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Rebecca schnappte sich ein neues Notizheft und ein paar Stifte, schloss das Büro ab und folgte den Schwaden von Baileys Rasierwasser zur Straße hinunter. Verglichen mit der Kühle des schäbigen Treppenhauses war die Hitze des Tages hier draußen beinahe sengend. Das Schloss der Haustür war nicht ganz richtig eingeschnappt, also zog sie kräftig, bis sie hörte, wie es einrastete. Sie hatte schon länger vorgehabt, Schmieröl zu kaufen, es aber immer wieder vergessen. Sie nahm sich vor, gleich beim nächsten Besuch im Supermarkt welches mitzunehmen.

Chaz Wymark lehnte an der Wand zwischen der Haustür und einem Café, hatte ein Bein angewinkelt und stützte sich mit dem Fuß am Mauerwerk ab, das Gesicht in die Sonne gereckt. Er öffnete ein Auge und blinzelte in ihre Richtung.

»An das Wetter könnte ich mich echt gewöhnen«, sagte er.

»Wir sind in Schottland«, erwiderte sie. »Das hält nicht.«

Er ließ das erhobene Bein sinken und beugte sich nach unten, um seine Kameratasche hochzuhieven, die wie ein geduldiger Hund zu seinen Füßen gewartet hatte. »Großer Gott, verdirb mir ruhig die gute Laune.« Er legte sich den Trageriemen der Tasche über die Schulter. »Was hat dich so lange aufgehalten?«

»Tut mir leid, ich musste erst noch was regeln.«

Die Strahlen der Sonne waren ihr willkommen. Der Winter war lang gewesen, und dieser Frühsommer war eine Wucht. Es waren bereits ein paar Touristen unterwegs, obwohl es gerade erst kurz nach neun war. Eine Gruppe wurde von einem Fremdenführer die Straße entlang in Richtung Church Street geleitet, vielleicht zur Old High Kirk. Rebecca überlegte, wie diese Leute sich wohl fühlen würden, wenn sie dort, wie es im Vorjahr geschehen war, vom Anblick eines Mannes im roten Uniformrock der Regierungssoldaten von 1746 empfangen würden, dem man die Kehle durchgeschnitten hatte und dessen Leiche über einen flachen Grabstein gebreitet lag. Sie hatte es selbst nicht gesehen, aber sie hatte mit einem Polizisten gesprochen, der vor Ort gewesen war. Schön war der Anblick wohl nicht gewesen, und heute hätte er sicherlich die Besucher so geschockt, dass sie ihre Reiseführer fallen ließen. Sie ließ die Gruppe vorbei, und eine Touristin, eine ältere Frau, lächelte ihr zu.

Rebecca nickte und erwiderte das Lächeln, das ihr jedoch verging, als sie bemerkte, dass Martin Bailey sie von der anderen Straßenseite aus beobachtete.

Sie spürte, wie sich ihre Stirn in Falten zog, und wandte sich rasch ab, damit Bailey das nicht sah.

»Was ist los?«, fragte Chaz, der ihren Gesichtsausdruck wahrnahm.

»Der Typ da drüben.«

Chaz verrenkte den Hals. »Welcher Typ?«

»Schau nicht so offensichtlich hin, Herrgott noch mal«, flüsterte sie.

»Entschuldigung«, sagte Chaz. »Ich wusste ja nicht, dass wir im Agatha-Christie-Modus sind.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Hatte keine Gelegenheit, ehe du angedeutet hast, dass meine Agentenfähigkeiten ausbaufähig sind.«

Trotz ihrer Besorgnis musste sie lächeln. »Er ist auf der anderen Straßenseite. Hat vorhin darüber gejammert, dass ein Bericht über das Verfahren seines Sohnes in der Zeitung steht. Das hat mich aufgehalten.«

»Okay«, meinte Chaz. Diesmal blickte er weniger auffällig auf den anderen Gehsteig.

»Er ist auch SG-Anhänger. Glaube ich jedenfalls. Und er hat mir eben so nebenbei gedroht.«

Gar nicht so nebenbei, überlegte sie, als sie sich an seinen letzten Blick erinnerte.

»Wirklich?« Chaz’ Stimme verhärtete sich. Nun gab er jeden Vorwand auf, drehte sich um und warf dem Mann einen grimmigen Blick zu. Diesmal tadelte Rebecca ihn nicht. Er war wirklich ein Schatz, doch sie wussten beide, dass er wohl kaum die mittelalterliche Ritternummer abziehen würde. »Oh, das stimmt, ich habe vorhin gesehen, wie er unmittelbar nach dir ins Haus gegangen ist.«

Ohne sich umzudrehen, fragte sie: »Was macht er jetzt?«

»Steht einfach nur da und schaut zu uns hin.« Chaz verzog das Gesicht kein bisschen. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein grimmigstes Clint-Eastwood-Starren ihn überhaupt in Sorge versetzt. Was für eine Drohung war das?«

»Ach, das Übliche. Eine Drohung, die eigentlich keine ist. Ihr werdet schon sehen, jetzt ist unsere Zeit gekommen, die Sache ist noch nicht zu Ende, bla, bla, bla. Es ist eher die Art, wie er es gesagt hat, als das, was er gesagt hat. O ja, und ich bin die Feindin.«

Chaz starrte weiter zu Martin Bailey hin. Er war vielleicht kein Clint Eastwood, aber Mumm hatte er. »Wessen Feindin? Seine?«

»Die der SG. Die von Finbar Dalgliesh.«

»Jeder, der ein halbes Hirn sein Eigen nennt, ist deren Feind. Meinst du, er ist gefährlich?«

Ihr nüchterner Verstand sagte ihr, dass der Mann ein Rabauke war, der Leute schikanierte. Und solche Kerle haben nur Erfolg, wenn man sich nicht gegen sie wehrt. Die Chancen standen nicht schlecht, dass sie nie wieder von ihm hören würde.

»Ach, lass schon«, sagte sie. »Komm, wir vergessen den. Der ist nichts.«

Sie gingen die Straße entlang auf den Bahnhof zu. Chaz’ Hinken, die Folge eines Autounfalls, bei dem sein Wagen von der Straße abgekommen war, war nun nicht mehr so ausgeprägt. Inzwischen hatte er auch den Stock, den er eine Weile mit sich herumgetragen hatte, aufgegeben. Eigentlich hatte er ihn ohnehin nie wirklich gebraucht. Rebecca schaute noch einmal über die Schulter zurück und sah, dass Bailey sie auf der anderen Straßenseite beschattete. Als er ihnen am Ende der Straße noch immer folgte, beschloss Rebecca, die Sache gleich im Keim zu ersticken.

»Warte hier«, sagte sie zu Chaz und überquerte unverzüglich die Straße, um dem Mann entgegenzutreten. Die Belustigung tanzte noch in seinen Augen, als er sie jetzt ansah, das selbstgefällige kleine Lächeln zuckte ihm weiterhin auf den Lippen.

»Haben wir ein Problem, Mr Bailey?« Sie sprach mit leiser Stimme, sodass die Passanten sie nicht hören konnten.

Zunächst sagte er nichts, sah sie nur mit diesem aufreizenden Grinsen an. »Ich geh nur hier lang, mehr nicht.«

»Ach ja«, erwiderte sie.

»Man wird ja wohl noch die Straße entlanggehen dürfen, oder?«

Sie schnaufte schwer. Sie hatte wirklich keine Antwort darauf. Er beugte sich ein wenig näher zu ihr und sagte leise: »Aber ich melde mich wieder.«

»Ich glaube nicht, dass wir noch etwas miteinander zu bereden haben, Mr Bailey.«

Er tat einen halben Schritt zurück, zuckte mit den Achseln, machte kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung. Rebecca schaute ihm einen Augenblick hinterher, gesellte sich dann wieder zu Chaz.

»Denkst du, der macht Ärger?«, erkundigte er sich.

Sie blickte zurück, doch Bailey war bereits außer Sichtweite. »Ich bin schon früher mit Leuten wie ihm fertiggeworden. Damals bei der Zeitung hat mich einer jeden Tag angerufen – auch wegen einer Reportage aus dem Gericht – und mich mit allen möglichen Schimpfnamen belegt. Aber das hier? Ich weiß nicht. Es fühlt sich irgendwie anders an.«

»Wenn du dir Sorgen machst, solltest du es der Polizei sagen. Vielleicht rufst du mal bei Val Roach an?«

Val Roach war eine Polizistin, die Rebecca bei den Ermittlungen in den Mordfällen vom Friedhof der Old Kirk und vom Culloden Moor kennengelernt hatte. Die ganze Angelegenheit hatte damit geendet, dass Rebecca beinahe eine Pistolenkugel abbekommen hätte. Sie hatte auch dazu geführt, dass Rebecca ihren Job beim Highland Chronicle aufgab und nun für die Presseagentur von Elspeth McTaggart arbeitete. Roach hatte sie während dieser Ermittlungen schwer enttäuscht, weil sie einer Verdächtigen erzählt hatte, Rebecca hätte sie verraten, obwohl sie das nicht getan hatte. Sie hatte auch damit gedroht, Rebecca zu verhaften, weil sie Informationen zurückhielt. Das machte ihr die Polizistin nicht gerade sympathisch, und sie hatten seither nicht miteinander geredet.

»Und was soll ich ihr sagen?«, fragte Rebecca. »Dass sich jemand bei mir beschwert, mir einen finsteren Blick zugeworfen hat und sich dann auch noch erdreistet hat, die Straße vor dem Büro entlangzugehen? Nein, wie gesagt, vergiss es. Typen wie der sind den erhöhten Blutdruck nicht wert. Komm schon. Jetzt gehen wir Afua Stewart besuchen.«

»Meinst du, sie wird mit dir reden?«

Rebecca warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Hast du je erlebt, dass mir jemand ein Gespräch verwehrt hätte?«

Er ließ sie ein paar Schritte vorausgehen, ehe er antwortete: »Nun … ja.«