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Die Couch sah teuer aus und fühlte sich auch so an, und der zweifellos hohe Preis wirkte sich merklich auf den Faktor Bequemlichkeit aus. Rebecca hatte das Gefühl, in einer watteweichen Wolke zu versinken. Ob die Besitzerin etwas dagegen hätte, wenn sie sich hier zusammenkuschelte, eine dieser unglaublich weich aussehenden Decken – kein Fünf-Pfund-Sonderangebot von Tesco für diese Lady um sich breitete und ein bisschen Schlaf nachholte? Sie fragte lieber nicht. Die kühle Feindseligkeit in diesem geschmackvoll eingerichteten Raum war beinahe mit Händen zu greifen.

Die Frau hatte sie mit einem frostigen Nicken und einer knappen Geste begrüßt, die sie zum Eintreten aufforderte. Das war zumindest etwas. Jetzt saß sie ihnen sehr aufrecht auf einem Sessel gegenüber, hatte die langen Beine aneinandergeschmiegt und leicht zur Seite geneigt, die Hände im Schoß gefaltet. Es war ein sehr schöner Ohrensessel, blassgrün mit einer geraden Rückenlehne. Er war antik und hatte wahrscheinlich mehr gekostet als Rebeccas gesamte Sitzgarnitur. Plus Fernseher. Vielleicht sogar plus Teppiche. Der gesamte Raum war der Traum eines Designers von gutem Geschmack und verfeinerter Eleganz.

Afua Stewart war eine wunderschöne Frau. Sie würde auf den Fotos großartig aussehen, die Chaz, so hoffte Rebecca, von ihr machen würde, bevor sie gingen. Die äußere Erscheinung, immer die äußere Erscheinung. Sie musste über sechzig sein, schätzte Rebecca und würde jede Wette eingehen, dass ihr Lächeln noch immer die Männerherzen höher schlagen ließ. Ihr Sohn James war jetzt einunddreißig; zum Zeitpunkt seiner Verurteilung war er einundzwanzig gewesen. Afua Stewart war zehn Jahre lang Model gewesen, ehe sie heiratete und all das hinter sich ließ, um Ehefrau und Mutter zu werden. Ihre Haut war makellos, ihre Wangenknochen ausgeprägt, das Kinn noch fest, das schwarze Haar kurz geschnitten. Ihre Augen waren blassblau und unterstrichen die kühle Verachtung, mit der sie Rebecca und Chaz betrachtete. Hauptsächlich allerdings Rebecca. Vielleicht schaute die Frau immer so. Vielleicht war dieser Blick auch nur für Rebecca reserviert, die Afua früher schon einmal enttäuscht hatte.

Das Haus war groß und lag im Stadtbezirk Crown in einer ruhigen Straße mit Villen, sorgfältig gepflegten Gärten und Hecken und funkelnagelneuen Autos vor der Tür. Auf der Straße draußen war es still, nur ab und zu störte das Bellen eines Hundes die Ruhe des Samstagmorgens. Der Hund war wahrscheinlich im Park am Ende der Straße, vermutete Rebecca, und jagte hinter einem Ball her. Oder hinter einem Stöckchen. Oder er bellte einfach nur, weil ihm gerade danach war.

»Sie scheinen nicht recht bei der Sache zu sein, Ms Connolly«, sagte Afua Stewart in ihrem kultivierten schottischen Tonfall mit einem Hauch von Übersee. Ihre Familie stammte aus der Region Ashanti in Ghana, doch Rebecca wusste, dass Afua selbst in Edinburgh geboren und aufgewachsen war und ihre Model-Laufbahn sie nach London und Paris geführt hatte. Den Sprung zum Supermodel hatte sie nie geschafft, war aber doch recht erfolgreich gewesen.

»Tut mir leid, Mrs Stewart. Mir ist gerade etwas anderes durch den Kopf gegangen. Und bitte nennen Sie mich Rebecca.« Sie mochte es gar nicht, wenn man sie als Ms oder Miss bezeichnete, obwohl sie selbst gewissenhaft darauf achtete, andere mit dem angemessenen Titel anzusprechen.

Die Frau quittierte diese Bitte mit dem leichten Zucken einer Augenbraue. Rebecca konnte daraus nicht ablesen, ob sie verärgert war, ihre kurze Unaufmerksamkeit akzeptiert hatte oder der weniger förmlichen Anrede zustimmte. Sie schlug jedenfalls nicht vor, Rebecca solle sie auch mit Vornamen anreden.

»Ich habe Sie gefragt, warum Sie sich so plötzlich für den Fall meines Sohnes interessieren, wo Sie das doch bisher nie getan haben.«

Und da war es.

»Ich habe mich immer für den Fall interessiert, Mrs Stewart. Seit mir Tom Muir davon erzählt hat.«

Rebecca hatte Tom Muir während der Ausschreitungen in Inchferry kennengelernt, die ihr Prellungen und aufgeschürfte Knie und Handflächen eingebracht hatten – und dem jungen Martin Bailey eine Gefängnisstrafe. Tom Muir hatte ihr die Story an genau dem Tag erzählt, als sie sich entschlossen hatte, den Highland Chronicle zu verlassen. Dass sie anschließend gezwungen war, James Stewarts Geschichte so lange unbeachtet zu lassen, behagte dessen Mutter gar nicht. Kampagnen schaffen es nur in die Nachrichten, wenn es etwas Neues zu berichten gibt, und die finanzielle Wirklichkeit verlangte von ihr, dass sie sich mit Arbeiten beschäftigte, die ihr halfen, die Miete zu zahlen. Sie hatte versucht, andere Redakteure für den Fall zu interessieren – bei Zeitungen, Zeitschriften, sogar bei Radio und Fernsehen –, aber die hatten auch nicht angebissen.

Die kühlen mandelförmigen Augen wurden sanfter. »Tom ist ein Fels in der Brandung.«

Das war Tom, unerschütterlich wie ein Fels. Er war Gewerkschaftler, Stadtrat und sozialer Aktivist. Er war ein Mann aus dem Volk, der sich für das Volk einsetzte, und er kämpfte bereits sein ganzes Erwachsenenleben lang gegen Ungerechtigkeit. Er gab selbst zu, dass er nicht immer recht hatte, versuchte aber, kein Unrecht zu tun. Er glaubte, dass James Stewart unschuldig war, und das war’s für ihn. Das reichte aus, um Rebeccas Nachrichtengespür anzuregen, doch sie brauchte mehr als nur blinden Glauben.

»Das Problem war, dass ich bei den Medien kein Interesse dafür wecken konnte. Ich habe Ihnen das ja bereits erklärt«, sagte Rebecca. »Was die Medien betrifft, die halten James für schuldig. Fälle, bei denen es um Justizirrtümer geht, brauchen sehr viel Zeit, und die Medien haben keinen sonderlich großen Appetit auf Dinge, die auf lange Sicht angelegt sind, es sei denn eine Dokumentar-Redaktion beim Fernsehen interessiert sich dafür. Ohne neue Beweise, ohne frische Informationen war die Story für sie schlicht gestorben.«

»Aber das hat sich jetzt geändert.«

Es war eine Aussage, keine Frage.

»Ja«, antwortete Rebecca. »Die Banner, die Tom aufgehängt hat, sind eine Story, reichen zumindest dazu aus, ein anfängliches Interesse zu wecken.«

Rebecca deutete zu Chaz, der neben ihr saß. »Wir fahren heute dort hin, um es uns selbst anzusehen, obwohl natürlich die Möglichkeit besteht, dass die Banner inzwischen entfernt wurden. Tom hat mir aber ein paar Fotos geschickt. Wie gesagt, das sollte langen, um die Sache ein wenig anzuheizen.« Sie legte eine Pause ein. »Aber Tom hat mir erzählt, Sie hätten einen weiteren Durchbruch erzielt. Er hat mir nicht verraten, worum es sich dabei handelt. Er meinte, das stehe ihm nicht zu.«

Rebecca ließ das in der Luft hängen, hoffte, dass ihre Gesprächspartnerin darauf eingehen würde. Doch Afua Stewart änderte lediglich ihre Sitzposition, schwang ihre Beine herum, lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Armlehnen des Sessels. Ihre langen Finger liefen zu sorgfältig manikürten Nägeln aus, die in einem weichen Silberton lackiert waren. Jede ihrer Bewegungen war von anmutiger Leichtigkeit und zeugte von ihrer Zeit auf dem Laufsteg. Es mochte über dreißig Jahre her sein, dass sie vor klickenden Kameras auf und ab geschritten war und posiert hatte, aber sie hielt sich auch jetzt noch hervorragend. Sie wartete ab, dass Rebecca weiterreden würde, war offensichtlich nicht dazu aufgelegt, ihr die Sache leicht zu machen. Aber warum sollte sie auch? Sie traute der Presse nicht über den Weg. Zu viele Versprechungen und nicht genug Taten.

Die Banner sollten ausreichen, um etwas loszutreten, aber Rebecca wollte – nein, musste – mehr über die neuen Informationen herausfinden. War es möglich, damit eine neue Ermittlung loszutreten? Würde es ausreichen, um ein Berufungsverfahren zu erwirken oder zumindest die schottische Kommission zur Überprüfung von Strafsachen auf den Plan zu rufen?

Als Rebecca jedoch nun Afua Stewarts ungerührte Miene betrachtete, spürte sie, dass sie diese Informationen hier nicht bekommen würde. Unter den Augen dieser Frau fühlte sie sich wie in einer kalten Nacht am Polarkreis ohne Unterhemd. O ja, Afua Stewart würde unbequem bleiben.

»Mrs Stewart«, sagte Rebecca und beugte sich vor, soweit es ihr auf dem traumhaft weichen Sofa gelang, das sie wie in einer Umarmung umfing. Wenn sie hier das Eis brechen wollte, musste sie den Abstand verringern, ohne der Frau zu nahe zu treten. Sie hätte auch aufstehen können, aber das wäre ein sehr unelegantes Manöver geworden, also entschied sie sich dafür, auf den vordersten Rand der Kissen zu rutschen. »Ich bin hier, um zu helfen, wenn ich kann.«

Ein Aufblitzen, ein wenig Feuer im Permafrost dieser blauen Augen. »Sie sind hier, weil Sie eine Story wittern.«

»Aber damit kann ich Ihnen helfen.«

»Ihnen liegt nichts an meinem James.«

»Ich kenne ihn nicht. Aber mir liegt etwas an Gerechtigkeit.«

Sobald sie die Worte über die Lippen gebracht hatte, war Rebecca klar, wie aufgeblasen und ichbezogen sie klangen. Auch bei Afua Stewart kamen sie nicht sonderlich gut an.

»Gerechtigkeit?« Rebecca spürte, dass die Frau geprustet hätte, wenn es nicht so unziemlich gewesen wäre. Wenn sie eines über Afua Stewart wusste, dann, dass sie stets die Contenance wahrte. Das war nicht nur in ihrer Modelvergangenheit begründet, ihr lag diese gefasste Haltung wohl in der DNA, sie reichte bis weit zu ihren Ashanti-Vorfahren zurück. Stolz. Zäh. Entschlossen. Prusten käme bei ihr niemals infrage. »Wo war denn die Gerechtigkeit, als das Verfahren gegen meinen James vor zehn Jahren durchgepeitscht wurde, mit euch Presseleuten als Helfershelfern? Niemand hat seine Version der Geschichte geglaubt. Er wurde von der Presse schon schuldig gesprochen, ehe die Geschworenen sich überhaupt zur Beratung zurückzogen.«

Rebecca hatte die Presseberichte gelesen, zumindest so viele, wie sie konnte. Man hatte James Stewart des Mordes an Murdo Maxwell für schuldig befunden. Maxwell, ein Rechtsanwalt und Umweltaktivist, hatte die schottische Regierung und die Regierung in Westminster beraten – und konfrontiert. Man hatte ihn erschlagen in seinem Landhaus Kirkbrig House in Appin aufgefunden, da, wo das Land sich ins Loch Linnhe hinein und am Wasser entlang in weitem Bogen nach Oban streckt. Man hatte James Stewart nackt und bewusstlos im Hauptschlafzimmer gefunden, mit Blut an den Händen und den Bettlaken und mit dem schweren Schürhaken, mit dem Maxwell ermordet worden war, neben sich auf dem Boden. Er und der fünfundfünfzigjährige Mann waren ein Liebespaar gewesen. Maxwells Sexualität war keineswegs ein Geheimnis gewesen, denn er hatte sich oft an Kampagnen für Schwulenrechte beteiligt, aber die Boulevardpresse hatte die Enthüllung seiner Affäre mit einem viel jüngeren Mann genüsslich ausgeschlachtet.

»Das ist mir klar«, sagte Rebecca, »und in gewisser Weise ist es auch wahr …«

»In gewisser Weise? Die haben meinen Jungen gekreuzigt! Er war schwul, außerdem schlief er mit einem älteren Mann, und was wohl noch schlimmer war, er war kein Weißer. Das hat sie an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen. Für sie war er schuldig, und das war’s.«

Die Frau war verständlicherweise wütend, aber jetzt wurde sie unfair. Ja, gewiss, bestimmte Zeitungen hatten die Nase gerümpft, aber die Qualitätsblätter hatten ausgewogen und ohne Vorverurteilung berichtet. Natürlich brachte kein Bericht alles, was vor Gericht gesagt wurde. Da ging es um den schnellen Treffer, die griffige Schlagzeile, den Titel, der die meisten Clicks bringt, aber man achtete immer noch sorgfältig darauf, die Argumente der Anklage und der Verteidigung ausgewogen darzustellen, auch wenn man nicht über jeden Schluckauf und Rülpser berichtete. Auf James Stewarts Hautfarbe hatte man nirgends direkt Bezug genommen, aber Rebecca musste zugeben, dass sie in einigen Berichten einen gewissen Unterton bemerkt hatte.

»Ich verstehe, was Sie meinen, Mrs Stewart, aber Tom hat Ihnen sicher auch gesagt, dass ich nicht so bin.«

Afuas angespannter Kiefer wurde lockerer, aber nur ein wenig. »Ja, er spricht sehr lobend über Sie. Er glaubt, Sie seien anders als die anderen. Aber was können Sie tun, um uns zu helfen?«

»Wir sind eine kleine Presseagentur, aber meine Chefin, Elspeth McTaggart, hat sehr viele Kontakte.«

»Tom meinte, sie hätte aufgehört und Ihnen das Geschäft überlassen.«

»Sie hat sich ein wenig zurückgezogen, das stimmt, aber sie ist noch immer gut vernetzt. Im Grunde mache ich die Arbeit, und sie streicht den Gewinn ein.« Rebecca lächelte beinahe unmerklich. Das Lächeln wurde nicht erwidert. »Sie schreibt jetzt mit meiner Hilfe ein Buch über die Mordopfer, die man in Culloden und bei der Old High Kirk gefunden hat. Erinnern Sie sich?«

Afuas Miene verriet nicht, ob sie sich erinnerte oder nicht. Der Fall hatte einige Wellen geschlagen, also musste sie davon wissen. »Und deswegen sind Sie hier? Sie wollen wohl noch ein Buch schreiben?«

»Ich will nicht lügen, Mrs Stewart, das ist durchaus möglich. Aber zuerst einmal sollten wir bei der Justiz den Ball ins Rollen bringen. Und dazu brauchen Sie die Medien. Ich stimme Ihnen zu, vor zehn Jahren waren die nicht gerade hilfreich, aber jetzt können sie Ihnen helfen. Die Medien brauchen eine Story, und Sie brauchen jemanden, der Ihnen helfen kann, den Medien diese Story zuzuspielen.«

»Sie zu steuern?«

Rebecca schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde die Fakten nicht steuern, Mrs Stewart. Ich werde die Sache nachverfolgen, soweit ich kann, aber ich werde nichts manipulieren und nichts unterdrücken. Um es ganz unverblümt zu sagen: Sollte ich etwas finden, das Ihrem Sohn nicht hilft, so werde ich es nicht ignorieren. Ich will nichts als die Wahrheit, oder das, was der Wahrheit am nächsten kommt.«

»Und Sie glauben, dass Sie die Wahrheit erkennen werden, wenn Sie sie sehen?«

Rebecca legte eine Pause ein und versuchte krampfhaft, sich an Worte zu erinnern, die sie einmal in einem Buch gelesen hatte. »Ich möchte Ihnen etwas über die Wahrheit erzählen, Mrs Stewart. Erinnern Sie sich an den Zauberwürfel?« Die Frau nickte. »Nun, die Wahrheit ist wie dieser Zauberwürfel. Wenn man den zum ersten Mal sieht, scheint alles richtig und in Ordnung zu sein. Alles ergibt einen Sinn, ist am richtigen Platz, alle Farben passen zusammen. Dann kommt jemand und dreht daran, und alles sieht auf einmal nicht mehr so wohlgeordnet aus. Die Farben sind noch da, aber sie sind verschoben. Ein paar weitere Drehungen, und es ist sogar noch schlimmer. Es ist vielleicht noch ein Muster erkennbar, auf eine abstrakte Weise sieht es auch noch gut aus, aber es ist nicht mehr wie zuvor. Wenn man kein Experte ist oder wirklich Mühe darauf verwendet, bekommt man es vielleicht nie wieder so hin wie am Anfang.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass ich vielleicht nur eine oder zwei Seiten der ursprünglichen Version des Würfels hinbekomme. Der Rest könnte völlig chaotisch bleiben.«

»Mit anderen Worten, Sie haben das Gefühl, dass wir niemals die ganze Wahrheit herausfinden werden?«

»Mit anderen Worten, Mrs Stewart, ich bin bereit, den Versuch zu unternehmen.«

Eine gefühlte Ewigkeit saß Afua Stewart schweigend da und starrte Rebecca mit ihren kühlen blauen Augen an. »Dann bemühen Sie sich, das zu tun, Ms Connolly.« Sie war ein wenig aufgetaut, aber nicht so sehr, dass sie Rebecca beim Vornamen nannte. »Mein Sohn sitzt lange genug im Gefängnis.«