18
»Er hatte einen der großen Sonnenschirme gegen das Fenster geschleudert«, erzählte Mary kopfschüttelnd. »Er hat wahrscheinlich auch versucht, einen der Tische zu werfen, aber die sind massiv und wirklich schwer. Jedenfalls hat er dem Fenster nichts anhaben können. Der Sonnenschirm war allerdings nie wieder ganz wie vorher. Murdo kam am nächsten Tag – wir vermuteten, dass Evan ihm davon berichtet hatte – und hat mit Geld rumgewedelt, um alles auszubügeln. Er ist sogar zum alten Jess auf die Farm gegangen, hat mit den Brüdern geredet, sich entschuldigt.«
Rebecca fragte: »Und was ist mit Evan passiert?«
»Wir haben ihn danach nie wieder gesehen – aber so, wie der drauf war? Es würde mich nicht überraschen, wenn der weiter in Schwierigkeiten geraten wäre. Aber es war nie wieder von ihm die Rede.«
Tom meldete sich zu Wort. »Maxwell hatte ein Riesenglück, dass das hier passiert ist – wenn der Junge so was in Oban oder Inverness oder Glasgow abgezogen hätte, wäre er vielleicht eingebuchtet worden, und das wäre in den Zeitungen gelandet. Und was hätte der gute alte Murdo dann gemacht?«
»Maxwell hat doch kein Geheimnis daraus gemacht, dass er schwul war«, wandte Rebecca ein.
»Nein, aber solche Dinge würden in den Boulevardzeitungen nicht gut aussehen, oder? Liebhaber von politischem Oberaktivisten wegen Schlägerei verhaftet. Oder schlimmer.«
»Wie war er so, Murdo Maxwell?«, fragte Chaz.
»Er schien in Ordnung zu sein«, fuhr Mary fort. »Manchmal ein bisschen zu redselig, aber er war ja Anwalt. Habt ihr schon mal einen Brief von einem Anwalt gesehen? Manchmal glaube ich, die werden pro Wort bezahlt. Bei manchen Rechnungen, die ich bekomme, sieht es ganz so aus.«
Chaz fragte: »Tom, hast du irgendwann mal bei einer seiner Kampagnen mit ihm zusammengearbeitet?«
»Aye, ein-, zweimal – nichts Großes. Illegales Fischen von Jakobsmuscheln mit Schleppnetzen in Loch Carron. Wir haben beide gegen Null-Stunden-Verträge für Zeitarbeiter gekämpft, solche Dinge.«
»Und was hast du von ihm gehalten?«
»Dasselbe wie Mary. Er war ein Redner.« Er lächelte. »Sagt jetzt nichts. Ich weiß, so sind Leute wie ich eben. Aber manchmal hat er nur geredet. Trotzdem konnte Murdo die Aufmerksamkeit auf sich lenken wie kein Zweiter.«
Rebecca meinte: »Das hatte er dann mit Finbar Dalgliesh gemeinsam.«
Tom runzelte die Stirn. Er hatte für Finbar Dalgliesh und seine Gefolgsleute nichts übrig. »Was hat der denn damit zu tun?«
»Es sieht so aus, als wären sie auf der Uni Freunde gewesen und später in Glasgow Geschäftspartner.« Sie bemerkte, dass das für Tom neu war. »Das wusstest du nicht?«
»Nein, ich wusste, dass er Anwalt war, ehe er in die Politik gegangen ist, aber das war’s auch schon. Und Finbar ist ja erst vor ein paar Jahren ins Rampenlicht getreten.« Er legte den Kopf leicht schief und lächelte. »Na so was, der gute alte Finbar, was? Jetzt wird’s richtig interessant.«
O ja, dachte Rebecca.
»Was ist mit James Stewart?«, fragte Chaz. »Ist er mal mit Murdo Maxwell hier gewesen?«
»Aye!«, antwortete Mary. »Ein gut aussehender Bursche war das. Aber ruhig, sehr ruhig. Na ja, Murdo hat für sie beide genug geredet.«
Chaz erkundigte sich: »Und was hat man im Dorf über den Mord gedacht?«
Während Mary antwortete, streckte Rebecca die Hand noch einmal nach den Sandwiches aus. »Die Leute waren natürlich schockiert. Wir haben hier auch Kriminalität, aber nichts Derartiges, nicht in der neueren Zeit. Natürlich ist das historisch eine ganz andere Sache.«
»Du meinst den Appin-Mord?«
»Aye, aber so ist es in den Highlands, meine Liebe. Man kann keinen Schritt tun, ohne über irgendein altes Schlachtfeld oder die eine oder andere Gräueltat zu stolpern.«
»Einer der Grundpfeiler der Tourismusindustrie«, meinte Tom.
»Was ist denn hier in der Gegend passiert?«
»Ach, die Clans haben dauernd wegen irgendwas einen mächtigen Wirbel gemacht«, erklärte Mary. »Ein Affront, eine Beleidigung, Viehdiebstahl, ein Streit um Land – gelegentlich eine Entführung und Erpressung von Lösegeld, so was in der Art. Und ehe man sich’s versah, wurde das brennende Kreuz durch die Clachans getragen, und die Männer zogen die Claymores aus dem Reetdach ihrer schwarzen Häuser und machten sich auf in den Kampf. So was ist zum Beispiel da geschehen, wo heute Kirkbrig House steht.«
»Da war eine Schlacht?«
»Na ja, Schlacht wäre wohl übertrieben, aber dort fand ein Kampf zwischen den MacDougalls und den Stewarts statt. Das war vor Hunderten von Jahren. Es ging darum, wem das Land und die Burg unten gehörten. Die habt ihr wahrscheinlich auf der Fahrt hierher gesehen.«
Hatten sie. Die Festung stand auf einer Landspitze, die in den Meeresarm hinausragte und bei Flut zu einer Insel wurde. Heute lehnten sich die Ruinen der Mauern an die Landschaft wie müde alte Soldaten.
»Und wer hat gewonnen?«
»Die Stewarts nahmen den Sieg für sich in Anspruch, aber nur, weil sie einen letzten überlebenden Mann mehr hatten. Jedenfalls erzählt man, das Gemetzel sei so groß gewesen, dass der Boden vom Blut ganz glitschig war. Deswegen nannte man das Gelände Roan Fala, das Feld des Bluts. Andere kennen es als Achadh a’Mhallachd, das Feld des Fluchs.«
»Warum?«
»Die Mutter von vier Brüdern, die an jenem Tag ums Leben kamen, hat das Land mit einem Fluch belegt: Jede Ernte solle verwelken, jedes Vieh, das dort graste, solle krank werden und sterben. Soweit ich weiß, hat hier nie jemand irgendwas angepflanzt, und es wurde auch kein Vieh hier geweidet. Als man nach einem Bauplatz für die neue Kirche gesucht hat, hat man dieses Flurstück ausgelassen, in den Highlands stirbt der Aberglaube nur langsam. Als dann der Kaufmann aus Edinburgh kam, um hier zu bauen, hat er das Land für einen Apfel und ein Ei bekommen. Er hat sich nicht zu sehr um die alte Highland-Geschichte geschert, denn er war ja ein knallharter Geschäftsmann aus der großen Stadt.«
Rebecca war nicht abergläubisch, aber sie hatte in der Vergangenheit Dinge erlebt, die sie sich nicht erklären konnte – Visionen von ihrem verstorbenen Vater, das Baby, das nie geatmet hatte, aber doch nachts weinte. Jetzt diese Geschichte von einem uralten Fluch.
Sie fragte: »Ist irgendwas passiert, nachdem er das Haus gebaut hatte?«
Mary nippte an ihrem Kaffee und schaute ihren Bruder über den Tassenrand hinweg an. Rebecca hatte den Eindruck, dass sie es um des Effektes willen machte. »Aye«, sagte sie schließlich. »Er ist gestorben. Es gab Leute, die sagten, das läge an dem Fluch, der sich gegen ihn wendete, weil er sein Haus auf diesem Land gebaut hatte, und was noch schlimmer war, weil er ihm den Lowlands-Namen Kirkbrig House gegeben hatte.« Sie nahm noch ein Schlückchen Kaffee. »Na ja, aber wenn es der Fluch war, dann hat er sich verdammt viel Zeit gelassen. Er ist nämlich erst vierzig Jahre später gestorben, in seinem Bett und eines natürlichen Todes.«
Marys Blick wanderte zur Bar, und der Humor, der in ihren Augen gelegen hatte, verblasste, als sie sich auf einen unsichtbaren Punkt konzentrierte. War da ihr Harry und lächelte sie an, genau wie Rebecca unzählige Male ihren Vater hatte lächeln sehen?
»Aber der Tod selbst ist ja auch ein Fluch, nicht wahr?«, sagte Mary leise.