Nikkie
„Browning“, rufe ich durch die leicht geöffnete Tür meiner Suite. „Browning!“
Keine Antwort.
Das war ja klar. Nie ist sie da, wenn man sie braucht ...
Okay, ich bin unfair. Ich vergesse natürlich, dass sie mir mehrmals das Leben gerettet hat – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber jetzt sitze ich vor dem Spiegel des altmodischen Frisiertisches, der das eher rustikal eingerichtete Schlafzimmer schmückt, und betrachte erneut das Gemetzel, das gerade an meinem Hochzeitstag auf meinem Gesicht veranstaltet wird, und zwar von einer Visagistin, die sich weigert mir zuzuhören und es mit den falschen Wimpern eindeutig übertreibt.
„BROWNING!“, brülle ich schließlich aus voller Kraft.
Als meine Bitten endlich erhört werden und Browning erscheint, wird mir wieder bewusst, dass man aufpassen sollte, was man sich wünscht ... denn nicht die Tochter, sondern die Mutter ist erschienen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein, Nikkie?“, fragt mich Diane.
„Ich ... Ich ...“, stammele ich und werde knallrot. „Ich habe Naomi gesucht.“
„Sie ist gerade dabei, den Lieferanten anzuschreien. Das ist ihre Art, Druck abzubauen. So wie bei Ihnen, nehme ich an ...“, macht sich die Mutter meiner besten Freundin lustig, dann bietet sie mir ihre Hilfe an. „Wenn Sie irgendetwas brauchen, ich bin hier.“
Sie rückt einen Sessel heran und setzt sich neben mich.
Diane Browning als meine Ersatz-Brautjungfer ... Warum eigentlich nicht? Schließlich heiraten wir im Hotel ‚Big Sur‘, welches sie großzügig für uns angemietet hat. Das Jagdschlösschen – wie es mit Verweis auf die Jagdgöttin Diana getauft wurde – ist ein Luxushotel im europäischen Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es hat zwei Flügel mit je drei Etagen – ist also groß genug, um alle Gäste übers Wochenende einzuladen. Seine Fassade besteht aus weißem Kalkstein, der Innenhof ist mit Terrakotta-Fliesen ausgelegt und das Dach mit Tonziegeln gedeckt. Kurzum, es ist ein schicker, ländlicher, charmanter Ort ... Das war auch nötig, um Tyee davon zu überzeugen, mit der Tradition zu brechen. Er wollte, dass wir im Haus am Wasserfall heiraten, das ganze Rudel wollte es so. Aber ich habe darauf bestanden, dass mit jedem Clan ein neues Zeitalter anbricht. Zu dieser Hochzeit sind nicht nur Wölfe geladen: Die Gründerväter sind da, ebenso wie Sara und weitere, alte Freundinnen von Theta Thau, ebenso Alice und alle Angestellten von Bei Sally, um nur einige zu nennen. Ich will, dass Tyee und ich als Alphawölfe offener sind. Natürlich werden wir nach wie vor diejenigen, die unser Land und dessen Magie nicht respektieren, vertreiben. Aber alle anderen, ob Hexen, Dämonen, Menschen oder Vampire, sind gern gesehene Gäste.
Ein neues Zeitalter bedeutet immer auch neue Verbündete!
„Vielleicht könnten Sie etwas davon wieder wegnehmen?“, bitte ich Diane und zeige auf mein Clownsgesicht.
„Erst einmal werde ich diese Maskenbildnerin hier wegnehmen“, verkündet die kontrollsüchtige Gründerin und zerrt die Make-up Artistin zur Tür.
Die völlig überrumpelte Visagistin lässt es zu, ohne sich zu wehren. Man muss dazu sagen, dass man nicht alle Tage auf so gestählte Persönlichkeiten wie die beiden Browning-Frauen trifft ... Ich für meinen Teil beiße mir auf die Lippen, um mir das Lachen zu verkneifen, als Diane zu mir zurückkommt und sich vor mir aufbaut. Sie sieht mich skeptisch an, dann murmelt sie:
„Et pulchritudo.“
Und wie in Aschenputtel verwandeln sich der hässliche Dutt und das Contouring à la Kim Kardashian in eine romantische Frisur und ein natürliches Make-up.
„So ist es besser“, seufzt Diane, und genau in diesem Moment erscheint ihre Tochter auf der Bildfläche.
Ich weiß, Diane und Naomi Browning in einem Raum: Da würden die meisten ‚Achtung, Gefahr‘ denken. Aber nach fünf Monaten haben sich die Dinge in unserer kleinen Gemeinde geändert. Unsere anstehende Vermählung hat das Rudel und die Hexer und Hexen näher zusammengebracht. Naomi hat bei Tyee sogar durchgesetzt, dass den Gründervätern ihre Kräfte zurückgegeben werden, natürlich nur mit Einverständnis des Rudels. Schließlich habe auch sie das Recht, ihre Stadt so gut es geht zu beschützen. Da meine beste Freundin eines Tages dem Rat der Gründerväter vorsitzen wird, hat sie beschlossen, sich von ihrer Mutter beibringen zu lassen, was diese Rolle bedeutet. Von nun an wird dieser Rat da sein, um die Interessen der Hexer und Hexen in der Stadt zu vertreten, sie bestmöglich aufzunehmen und zu integrieren und jede Zuwiderhandlung in Bezug auf den Gebrauch von Magie zu verhindern. Das wird eine wichtige Aufgabe sein, wenn wir wollen, dass die Einwohner von Riverside Creek diese neue Gemeinde akzeptieren. Kurzum, die Browning-Frauen haben nun ein gemeinsames Ziel und zwischen ihnen ist alles geklärt.
„Das wirst du aber nicht anziehen, oder?“, fragt Diane entsetzt ihre Tochter. „Wo doch jeder weiß, dass die Person, die man bei einer Hochzeit noch vor der Braut sieht, die Brautjungfer ist – nichts für ungut, Nikkie.“
Na gut: Fast alles ist geklärt.
Naomi sieht dennoch umwerfend aus in ihrem hellrosafarbenen Minikleid im Baby Doll-Stil.
„Das ist von Alaïa, Mum“, regt Naomi sich auf.
„Ach, wirklich? So kurz, wie es ist, würde ich sagen Prêt-à-Porter.“
„Mutter?“, knirscht meine Brautjungfer. „Ich glaube, du wirst ... überall, bloß nicht hier gebraucht.“
Diane sucht meinen Blick und schaut fragend drein. Ich zucke hilflos mit den Schultern. Diane schüttelt den Kopf. Als sie durch die Tür geht, höre ich sie murmeln:
„Verdammter Dickkopf ...“
„Meine Mutter treibt mich noch in den Wahnsinn!“, seufzt Naomi und lässt sich in den Sessel plumpsen.
„Ach ja? Sie war immerhin da und hat mir in deiner Abwesenheit zum Glück mein Make-up erneuert“, meckere ich vollkommen gestresst. „Bevor sie dazwischen gegangen ist, sah ich aus wie eine Kandidatin bei einer Reality-Show.“
„Den Feinschliff hat sie nicht so gut hinbekommen, wie immer“, erwidert meine Freundin. „Sie hätte ihre Kräfte zumindest einsetzen können, um dich ein bis zwei Kilo leichter zu machen ... Du hast ganz schön zugenommen seit der Anprobe.“
„Du bist so ein Miststück“, gebe ich zurück und beiße mir auf die Lippen, um nicht zu lächeln.
Mag sein, dass ich masochistisch bin, aber nichts entspannt mich mehr als mich mit Naomi zu zanken.
„Ich bin deine beste Freundin“, erwidert sie.
„Ich hatte schon immer einen fürchterlichen Geschmack.“
„Das habe ich gleich an deinen Klamotten gesehen, schon bei unserer ersten Begegnung.“
Unser gewohnter Austausch von Sticheleien wird unterbrochen, als jemand an die Zimmertür klopft.
„Wer ist da?“, fragt Naomi und geht zur Tür.
„Ich bin’s, John.“
„Der Bräutigam ist aber nicht bei dir?“, versichert sie sich.
„Nein, ich habe ihn mit seinem Gelübde und einem Glas Bourbon allein gelassen.“
„Ich warne dich“, sagt meine Brautjungfer und macht Tyees Trauzeugen die Tür auf, „wenn du hier bist, um mich vor der Zeremonie zu verführen, dann vergiss‘ es: Du bist viel zu alt für ...“
Meine beste Freundin spricht ihren Satz nicht zu Ende. Man muss schon sagen, dass der Sheriff trotz seiner 41 Jahre wirklich glänzend aussieht, in seinem Tuxedo, mit seinem Mund à la Brad Pitt und seinen himmelblauen Augen.
„Ich baggere keine kleinen Mädchen an“, sagt John und betritt die Suite. „Und außerdem habe ich für heute Abend schon eine Anwärterin, das reicht mir ...“
„Wen denn?“, erkundige ich mich.
„Laura. Zum Glück ist sie mit ihrem Sohn hier, sonst würde sie mir nicht von der Seite weichen. So habe ich zumindest nicht ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.“
„Sie muss glücklich sein, umgeben von den beiden Männern ihres Lebens“, scherze ich, als John das Schlafzimmer betritt.
Er bleibt kurz verdutzt stehen.
„Wow. Du siehst super aus.“
„Meinst du wirklich? Sehe ich nicht wie eine dieser Bräute aus den Katalogen aus?“
„Du siehst aus wie du: wie eine Königin.“
In den letzten fünf Monaten bin ich John sehr viel nähergekommen. Zuerst einmal, weil er Tyees bester Freund ist. Dann, weil wir beide ähnliche Pläne für die Stadt haben. Jetzt, wo der Gebrauch von Magie wieder erlaubt ist, muss auch der Rest der Gemeinde – diejenigen ohne magische Kräfte – diese Tatsache akzeptieren. Das wird nicht von heute auf morgen gehen, man kann nicht in ein paar Wochen jahrzehntelange Tabus aufheben. Aber wenn Riverside Creek wieder die mystische Zone werden soll, wo sich meine Vorfahren niedergelassen haben, ein Land, das verfolgte Hexer und Hexen aufnimmt, dann müssen wir hart dafür arbeiten.
Diesem Ziel will ich mich übrigens in meiner beruflichen Zukunft widmen. Naja ... Ich will das Pferd nicht beim Schwanz aufzäumen, vor meinem Doktorat habe ich noch viel zu tun, aber ich würde gerne die Transformation von Materie in der Physiktheorie erforschen – um zu verstehen, wie die Hexerei ihre Umgebung beeinflusst, und damit endlich diesen ganzen obskuren, alten Geschichten und Traditionen zur Magie ein Ende zu bereiten. Denn solange es für die Hexerei keine Erklärung gibt, werden die, die sie praktizieren, weiterhin auf der ganzen Welt verfolgt werden. Und Riverside Creek wird der einzige Ort sein, wo sie eine echte Zuflucht finden können, unter dem Schutz des Rudels.
„Hier“, sagt John zu mir und gibt mir ein Blatt Papier im DIN A4 Format, das dreimal gefaltet ist.
„Was ist das?“
„Mein Geschenk zur Hochzeit. Und ein altes Versprechen, dass ich nun endlich einlösen kann.“
Ich falte das Blatt auseinander: Es handelt sich um meine Sterbeurkunde. Verdutzt schweige ich. Vielleicht ist das albern, aber es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube.
„Es ist ein für alle Mal vorbei ...“, murmele ich. „‚Nikkie O’Neil‘ existiert nicht mehr.“
„Ja, sie ist vor fünf Tagen tot an der Grenze aufgefunden worden.“
Ich bin völlig fertig. Ich hatte nicht gedacht, dass es mir so einen Schock versetzt, ein offizielles Dokument in den Händen zu halten, das meinen Tod verkündet. Auch wenn das eine grandiose Neuigkeit ist, die dafür sorgen wird, dass das FBI aufhört, mich zu suchen, ist es doch gleichzeitig verwirrend, und vor allem weckt es schmerzhafte Erinnerungen.
Ich denke an diejenigen, die heute nicht hier sind: meine Freundin aus Kindertagen, Faye, die ich nie wiedersehen werde. Meine Eltern, sowohl meine Adoptiveltern als auch meine leiblichen Eltern, die verstorben sind. Tyees Eltern, die ermordet wurden, als er noch ein Kind war. Declan, dessen Verrat dem Rudel noch immer zu schaffen macht. Und, trotz allem, Cara, denn ihr selbstzerstörerischer Wahn hätte uns alle beinahe mit sich gerissen. Dann beschließe ich, diese Melancholie, die mich überkommt, nicht zu verjagen, sondern sie anzunehmen. Sie erinnert mich daran, dass es sicherlich nicht einfach ist, im Exil zu leben, dass es viele Verluste und Opfer bedeutet, aber dass das Einzige, was zählt, ist, immer wieder die Kraft zu haben, um bei null anzufangen. Denn die Welt wartet nicht auf einen, egal, was kommt. Sie hört nicht auf, sich zu verändern.
„Die Hauptsache ist doch, dass uns Nikkie Darkridge erhalten bleibt, oder nicht?“, tröstet mich John.
„Noch bin ich nicht Mrs Darkridge“, sage ich lächelnd.
„Nein, aber das dauert nicht mehr lange. Ich glaube nämlich, es ist Zeit zu gehen“, sagt er und hält mir seinen Arm hin.
„Herr Sheriff“, sage ich und ergreife feierlich seinen Arm.
„Frau Alphawölfin“, erwidert er mir in demselben Tonfall.
Wir verlassen die Suite und gehen dann die Mitteltreppe herunter, Naomi ist direkt hinter uns. Wir treten aus dem Haus heraus und ich erblicke die Terrasse, auf der das Dinner stattfinden wird. Ich bin hingerissen von der Zusammenstellung und der Dekoration, den runden Tischen mit den hübschen, weißen Tischdecken, dem wunderschönen Geschirr. Überall stehen Fackeln und hängen Lampions, bereit, bei Sonnenuntergang angezündet zu werden. Es gibt auch ein paar Blumen – weiße, rote – aber nicht in Vasen: Sie befinden sich mit ihren Wurzeln in Töpfen. An meiner Hochzeit wollte ich nur lebende Dinge um mich haben. Der Brunnen aus italienischem Marmor ist hingegen mit roten Rosenblättern gefüllt. Ein Verstoß gegen meine Prinzipien, für den vermutlich Diane verantwortlich ist, aber das macht nichts: Sie hat es nur gut gemeint.
Um zusammenzuleben, muss man akzeptieren, dass man nicht immer einer Meinung ist und sich nur dann streiten, wenn es nötig ist.
Und außerdem muss ich, auch wenn es nicht das ist, was ich wollte, zugeben, dass das Ergebnis schön aussieht.
Auf der anderen Seite der Terrasse führen vier Stufen auf den Privatstrand des Hotels, dort haben bereits die Hochzeitsgäste und das Streichquartett Platz genommen.
„Wer soll dich eigentlich zum Altar führen?“, fragt mich John und lässt meinen Arm los.
„Ich“, sagt Tyee, der plötzlich hinter uns auftaucht. „Das haben wir heute Morgen beschlossen. Schließlich ist das die einzige symbolische Handlung, die wirklich zu uns passt.“
Mir stockt der Atem. In seinem dreiteiligen Anzug in einem tiefen, fast elektrischen Blau, unter dem ein leuchtend weißes Hemd hervorblitzt, sieht Tyee atemberaubend aus. Dank seiner schlanken und muskulösen Silhouette kann er betont lässig eine Fliege aus anthrazitfarbenem Satin tragen. Er wirkt gleichzeitig elegant und modern, von unerreichbarer und doch menschlicher Schönheit. Seine Haare sind länger als bei unserer Begegnung im letzten Sommer und wurden schwungvoll zurückgekämmt. Da er frisch rasiert ist, kommen sein kantiger Kiefer und seine markanten Wangenknochen gut zur Geltung.
„Hey! Ihr seid doch verrückt!“, regt Naomi sich auf. „Wisst ihr nicht, dass es Unglück bringt, wenn man die Braut vor der Zeremonie sieht? Ihr habt ja gar keinen Sinn für Tradition!“
Doch mein Zukünftiger hört nicht auf die Proteste der Brautjungfer: Er hat sich bereits zu mir umgedreht und sieht mich endlich in meinem Kleid, das von einer aufstrebenden Designerin in San Francisco maßgeschneidert wurde – natürlich hat Naomi es übernommen, sie ausfindig zu machen. Es ist lang, romantisch, komplett aus Spitze und hat einen tiefen Rückenausschnitt.
„Gefällt es dir?“, frage ich schüchtern.
„Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen“, bestätigt er, während er mich mit seinen wundervollen, goldenen Augen mustert.
„Das ist echte Spitze aus Calais, einer Hafenstadt in Frankreich“, beginne ich zu erklären und berühre mein Kleid. „Die Stylistin, die das Kleid geschneidert hat, fährt einmal im Jahr dorthin, um sie zu kaufen ...“
„Ich meinte nicht das Kleid“, unterbricht mich Tyee. „Ich meinte dich. Aber ...“, fügt er an und betrachtet mich genauer, „das Kleid ist ebenfalls hinreißend.“
Ich atme tief durch. Es ist albern, aber man unterschätzt, wie girly man wird und wie sehr man sich auf einen Haufen Chiffon fixieren kann, wenn es um sein eigenes Hochzeitskleid geht. Und dass, obwohl man nebenbei eine große Hochzeit organisiert hat, die dazu bestimmt ist, die okkulte Welt neu zu ordnen.
Plötzlich steht Rufus hinter uns.
„Bereit?“, fragt er uns.
Er wird die Zeremonie abhalten. Er hat sich dafür extra zum Standesbeamten ernennen lassen – wie er das gemacht hat, das ist mir noch immer nicht ganz klar, aber religiös ist er definitiv nicht. Der Glaube ist auch für mich nach wie vor etwas, das mir schwierig fällt. Tyee hingegen glaubt seit jener Nacht, als mich der Dämon gerettet hat, an das Schicksal. Ich muss mit der Absurdität des Lebens und den unausweichlichen Fragen klarkommen: Warum werden wir geboren? Warum sterben wir? Was nutzt es, in der Zwischenzeit zu kämpfen, wenn wir doch sehen, zu welcher Grausamkeit die Lebenden fähig sind? Ich würde gerne auch an das Schicksal glauben. Das hätte mir ohne Zweifel durch die letzten Wochen hindurch geholfen, als ich gelernt habe, meine Verwandlung in eine Wölfin zu kontrollieren – meine Instinkte, meine Triebe, meine gesteigerten Empfindungen. Der Glaube daran, dass hinter dem Chaos eine Ordnung, ein Plan für jeden von uns steckt, hilft, die Leere ebenso wie das Leid zu ertragen. Ich allerdings habe dieses Glück nicht.
Aber dafür habe ich Tyee.
„Bevor es losgeht, habe ich noch ein Geschenk für euch“, warnt mich Rufus vor, während unsere beiden Trauzeugen die Gäste informieren, dass gleich die Zeremonie beginnt. „Eigentlich ist es ein Geschenk der ganzen Stadt ...“
Aus seiner Tasche zieht er einen Anhänger an einer Kette: ein kleines Stück graues Felsgestein mit perlmutternem Glanz.
„Er stammt aus der Höhle, in der du von dem Dämon gerettet worden bist. Die Mitglieder des Coven haben ihn gesegnet, damit er euch beschützt.“
„Oh! Rufus“, antworte ich gerührt, als er mir die Kette umlegt, „das ist so lieb von euch, dass ihr Tyee und mir einen Schutzzauber schenkt.“
„Eigentlich“, sagt Rufus lächelnd und legt mir eine Hand auf den Bauch, „habe ich nicht unbedingt an Tyee gedacht, als ich ‚euch‘ sagte.“
„Wie bitte? Was? Was soll ... Was soll das denn heißen?“
Fassungslos suche ich Tyees Blick, aber er starrt nur Rufus an und blinzelt.
„Moment mal, Rufus“, fragt er den Ältesten des Rudels, „willst du damit sagen, dass ... dass ...“
„Verdammt, Tyee“, fluche ich und lege mir eine Hand vor den Mund, als ich es begreife. „Ich bin ... ich bin schwanger!“
Wir lassen einen Freudenschrei ertönen, dann werfe ich mich in seine Arme. Er hebt mich hoch und wirbelt mich durch die Luft. Er küsst mich so ungestüm, dass von meinem Make-up wohl nicht mehr viel übrig bleibt – aber ehrlich gesagt ist mir das scheißegal.
„Wir bekommen einen Miniwolf!“, brüllt er zum ersten Mal gen Himmel, bevor er mich wieder auf dem Boden absetzt und es mir dann, Auge in Auge, noch einmal sagt: „Wir bekommen einen Miniwolf.“
Ich bin baff, durcheinander, ängstlich, aufgeregt, ungeduldig, sprachlos. Ich drehe mich zu Rufus um und frage ihn:
„Woher wusstest du es?“
„Alles, was ich dazu sagen kann“, sagt er mit einem schelmischen Lächeln, „ist, dass dieser kleine Mann nach dem, was die Raschler so munkeln, noch von sich reden machen wird. Und dass er seiner Mutter, die sich so sehr die Vereinigung der okkulten Welt mit der Welt der Menschen wünscht, allen Grund dazu geben wird, stolz auf ihn zu sein. Na kommt, ich sehe euch auf der anderen Seite!“, fügt er hinzu und winkt, dann nimmt er seinen Platz hinter dem Altar ein.
„Von sich reden machen? Was hat das deiner Meinung nach zu bedeuten?“, frage ich meinen Zukünftigen benommen und mit einem aufgeregten Lächeln.
„Ich weiß es nicht“, antwortet er und reicht mir die Hand. „Alles was ich weiß, ist, dass uns dank ihm jetzt nur noch eine Veranda, ein Grammofon, zwei Bäder und drei Wolfsjunge zum ganz großen Glück fehlen. Kommst du? Wollen wir?“, fügt er hinzu, so als ob Hand in Hand mit seiner schwangeren Verlobten zum Altar zu schreiten, ohne zu wissen, was die Zukunft bringt, nicht das Atemberaubendste und Angsteinflößendste wäre, was er jemals getan hat.
Aber am Ende hat er ja Recht.
Ob man es nun ‚seinem Schicksal folgen‘ oder einfach nur ‚den Sprung wagen‘ nennt, daran ist nichts Angsteinflößendes – solange man sich sicher ist.
„Gehen wir“, antworte ich und lasse meine zierliche Hand in seine Hand gleiten, die so stark, so beruhigend – kurzum: wie für mich gemacht – ist.
ENDE