28
Jordans Kanzlei war klein, ein Makler hätte sie wohl kompakt genannt, aber ganz gleich, wie man es formulierte, man fühlte sich hier recht eingeengt. Jordans einzige Angestellte, eine rothaarige Frau in den Vierzigern mit makelloser Frisur, warf ihr einen jener kühlen und sachlichen Blicke zu, der einen erwachsenen Mann mit einem Augenaufschlag niederstrecken könnte. Rebecca überlegte, ob sie den von einer sehr strengen Oma geerbt hatte. Dieses mühelos wütende Funkeln hätte Rebecca gut für die Typen brauchen können, mit denen sie es häufig zu tun bekam. Martin Bailey spukte ihr da als besonders widerliches Phantom im Kopf herum. Vielleicht sollte sie Stunden bei dieser Empfangsdame nehmen, überlegte sie.
Beim Gedanken an Bailey regte sich eine Frage. War Jordan vielleicht der Anwalt, den er am Samstag vor ihrem Büro erwähnt hatte? Sie versuchte, sich an den Namen des Verteidigers zu erinnern, der seinen Sohn vertreten hatte, doch er fiel ihr nicht ein.
»Mr Jordan hat Sie mir gegenüber nicht erwähnt«, sagte die Empfangsdame und brachte Rebeccas abschweifende Gedanken wieder zurück in die Gegenwart.
»Ist er vom Gericht zurück?«
»Ja, aber, wie schon gesagt, er hat nicht erwähnt, dass er Sie erwartet.«
Rebecca hatte sich beeilt und beim Supermarkt in der Nähe der Castle Wynd geparkt. Jordan musste also beinahe geflogen sein. Er wirkte fit, aber wer hätte gedacht, dass er ein Superheld ist.
»Nun, vielleicht hat er es vergessen. Wir haben die Verabredung erst vor ein paar Minuten getroffen und …«
»Mr Jordan hat nicht die Angewohnheit, Dinge zu vergessen.«
Rebecca warf der Frau ihr süßestes Lächeln zu, das hoffte sie jedenfalls. »Da bin ich mir sicher. Aber wenn Sie ihm vielleicht einfach sagen könnten, dass ich hier bin?«
Die Frau wägte diesen Vorschlag ab, doch ihre Hand mit den sorgfältig polierten Nägeln wanderte keinen Zentimeter näher zum Telefon.
»Er hat in Kürze eine Besprechung mit einem Mandanten.«
»Ich weiß. In …«, Rebecca schaute auf die Uhr an der Wand »…fünfunddreißig Minuten, also pressiert es ein wenig.«
Die Hand regte sich noch immer nicht.
»Schauen Sie«, sagte Rebecca und musste sich große Mühe geben, um das Lächeln auf ihrem Gesicht und die Geduld zu bewahren. »Ich schlage Ihnen einen Deal vor: Sie telefonieren oder läuten oder rufen oder schicken Rauchzeichen, was immer Sie auch machen, um Ihrem Chef Bescheid zu geben, dass Besuch für ihn gekommen ist. Und wenn er dann sagt, dass er mich nicht sehen will, gehe ich und verdunkle Ihre Schwelle nie mehr. Wie wär’s?«
Ein Seufzen, und endlich lag die Hand auf dem Telefon. »Wie war doch gleich der Name?«
»Rebecca Connolly.«
»Und worum ging es?«
»Mr Jordan weiß Bescheid.«
»Und Sie sind keine Mandantin?«
Rebecca würde jede Wette eingehen, dass diese Frau jeden einzelnen Mandanten kannte, den Jordan hatte. »Nein, ich bin beruflich hier.«
»Und bei welchem Unternehmen arbeiten Sie?«
»Bei der Highland News Agency.«
Eine winzige Bewegung der Augenbraue. Ein Beben der Nasenflügel. Ein Zucken der Lippen. Offensichtlich teilte diese Dame das Misstrauen ihres Chefs gegenüber den hart arbeitenden Mitgliedern der loyalen Presse Ihrer Majestät. Nach dem Argwohn des Typen in Dalglieshs Büro und dem hochnäsigen Tonfall der Frau, die Sir Gregory Stewarts Anrufe entgegennahm, entwickelte Rebecca allmählich Komplexe. Trotzdem nahm die Empfangsdame den Hörer zur Hand und drückte mit einem Finger, auf den eine Maniküristin irgendwo im Land sicher sehr stolz war, auf einen Knopf. Rebecca hörte ein Summen, das gar nicht weit weg ertönte, und begriff, dass hier moderne Technologie für die Kommunikation eigentlich nicht notwendig war; wahrscheinlich hätten zwei Blechdosen und ein Stück Schnur auch gereicht.
»Hier ist eine gewisse Rebecca …« Die Stimme der Rezeptionistin verstummte, und sie schaute Rebecca fragend an.
»Connolly«, ergänzte Rebecca, noch lächelnd, aber mit Zähneknirschen. Sie war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Frau das absichtlich tat, um sich mit diesem Abschaum von Journalistin, der sie in ihren Augen war, einen Spaß zu erlauben.
»Eine gewisse Rebecca Connolly für Sie.« Sie lauschte, nickte, als könnte Jordan das hören. Vielleicht spürte er den Luftzug. Sie legte auf und deutete mit einem zarten Finger auf die Tür links von ihrem Fenster. »Da hinein, den Flur entlang und dann nach links.« Die Tür öffnete sich wie von Zauberhand. Die Rezeptionistin musste, während Rebecca noch gebannt auf deren ausgestreckten Finger starrte, das Schloss durch irgendeinen Trick geöffnet haben.
»Vielen Dank«, sagte Rebecca, der noch der gute Ratschlag ihrer Mutter in den Ohren erklang: Bleib immer höflich, bis die Zeit kommt, nicht mehr höflich zu sein. Nichts ärgert die Leute mehr, als wenn man nett und zuvorkommend bleibt, während sie es nicht sind.
Der Flur war kaum mehr als ein etwas in die Länge gezogener Eingangsbereich. Nach drei Schritten musste Rebecca schon links abbiegen und stand vor der offenen Tür zu Jordans Büro, das eher ein Schrank mit Größenwahn als ein Zimmer war. Jordan saß hinter einem Schreibtisch, flankiert von Aktenschränken zu beiden Seiten seines Stuhls, über dessen Lehne er seine Anzugjacke drapiert hatte. In einer Ablage auf dem Schreibtisch türmten sich Aktenhefter, weitere häuften sich auf dem Boden. Es gab nur noch ein einziges weiteres Möbelstück, einen unbequem aussehenden Stuhl, der Jordan gegenüberstand und zu dem er sie nun herüberwinkte.
»Ihre Rezeptionistin ist eine eindrucksvolle erste Verteidigungslinie«, sagte Rebecca, während sie sich setzte.
Der Hauch eines Lächelns. »Ja, Elaine ist was Besonderes. Sie ist eher Sekretärin, Büroleiterin und Aufpasserin als Rezeptionistin. Manchmal jagt sie sogar mir Angst ein.«
»Ich bin sicher, sie ist von großem Nutzen.«
»Nicht mit Gold aufzuwiegen. Ohne sie könnte ich diese Kanzlei nicht führen.« Er schaute betont auf die Uhr. »Nun, Ms Connolly, wir haben nicht viel Zeit.«
»Richtig«, erwiderte sie, dachte aber, dass sie mehr Zeit gehabt hätten, wenn die Torwächterin nicht gewesen wäre. »Und nennen Sie mich Rebecca, bitte. Wie gesagt, ich arbeite mit Afua Stewart an …«
»Ja, ich habe mit ihr gesprochen.«
»Gut. Sie hat mir erzählt, Sie hätten neue Informationen zum Fall ihres Sohnes.«
»Ja.« Er legte eine Pause ein. »Aber zuerst muss ich wissen, was Sie mit diesen Informationen vorhaben.«
Sie war über die Frage erstaunt. »Was ich damit vorhabe? Eine Story schreiben.«
»Und das wird ihm nutzen, ja?«
»Es wird jedenfalls nicht schaden.«
»Aber wird es Mr Stewart aus dem Gefängnis freibekommen? Ich glaube nicht.«
»Nein, das kann ich nicht versprechen, aber ich glaube, dass es ein Gespräch in Gang bringen kann.«
»Ein Gespräch.«
»Ja, Fragen werden gestellt. Zweifel kommen auf. Je nachdem, was Sie mir zu sagen haben, natürlich.« Jetzt war es an ihr, eine Pause einzulegen. »Das heißt, wenn es überhaupt eine Meldung wert ist.«
Sie konnte einfach nicht widerstehen. Manchmal reicht Höflichkeit nicht aus.
Er starrte sie an. Blickte auf die Uhr. Dann sagte er: »Sie waren mal mit Simon Hughes zusammen.«
Ah, sie hätte wissen müssen, dass das aufs Tapet kommen würde. Die Welt der Juristen war genau wie die der Medien: klein. Natürlich musste er ihren Ex kennen, der Anwalt in Nairn war.
»Ja«, antwortete sie mit leichten Schuldgefühlen. Simon war ein wenig anhänglich gewesen, aber sie hatte ihn auch schlecht behandelt. Nach ihrer Fehlgeburt hatte sie das Gefühl gehabt, die Beziehung nicht fortführen zu können. Sie gab ihm keine Schuld an dem, was geschehen war, und er hatte es nicht verdient, so von ihr abgefertigt zu werden. Doch alles, was sie je für ihn empfunden hatte, war mit ihrem gemeinsamen Kind gestorben.
»Ist er ein Freund von Ihnen?«, erkundigte sie sich.
»Nein, wir sind uns ein paarmal begegnet, mehr nicht. Ich erinnere mich daran, Sie mal bei einer Veranstaltung der Anwaltskammer gesehen zu haben.«
Er kannte sie also nicht nur aus dem Gerichtssaal. Sie schwieg, war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Er schaute erneut auf die Uhr, gab keinen weiteren Kommentar ab.
»Die Zeit vergeht, Mr Jordan«, sagte sie.
Er antwortete nicht. Sie merkte, dass er überlegte, ob er ihr überhaupt etwas sagen sollte, versuchte es also mit einem sanften Anstoß: »Sie haben gesagt, dass Sie mit Mrs Stewart gesprochen haben.«
»Ja.«
»Dann wissen Sie, dass sie mir die Information zukommen lassen möchte.« Während sie noch sprach, kam Rebecca der besorgniserregende Gedanke, dass Afua Stewart möglicherweise nichts dergleichen gesagt hatte.
Wieder ein Blick auf die Armbanduhr. Das wurde langsam ärgerlich. Verdammt noch mal, wenn er es ihr einfach sagen würde, dann könnte sie hier weg.
»Ich nehme keine Anweisungen von Mrs Stewart entgegen«, sagte er.
Sie beschloss, zum Angriff überzugehen. »Schauen Sie, Mr Jordan, wenn Sie es mir nicht sagen wollen, warum haben Sie mich dann hierhergebeten? Sie hätten meine Bitte gleich beim Gerichtsgebäude ablehnen können.«
Sie ließ das in der Luft hängen. Wenn er beleidigt oder wütend war, zeigte er es nicht, aber sie hatte ihn bei Gericht gesehen. Er war eiskalt. Ruhig, distanziert, bei der Befragung von Zeugen eher mit dem Stilett als mit dem Säbel bewaffnet. Und er hatte recht: Er war weder der Anwalt von Afua Stewart noch der ihres Sohnes. Was immer er Afua erzählt hatte, er hatte seine Gründe. Sie konnte ihn nicht zwingen, zu reden, jedenfalls nicht mit ihr.
Endlich riss ihr Geduldsfaden, und sie stand auf. Sie war zu müde für derlei Spielchen. Dieser Mistkerl verschwendete absichtlich ihre Zeit, vielleicht zur Strafe dafür, dass sie Berichte über seine Mandanten geschrieben hatte. »Wie Sie wollen«, sagte sie, die Finger bereits auf der Türklinke. »Ich habe gemacht, was Mrs Stewart wollte. Ich habe Sie gefragt, aber wenn Sie mir nichts sagen wollen, gehe ich einfach zu ihr zurück und …«
»Ich nehme an, Sie haben noch nie etwas von einem Mann namens Roger Dodge gehört?«
Seine Stimme war leise, und sie drehte sich zu ihm um. »Nein, wer ist das?«
Jordan kippte seinen Bürostuhl nach hinten, bis er an der weißen Wand hinter ihm lehnte. »Er ist ein Mandant von mir, oder vielmehr war er ein Mandant von mir, wenn auch nur kurz. Roger Dodge, den alle Welt nur als Dodger kennt.«
»Und jetzt ist er kein Mandant mehr?«
Jordan starrte kurz zur Decke. »Nein«, sagte er. »Jetzt ist er tot.«
Es war ein regnerischer Herbsttag, als Roger Dodge das Büro betrat. Er sagte Elaine, er müsse mit einem Anwalt sprechen, und Mr Jordan sei ihm von einigen geschäftlichen Bekannten wärmstens empfohlen worden. Elaine machte, was Elaine am besten machte, und versuchte, ihn dazu zu bringen, einen Termin später in der Woche zu vereinbaren. Doch der Mann war ruhig und beharrlich. Wenn er Mr Jordan nicht jetzt gleich sehen könnte, würde er woandershin gehen, schlicht und ergreifend. Elaine wusste, dass ihr Chef keine Termine hatte, also klingelte sie durch und fragte ihn, ob er Zeit für Laufkundschaft hätte.
Dodge war ein massiger Mann, der Jordans Büro ausfüllte wie ein schweres Möbelstück. Wenn er beschließen sollte, sich nicht zu bewegen, würde es drei starke Männer mit Gewichthebergürteln und einem Flaschenzug brauchen, um ihn wieder hier wegzubekommen. Groß, wie er war, wirkte Roger Dodge doch geknickt, als er auf den Stuhl sackte. Seine eingedrückte Nase war von blauen und roten Adern durchzogen wie eine Straßenkarte, seine Wangen waren leicht eingefallen, was eine Narbe auf der linken Seite betonte. Sein Haar war vorn schütter, aber im Nacken lang und strähnig, eine Art ausgezehrte Vokuhila-Frisur. Die Knöchel seiner Hand, die zweifellos irgendwann einmal anderen Leuten Prellungen beigebracht hatten, waren nun von Arthritis entstellt, und er massierte sie unablässig, während er sprach, als wollte er den Schmerz wegreiben. Seine Augen waren hohl, und jegliches Licht, jegliche Hoffnung, die vielleicht einmal in ihnen gelegen hatten, waren von Jahren voller schlechter Entscheidungen, schlimmem Pech und noch schlimmerem Schnaps weggewaschen worden. Seine Kleidung war von anständiger Qualität, aber doch unverkennbar abgenutzt.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mr Dodge?«, fragte Jordan. Trotz Elaines bohrenden Fragen hatte sich der Mann resolut geweigert, sein Anliegen zu nennen.
»Nennen Sie mich Dodger, alle anderen tun das auch.«
Jordan ignorierte die Aufforderung. Für ihn würde er Mr Dodge bleiben.
»Ich brauche einen Rat, Mr Jordan, jawohl.« Der Tonfall des Mannes hatte die harten Kanten der Glasgower Straßen, wo er geboren war, aber es lag auch ein raues Krächzen darin, als würde der Beton langsam bröckelig. »Ich zahl dafür, ehrlich. Keine Sorge.«
Er griff in seine Manteltasche und zog eine Handvoll zerknitterte Banknoten hervor, die er auf den Tisch legte.
»Hier sind hundert Piepen. Reicht das für eine Beratung oder nicht?«
Jordan ließ das Geld da liegen, wo es war. Es war mehr als genug, aber er bezweifelte, dass er es nehmen würde. »Mr Dodge, sind Sie in Schwierigkeiten?«
Dodgers kurzes Lachen klang, als schüttelte man Kieselsteine in einer Flasche. »Immer, Mr Jordan. Aber vielleicht nicht so, wie Sie glauben.«
»Warum brauchen Sie dann meine Hilfe?«, fragte Jordan.
Dodger holte schnaufend Luft, aber sein Atem schien an irgendetwas in seinem Hals festzuhängen, und man hörte es eine Weile rasseln. »Keine Anzeige gegen mich oder so, nichts, Mr Jordan. Bin sauber geblieben im letzten Jahr oder so, hab versucht, mich aus allem rauszuhalten, wenn Sie wissen, was ich meine. War nicht immer so, das können Sie sich wahrscheinlich denken.«
Jordan hörte zu, ohne den Mann zu unterbrechen. Dodger umriss seine Vergangenheit als angeheuerter Schläger und Kleinkrimineller, der Leute um ihre Besitztümer erleichterte. Es war eine Geschichte von Gewalt, Diebstahl und Betrug, die Geschichte eines Mannes aus einer anständigen Familie, der vom rechten Weg abgekommen war, ob zufällig oder mit Absicht oder aus schlichter Bösartigkeit. Jordan urteilte nicht, das war nicht seine Aufgabe. Er hatte schon viel Ähnliches gehört, in jeder kleineren oder größeren Stadt und in jedem Dorf gab es Tausende solcher Geschichten. Also hörte er zu und verarbeitete das Gesagte, und obwohl er das Gespräch hätte schneller vorandrängen sollen, wartete er darauf, dass der Mann zum Zweck seines Besuchs kam. Bisher hatte er nichts gehört, wozu sein Rat notwendig gewesen wäre. Damals schon, zum Zeitpunkt, als Dodger die verschiedenen Missetaten begangen hatte, die er nun vage umriss, aber jetzt nicht mehr. Obwohl er es nicht ausdrücklich sagte, hatte Jordan das Gefühl, als hätte der Mann für einige seiner Straftaten mit dem Verlust seiner Freiheit gebüßt. Für einige, nicht alle.
»Also, dann bin ich hier gelandet, in Inverness, vor neun, zehn Jahren«, sagte der Mann und kam ins Stocken. Bisher hatte er seine Geschichte recht flüssig vorgetragen, obwohl er einige Einzelheiten übergangen hatte, ob zum Selbstschutz oder aus Scham, das konnte Jordan nicht ausmachen. Aber was er nun zu erzählen hatte, erwies sich als nicht so einfach. Jordan sah, dass echter Schmerz die Schatten in den Augen des Mannes vertiefte. Und noch etwas anderes.
Etwas, das Angst sein könnte.
Schließlich sagte der Mann: »Mr Jordan, alles, was ich Ihnen sage, ist vertraulich, ja?«
»Das stimmt.«
»Und Sie können niemandem was davon erzählen?«
»Das kann ich nicht.«
»Ganz egal, was es ist?«
»Es sei denn, das, was Sie mir erzählen, würde bedeuten, dass jemandem etwas Schlimmes geschieht, wenn ich nichts sage.«
Dodger nickte, war mit der Antwort zufrieden. »Niemandem wird etwas Schlimmes geschehen. Das Schlimme ist schon geschehen, jawohl.« Er dachte nach. »Nun ja, mir wird was Schlimmes geschehen, aber was ich zu sagen habe, ändert daran nichts.«
»Jemand wird Ihnen was Schlimmes zufügen?«
»Nein, nein, so was nicht.« Noch ein tiefer Atemzug. Was immer in seinem Hals feststeckte, es schnitt scharf wie ein Rasiermesser. »Ich bin krank, Mr Jordan. Die haben mir gesagt, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Bauchspeicheldrüsenkrebs.«
Jordan hatte schon vermutet, dass der Mann krank war. Nach allem, was er gerade gehört hatte, konnte man Roger Dodge nicht einmal mit viel Fantasie als guten Menschen bezeichnen, aber Jordan verspürte doch so etwas wie Mitleid. »Es tut mir leid, das zu hören, Mr Dodge.«
Dodger warf ihm ein kleines Lächeln zu, als schämte er sich. »Aye, na ja, mein Tee ist alle und meine Pastete ist kalt, wie man so sagt, das ist mal klar«, sagte er. »So ’ne Nachricht bringt einen ins Grübeln, wenn Sie wissen, was ich meine, Mr Jordan. Wenn du weißt, dass du dem Ende ins Auge siehst, schaust du dir an, was du so aus deinem Leben gemacht hast. Fragst dich, ob du es verschwendet hast.«
Jordan spürte, dass der Mann sich etwas von der Seele reden wollte, ließ ihn also weitersprechen.
»Ich war nicht gerade das, was man einen mustergültigen Bürger nennt, Mr Jordan. Ich war sogar ein richtiger Schweinehund.« Er schaute auf seine Hände hinunter, und die Finger seiner Rechten rieben noch immer über die Knöchel seiner Linken, als wollte er mit dem Schmerz auch einen Makel wegwischen. »Ich habe gelogen. Ich habe geklaut. Ich habe Leuten wehgetan. Wenn meine alte Ma nur die Hälfte von dem wüsste, was ich getan habe, würde sie sich im Grab rumdrehen. Sich vielleicht sogar wieder rausschaufeln, um mir eine runterzuhauen.«
»Sie sind für einige der Dinge, die Sie getan haben, bestraft worden, Mr Dodge«, sagte Jordan sanft.
»Nicht für alle, Mr Jordan, nicht für alle.« Dodgers Gesicht war schamrot, und Jordan spürte, dass er aufrichtig war. »Und nicht für die Sache, über die ich mit Ihnen sprechen möchte.«
»Welche ist das?«
»Die, die mich überhaupt von Glasgow hierhergebracht hat.« Dodger zögerte erneut, die Finger wischten weiter, erst die Rechte, dann die Linke, hin und her. »Ich habe einen Mann umgebracht, Mr Jordan. Einen Mann, der mir nie nichts getan hatte, den ich nicht mal kannte, außer dass ich ihn in den Nachrichten gesehen hatte.«
Jordan lehnte sich vor, versuchte, seine Stimme ruhig und geschäftsmäßig zu halten. Aber es kam nicht jeden Tag jemand in die Kanzlei und gestand einen Mord. »Mr Dodge, wenn Sie mir das erzählen, können Sie mich nicht als Ihren Anwalt engagieren, wenn Klage erhoben wird.«
»Da wird keine Klage erhoben, Mr Jordan, keine Sorge. Das war vor Jahren. Niemand weiß, dass ich was damit zu tun hatte. Na ja, niemand, der drüber reden würde.«
»Wer war das Opfer?«
Dodge legte eine Pause ein, als überlegte er, wie viel er sagen sollte. Dann holte er tief Luft: »Ein Typ namens Murdo Maxwell. Erinnern Sie sich an den?«
Jordan lehnte sich wieder zurück. Er hatte erwartet, es vielleicht mit einem Mord an einem kleinen Gauner zu tun zu bekommen, der einem größeren Fisch dumm gekommen war. Das hier war komplizierter. Er erinnerte sich an den Fall Maxwell. Der hatte Schlagzeilen gemacht. »Jemand ist dafür verurteilt worden«, sagte er.
»Aye.« In diesem einen Wort lag so viel Traurigkeit, so viel Bedauern, dass es Dodger nur noch mehr niederzuschmettern schien. »Deswegen erzähle ich Ihnen das. Wenn ich …« Angst flackerte in seinen Augen auf und zwang ihn, eine Pause zu machen. Tot bin. Er wollte »wenn ich tot bin« sagen, konnte es aber nicht. Die Worte hatten etwas so Endgültiges, und Jordan spürte, dass Dodge sie nicht über die Lippen bringen würde. Unwohl. Krank. Sogar das gefürchtete Wort Krebs konnte er aussprechen, aber tot, sterben, Tod, das brachte er nicht über die Lippen. »Wenn ich nicht mehr bin, dann will ich, dass Sie den Leuten sagen, dass der Junge im Gefängnis es nicht getan hat, dass ich es war. Sie müssen diesem Jungen helfen, Mr Jordan. Ich muss ihm helfen. Ich unterschreibe alles, was Sie brauchen.« Er schaute wieder auf seine Hände, rieb weiter, und der Druck schien stärker zu werden, je bestürzter er über seine eigenen Worte wurde. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«
Jordan wusste, dass mehr als das nötig sein würde, um eine Neuverhandlung zu erwirken, behielt das jedoch fürs Erste für sich.
Er fragte: »War es ein Diebstahl, der aus dem Ruder gelaufen ist?«
Reiben.
»Nein.«
»Hatten Sie etwas gegen Murdo Maxwell?«
Reiben. Reiben.
»Nein.«
»Was ist dann passiert? Warum haben Sie ihn umgebracht?«
Reiben. Reiben. Reiben.
»Man hat mich dazu angeheuert«, antwortete er.
»Ein Auftrag?« Dieses Wort zu benutzen, kam Jordan sehr fremd vor, als spielte er in einem Film mit. Aber das hier war Wirklichkeit. Dieser Mann saß in seinem Büro und erzählte ihm, dass er vor zehn Jahren einen Auftragsmord begangen hatte.
»Aye, so was wie ein Auftrag, das war’s.«
»Wer hat Sie angeheuert, Mr Dodge?«
Dodger schaute auf, und wieder sah Jordan die Angst. »Das kann ich nicht sagen.«
»Jetzt sind Sie schon so weit gegangen.«
»Nein, Mr Jordan, ich kann Ihnen nicht sagen, wer mich angeheuert hat.«
»Warum nicht?«
»Ich bin ein Schweinehund gewesen, Mr Jordan, das habe ich Ihnen schon gesagt, das gebe ich selbst zu. Aber was ich mit diesem Maxwell-Typen und dem jungen Mann im Kittchen gemacht habe, na ja, das ist nicht recht. Alles andere als recht. Aber diese Typen? Diese Typen, die jagen mir eine Scheißangst ein.«