen müssen.
Das betroffene Schweigen der anderen erfüllte den Raum, während ihr Boss die Hände in die Tischkante krallte, bis seine Knöchel weiß hervortraten.
»Gabriel!«, bellte er.
Gabriels Herz machte einen kräftigen Satz. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte er zu ihm auf.
Bevor er sich fragen konnte, ob ihm Greystone irgendwie die Schuld am Verlust von Aida geben konnte, wedelte der unwirsch zum Aktenschrank hin. »Such mir ihre Akte raus. Ich muss ihre Familie anrufen.«
Ein dicker Kloß legte sich in Gabriels Kehle. Er nickte fahrig, erhob sich und ging zum Schrank.
Während er ihn aufzog, hörte er Greystone hinter sich sagen: »Es sind die O’Connors gewesen. Die miesen kleinen Verräter haben ihre Strategie geändert, sobald wir Maßnahmen ergriffen haben. Wir hätten sie dem Erdboden gleichmachen sollen, als sie noch nicht wussten, dass ihr Verrat aufgeflogen war.«
Einstimmiges Gemurmel durchwanderte die Alphagruppe.
Um Konzentration bemüht ging Gabriel die Akten durch und stellte dabei zu allem Überfluss fest, dass er sie ohne Brille nicht so deutlich lesen konnte. Er brauchte länger, die Namen durchzugehen – auch weil er Aidas Nachnamen nicht kannte und sich im Moment nicht traute, zu fragen. Die Panik, die er in den letzten Stunden gefühlt hatte, kehrte mit beeindruckender Stärke zurück.
Er war dafür nicht gemacht, dachte er. Vorhin schon, im Hinterzimmer des Pubs, hatte ihn das Aufeinandertreffen mit den fremden Alphas mehr aus der Bahn geworfen, als er das von sich kannte. Dass sein Körper noch die letzten Reste der Blocker abgebaut hatte, hatte ihn offensichtlich emotional gemacht. Aber dann dieser Schusswechsel, all die Gewalt, die Angst, das Blut und das Töten!
Hastig riss Gabriel eine Hand an seinen Mund, um ein Aufschluchzen zu verhindern. Es war zu viel gewesen.
Greystones überdeutliche Wut zu spüren, die die Stimmung im Raum dominant herunterdrückte, war noch der letzte Tropfen in seinem Fass an Überforderung. Er wollte hier weg. Sein Puls ging schnell, seine Atmung war ganz flach und der Boden kam ihm mit einem Mal sehr unstet vor.
Gabriel gab sich alle Mühe, ruhig zu atmen und sich nicht anmerken zu lassen, dass er mental zusammenbrach. Mit zitternden Fingern hielt er sich am Aktenschrank fest, während er weiter so tat, als würde er die Namen auf den Reitern lesen, damit ihn Greystone nicht noch einmal anschrie. Mehr Aggression verkraftete er nicht.
Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr Gabriel heftig zusammen und riss den Kopf hoch.
Greystone sah ihn stirnrunzelnd an. »Du hast mich nicht gehört«, sagte er und zog die Hand fort.
Gabriel kam der Verdacht, dass er nach ihm gerufen hatte. »V-verzeihung, Sir«, antwortete er tapfer, wandte sich zu ihm um, senkte aber den Blick und blinzelte die Tränen fort. Inzwischen waren sie allein. »Ich bin heute nur etwas … unausgeglichen.«
»Das ist mir aufgefallen.«
Schuldbewusst zog Gabriel den Kopf tiefer zwischen die Schultern. »Ich habe die Akte gleich«, versprach er eilig. »Ich hatte meine Brille vorhin in der Gasse fallenlassen und …«
»Vergiss die Akte«, unterbrach ihn Greystone so unwirsch, dass sein Magen krampfte. Der durchdringende Blick bohrte sich in ihn. »Es war zu viel für dich, nicht wahr?«
Gabriel presste die Lippen zusammen. Das konnte er nicht bestätigen. Wenn er es täte, würde er dem Alpha nur einen Grund geben, ihn vor die Tür zu setzen. Seine Probewoche war noch nicht um. Der Tag heute war schrecklich gewesen, aber etwas in ihm war dickköpfig oder verzweifelt genug, sich trotzdem danach zu sehnen, weiter für Greystone arbeiten zu dürfen.
»Nein«, beteuerte er, bemüht, gefestigt und selbstsicher zu klingen, obwohl ihm alles andere als wohl in seiner Haut war. »Es sind die Blocker. Ich bin es ohne sie nicht mehr gewohnt. Das werde ich unter Kontrolle bekommen.«
Zu seiner Erleichterung ließ der Verbrecherfürst von ihm ab. »Gut«, sagte er schlicht, schritt zu seinem Schreibtisch und zog das Jackett über. »Such mir noch Aidas Akte raus, dann kannst du für heute gehen.«
Gabriel nickte. »Danke, Sir.«
Eilig ging er die Akten durch, fiebrig nach dem Namen suchend. Doch obwohl der Alpha nicht mehr so wirkte, als würde er jemanden in der Luft zerreißen wollen, kehrte das Zittern in Gabriels Finger zurück. Er biss sich auf die Zunge und versuchte, es zu ignorieren. Es war alles in Ordnung und er war in Sicherheit. Es gab keinen Grund mehr, sich zu fürchten.
Egal, wie beharrlich er sich das sagte, sein Brustkorb war wie zugeschnürt. Als Gabriel nach Luft schnappte und das nicht half, wurde ihm schwindelig. Sein Magen war so verkrampft, dass es ihn an jenen Abend erinnerte, als er beinahe an Jujube gestorben wäre. Panisch fragte er sich, ob er aus Versehen etwas zu sich genommen hatte. Nein, seine Blocker waren abgesetzt. Die chinesische Dattel konnte ihm jetzt nichts mehr anhaben.
Trotzdem nahm der Schwindel zu und seine Wahrnehmung verengte sich, als sei er in einem Tunnel. Die Wände kamen näher. Deutlich spürte er die Hitze im Nacken. Seine Schultern waren verhärtet. Etwas in ihm wollte fliehen, er wusste selbst nicht, wovor oder wohin.
Gabriel hielt den Atem an und zwang sich, sich zusammenzureißen. Es gelang ihm mäßig. Als er endlich glaubte, die Akte gefunden zu haben, und sie aus dem Fach zog, glitt sie ihm aus den tauben Fingern und fiel raschelnd zu Boden.
»Alles in Ordnung?«
Greystones Stimme drang angenehm klar durch den Nebel, der Gabriels Bewusstsein umwölkte. Im ersten Augenblick wollte er nicken. Doch ein Blick hinunter auf die Akte machte ihm deutlich, wie wenig er gerade er selbst war. Als der Boden erneut wankte, schüttelte er den Kopf und schnappte panisch nach Luft, ehe er zurück torkelte und gegen den Schrank stieß.
Bevor er fallen konnte, hielten ihn große Hände an den Oberarmen fest und schoben ihn zum Ledersofa.
»Setz dich eine Minute«, forderte ihn der Alpha ungewohnt freundlich auf.
Gabriel wollte sich nicht setzen. Die Luft hier drin war stickig, sie verklebte ihm die Lungen und er bekam keinen Sauerstoff mehr. Seine Arme kribbelten, seine Sicht war verschwommen und er war sich nicht sicher, ob das daran lag, dass er seine Brille verloren hatte, er weinte oder sein Körper einfach langsam die Arbeit einstellte. Irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung und dass er nicht wusste, was es war, steigerte seine Angst nur weiter. Er wollte weg von dem lähmenden Schrecken, der sein Herz schwer machte und ihm den Brustkorb in einen Schraubstock sperrte. Musste fort von diesem Gefühl, bei lebendigem Leibe zu ersticken.
Als ahnte Greystone, dass er an Flucht dachte, legte er ihm eine Hand auf die Schulter und drückte zu.
»Alles ist gut«, raunte er beschwörend. »Beruhige dich, Gabriel.«
Gabriel schüttelte den Kopf. Der Alpha hatte keinen Schimmer, wie er sich fühlte, und er war nicht in der Lage, es ihm zu erklären. Etwas blockierte seine Zunge. Wenn ihn die Hand nicht runterdrücken würde, wäre er schon längst auf die Füße gesprungen. Die Gefahr saß ihm heißkalt im Nacken, als wäre sie nie verschwunden. Er wollte weg von den Erinnerungen. Weg von den Bildern, die ihn verfolgten. Tote Augen, die durch ihn hindurchsahen. Das ohrenbetäubende Knallen der Schüsse. Gewalt, Angstschweiß, Blut. Er würde sterben. Er würde an dem, was er hatte erleben müssen, jämmerlich zugrunde gehen. Sein Körper zeigte alle Anzeichen dafür. Entweder das, oder er wurde langsam verrückt.
Die Hand legte sich in Gabriels schweißnassen Nacken und strich über die angespannten Muskeln.
»Es war viel heute. Du stehst unter Schock«, sprach Greystone weiter, in einem ruhigen Ton, der seine wunden Nerven wie eine weiche Decke umhüllte. »Das wird vorbei gehen.«
Gabriel wollte ihm gern glauben. Mit einem zittrigen Atemzug kniff er die Augen zusammen und versuchte, sich auf die samtene Stimme zu konzentrieren. Der große Daumen strich in besänftigenden Kreisen über seinen empfindlichen Nacken.
Sehnsüchtig lehnte sich Gabriel der Berührung entgegen. Unter anderen Umständen hätte er sich von einer Hand freimachen wollen, die es sich herausnahm, eine so intime Stelle anzufassen. Doch nun wünschte er sich mehr.
»Komm zu mir.« Greystone legte ihm einen Arm über die Schultern und zog ihn zu sich. Als Gabriels Gesicht gegen die breite Brust gedrückt wurde, klammerte er sich an den Alpha, bevor er wusste, was er tat. »Du bist in Sicherheit. Hier wird dir nichts geschehen.«
»Bitte«, keuchte Gabriel und krallte sich fester in den Stoff des Hemdes. »I-ich … will nicht …« Es sollte aufhören! Er würde sterben. Heiße Tränen schossen ihm in die Augen, als er es sich so deutlich klarmachte.
»Ruhig, ganz ruhig, Omega«, besänftigte ihn Greystone geduldig und strich ihm in tröstenden Kreisen über den Rücken. »Denk nicht darüber nach. Konzentriere dich nur auf mich.«
Er redete weiter. Gabriel wusste im Nachhinein gar nicht mehr, was er alles sagte. Aber mit jeder Minute, die verging, bekam er besser Luft. Sein Puls beruhigte sich und das Kribbeln in seinen Armen ließ nach. Dabei bemerkte er, dass der Duft des Alphas die größte beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Gabriel wollte mehr davon.
Verstohlen schob er den Kopf höher, bis sein Gesicht in der Halsbeuge lag. Greystone hatte sein Hemd nicht ganz zugeknöpft. Die Haut am Übergang von Hals zur Schulter lag frei – dort, wo der Duft am stärksten war. Gabriel schloss die Augen und atmete den Geruch ein. Als seine Nasenspitze gegen die warme Haut stieß, erschauderte Greystone, ließ ihn jedoch gewähren.
»Wird es besser?«
Mit einem zustimmenden Nicken hielt Gabriel die Hände ins Jackett des Mannes gekrallt, weil er nicht wollte, dass dieser sich entfernte. Das hier war Balsam auf seiner geschundenen Seele. Wenn er jetzt losließe, würde er fallen. Das wollte er verhindern. Die emotionalen Herausforderungen des Tages hatten ihn erschöpft. Nicht einmal die leise Stimme der Vernunft, die allmählich durch den Schleier der Panik drang, konnte ihn dazu bewegen, den Verbrecherfürsten loszulassen und angemessenen Abstand zwischen sie zu bringen.
Noch nie war Gabriel einem Alpha freiwillig so nah gekommen. Die Situation hatte ihm einen heftigen Schrecken eingejagt und die Anwesenheit eines rücksichtsvollen Alphas flößte ihm ein Gefühl von Sicherheit ein.
»Wir bringen dich besser nach Hause«, sagte Greystone und schob ihn von sich.
Folgsam kam Gabriel auf die Beine. Noch immer fühlte er sich in seinem Körper recht unsicher. Schwummrig, benebelt und zittrig, als würde etwas in ihm dem kurzen Frieden nicht trauen.
Der Arm kehrte auf seine Schultern zurück. Bereitwillig ließ sich Gabriel von Greystone aus dem Büro schieben. Vielleicht, nur vielleicht, lehnte er sich sogar ein ganz klein wenig in die Berührung. Die Nähe des Alphas erdete ihn. Konnte man ihm da einen Vorwurf machen, dass er nun, da er sich angreifbar fühlte, diese Sicherheit suchte?
Greystone führte ihn aus dem Gebäude, ließ seine Limousine vorfahren, schob Gabriel hinein und setzte sich neben ihn.
Als er ihn erneut an sich zog, schlug Gabriels Herz ebenso überrascht wie erfreut höher. Trotzdem … Nun, da er wieder klarer denken konnte, wurde ihm auch bewusst, wie seine Reaktion auf Greystone wirken musste. Von Anfang an hatte der ihm gesagt, dass er für einen Job im Untergrund nicht gemacht war. Doch Gabriel hatte nicht hören wollen. Nun waren es nur noch zwei Tage, dann wäre die Probewoche vorbei. Wie sah das aus, wenn er sich verzweifelt in die Arme seines Bosses schmiegte?
Widerstrebend zog Gabriel den Kopf zurück. Das, was er tat, passte in die Rolle, von der Greystone so überzeugt war, dass es die einzige sei, die Omegas im Untergrund erfüllen konnten. Accessoires, die zu schwach waren, um verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen. Die sich von Alphas beschützen und verhätscheln ließen.
Plötzlich fühlte er sich nicht mehr so wohl in seiner Nähe. Sicher dachte Greystone bereits mit diebischer Freude, dass er es von Anfang an gewusst hatte.
Seine eigene fehlende Abgebrühtheit stieß Gabriel nun sauer auf. Im Augenblick war er alles, was er an seinem Geschlecht nicht mochte: schwach, weinerlich, zerbrechlich.
In einem Anflug von Tapferkeit straffte er die Schultern.
»Entschuldigen Sie, Mr. Greystone«, sagte er bemüht sachlich. Nun war es ihm zunehmend peinlich, wie er sich aufgeführt hatte. »Es ist ein wenig viel gewesen. Ich halte sonst mehr aus.«
Greystone hob eine Augenbraue. So, wie er aussah, würde gleich eine sarkastische Antwort folgen.
»Das weiß ich, Gabriel. Das Milieu ist eine Herausforderung, das ist alles.«
Gabriel stutzte. Wachsam musterte er ihn und wartete darauf, dass der Alpha eine Spitze hinterherschoss. Häme vielleicht oder etwas, das dieses unerwartete Kompliment relativierte. Ein Witz auf seine Kosten, weil er sich an einen Alpha geklammert hatte, als sei er am Ertrinken gewesen.
Doch Greystone hielt seinen Blick, ohne etwas zu sagen, und Gabriel, der nicht aufhören konnte, ihn anzusehen, versank im dunklen Bernstein seiner Augen, die warm im dämmrigen Licht des Wagens glommen wie glühende Holzscheite im Kamin.
Die Limousine hielt. Blinzelnd unterbrach Gabriel den Blickkontakt.
»Den Rest schaffst du allein, nicht wahr?«
Gabriel nickte und murmelte leise: »Danke«, ehe er aus dem Wagen stieg.
Er schloss die Haustür des Mehrfamilienhauses auf, nahm die Treppe in die erste Etage, öffnete seine Wohnungstür und ließ sich in seiner kleinen Küche auf einen Stuhl nieder.
Dort saß er und starrte so lange aus dem Fenster, bis sich die Dämmerung über die Stadt legte, der die Nacht folgte. Gabriel bemerkte es gar nicht richtig. In seinem Kopf wirbelten die Eindrücke durcheinander, von der Biker-Gang, der sein Boss die Nasen hatte brechen lassen, um ihn zu beschützen, und vom Schusswechsel und der Todesangst, die er gefühlt hatte. Bei den Erinnerungen daran zitterten seine Finger wieder und sein Puls begann zu rasen.
Er hatte befürchtet, dass sein Leben vorbei wäre, doch Greystone hatte gesiegt. Da war all das Blut gewesen. Gabriel durchlief ein Schaudern.
Eilig wandte er sich freudigeren Gedanken zu, dachte an die Zeit danach, als er getröstet worden war, und seufzte auf. Der Geruch des Alphas legte sich um ihn wie eine angenehme Umarmung. Nie hätte er dem kaltblütigen, manipulativen Mafioso so viel Selbstlosigkeit zugetraut. Oder war es, weil er in diesem Moment damit abgeschlossen hatte?
Die Betroffenheit legte sich wie ein Stein in Gabriels Magen. Die ganze Woche über hatte ihn Greystone wie einen Beta behandelt, aber dann, als er in Panik verfallen war, war er wie ein Omega getröstet worden. Das konnte nur bedeuten, dass Greystone erkannt hatte, dass er für diese Arbeit nicht gemacht war. Er hatte sich entschieden, mit ihrer Abmachung zu brechen, weil Gabriel selbst die kühle Beta-Fassade nicht hatte aufrecht erhalten können.
Bitter biss er die Zähne zusammen, während er ins Bad ging und sich aus dem Jackett schälte, das nach seinem Angstschweiß und nach dem Alpha roch. Er zog sich aus und stellte sich unter die Dusche.
Als sein Kopf wieder einigermaßen klar war, graute es ihm davor, Greystone unter die Augen zu treten. So wie er sich aufgeführt hatte, war er eine Last gewesen. Er hatte einst darauf bestanden, dass man ihm Arbeit gab. Dabei konnte der Mafiaboss gut auf ihn verzichten – vor allem dann, wenn er solchen Situationen nicht gewachsen war.
Aber Gabriel wollte deshalb nicht realistisch sein. Er wollte nicht einsehen, dass dieser Job nichts für ihn war. Weil er, wenn er ehrlich mit sich war, jeden Tag mehr an Greystone hing. Wie sich vorhin die starken Arme beschützend um ihn gelegt hatten, wie die warme Stimme sanft zu ihm gesprochen und wie der Duft seine Nase umschmeichelt hatte, hatten sich die Gefühle, die er anfangs zu verdrängen versucht hatte, nur noch intensiviert. Das aufgeregte Kribbeln, das ihn jedes Mal durchwanderte, wenn der Alpha ihn berührte. Das schnelle Klopfen seines Herzens, wenn er bemerkte, dass ihm Greystone seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Die Art, wie er mit Gabriel umging, wenn er keinen Grund hatte, ihm zu drohen. Dass Greystone diesen Drang, ihn bis aufs Blut zu reizen, nicht mehr zu haben schien, seit er für ihn arbeitete. Das alles half nicht gerade dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren. Seit das Katz-und-Maus-Spiel aufgehört hatte, entwickelte sich Gabriels ungewollte Faszination zu etwas, von dem er noch nicht wagte, es echte Zuneigung zu nennen.
Aber wäre es denn ein Wunder? Er wäre nicht der erste Omega, der von ihm angezogen wurde wie eine Motte vom Licht. Der Mann war schließlich verboten attraktiv und teuflisch charismatisch. Intelligent und gerissen, zugleich selbstsicher und mächtig. Kurz, er erfüllte alle Kriterien eines Traum-Alphas.
Gabriel hätte nur nie erwartet, dass er davon so leicht zu beeindrucken wäre. Vermutlich waren auch die neuen Hormone schuld, die ihn noch immer durcheinanderbrachten. Bis er sich daran gewöhnt hatte, ohne Blocker auszukommen, wäre sein Leben die reinste Gefühlsachterbahn. Sicher würde sich die Faszination für Greystone wieder legen, wenn er erst einmal im inneren Gleichgewicht mit sich selbst wäre. Und bis dahin würde er sich bei der Arbeit eben zusammenreißen müssen. Er wollte professionell bleiben und sich auf seine Aufgaben besinnen.