Meine Mom kommt mich am nächsten Morgen abholen, wie sie es versprochen hatte. Sie haben aufgehört, mir meine Medikamente zu geben, deshalb fühle ich mich ausgelaugt und habe so ein fieses Stechen in mir, als würden Glasscherben durch meine Adern strömen.
»Bist du bereit, nach Hause zu gehen?«, fragt sie, als sie mein Zimmer betritt. Etwas an ihrem Tonfall gefällt mir nicht. Soll er mich vor dem warnen, was mich zu Hause erwartet?
Einen Moment überlege ich, Doug zu erzählen, was wirklich passiert ist. Wenigstens könnte ich mich so davon befreien. Aber dann stelle ich mir vor, was das bedeuten würde – was ich zugeben und womit ich mich auseinandersetzen müsste. Mit jedem Schlag, jedem Tritt, mit einer Kindheit voller qualvoller Erinnerungen. Ich müsste es fühlen und hätte keine Rasierklinge, um es abzustellen.
»Ja«, antworte ich schließlich, während ich eine Jeans zusammenlege und in die Tasche packe.
Sie sieht erleichtert und entsetzt zugleich aus. »Gut.«
Fünf Minuten lang redet sie mit dem Arzt an der Tür und nimmt die Papiere, die sie ihr geben, mit einem halbwegs toleranten Gesichtsausdruck an. Ich räume den Rest meiner Sachen aus der Kommodenschublade neben dem Bett. Meine Fäden sind gezogen, aber es tut immer noch ein bisschen weh, wenn ich den Oberkörper bewege. Die Ärzte sagen, dass ich vollständig in Ordnung komme und in der nächsten Saison wohl wieder Football spielen kann.
So weit voraus mag ich nicht denken, weil ich keinen Schimmer habe, was vor mir liegt. Eine Anklage? Mein Dad? College? Callie? Vielleicht nichts.
Ich ziehe den Reißverschluss der Tasche zu, schwinge sie auf meine Schulter und beschließe, erst mal nicht über meine Zukunft nachzudenken. Jetzt muss ich mich nur darauf konzentrieren, zur Tür hinauszugehen und es bis zum Wagen zu schaffen. Meine Mom und die Ärzte sind verschwunden, also gehe ich unsicher los, ohne recht zu wissen, wohin ich soll.
Das Schicksal nimmt mir die Entscheidung ab. Ich bin erst halb durchs Zimmer, als es in Form einer winzig kleinen Gestalt mit großen blauen Augen und braunem Haar hereinkommt. Sie sieht kleiner aus als das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ihre Taille ist ein wenig schmaler, und sie hat dunkle Schatten unter den Augen, als hätte sie nicht besonders gut geschlafen.
»Callie«, sage ich und lasse meine Tasche fallen.
Sie ringt die Hände und sieht traurig zu dem Verband an meinem Unterarm. »Hi«, sagt sie mit ihrer kleinen Stimme und blickt mich direkt an. Ihr Haar ist hochgebunden, und einzelne Strähnen hängen um ihr Gesicht.
Ich lächle wie ein bescheuerter Idiot, werde aber sofort wieder ernst. »Du solltest nicht hier sein.«
Sie holt angestrengt Luft. »Seth, Luke und ich haben beschlossen, dich abzuholen … Ich dachte, Luke hätte dir am Telefon gesagt, dass wir kommen.«
»Ja – aber das heißt nicht, dass du hier sein solltest.« Ich weiß, dass ich schroff klinge, doch dagegen kann ich nichts tun. Ich hatte ehrlich nicht gedacht, dass sie herkommen würde, und jetzt … Ich hasse es, dass sie mich hier sieht.
Sie reißt die Augen auf, als hätte ich sie geohrfeigt, und ich komme mir wie ein Riesenarsch vor. Callie macht einen Schritt auf mich zu, und ich balle die Fäuste, um mich davon abzuhalten, sie zu berühren, meine Finger in ihrem Haar zu vergraben, sie zu küssen. »Luke und Seth meinen, dass wir einen Ausflug machen sollen.«
»Einen Ausflug?«, wiederhole ich ungläubig. »Jetzt?«
Sie zuckt mit den Schultern, was wohl heißt, dass sie keinen Schimmer hat, was sie tun oder sagen soll. Ich will sie aus dieser Lage befreien, denn sie braucht es wirklich nicht, in einer Psychiatrie vor einem Typen zu stehen, der sich fast totgeritzt hat und sich beinahe von seinem Vater umbringen ließ.
»Hör zu, Callie.« Ich nehme meine Tasche auf und hänge mir den Träger über die Schulter. »Ich kann nicht mit euch wegfahren.« Ich fühle ein Pochen unter dem Verband und konzentriere mich darauf, statt auf das Glänzen ihrer Augen und das Beben ihrer Unterlippe. »Ich kann jetzt gar nichts mit dir machen.« Ich gehe auf sie zu und an ihr vorbei. »Ich melde mich später bei dir, okay?«
Es ist das Blödeste, was mir je über die Lippen kam, doch es muss sein. Callie verdient etwas Besseres als so ein kaputtes Stück Dreck wie mich.
Ich stehe nervös vor seiner Zimmertür und warte darauf, dass ich hineingehen und Kayden sehen kann. Seine Mom ist bei ihm, und ich will nicht rein, ehe sie weg ist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll oder ob ich überhaupt irgendwas sagen kann, wenn ich drinnen bin. Es gibt kein Zauberwort, das es einfacher macht, und ich habe schreckliche Angst.
Auf dem Flur wimmelt es von Leuten. Das Chaos ist verstörend und zerrt an meinen angespannten Nerven. Seit Tagen schreibe ich in mein Tagebuch, was ich sagen will, wenn ich ihn wiedersehe. Ich bin so froh, dass es dir besser geht. Es tut mir leid. Danke. Bei dem letzten Gedanken fühle ich mich schuldig, kriege ihn aber nicht aus dem Kopf.
»Du siehst aus, als müsstest du kotzen, Callie«, unterbricht Seths Stimme meine Gedanken. Er steht mir gegenüber neben Luke, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und sieht mich besorgt an. »Brauchen wir einen Eimer oder so?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, mir geht es gut. Und wo willst du hier einen Eimer auftreiben?«
Seine Mundwinkel zucken, und mit drei großen Schritten ist er bei mir. »Du weißt, dass mit ihm alles okay ist, oder? Er ist immer noch Kayden, bloß ein verbeulter, der dich wahrscheinlich mehr als alles andere braucht.«
»Ja, ich schätze schon.« Ich überkreuze die Arme vor der Brust, lasse sie gleich wieder herunterhängen und kann einfach nicht stillhalten.
Seth legt einen Arm um mich und zieht mich zu sich. »Tief und gleichmäßig atmen.«
Ich nicke, atme durch die Nase ein und durch den Mund aus, wie er es mir vormacht. Doch kaum geht die Tür auf, verkrampft sich meine Brust. Maci Owens kommt heraus. Sie ist wie für ein Galadinner angezogen, was ich lächerlich finde. Ihr Haar ist zu einem eleganten Knoten aufgesteckt, und ihr Eyeliner und Lippenstift sind entschieden zu dick aufgetragen. Sie hat ein marineblaues Kleid an und hohe schwarze Schuhe. Meine finsteren Gefühle für sie könnten daher rühren, dass sie hier ist und kein bisschen traurig wirkt.
Ihre hohen Absätze klappern über den Boden, als sie mit einer der Schwestern aus dem Zimmer tritt. Sie hat ihr Handy in der einen und ein Paar Lederhandschuhe in der anderen Hand. Die Frau, die mich einst mit einem Strahlen begrüßte, nimmt mich nun kaum zur Kenntnis. Wahrscheinlich ist sie noch sauer wegen meiner Reaktion, als sie mir erzählen wollte, dass Kayden sich selbst verletzt hat.
Ich sehe ihr hinterher, als sie den Flur hinuntergeht. Dann stößt Seth mich mit dem Ellbogen an, und ich löse meinen Blick von ihr. »Hmm?«
Er nickt zur Tür. »Mach dir keine Gedanken über sie. Geh rein.«
Ich blicke zu Luke. »Vielleicht gehst du zuerst.«
»Ich glaube, er will lieber dich sehen«, erwidert er rasch.
Zwar bin ich nicht sicher, dass das stimmt, doch ich beschließe, es zu tun. Nachdem ich einmal tief Luft geholt habe, gehe ich ins Zimmer. Ich fand schon immer, dass Krankenzimmer die deprimierendsten Räume überhaupt sind, aber dieses hier ist noch viel schlimmer. Die Wände sind kahl, der Boden ist fleckig, und das Bett ist schon für den nächsten Patienten hergerichtet.
Kayden steht mit einer Tasche über der Schulter mitten im Zimmer. Ich hatte ihn mir im Bett liegend vorgestellt, hilflos und verängstigt. Stattdessen ist er größer, als ich ihn in Erinnerung habe, und sofort neige ich den Kopf nach hinten, um in seine grünen Augen zu sehen. Sein braunes Haar sieht ein bisschen länger und zotteliger aus, hängt ihm über die Ohren und in die Augen, und er hat sich länger nicht rasiert. Auf seiner Wange ist eine neue Narbe und an seinem Handgelenk ein Verband neben mehreren Gummibändern. Körperlich wirkt er stark, auch wenn sein Gesichtsausdruck etwas Zerbrechliches hat.
»Callie.« Er scheint erstaunt und ein bisschen verärgert, mich zu sehen. Die Tasche rutscht von seinem Arm und fällt auf den Boden.
»Hi.« Das dürfte so ziemlich das Blödeste sein, was ich sagen konnte, aber mir fällt nichts anderes ein.
Für einen Moment sieht es aus, als wollte er lächeln, doch dann frage ich mich, ob ich es mir bloß eingebildet habe. »Du solltest nicht hier sein«, sagt er.
Mein Herz zieht sich zusammen, wird zu einem Knoten und droht, in Stücke zu zerfallen. Ich weiß nicht, was ich machen oder sagen soll, deshalb erzähle ich ihm, dass wir mit ihm wegfahren wollen. Er ist nicht froh, und auf einmal verschwindet er, geht an mir vorbei, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Dann bin ich allein, kann mich nicht bewegen, nicht atmen. Alles, woran ich denken kann, ist, dass dies das Ende ist. Das Ende meines Glücks.
Eine Ewigkeit stehe ich in dem Zimmer, bis schließlich Seth hereinkommt. Er nähert sich mir wie einer schreckhaften Katze, und ich blicke hinunter zu meinen Fingernägeln. Fürchtet er, ich könnte ihn kratzen?
»Hey.« Er steckt die Hände in seine Taschen und kommt vorsichtig auf mich zu. »Wollen wir jetzt zu diesem Frühstück fahren? Die erste Ladung Pancakes geht auf mich.«
Ich liebe ihn dafür, dass er nicht fragt, was passiert ist. Müsste ich etwas sagen, würde ich wahrscheinlich in lauter winzige Teile brechen, die sich in den schmutzigen Rissen auf dem Fußboden verfangen. Auf mein Nicken hin legt Seth einen Arm um mich und führt mich nach draußen, hält mich zusammen.
Im Café ist es voll und die Luft erfüllt von den Stimmen der Leute, die ihr Frühstück mit ihrer Familie genießen. Teller klappern in der Küche, und es riecht nach Kaffee und Waffeln. Luke ist mitgekommen, wurde jedoch gleich von einer Kellnerin hinterm Tresen abgelenkt, mit der er flirtet. Ich frage mich, ob er es absichtlich macht, um nicht über das nachdenken zu müssen, was in der Klinik war. Er war Kayden noch nachgelaufen, kehrte aber einige Minuten später sichtlich niedergeschlagen zurück. Er hat uns nicht erzählt, was geschehen war.
»Weißt du, was mir gerade klar wird?« Seth zeigt mit seiner sirupbeschmierten Gabel auf mich und kaut auf einem Mundvoll Pancakes. »Das muss mit auf unsere Liste.«
Ich sehe zu dem fast unberührten Stapel Pancakes auf meinem Teller. »Was? Iss Pancakes?«
Seine Halsmuskeln bewegen sich auf und ab, als er zu viel auf einmal runterschluckt. »Nein, iss bergeweise Pancakes.«
Ich nehme die Flasche Erdbeersirup von dem Tablett am Tischende und drehe sie auf den Kopf, um meine Portion mit rotem Sirup zu tränken. »Das ist nicht wichtig genug für die Liste.«
Seth schüttelt den Kopf. »Ist es wohl. Jeder sollte sich mindestens einmal im Leben mit Pancakes vollstopfen.« Er schiebt sich einen weiteren Bissen in den Mund, schließt die Augen und inhaliert genüsslich. »Vor allem solche, die so verdammt gut sind. Ich schwöre, ich habe gerade einen Essgasmus.«
Ein Lachen platzt aus mir heraus, und er reißt begeistert die Augen auf. Es ist tatsächlich das erste echte Lebenszeichen, das ich seit der Klinik von mir gebe. »Essgasmus?«, frage ich.
Er nickt und schluckt wieder kräftig. »Der Gasmus der Sieger.«
»Sieger in was?«
»Dem Leben.«
Ich kann nicht aufhören zu lächeln, während ich mir eine Gabel voll Pancakes in den Mund stecke. »Na gut, wir können es auf die Liste schreiben und gleich ausstreichen, weil wir es schon tun.«
Seth grinst breit, zupft eine Serviette aus dem Spender und tupft sich Sirup von den Lippen. Seine Finger legen sich um das Milchglas vor ihm, und er trinkt einen Schluck durch den Strohhalm. Anschließend stellt er das Glas wieder ab, wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab und lehnt sich auf der Bank zurück, die Arme auf der Lehne ausgestreckt. Er beobachtet mich sorgenvoll, während ich esse.
Ich stopfe mir mehr Pancake in den Mund und sehe ihn an. »Was?«
Seine Schultern bewegen sich auf und ab. »Ich frage mich nur gerade, ob du über das reden willst, was passiert ist.«
Ich strecke meine Hand nach der Butter aus, die in der Tischmitte neben einem Teller voller Toast und einer Schale mit kleinen Marmeladenpackungen steht. »Mit Kayden?«, frage ich, und er nickt. Ich schneide eine dünne Scheibe Butter ab. »Nichts. Ich habe es versaut, das ist alles.«
»Du sahst aus, als würdest du gleich weinen«, sagt er. »Und Kayden, na ja, er sah wütend aus, als er rauskam. Ich meine, er ist praktisch vor mir weggelaufen, als ich Hi sagte.«
Ich streiche Butter über die Pancakes, was zusammen mit dem Sirup eine Schweinerei ergibt. »Ich bin eben nicht auf ihn zugegangen wie auf eine verschreckte Katze. Ich habe ihm viel zu schnell die Idee mit dem Ausflug entgegengeschleudert, und er ist ausgeflippt. Zumindest glaube ich, dass das passiert ist.«
»Also hat er kurz mal beschlossen, nach Hause zu seinen Eltern zu gehen.« Seth nimmt die Arme von der Banklehne und stützt die Ellbogen auf den Tisch. »Warum tut er das?«
Ich teile den halbgegessenen Pancakes-Stapel, lehne einen Ellbogen auf den Tisch und stütze das Kinn in die Hand. »Vielleicht ist er noch nicht bereit, die Wahrheit laut einzugestehen.«
»Redest du jetzt von ihm oder dir?«
»Weiß nicht.«
Ich demoliere meine Pancakes mit der Gabel weiter und überlege, was in Kaydens Kopf vorgehen mag. Falls sein Dad ihm das angetan hat, könnte er Angst haben, aber warum würde ihm das auch Angst vor mir machen? Ich denke an den Verband und die Gummibänder an seinem Handgelenk.
Plötzlich lasse ich mein Messer auf den Tisch fallen. »Seth, wieso trägt jemand Gummibänder am Handgelenk?«
Er zuckt mit den Schultern, als die Kellnerin mit der Rechnung an unseren Tisch kommt. Er nimmt sie und lächelt das Mädchen an.
»Danke für den Besuch.« Sie wickelt eine ihrer blonden Strähnen mit dem Finger auf, beißt auf ihren Kaugummi und versucht, ihn zu beeindrucken. »Ich hoffe, ihr kommt bald mal wieder.«
Seth greift kopfschüttelnd in seine Tasche, um sein Portemonnaie herauszuholen. »Sosehr ich diese Pancakes auch geliebt habe, komme ich wohl nicht noch mal her.« Es ist seine Art, der Kellnerin höflich einen Korb zu geben.
Sie zieht einen Schmollmund und nimmt die Rechnung und seine Kreditkarte entgegen. »Okay, dann nicht.« Nachdem sie mir einen tödlichen Blick zugeworfen hat, stöckelt sie in ihren zur Uniform passenden bonbonrosa Pumps davon.
»Ehrlich, das weibliche Geschlecht versetzt mich allmählich in Staunen«, bemerkt Seth und legt sein Portemonnaie auf den Tisch. »Immerzu an den falschen Stellen auf der Suche nach Liebe.«
»Schließt das mich mit ein?« Ich trinke meinen Orangensaft aus und stelle das leere Glas wieder hin.
Seth verdreht die Augen, als hätte er noch nie etwas Absurderes gehört. »Selbstverständlich nicht, Schätzchen. Du musst es nur geschickter angehen.« Er spielt mit seiner Uhr, dreht sie um sein Handgelenk und sieht auf das Ziffernblatt. »Warum hast du das mit den Gummibändern gefragt?«
Ich lasse meinen Finger um mein Handgelenk kreisen. »Weil Kayden ein ganzes Bündel an seiner Hand hatte.«
Seth trommelt mit den Fingern auf dem Tisch, dann runzelt er die Stirn. Er holt sein Handy hervor und wischt mit dem Finger übers Display, ehe er etwas eintippt.
»Was machst du?«, frage ich und greife nach meiner Handtasche.
Er hält einen Finger in die Höhe, während er weiter auf das Display tippt. »Eine Sekunde.«
Ich nehme einige Dollarscheine aus dem Geldbeutel, verstaue ihn wieder in der Tasche und lege das Trinkgeld auf den Tisch. Unsere Kellnerin steht drüben am Tresen und flüstert einer Kollegin etwas zu. Beide sehen zu mir, als wäre ich der Teufel.
»Ich glaube, sie halten mich für deine Freundin«, sage ich und lehne mich tiefer in die Bank.
Seth blickt kurz hin und achselzuckend zurück auf den Bildschirm. »Dann war es richtig mies von ihr, mich anzubaggern.«
»Ja, war es wohl.« Ich sehe hinaus zum wirbelnden Schnee. Er ist überall, weiß und frisch und wirkt so unschuldig, wie er im Sonnenschein glitzert. Das Unschuldige täuscht aber, denn die vereisten Straßen hier haben schon viele Unfälle verursacht und Leben gefordert.
Seth schlägt seine Hand auf den Tisch, dass das Eis im Glas klirrt und ich erschrocken zusammenzucke. »Wusste ich’s doch, dass mir das bekannt vorkommt«, murmelt er und zeigt auf sein Handy auf dem Tisch. »Ich weiß, wofür die Gummibänder sind.«
»Wofür?«, frage ich und setze mich gerader hin.
Er ergreift meine Hand über den Tisch hinweg. »Es ist eine Behandlungsform für Leute, die sich selbst schneiden oder sonstwie verletzen.«
Ich wusste schon, dass Kayden sich selbst verletzt haben könnte, doch jetzt wird es real. Rasch ziehe ich meine Hand aus Seths und überkreuze die Arme vor meinem Bauch, während ich mich innerlich krümme. »Mir ist nicht gut.«
»Callie, alles wird gut«, versichert er mir und will wieder nach meiner Hand greifen.
Ich weiche kopfschüttelnd zurück und stehe auf. Das säuerliche Brennen in meinem Magen schmerzt wie ein beginnender Bluterguss. »Ich muss zur Toilette.« Bevor er etwas sagen kann, renne ich quer durch das Café und remple dabei eine der Kellnerinnen an. Ich schlage ihr das Tablett aus der Hand, was mir leidtut, doch ich habe keine Zeit, mich zu entschuldigen.
Als ich am Tresen vorbeilaufe, wo Luke sitzt, höre ich ihn rufen: »Callie … Was ist los?«
Ich antworte nicht. Ich muss es rausbekommen. Sofort. Ich muss dieses Ekelgefühl in meinem Bauch loswerden.
Mit der flachen Hand schlage ich die Tür auf, renne in die nächste Kabine und falle auf die Knie. Ich fange schon an, mir den Finger in den Hals zu rammen, als ich auf einmal Kayden vor mir auf dem Boden liegen sehe. Hilflos. Er braucht Hilfe. Er braucht jemanden, der ihm helfen kann. Es trifft mich wie ein Schlag, wie ein Tritt in den Magen, und ich weiß, was ich tun muss. Vielleicht kann ich diesen Wunsch, von dem ich immer träume, ändern, den, in dem ich alles auslösche, was an meinem zwölften Geburtstag geschehen ist. Ich kann Kayden nicht seinen früheren Schmerz nehmen, aber vielleicht kann ich ihm bei dem künftigen helfen. Dazu muss ich jedoch stark sein. Ich nehme den Finger aus dem Hals, und das ist mit das Härteste, was ich je getan habe. Ich zittere und schwitze, als ich mich zurück an die Wand lehne und den Kopf nach hinten neige. Dann sitze ich einfach da. Besser fühle ich mich nicht, doch ich weiß, dass es zu meinem Besten ist.