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Ich habe heute Morgen in meiner Zelle einen Schmetterling beobachtet. Ich weiß nicht, wie er hier reingekommen ist, aber da war er auf einmal, flatterte an der Wand bei dem kleinen Fenster herum, von der grauen Morgendämmerung angezogen, vermute ich mal. Er war weiß, der Körper schwarz, und die zarten Flügel schienen fieberhaft zu schlagen, während er unstet gegen die weiß getünchte Ziegelmauer und auf das Viereck aus Licht zuflog.

Ich habe mich gefragt, ob er Furcht verspürt, weil er hier drinnen in der Falle sitzt. Ich habe mich gefragt, ob er in seinem zarten kleinen Körper verstanden hat, warum er diese Barriere nicht durchdringen und die aufgehende Sonne und die freie Luft nicht erreichen kann.

Ich habe mich hier drinnen zunächst sehr schwergetan. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich meine Philosophie entwickelt hatte. Aber damals war ich wütend. Wenn man für etwas angeklagt und verurteilt wird, was man nicht getan hat, macht einen das wütend. Es lässt einen die ganze Welt hassen. Das fängt beim ganzen Justizsystem an – den Richtern, Zeugen, Anwälten, besonders den Anwälten –, und dann verzehrt dich der Hass und erstreckt sich auf alle, mit denen du in Kontakt kommst. Aber dieser Hass hat mich am Leben gehalten, sonst hätte ich vielleicht mit allem Schluss gemacht.

Ja, es ist schwer gewesen. Ich bin jung. Ich sehe gut aus. Ich bin schwul. Wenn man das alles zusammenzählt, kommt als Ergebnis ein schwieriges Leben raus. Ja, hier gibt es andere Insassen, die schwul sind, und andere, die das nur während ihres Aufenthalts hier sind, aber insgesamt funktioniert die Einschüchterung hier auf wesentlich subtilere Weise, da lässt man nicht einfach die Seife fallen und wartet, dass du dich vornüberbeugst. Ich habe von ein paar Gefängnisangestellten und Insassen angewiderte Blicke eingesteckt. Die dachten, mich könnte man leicht piesacken. Und eine Zeit lang musste ich das auch über mich ergehen lassen.

Ich habe auch dazugelernt, als aus den Wochen Monate und aus den Monaten Jahre wurden. Jetzt bin ich ein erfahrener Gefangener, ein alter Knastbruder. Ich kenne die Tricks und Kniffe. Ich weiß, wem ich aus dem Weg gehen und mit wem ich mich treffen sollte. Ich mache einen Bogen um Drogen und Schulden und Glücksspiele. Ich weise alle sexuellen Annäherungsversuche zurück. Ich weiß, welche von den Aufsehern anständig sind und welche von einem System brutalisiert wurden, das immer noch oft genug Strafe über Rehabilitation stellt. Die Angst bleibt aber, und manchmal bin ich wie dieser Schmetterling, sehne mich danach, durch das Glas zu brechen und das Licht zu erreichen. Die Angst flattert in mir, ist wie ein Jucken an einer Stelle, die ich nicht erreichen kann.

Ich habe Insassen kommen und gehen sehen. Manche wurden entlassen. Andere haben sich umgebracht, weil sie das Eingesperrtsein nicht mehr ertragen haben, weil die Dämonen in ihren Köpfen schließlich doch die Oberhand gewonnen haben. Denn sie kommen zu Besuch, diese Dämonen – nicht bei allen, aber ich habe sie gehört. Ich habe sie gehört, aber ich habe sie ignoriert, und schon bald sind sie zu jemand anderem im Flügel gezogen, haben den gepiesackt, bis sie aufhörten, aufgaben, sich ausgeklinkt haben, sich ausgeschaltet haben.

Der Schmetterling ist entkommen, als die Aufseher die Zellentür aufgemacht haben. Ich habe gesehen, wie er ihnen ausgewichen und im Zickzack durch den Korridor geflogen ist. Ein paar von den anderen Jungs haben das auch gesehen und ihn beobachtet. Gesichter, die eher mit grimmigen Mienen und Flüchen und Schlägen vertraut waren, wurden plötzlich ganz weich beim Anblick eines fliegenden Insekts, das durch die Korridore und Treppenhäuser huschte, dessen weiße Flügel im Licht gespenstisch leuchteten. Schließlich ist der Schmetterling erschöpft gelandet, und einer von den Wärtern hat ihn mit einem Glas gefangen und weggetragen. Ich hoffe, er hat ihn freigelassen. Ich hoffe, dass er jetzt da draußen ist, irgendwo, schwebt, fliegt, flattert.

Frei.

Es kommt mir seltsam vor, zu denken, dass er längst tot sein wird, wenn ich frei bin. Ein Schmetterling lebt im Mittel einen Monat, habe ich mal gelesen. Ein paar Wochen für mich sind für ihn sein ganzes Leben. Jeder Flügelschlag ist wie das Ticken einer Uhr, die ihn näher an die Ewigkeit bringt. Jedes Leben hat seinen eigenen Rhythmus.

Ich habe mich in den Rhythmus des Gefängnisses eingefügt. Die Angst, der Hass, die Wut nagen noch immer an mir, aber das ist inzwischen kaum mehr als ein weißes Rauschen.