4

#67 Finde neuen Zugang zu etwas, das du verloren glaubtest

Callie

Wir kommen spätabends in Afton an, als der Mond ein riesiger Bogen am pechschwarzen Himmel ist und der Schneesturm einen Flockenschleier vor den Truck wirft, der die Sicht erschwert. Eigentlich hätten wir schon zur Abendessenszeit hier sein können, aber Seth nötigte uns, zum Mittagessen anzuhalten und im Spielhaus bei McDonald’s Quatsch zu machen. Letztlich waren natürlich wir alle drei schuld, dass irgendwann der Manager kam und uns hinauskomplimentierte.

Ich glaube, wir wollten die Ankunft so lange wie möglich aufschieben. Weshalb, ist mir noch nicht ganz klar, aber ich denke weiter darüber nach. Nach einer sehr langen und anstrengenden Fahrt schleichen Seth und ich uns hinauf in die kleine Wohnung über der Garage und fallen aufs Bett, ohne vorher mit meiner Mom zu reden. Dieses Zimmer ist für mich mit einem meiner wichtigsten Erlebnisse verbunden, und als ich hineingehe, kippe ich fast um, weil ich mich erinnere, wie es war, als Kayden mich berührte, mich küsste und ein Teil von mir wurde.

»Ich bin fertig«, sagt Seth. Wir liegen in unseren Pyjamas im Bett, jeder auf der Seite und die Gesichter einander zugewandt. Die Heizkörper summen im Hintergrund, und die Lampe beleuchtet die Flecken an der Wand. Seth zieht einen Schmollmund. »Dabei hatte ich mich so darauf gefreut, deine Mutter kennenzulernen.«

Ich kneife ihn zart in den Arm. »Lügner, du bist froh, dass sie schon schläft!«

Kichernd stützt er sich auf einen Ellbogen auf. »Ja, stimmt. Ich würde mich ja gern freuen, aber nach dem, was du erzählst, dürfte deine Mutter einige Schwierigkeiten mit meiner schillernden Persönlichkeit haben.«

Ich setze mich auf, ziehe das Zopfgummi aus meinem Haar und binde den Pferdeschwanz neu. Dann lasse ich die Arme in meinen Schoß sinken und nage an meiner Lippe. Ich denke an morgen und wie es wird, Kayden zu sehen.

Seth berührt meine Unterlippe, und zuerst will ich zusammenzucken, doch ich reiße mich zusammen. »Einen Penny für deine Gedanken.«

»Es ist nichts.« Seufzend werfe ich mich wieder aufs Bett. »Ich frage mich nur, wie es sein wird – ihn wiederzusehen.«

Er überlegt, während er sich die Haare aus dem Gesicht streicht. »Es wird wie das erste Mal sein, als ich beschloss, dich anzusprechen. Du musst dir Kayden wie ein schreckhaftes Kätzchen vorstellen. Wenn du das Falsche sagst, könnte er ausflippen.«

»Du fandest, ich war wie eine schreckhafte Katze?«

»Ein schreckhaftes Kätzchen.« Er grinst und zwinkert mir zu. »In dem Moment, in dem ich mich dir näherte, sahst du aus, als wolltest du mir die Augen auskratzen.«

Ich boxe das Kopfkissen zurecht und schiebe die Hände unter den Kopf. »Und was ist, wenn ich das Falsche sage und ihn erst recht verletze?«

Seth nimmt seine Armbanduhr ab, rollt sich zur Seite und legt sie auf die Tupperdose neben dem Bett. Dann dreht er sich wieder zu mir. »Wirst du nicht.«

Ich ziehe die Beine an und stecke sie unter die Decken. »Wieso bist du dir so sicher?«

Lächelnd tippt er mir auf die Nasenspitze. »Weil er sich dir überhaupt geöffnet hat, was bedeutet, dass du schon die richtigen Sachen gesagt hast. Also musst du nichts weiter tun, als morgen zu ihm gehen und du selbst sein.«

»Hoffentlich hast du recht.« Ich schalte die Lampe aus. Bis auf ein wenig fahles Mondlicht, das durchs Fenster hereinfällt, ist das Zimmer dunkel. »Das hoffe ich sehr.«

»Ich habe immer recht, Schätzchen«, sagt er und drückt meine Hand. »Grüble nur nicht zu sehr.«

Ich schließe die Augen und halte mich an dem Gedanken fest, dass ich ihn morgen sehen werde, lebend, nicht blutend auf dem Boden. Vielleicht kriege ich dann endlich dieses schreckliche Bild aus dem Kopf.

Kayden

Es ist Mitte Dezember, der Beginn der Winterferien. Wäre ich nicht hier, würde ich mich jetzt auf den Weg vom College nach Hause machen, wahrscheinlich mit Callie und Luke. Es ist komisch zu wissen, dass sie jetzt hierher unterwegs ist, so nahe und dennoch so weit weg, beinahe unerreichbar, denn ich hänge hier fest, und sie ist da draußen.

Heimlich habe ich Gummibänder gesammelt und jetzt fünf von ihnen an meinem Handgelenk. Nicht dass Doug davon wüsste. Ich tat einfach so, als hätte ich sie zerrissen, bis ich eine Sammlung hatte. Die Dicke bringt ein stärkeres Brennen, und es beruhigt mich, wenn ich die Bänder schnalzen lasse. Beruhigung brauche ich dringend, denn heute Abend tauchte meine Mutter auf und ist schon seit über einer Stunde hier, um mit dem Arzt und Doug über meine Entlassung zu reden.

Sie stehen drüben an der Tür und sprechen über mich, als wäre ich gar nicht da. Genau genommen ist es eher ein Streit als eine Unterhaltung.

»Aber wir sind die ganze Zeit bei ihm und passen auf ihn auf.« Meine Mutter gestikuliert viel mit den Händen und ihren langen Fingernägeln. Jedes Mal, wenn sie etwas sagt, hackt sie dem Arzt fast ein Auge aus.

Doug blättert durch sein Notizbuch mit den gelben Blättern und liest seine Aufzeichnungen. »Hören Sie, Mrs. Owens, ich weiß, dass es hart für Sie sein muss, aber ich halte es nicht für gut, wenn Kayden uns jetzt schon verlässt. Vielmehr rate ich explizit davon ab.«

Meine Mutter tippt mit ihrem Fuß auf den Boden, verschränkt die Arme und starrt Doug an, als wäre er ein kleines, unbedeutendes Stück Scheiße. »Nun, ich verstehe, was Sie raten, aber ich nehme lieber keinen Rat von einem Arzt an, der seinen Doktor an einem Billig-College gemacht hat.«

»Ich habe in Berkeley promoviert«, sagt er und zieht einen Stift aus seiner Tasche.

Meine Mutter mustert ihn mit hochgezogenen Brauen. »Ach ja? Und warum sind Sie dann hier?«

Doug bleibt ruhig, balanciert sein Notizbuch auf einem Arm und schreibt etwas auf. »Dasselbe könnte ich Sie fragen.«

Ich glaube, in diesem Moment mag ich Doug, und ich grinse, als ich einen Finger unter die Gummibänder schiebe und sie gegen die Innenseite meines Handgelenk schnippen lasse. Ich sitze in der Zimmerecke. Es ist nicht der Raum, in dem ich schlafe, sondern ein größerer mit vielen Tischen und Stühlen. Der Putz und die Farbe an den Wänden sind alt und rissig, aber das gefällt mir besser als das dumpfe Weiß an den Wänden meines Zimmers. Einige Leute essen hier mittags. Ich esse lieber in meinem Zimmer, weil hier immer zu viel los ist: Streitereien, Gebrüll, Weinen.

Meine Mutter stößt Doug ihren Finger gegen die Brust. »Wagen Sie es ja nicht, irgendwelche unverschämten Andeutungen zu machen!«

»Tue ich nicht«, erwidert Doug ruhig und fasst sich an die Stelle auf seiner Brust, wo meine Mutter ihn gestoßen hat. »Es scheint mir lediglich, dass Sie etwas zu erpicht darauf sind, Kayden hier wegzuholen, obwohl es offensichtlich ist, dass er instabil ist.«

Ich blicke zu den Narben an meinen Armen und dem Verband am Handgelenk. Die Wunden darunter heilen nicht, denn ich habe zu viel an ihnen gekratzt. Es ist eine beschissene Angewohnheit, die ich einfach nicht abstellen kann.

»Er ist vollkommen stabil«, kontert meine Mutter. Sie lallt ein bisschen, und ich frage mich, ob die anderen beiden es hören. »Und ich entscheide, weil ich es auch war, die unterschrieben hat, dass er hier aufgenommen wird.«

Verblüfft stehe ich auf. »Du warst das? Ich dachte, das wäre das Krankenhaus gewesen?«

Sie sieht genervt zu mir. »Ich habe dich zu deinem eigenen Besten herbringen lassen. Du musstest eine Weile beobachtet werden, aber jetzt – bist du schon seit über einer Woche hier, und es wird Zeit, dass du nach Hause kommst und dich in den Griff kriegst.«

Oder meinem Vater fernbleibe. »Dann will ich raus«, sage ich und gehe auf sie zu. »Und ich will zurück zum College, nicht nach Hause.«

»Das geht nicht«, erwidert sie knapp. »Es sind Weihnachtsferien.«

»Okay, dann bleibe ich vielleicht doch hier.« Ich gehe zu meinem Stuhl zurück, setze mich hin und beuge den Kopf nach vorn, um mir die Schläfen zu reiben. »Scheiße!« Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich will nicht mehr in diesem verfluchten Zimmer sein, aber rauszugehen heißt, mich der Welt, mir selbst, meinem Vater und Callie zu stellen.

»Wenn Kayden hierbleiben möchte«, mischt Doug sich ein, »kann er es.«

»Aber ich zahle ganz sicher nicht dafür«, faucht meine Mutter giftig. Sie greift in ihre Handtasche und nimmt ihre Autoschlüssel heraus. »Ich komme gleich morgen früh und hole dich ab. Dann kommst du mit nach Hause – es sei denn, du willst das hier selbst bezahlen.«

Mit den Schlüsseln in den Händen stürmt sie durch die Tür und nimmt all meine Hoffnung mit sich. Ich frage mich, warum sie das macht. Warum schickt sie mich für etwas über eine Woche in die Psychiatrie und will mich jetzt plötzlich schnellstens rausholen? Irgendwas ist los.

Was es auch ist, ich will nicht nach Hause. Dort wäre die Chance sehr groß, dass mein Vater beendet, was er angefangen hat.

Doug seufzt, steckt seinen Stift wieder ein und wendet sich mir zu. »Tja, das lief ja nicht so gut.«

»Tut es mit ihr nie.« Ich schiebe die Ärmel meines Shirts nach oben und lehne die Arme auf die Knie. »Es ist sinnlos, über irgendwas mit ihr zu streiten. Sie gewinnt immer.«

Er nimmt sich einen Stuhl aus der Ecke und stellt ihn vor meinen. Seine Jacke behält er an, was bedeutet, dass er nicht lange bleibt. »Gewinnt sie auch gegen deinen Vater?«, fragt er beim Hinsetzen.

Alarmglocken schrillen in meinem Kopf. Ich kenne die Übung. Lüge. Lüge. Lüge! »Was meinen Sie? Wobei?«

Er kreuzt ein Bein über das andere, sodass sein Hosenbein nach oben rutscht. Auf seinen Socken sind Smileys. »Streiten sich deine Mutter und dein Vater nie?«

Ich verneine stumm, weil es wahr ist. Sie streiten sich im Grunde nie, denn meine Mutter ist ein Ja-Schatz-Typ. »Nein, eigentlich nicht.«

Er zieht die Brauen zusammen, und ich habe das Gefühl, dass ich etwas Falsches gesagt habe. »Wie ist dein Dad so, Kayden?«

Automatisch krümmen sich meine Finger nach innen, sodass sich die Nägel in meine Handflächen bohren. »Er ist … Er ist ein Dad. Ein normaler Dad.«

»Hast du ein gutes Verhältnis zu ihm?«, fragt er. »Ich finde es nämlich komisch, dass er dich kein einziges Mal besucht hat.«

»Unser Verhältnis ist gut.« Meine Kehle ist wie zugeteert. »Er arbeitet nur viel.«

Dougs Hand wischt über das Papier, während er etwas aufschreibt. Dann fragt er merklich vorsichtig: »Hat er jemals jemanden in deiner Familie geschlagen?«

Es ist die ideale Gelegenheit, ihm alles zu erzählen: über mein Leben, über den Schmerz, über die Wertlosigkeit. Aber es fühlt sich wie Verrat an, und mir wird klar, dass ich die Marionette meines Vaters bin. Es ist eine beängstigende und verwirrende Erkenntnis, als hätten sich die Fäden, die mich an ihn binden, hoffnungslos verknotet. »Ich … Ich weiß nicht.«

»Du weißt es nicht?« Er ist skeptisch. »Bist du sicher?«

Ich nicke und starre auf den Fußboden vor mir. Da ist ein rosa Fleck, und das Linoleum ist größtenteils brüchig und zerkratzt. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Er betrachtet mich, holt eine Karte aus seiner Brusttasche und reicht sie mir. »Ich möchte dich gleich Montagmorgen sehen. Meine Praxisadresse steht auf der Rückseite.« Er dreht die Karte um und zeigt mir die handschriftlich notierte Adresse. »Meine Nummer steht vorn drauf. Falls du mit mir über irgendwas reden willst, kannst du mich jederzeit anrufen.«

Ich nehme die Karte. Mir ist bewusst, dass ich mit einem Besuch in seiner Praxis noch weit mehr zusage. Ich müsste ihm Türen öffnen, die ich vor langer Zeit fest verschlossen habe und hinter denen all die Dämonen lauern. Ich müsste Doug alles erzählen, sogar von meinem Dad. Und was dann? Was ist, wenn ich es tatsächlich tue? Was passiert dann mit meiner Familie? Meiner Mutter? Meinem Dad? Interessiert es mich? Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Wahrscheinlich bin ich der kaputteste, verwirrteste Mensch aller Zeiten.

Doug trägt den Stuhl zurück in die Ecke und klemmt sich das Notizbuch unter den Arm, als er zur Tür geht. »Ich möchte dich in den Weihnachtsferien noch einige Male sehen, und danach suchen wir einen Therapeuten für dich in Laramie, mit dem du weitermachen kannst, wenn du wieder am College bist.«

Ich atme langsam aus und schließe die Hand um seine Karte. Ich schneide mich an dem Papier, und für einen Augenblick beruhigt es den Tumult in mir. »Und wenn ich das nicht will?«

Er lächelt zuversichtlich. »Du willst, sonst hättest du Nein gesagt.«

Ich sage gar nichts, was einer stillschweigenden Zustimmung gleichkommt. Ich werde in Laramie zu einem Therapeuten gehen – vorausgesetzt, ich schaffe es zurück zum College.

Scheiße! Plötzlich fällt mir wieder ein, dass ich noch mehr Probleme außer meinem Vater habe. Wie komme ich aus diesem Mist wieder raus? Soll ich Caleb von meinem Vater bezahlen lassen? Und dann? Mein Leben lang in seiner Schuld stehen? Und seine Geheimnisse, die Geheimnisse unserer Familie ewig hüten?

Doug geht aus dem Raum, und ich stütze den Kopf in die Hände. Grob fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar und zerre fest an den Wurzeln. Könnte doch einmal etwas einfach sein, damit ich locker lassen kann, atmen.

Was ich mir wirklich wünsche, ist Callie.

Callie

Ich wache früh am nächsten Morgen auf, bevor die Sonne vollständig über den Bergen aufgegangen ist. Letzte Nacht habe ich furchtbar schlecht geschlafen, mich hin und her gewälzt und konnte keine bequeme Liegeposition finden. Immer wieder habe ich diesen Traum, in dem ich in Kaydens Haus laufe, Blut und Messer auf dem Boden finde, aber er ist nicht da. Ich suche das ganze Haus nach ihm ab, doch alles, was ich finde, sind Unmengen Laubhaufen. Aus diesem Traum wachte ich schweißgebadet auf und musste mich schließlich im Bad übergeben.

Ich liege wach im Bett, neben dem friedlich schnarchenden Seth. Eine Weile lang lausche ich seinem Atem, bis ich es nicht mehr aushalte, aufstehe und das Tagebuch aus meiner Tasche hole. Damit hocke ich mich auf die halbfertige Fensterbank, von der man auf die verschneite Einfahrt sieht. Der Wagen meiner Mom ist unter einem halben Meter Schnee begraben, und Dads Truck hat Schneeketten an den Reifen.

Ich ziehe die Knie an und lege mein Tagebuch darauf, bevor ich zu schreiben anfange.

Ich träume, dass ich Kuchen bekomme, bevor Caleb mich in mein Zimmer bringt. Als ich die Kerzen ausblase und mir etwas wünschen darf, wünsche ich mir den glücklichsten und besten Geburtstag der Welt, und der Wunsch geht in Erfüllung. Caleb kommt an jenem Tag nicht, um mit meinem Bruder abzuhängen, und ich kann draußen mit den anderen Kindern Verstecken spielen. Ich reiße Geschenkpapier auf und freue mich über meine Geschenke.

In letzter Zeit wünsche ich mir in diesem Traum nichts für mich, sondern etwas für Kayden. Ich wünsche mir, dass er mir nie begegnet wäre und nie von meinem Geheimnis erfahren hätte. Ich wünsche, dass er nie einen Grund gehabt hätte, Caleb zusammenzuschlagen, und nie verblutend auf dem Küchenboden gelandet wäre.

Ich wünsche mir Glück in einer Welt voller Kummer.

Immer ist alles voller Schmerz, und ich wünsche mir, dass er verschwindet.

Natürlich sind Wünsche bloß Wünsche, nichts als die Hoffnung auf einen Lichtfunken in einem dunklen Feld.

Als ich meinen Wunsch für Kayden analysiere, bekomme ich Angst vor dem, was er bedeutet. Wenn ich bereit bin, die Zerstörung meiner Kindheit im Tausch gegen dies hier hinzunehmen, was sagt das über meine Gefühle für ihn? Sind sie so intensiv? Und bin ich bereit für sie?

Ich unterbreche, um über das Geschriebene nachzudenken. Als ich aufblicke, sehe ich meine Mutter zur Seitentür herauskommen und durch den Schnee zur Garage stapfen. Mir fällt der Kuli aus der Hand und auf den Boden. Ich sehe hinüber zu Seth, der im Bett schläft. Panisch springe ich auf, schnappe mir Jacke und Handy und renne zur Tür hinaus. Meine Mutter ist schon oben an der Treppe, als ich die Tür hinter mir schließe.

»Ah, gut, du bist wach.« Sie schlingt ihre Arme um sich und hüpft bibbernd auf und ab.

Ich ziehe meine Jacke an und mein Haar hinten aus dem Kragen. »Ja, ich wollte gerade rüberkommen.«

Meine Mom sieht zu den Bergen und dem Himmel, der vom Sonnenaufgang rosa gefärbt ist und sich in ihren Augen spiegelt. »Du bist früh auf.« Ihr braunes Haar weht im Wind, als sie mich ansieht. Obwohl es nur einen Monat her ist, seit ich sie zuletzt gesehen habe, ist sie sichtlich gealtert. Aber das kann auch daran liegen, dass sie im Pyjama und weder frisiert noch geschminkt ist. »Ich erinnere mich gar nicht, dass du eine Frühaufsteherin bist.«

Schulterzuckend mache ich meine Jacke zu, ziehe die Kapuze auf und verschränkte fröstelnd die Arme vorm Oberkörper. »Ich habe auf der Fahrt her im Truck geschlafen«, lüge ich. »Deshalb war ich nicht besonders müde.«

Sie beäugt mich misstrauisch. »Mit wem bist du hergefahren?«

Am liebsten würde ich nicht antworten. »Ähm, mit Luke.«

»Welcher Luke?«

»Luke … Price.«

Ihre Schultern versteifen sich, und sie zurrt ihren Morgenmantel fester um sich. »Kaydens Freund?«

Ich nicke. »Ja.«

Sie beißt die Zähne zusammen und versucht, durch die überfrorene Türscheibe hinter mir zu sehen. »Callie, ich will nicht, dass du dich mit Kayden abgibst.«

Eine Windböe wirbelt Schneeflocken um uns herum, die mir in die Haut beißen. Der Wind heult an meinen Ohren, und das grelle Licht brennt in meinen Augen.

»Wieso nicht?« Meine Zähne klappern, und ich wiege mich, um mich warm zu halten.

»Weil ich nicht will, dass du irgendwas mit Kayden zu tun hast.« Sie sieht mich angeekelt an. Aber vielleicht ist das auch Angst. »Er hat sich offensichtlich nicht unter Kontrolle. Sogar dein Vater hat gesagt, dass er im Team Ärger gemacht hat.«

»Ich glaube nicht, dass Dad das gesagt hat«, widerspreche ich. »Er mochte Kayden immer. Und außerdem redest du mit Kaydens Mutter.«

»Nicht freiwillig.« Ihr Blick wirkt streng, als würde sie Maci Owens die Schuld für Kaydens Fehler geben. Falls das stimmt, würde sie dann sich selbst die Schuld geben, wenn ich ihr erzähle, was mir passiert ist?

Ich verstecke meine Hände in den Ärmeln und neige das Kinn zum Jackenkragen. Ich trage nur meine Pyjamahose, sodass die kalte Luft direkt durch den dünnen Stoff auf meine Haut bläst. »Können wir nach drinnen gehen? Es ist kalt.«

Wieder sieht sie zur Tür hinter mir und dann zurück zu mir. »Ist dein Freund da drinnen? Der, der …« Sie senkt die Stimme und blinzelt gegen die Schneeflocken. »Der, der Jungs mag?«

Seufzend drehe ich mich zur Seite und dränge mich zwischen sie und das Treppengeländer, ohne zu antworten. Zum Glück folgt sie mir, und Seth ist vom Haken. Fürs Erste.

Als ich in die Küche komme, stürzt jener Abend wieder auf mich ein, an dem Jackson am Tisch Kuchen aß und Caleb mich mit meinem Geheimnis quälte. Der Abend, an dem Kayden herausfand, wer mich gebrochen hat. Der Abend, an dem er mich weinen ließ und dann so unbemerkt aus meinem Leben verschwand, als wäre er aus Luft.

Ich gehe zum Schrank und nehme mir eine Schale und Cornflakes. Während ich die Cornflakesschachtel öffne, kommt meine Mom herein, zusammen mit Kälte und Schnee. Sie knallt die Tür zu und zieht ihre Stiefel neben der Tür aus, ehe sie um den Tisch herum zu mir kommt.

»Ich wollte dir Frühstück machen.« Sie greift nach der Schublade über dem Ofen, in der die Töpfe und Pfannen sind.

Ich schüttle den Kopf und kippe Cornflakes in die Schale. »Ist schon okay. Ich brauche kein großes Frühstück.«

Sie senkt die Arme und mustert mich. »Du siehst aus, als hättest du wieder abgenommen.«

Ich blicke zu meinen kurzen Beinen und der schmalen Taille unter meinem Pyjama. »Ich bin nur gestresst.«

»Wovon?«, fragt sie. »Von der Schule? Oder von dem, was mit deinem Freund ist?«

Ich kann mich nicht beherrschen. Es ist zu viel, und es macht mich wütend. »Ah, jetzt ist er mein Freund, aber als du es zum ersten Mal gehört hast, warst du ganz begeistert, dass wir ein Paar sind. Ja, ich glaube sogar, dass du es in der ganzen beschissenen Stadt herumerzählt hast.«

»Achte auf deine Wortwahl.« Sie bindet ihren rosa Morgenmantel neu und wischt sich das Haar aus dem Gesicht. »Callie Owens, so redest du nicht mit mir«, sagt sie, dreht sich um und streckt den Arm nach dem Schrank mit ihren vielen Medikamenten aus. »Dies ist mein Haus, und solange du hier bist, hältst du dich an meine Regeln.«

Kochend vor Wut schließe ich die Cornflakesschachtel. »Ich bin achtzehn, und ich kann befreundet sein, mit wem ich will.«

Sie greift nach einem der größeren Fläschchen und dreht sich langsam zu mir um, die Hand über dem Deckel. »Auch mit Leuten, die den besten Freund deines Bruders zusammenschlagen?«

Ich klammere mich an die Granitarbeitsplatte, als mir der Schmerz der letzten sechs Jahre den Atem raubt. »Das ist alles, was dich interessiert? Caleb?« Sein Name ist pures Gift auf meiner Zunge.

Sie hat Mühe, den Deckel von dem Fläschchen zu schrauben. »Callie, Caleb ist schon Teil dieser Familie, seit er sechs war. Du weißt, dass seine Eltern kaum mit ihm reden. Wir sind die einzige Familie, die er hat.«

»Caleb ist mir scheißegal!«, schreie ich, und meine Lunge platzt beinahe. Aber es fühlt sich gut an. Richtig gut. Ich presse eine Hand an meine Brust, lasse ruhig die Arbeitsplatte los und straffe die Schultern. »Ich gehe rüber und frühstücke mit Seth.«

Ihre Augen werden sehr groß, und sie öffnet den Mund, doch mein Gesichtsausdruck hält sie davon ab, etwas zu sagen. Sie schließt den Mund wieder und löst endlich den Deckel des Tablettenfläschchens ab. »Meinetwegen. Viel Spaß.« Die Pillen klappern leise, als sie ein paar in ihre Hand schüttet.

Ich stelle die Cornflakes wieder in den Schrank, die Schale in die Spüle und eile zur Tür zurück. Dann laufe ich über die Einfahrt und die Treppe hinauf zur Wohnung über der Garage. Als ich hereinkomme, sitzt Seth wach und in einem frischen roten T-Shirt und einer dunklen Jeans auf der Bettkante.

»Du bist ja auf«, sage ich verwundert und schließe die Tür hinter mir.

Er richtet sein Haar mit den Fingern. »Ich bin aufgewacht, als du hier rausgerannt bist, als würde die Bude brennen. Was sollte das?«

Ich ziehe meine Jacke aus und schleudere sie aufs Bett. »Ich hatte gesehen, wie meine Mutter herkam, und ich wollte nicht, dass du von ihr geweckt wirst.«

Er bindet sich seine Uhr um, während er zu seinen Schuhen neben dem Fußende des Bettes geht. »Callie, egal, wie viele Witze wir machen, ich werde mit deiner Mutter fertig.« Er steigt in seinen Stiefel. »Glaub mir, wenn ich mit meiner eigenen Mutter klarkomme, schaffe ich auch deine.«

Stirnrunzelnd hocke ich mich auf die Bettkante. »Aber mit deiner Mom hast du nicht mehr geredet, seit du ihr von Greyson erzählt hast.«

Er zuckt mit der Schulter, bindet sich den Stiefel zu und zieht den Knoten fest. »Sie verkraftet das schon. Es braucht nur seine Zeit, so wie damals, als ich ihr erzählt habe, dass ich schwul bin.«

Ich falle nach hinten auf das Bett und lege einen Arm über die Stirn. »Woher weiß man, was man seinen Eltern erzählen soll und was nicht?«

Zunächst schweigt er, dann höre ich, wie er zu meiner Seite des Bettes kommt. Er hebt meinen Arm hoch und sieht mich an. »Wenn du mich fragst, ob ich denke, du solltest deinen Eltern erzählen, was mit Caleb passiert ist, lautet die Antwort Ja. Ich denke, das solltest du.«

Er lässt meinen Arm los, und ich stütze mich auf die Ellbogen auf. »Wie kannst du so sicher sein? Sie wird womöglich wütend auf mich. Oder sie hasst sich selbst so sehr, wie ich mich … gehasst habe.«

Seth streicht mir das Haar aus der Stirn. »Callie, falls sie sich selbst eine Weile lang hasst, dann tut sie es eben. Du trägst die Last seit sechs Jahren mit dir herum, und es wird Zeit, dass dir jemand ein bisschen was von dem Gewicht abnimmt.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, flüstere ich und klammere mich an den dumpfen Schmerz in meiner Brust. »Ihr die Wahrheit zu erzählen ist nur so … so endgültig.«

»Du meinst, du müsstest damit endlich akzeptieren, dass es wahr ist?«

Nickend sehe ich zum klaren Himmel hinaus. Die Sonne scheint auf die Häuser auf der anderen Straßenseite. In Afton ist Sonnenschein etwas Seltenes, und vielleicht ist es ein Zeichen, dass nicht alles in Dunkelheit gehüllt ist. Dass selbst in den dunkelsten Winkeln Licht existiert.

Seth tritt zurück, als ich aufstehe und zu meiner Tasche auf dem Klappstuhl nahe der Tür gehe. »Ich dachte, wir könnten heute Morgen irgendwo frühstücken gehen. Es gibt ein Café in der Stadt, wo sie die besten Pancakes der Welt machen.« Ich nehme ein lila Shirt und eine Jeans aus der Tasche.

»Wir könnten auch zuerst Kayden besuchen«, sagt Seth und tippt etwas in sein Handy.

»Aber er darf keinen Besuch haben.« Ich halte die Sachen vor meine Brust und will ins Bad, um mich umzuziehen.

»Doch, darf er.« Seth legt das Handy auf sein Knie und atmet tief durch. »Ich hatte eben eine SMS von Luke, dass Kayden nicht bloß inzwischen Besuch haben darf, sondern heute Morgen die Einrichtung verlässt.«

Mich holt die Realität ein, und ich bleibe mitten im Zimmer stehen. Auch wenn ich es nicht laut zugeben würde, hatte ich mich gefragt, ob ich Kayden je wiedersehe. Womöglich existierte er nicht einmal, und alles, was zwischen uns war, entsprang lediglich meiner Fantasie, die meinen Verstand zwingen wollte, wieder zu funktionieren. »Sollen wir warten, bis er draußen ist, und ihn dann besuchen?« Ich starre zur offenen Badezimmertür.

Die Matratze quietscht, als Seth aufsteht und vor mich tritt. »Ich finde, wir sollten ihn abholen fahren. Luke hat gesagt, dass seine Mutter ihn mit nach Hause nehmen will, aber er denkt, dass wir ihn lieber holen und woanders hinbringen.«

Ich sehe zu ihm auf. »Ihn entführen?«

Seth lacht, wird rot und kriegt wässrige Augen. »Er ist neunzehn Jahre alt, Callie! Es ist keine Entführung, wenn er weg will.«

»Aber soll er nicht unter Beobachtung sein?«

»Wie? Bei seinen Eltern zu Hause? Bei seinem Dad

Ich atme zittrig aus. »Meinst du nicht, dass wir alles noch schlimmer machen, wenn wir … weglaufen.«

Seth kommt näher zu mir, legt mir die Hände auf die Schultern und fixiert mich mit seinem Blick. »Willst du wissen, was ich denke? Ich denke, dass du Schiss hast.«

Ich umklammere die Sachen vor meiner Brust, weil ich mich an irgendwas festhalten muss. »Wovor?«

»Vor der ganzen Geschichte über jene Nacht. Ich glaube, du fürchtest dich vor der Wahrheit.«

»Aber was ist denn die Wahrheit?«, frage ich.

Seth lächelt und schüttelt sanft meine Schultern. »Das musst du herausfinden, denn er braucht dich.«

Er hat recht. Ich fürchte mich vor allem, was diese Nacht betrifft, und davor zuzugeben, dass es meine Schuld ist. Mir macht Angst, eventuell zu erfahren, dass Kayden wirklich versucht hat, sich umzubringen und mich alleine in der Welt zurückzulassen. Dass er mich wieder verlassen wird und ich ihn doch so dringend brauche wie die Luft zum Atmen.

»Und wo bringen wir ihn hin?«, frage ich. »Meine Mom hat schon gesagt, dass sie ihn nicht hier haben will.«

Ein teuflisches Grinsen erscheint auf Seths Gesicht. »Überlass das mir. Du musst nur deine Tasche mitnehmen und deiner Mom sagen, dass du ein paar Tage weg bist.«

Mir ist nicht wohl dabei. »Willst du mir nicht verraten, wohin wir fahren?«

Sein Grinsen wird breiter, und er stemmt die Hände in die Hüften. »Das nennt man einen Überraschungstrip, Callie.«

Ich reibe mir übers Gesicht. »Hältst du das für eine kluge Idee?«

»Nein, aber kluge Ideen waren noch nie mein Ding. Ich glaube an irrationale, spontane Entscheidungen, die das Leben spannend machen. Und das Leben muss spannend sein, denn wir haben nur das eine.«

Ich schmunzle, was sich fast echt anfühlt. »Du bist der klügste – nein, irrationalste, spontanste Mensch, den ich kenne.«

Er umarmt mich, und ich lasse meine Sachen fallen, um die Umarmung zu erwidern. Ich zucke nicht zusammen, kriege keine Panik, genieße es einfach. Denn Seth ist wie Zuhause. Und ich hoffe, dass Kayden es eines Tages auch sein wird.

Wir halten uns ein bisschen in den Armen, dann lassen wir uns wieder los. Ich hebe mein Shirt und die Hose auf und gehe ins Bad. »Na gut, holen wir ihn«, sage ich. Mir ist klar, dass es nicht leicht wird.

Das Wiedersehen mit jemandem, den man verloren hatte, ist selten leicht, vor allem, wenn man nicht sicher ist, wen genau man wiedersieht.