15
Die äußere Hülle von Kirkbrig House stammte aus einer Zeit, als Männer noch zum Gruß den Hut lüpften und Frauen wenig mehr als Besitztümer waren. Das Innere des Hauses jedoch war elegant und modern, und das Wohnzimmer, in das Mona Maxwell Rebecca führte, hatte hohe Decken und nutzte das Licht, das durch die großen Fenster hereinströmte, hervorragend aus. Die Hartholzböden waren gebeizt und spiegelglatt gebohnert, und eine Reihe von Orientteppichen in gedämpften Farben boten genug Gehflächen ohne Rutschgefahr.
Rebecca saß auf einer cremeweißen Couch mit Blick auf das Fenster, durch das sie den Vorgarten und das Tor am Ende der Zufahrt sehen konnte. Der Weg bis zur Haustür war ihr wie ein sehr langer Spaziergang vorgekommen, doch nun, da Mona sie – erstaunlicherweise – willkommen geheißen hatte, schien es nicht mehr so weit zu sein. Sie überlegte, ob sie erwähnen sollte, dass ein Freund jenseits des Tores wartete, wollte aber ihr Glück nicht überstrapazieren. Chaz würde es im Auto gut gehen. Sie hatte das Fenster einen Spalt aufgelassen.
Mona Maxwell nahm auf einem Ohrensessel neben dem offenen Kamin Platz, dessen Feuergitter kalt und tot hinter einem Paravent mit chinesischen Schriftzeichen verborgen war. Hier hatte anscheinend jemand ein Faible für China. Rebeccas Blick fiel auf die schwere eiserne Kamingarnitur auf einem Drehständer, und sie fragte sich, ob der Messingschürhaken, der da hing, wohl derselbe war, mit dem man Jahre zuvor Murdo Maxwell umgebracht hatte. Doch sicherlich nicht?
»Sie haben ein wunderschönes Zuhause«, sagte Rebecca.
»Danke.« Die Frau quittierte das Kompliment mit einem Nicken, blickte sich dann um, als sähe sie alles zum ersten Mal. »Mein Bruder hat es vollständig renoviert, nachdem er es gekauft hatte. Das muss jetzt fünfundzwanzig Jahre her sein, vielleicht sogar länger. Es war ziemlich heruntergekommen, also hat er es für einen Apfel und ein Ei bekommen. Er brauchte etwas fernab der Stadt, wo er hingehen und saubere Luft atmen konnte, hat er gesagt.« Sie hielt inne, und ein kleines Lächeln milderte die Strenge ihres Gesichts, wenn auch nicht sehr. »Er hat hart daran gearbeitet, oder vielmehr haben die Männer, die er dafür angeheuert hat, hart daran gearbeitet, aber er hat dafür gesorgt, dass er genau das bekam, was er wollte. Das Haus hatte Nassfäule und Hausschwamm, die elektrischen Leitungen mussten neu verlegt werden, es brauchte neue Böden und ein neues Dach. Man hatte es im Laufe der Jahre in einen jämmerlichen Zustand verkommen lassen.«
»Viktorianisch, nicht wahr?«
»Ja, gebaut wurde es von einem Edinburgher Textilhändler, der sein Vermögen mit dem Fernosthandel gescheffelt hatte.«
»Sind deswegen so viele orientalische Gegenstände hier?«
»Nein, das sind alles meine. Ich mag die chinesische Kunst und Kultur. Ich spreche Mandarin. Ich habe viele Jahre in Schanghai Englisch unterrichtet.« Sie setzte sich im Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Also, Miss Connolly, was sind diese anderen Informationen, von denen Sie gesprochen haben?«
Rebecca wusste, dass sie hier sehr dünnes Eis betrat. Die Frau schien ihr gewogen zu sein, doch wenn sie herausbekam, wie wenig Rebecca eigentlich wusste, konnte sich diese Einstellung rasch ändern. Ihre Menschenkenntnis teilte ihr jedoch mit, dass Mona Ehrlichkeit und direkte Worte zu schätzen wusste. »Ich will es Ihnen ganz offen sagen. Ich weiß nur, dass ein Anwalt in Inverness etwas über Ihren …« Sie unterbrach sich und brachte dann vorsichtig hervor: »Über das, was Ihrem Bruder zugestoßen ist.«
»Sie meinen den Mord an meinem Bruder?« Rebecca hatte recht gehabt. Mona Maxwell mochte direkte Worte. »Sie können das ruhig sagen, wissen Sie. Ich weiß, was geschehen ist. Ich habe ihn gefunden. Was genau weiß also dieser Anwalt?«
Jetzt kommt’s. »Ich weiß es nicht – noch nicht. Ich habe erst heute früh von dieser Entwicklung erfahren. Ich muss noch mit dem fraglichen Anwalt reden.«
»Warum sind Sie dann hier?«
»Ich wollte Sie warnen, dass es vielleicht erneut Interesse an dem, äh, Fall Ihres Bruders geben könnte.«
»An seiner Ermordung.«
»Seiner Ermordung. Die Banner, die James Stewarts Unschuld beteuern, werden die Dinge ins Rollen bringen. Seine Mutter habe ich bereits interviewt.«
»Verstehe.«
»Ich habe die Story schon geschrieben, und sie sollte morgen in mindestens einer der Sonntagszeitungen erscheinen. Online steht sie bereits. Weitere Berichte folgen, sobald ich mehr darüber herausgefunden habe. Aber in Anbetracht der neuen Informationen …«
»Was immer die sind.«
»Ja, was immer die sind. Wie gesagt, ich werde das am Montag herausfinden.« Hoffentlich, dachte Rebecca. »Jedenfalls ist es mit den Bannern und den neuen Informationen höchst wahrscheinlich, dass eine Art Kampagne losgetreten wird, und ich dachte, Sie sollten das wissen.«
»Verstehe.« Mona musterte sie eine Weile. Rebecca hatte den Eindruck, dass sie auf dem Prüfstand war. »Sie wollten aber auch mit mir über jenen Tag reden. Und den Tatort sehen. Hab ich recht?«
Sie war keine Närrin. Wieder einmal entschied Rebecca, dass hier Ehrlichkeit angesagt war, und erwiderte: »Ja.«
Ein zufriedenes Nicken. »Dann kommen Sie mit«, sagte Mona. »Ich mache mit Ihnen den Rundgang.«
Sie führte Rebecca in den breiten Eingangsflur zurück. »Ich war über Nacht fort gewesen, hatte in Inverness bei einem Freund übernachtet …«
Sie erinnerte sich an den Gesang der Vögel, der die stille Morgenluft durchschnitten hatte. Sie erinnerte sich an den Traktor, der keuchte wie hustende Patienten in einem Wartezimmer. Sie erinnerte sich an das Röhren des Motorrads, das auf der Straße jenseits der Kieseinfahrt und der Rasenflächen und der sorgfältig gestutzten hohen Hecke vorbeidonnerte.
Doch vor allem erinnerte sie sich an die tiefe Stille im Haus.
Draußen sang, hustete, röhrte die Welt. Drinnen war es still. Normalerweise gäbe es hier Geräusche, denn ihr Bruder hasste Stille, fand sie vielleicht sogar schädlich, und folglich setzte er ihr das Geplapper des Fernsehers, die Meinungen der Wortprogramme im Radio, die Sanftheit von Musik entgegen, doch meistens füllte er sie mit der Echokammer seiner eigenen Stimme, die er ungewöhnlich gern selbst hörte. Schon immer, sogar als Kind. Er redete dauernd, lachte oft, er lächelte gern und dozierte noch lieber, denn eine Meinung zu haben und sie der Welt nicht mitzuteilen, erschien ihm Verschwendung. Doch an diesem Morgen plärrte kein Fernseher. Es war keine sonore Stimme im Radio zu hören. Keine beruhigende Musik. Nur eine tiefe Stille, die jede Ecke zu durchdringen, jedes Stuckgesims zu erreichen, jeden Schrank zu erforschen schien. Sie hing schwer auf der breiten Treppe und klebte am Hartholz der Fußböden.
Jetzt, als sie in der offenen Tür zögerte, der Yale-Schlüssel noch im Schloss steckte, das Tageslicht sich in den unzähligen Farben des Buntglasfensters über der Treppe brach und Regenbogenpfützen aus Blau und Orange und Grün und Rot erzeugte, wusste sie, dass etwas in dieser Stille lauerte. Etwas war tief in den Falten dieser Stille verborgen. Etwas Schreckliches.
Das tiefe Rot, das sie am Fuß der Treppe sah, war nicht vom Sonnenlicht gemalt, das durch das Fenster strömte. Das gefilterte Licht war natürlich, willkommen, warm. Die Streifen auf dem Holz waren etwas Fremdes. Sie hätten nicht dort sein sollen. Es sah aus wie Soße, als hätte jemand auf dem Weg zwischen der Küche im hinteren Teil des Hauses und der Treppe gekleckert. Streifen und Flecken, die den glänzenden Boden durchschnitten oder betupften und sich in den cremeweißen Treppenläufer saugten.
Aber es war keine Soße; das wusste sie.
Sie schürzte die Lippen, trat vollends in die Eingangshalle, ließ die Tür hinter sich offen. Sie war keine überspannte Person, doch die Stille brachte sie allmählich aus der Fassung. Sie blieb am Fuß der Treppe stehen, legte den Kopf schief, um auf irgendein Geräusch aus dem oberen Stockwerk zu lauschen, hörte jedoch nichts. Sie stellte einen Fuß auf die unterste Stufe, überlegte es sich anders, zog ihn zurück und wandte sich zur Küchentür am Ende des Korridors. Es war ein altes Haus, und dieser Korridor war schmal, nur wenig Licht drang in die Schatten. Doch sie konnte die Spur leicht ausmachen, hielt sich an die gegenüberliegende Wand, um nicht hineinzutreten.
Noch immer sangen die Vögel, noch immer keuchte der Traktor.
Sie spürte, wie das Unbehagen sich in ihr aufbaute. Sie wusste, was sie gleich finden würde, doch sie hatte trotzdem das Gefühl, sie müsste die schwere Holztür erreichen und selbst nachsehen. Der Gang von der Eingangshalle zur Tür war lang, doch an diesem Morgen erschien er ihr endlos, als sie sich Schritt für Schritt darauf zubewegte, mit der Schulter an den sorgfältig gestrichenen Wänden entlangstreifte und gegen den Rahmen eines Gemäldes stieß, eines Bildes von Landseer, das ihr Bruder gar nicht gemocht hatte. Doch es war ein Geschenk eines ehemaligen Liebhabers gewesen, und Murdo war sentimental. So war er. Wortreich, rechthaberisch, aber großzügig und oft warmherzig. Allerdings nicht perfekt. Nein, überhaupt nicht perfekt.
Sie erreichte die leicht offen stehende Tür. Endlich. Sie legte die gespreizte Hand an das Holz. Sanft. Sie drückte dagegen. Langsam.
Die Tür öffnete sich mühelos.
Licht flutete vom Küchenfenster herein. Sie nahm geistesabwesend die Kulisse draußen wahr, den Garten mit seinen alten Bäumen, den steingepflasterten Weg, der sich um Büsche herum zu einem Teich mit einer kleinen Holzbrücke schlängelte, wie auf dem blau-weißen Porzellan mit Willow-Muster. Auf dem Grat oberhalb des Hauses der alte Traktor. Jess von der Farm, der damit einen Anhänger zog. Dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf den Boden. Und auf das, was am Boden lag.
Die Natursteinfliesen hatten ein dunkles Rotbraun, genau wie die Flüssigkeit – inzwischen verfestigt, klebrig –, die in einer Lache den Kopf ihres Bruders umgab. Er war nackt und lag mit dem Gesicht nach unten da, den Kopf leicht zur Seite gedreht, die leeren Augen geöffnet, als starrte er zu ihr zurück. Schwarzrotes Blut machte sein Haar steif und verkrustete die Falten zwischen Mund und Nase und seine Ohren. Sie konnte sehen, wo das Fleisch aufklaffte und der Schädel zertrümmert und sein Gehirn hervorgequollen war.
Während sie auf die Leiche starrte, wand sich die Stille im Haus um sie herum.
Auf dem Grat tuckerte der Traktor aus ihrem Gesichtsfeld. Im Garten sangen noch immer die Vögel.